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(1920)
Erlebnisse eines armen Grubenarbeiters, namens Falkberge
Die Regennacht lag schwarz auf der Erde. Und durch die Finsternis schossen raketenhaft die roten Blitze. Anduscha zog den braunen Wollschal fester um Hals und Kinn. Unendlich dehnte sich der Tunnel der Straße. Ihre Füße bewegten sich zwecklos durch diese grauenhafte Höhle und hatten kein Ziel. Sie wurde nur von einer Unruhe gepeitscht, die immer da war, wenn das Wetter auf der Landschaft lastete. Dann mußte sie fliehen aus der engen Dachkammer. Es war ein grauenhaft böser Herbst.
Auf den Halden geisterte der Tod.
Anduscha krümmte drei Stunden lang ihr irres Herz durch den Regen und stand frierend und eisblaß wieder in der dumpfen Stube.
Der Petroleumofen wärmte einen Dreck. Stank nur und qualmte, daß die Augen in einer beizenden Lauge schwammen. Die halbe Nacht konnte Anduscha vor dem Ofen hocken und die dünne Wärme sich in das Gesicht räuchern lassen und dabei an all das Wirre und Menschenfeindliche in der Welt denken.
Manchmal ängstete ein Grauen durch ihr Gefühl, und es war, als schöbe sich eine Faust in ihr Genick. Dicht vor ihren Augen brannten die Pupillen eines bösen, wildfremden Gesichts. Und glühten mit jeder Minute gemeiner, loderten wie Phosphorkugeln schon und zischten.
Da blieb ihr der Atem weg und über die Haut streute sich der frostige Sand der Angst. Es blieb ihr kaum noch Kraft, ins Bett zu kriechen. Die Decke warf sich wie eine Lawine über ihr Gesicht. Und der Schlaf kam und kam nicht. In solchen Nächten weinte Anduscha ihr Herz so leer, daß es vor Trockenheit stach und heftig schmerzte.
In den grauen Tagen auf der Zinkhütte fühlte sie sich auch nicht wohler. Die Räder verwüsteten ihr Gehirn und spannten eine unendliche Einsamkeit durch das Denken. Es war ihr, als schwebe sie zwischen Himmel und Erde. Ohne Nachbarschaft eines Wesens aus gleichem Stoff.
Was an den Rändern außer ihr hantierte, waren verzerrte Gebilde, stumm und schwarzgrau wie das im Kreis gedrehte Eisen. Hände waren nur Griffe, mechanisch bewegt durch den Riemengang. Stunde um Stunde. Tag um Tag. Steinerne Gesichter gemeißelt aus Qual, Stumpfsinn und Starre, mit Augen so blind und leer.
Und der Abend peitschte wieder den Regen an das Mauerwerk und schwärzte die Straße und jammerte hinter dem Winde her.
Anduscha stand unter der Gaslaterne und schnaufte. Die Tropfen wuschen den Ruß aus ihrem Gesicht und hängten blinde Glasperlen in das Tuch.
Vor einer Stunde hatte man den Lohn ausgezahlt auf der Hütte. Hundert Weiber lagen alpdrückend vor dem Zahlschalter und murrten. So oft die Tür nach der Straße aufbrach, wolkte der Dampf wie ein weißer Sack. Und der aus heißen Lungen emporgestoßene Atem verdichtete sich zu einem bittersalzigem Wasser und troff von der Decke. Das ganze Zimmer war klamm wie ein Gewölbe unter dem Meer. Die Frauen schoben sich einzeln an den Zahltisch heran. Mit den blaugefrorenen Fingern konnten sie das Geld kaum abheben von dem Brett. Dieses Geld, das sie drehten und drehten, bis es warm wurde. Und zu wenig war, um etwas zurückzubehalten für den Spartopf.
Mißmutig wickelten sie es in den Zipfel der Taschentücher, diesen roten Fahnen ohne Sinn. Und krümmten die Schultern und schoben sich hinaus in die Nacht, die kein Mitleid kannte und keine Sterne hatte und schon längst nicht mehr die frohen Akkorde der Harmonika.
Anduscha bekam ihren Lohn zuletzt, und fluchte: Dieser elende Dreck; nicht hin und nicht her!
Stand ein paar Sekunden und wog das Metall in der Hand und hob die Hand hoch und bedachte sich, diesen Bettel dem Kassierer in die geschäftlich graue Maske zu schlagen. Und bezwang sich und fand den Gleichmut wieder. Wozu? Welche Himmel gewänne ich damit? Ein Dreck ist das ganze Leben!
Und hockte unter der Gaslaterne im Regen und reckte den Kopf hoch und hörte einer Fahne mächtiges Tuch im Sturm knattern. Das war auf dem spitzen Schieferdach des Volkshauses. Die Fensterreihe stand grellgelb in der Finsternis wie eine Sandbank vor den mitternächtigen Meer.
Anduscha sah, wie der Schein der Laterne endlich die Fahne traf. Und es war ein rotes Tuch, das den Regen überschrie. Ein Berg aus Blut war die Fahne in der schwarzen Nacht.
Da trat Anduscha hinein in das Haus. Und fand die Brüder, die sie gesucht hatte, zwischen Schlaf und Wachen in den kalten Nächten der Herzangst und dem Murren mit einem elenden Geschick. Da drinnen bohrte der Wurm an den morschen Fugen des Staates und der Rache wuchs langsam die Faust.
Am anderen Abend stand Anduscha vordem Viadukt an der Hütte und teilte Schriften aus. Die Blätter waren blutrot wie die Fahne auf dem Volkshaus.
Jeden Abend stand Anduscha vor dem Viadukt und teilte die roten Blätter aus, bekam Püffe von den Widerspenstigen und wurde verlacht von den satten Müßiggängern, die ihres Lebens Karte auf das Singspielhaus setzten und auf den Fusel, und den geputzten Weibern ohne Schwielen und Scham. Noch nie hat dieses Pack eine Frau gesehen, die Opfer brachte für ihren Glauben an das Morgenrot, an die neue brüderliche Menschheit.
Anduscha war die erste Frau, die den roten Aufruf austeilte. Und darum hielt man sie für eine vom Drehwurm geschlagene Ziege und trieb einen bösen Spott mit ihrem Eifer für die Sache der Armen.
Anduscha mußte anfangs mit Tränen kämpfen über soviel Gemeinheit in der Welt. Dann aber wuchs sie wie die heilige Johanna von Frankreich aus der Verzagtheit in ein helles Glänzen empor. Und tat ihr Werk mit hoher Freude.
In löchrigem Schuhwerk patschte sie durch den Sumpf der Regenstraßen und dachte nicht an den Tod, der da unten in den eisigen Pfützen auf ihr warmes Herz lauerte und sich die Zähne schon schärfte, zuzubeißen.
Nun geschah es, daß sie sich mit einem ungemeinen Glück beladen fühlte, wenn sie die trostlosen Wände der Kammer um ihren Körper geschachtelt sah. Und ihr Herz begann zu klingen und ihre Augen wurden weit.
Die Hände fanden sich froh auf der Brust zusammen und durch das Fenster strömte die Seele in den Himmel und flüsterte: Wie bin ich jetzt hell geworden in Dir, o Schwester Maria … Und weiß doch nicht, zu wessen Gnade. Nur das Ziel weiß ich gewiß. Und das ist schon viel, wenn ich an die eiternde Armut denke, die noch nicht glauben will, daß uns der Trost des Gekreuzigten gegeben ist, daß wir alle erhöht werden aus dem Elend des Nichts … in das ewige Brudertum. Als aber nach dem bissigen Frost des Winters, nach manchen Beglückungen in der Bruderschaft, nach Tränen und Frohheit, Hunger und Husten die Sonne wieder durchkam und die Bäume mit dem braunen Glanz der Knospen begnadete, da pochte die Krankheit mit stechendem Schmerz an Anduschas Brust.
Das erste Fiebern ertrug sie mit Gleichmut; dachte: Das ist das schwere Blut des Winters, das die Sonne aber wieder blank gären wird. In ihren Augen aber wurde das Flimmern immer unerträglicher, und das Treppensteigen verbrauchte viel Luft. Auch das Herz arbeitete mit heftigen Stößen. So, wie manchmal es unbändig schon geklopft hatte, wenn eine liebe Freude da war. Ja, dieses wunderliche Herz.
Nun wurde es aber immer schwerer mit dem Atmen. Und in der Nacht unter der warmen Decke löste sich der Husten und goß glühendes Eisen durch die Kehle. Manchmal, wenn es wie zum Ersticken war und die Brust sich aufbäumte gegen die zackigen Messer, die da drinnen bohrten und schnitten, warf Anduscha die Decke herunter vom Körper und sprang aus dem Bett und stieß die Fenster auf. Da lag der stahlblaue Himmel unendlich ausgebreitet im Schoß der Nacht und weidete die weißen Wolken und zärtelte mit den Sternen und sah dem Mond in das große silberne Auge.
Und der Wind horchte in der Welt herum und brachte einen süßen Geruch von den südlichen Feldern Europas.
Da griff sie sich mit beiden Händen an die Brust und preßte sie, als müsse sie das ganze Leben zusammenhalten, das auseinanderbersten wollte, weil es so schwer, so zwecklos war auf der Welt. Und mit eins dachte sie an Fjodor.
Ach ja, an Fjodor!
Aber Fjodor war weit fort von hier. Zwei Stunden Bahnfahrt. Und an die tausend Meter tief unten in der Grube.
Nein, von ihm wollte sie nicht wegsterben. Nicht jetzt. Nie.
Ihr ganzes Leben sollte er haben und ein Haus darauf bauen mit den Wohnungen des allabendlichen Friedens.
Fjodor sah in den frühen Winter hinaus. Über die schwarzen Halden legten sich die weißen Eistücher. Die Flocken schluckten den Rauch, der von den Gewerken wolkte und seit Jahrhunderten dieses Erdflecks schwerer Atem war. Der Frost hing in glitzernden Trauben von den Dächern. Die Bärte der alten Männer auf den Ladebühnen klirrten. Die Teiche, wo die fauligen Abwässer einsackten, hatten schon dicke gläserne Decken. Ein paar Kinder tummelten sich darauf. Fjodor stand am Fenster und seine Augen liefen über vor Müdigkeit. Sein Kopf schlug schon gegen das Fensterkreuz. In seinen Schläfen zuckte das Blut mit scharfen Pulsschlägen. Er hatte seinem Körper wenig Schlaf gegönnt. Nur geschuftet. Tierhaft und ohne Nachdenken wozu und warum. Tag und Nacht, zehn Schichten in der Woche. Und seit einem Jahr immer auf dem schweren Posten vor dem unersättlichen Koksbrecher, weil jeder sich davor drückte und lieber Hunger litt. Die Dumpfheit der starren Ermattung fror Eiskörner durch seine Nerven. Die Knie sackten ein unter der Last der willenlosen Muskeln im Oberkörper, von dem die Arme herunterhingen wie Schläuche mit Blei ausgefüllt.
Er hing sich mit dem bißchen Willen, das noch war im Gehirn, an den Schlaf. Er zärtelte mit dem leisen Hinüberwelken, als stünde ein zarter weißer Frauenkörper vor seinen nach innen gekrochenen Augen.
In der Früh, als er fieberhaft wach sich ablösen durfte von dem donnernden Mahlgang der Maschine und die herbe Luft einziehen konnte und den Staub herausblasen aus den Lungen, als die Landschaft noch im grauen Nebel lag und die Konturen der Schächte und Fördertürme, Seilbahnen und Koksöfen teigig ineinander verschwammen, als den ganzen Heimweg lang das Gähnen der müden Werkleute die einzige Musik der Welt war, da freute er sich auf den tiefen steinharten Schlaf. Und sprang behende die paar Schritte zur Arbeiterbaracke. Warf sich unausgezogen auf die Strohschütte, klemmte die Augenlider zusammen und hörte das Blut durch die Maschinerie des Körpers sausen … höher sausen … höher und immer höher …
Aber der Schlaf … der heilige Schmeichelstrich eines Traumes blieb aus … Wach, wach, schmerzten die Augäpfel in den Höhlen. Wach … wach hämmerte das Blut.
Das war die sträfliche Übermüdung, die keine Geleise mehr hatte, keinen geregelten Gang, kein Ziel und darum auch keine Einfahrt in das tiefe, sommerlaue Meer des Schlafes.
So trieb er dumpfwach auf dem eisigen Floß des Grübelns bis in den hellen Tag hinein und spürte einen Eisenring um den Schädel geschmiedet.
Da riß er sich mit aller Macht auf, zerbiß einen unseligen Fluch, schleuderte die schweren Nägelschuhe von den Füßen und riß den schwarzen, teerbefleckten Kittel von der Brust.
In dem Steinbecken stand trübes Wasser, da warf er sein Gesicht, Brust und Nacken hinein. Bearbeitete danach die Haut mit dem groben Sackleinentuch und fühlte sich für einige Minuten erfrischt.
Bald aber fror er wieder und schleppte sich zum Ofen, saß auf der wackligen Bank und starrte in die schwefelgelbe Glut. Die Flammen tanzten einen Hexenreigen, fingen und umschlingen sich in bizarren Verrenkungen der Lust. Das lange Rohr erzitterte unter dem Druck der Gase und machte eine schlafmüde, eintönige Musik. Es lag das ganze Geheimnis des Schlafes in dieser hinschleichenden Musik. Ein Schlaf so schwer und alt wie das teuflische Dunkel in der Welt.
Aber da drohte wieder die Arbeit, die Sklavenpeitsche der Fron mit den stachligen Dornen. Der Weg vor der Baracke füllte sich mit Werkleuten.
Fjodor rieb sich mit angefeuchteten Fingern ein Guckloch in das beschlagene Fenster. Und seine Augen suchten die Waldkuppe, den silberglitzernden Berg über dem schmutzigen Betrieb der Gewerke.
Der Schnee fiel in dichteren Flocken. Der Wind häufte Schanzen an den Kurven der Schienenstränge. Der Rauch von den Kokshalden geisterte phosphorblau und baute sich aus den Schatten eine Arena der Qual.
Da tappte sich eines Menschen Geklump an dem Fenster vorüber. Wie ein fetter Bär, der auf den Hinterbeinen vorwärts wackelt zu den Bienenstöcken.
Es war Parva, der Grubenvogt. Der nun heraufkam, um die Grubenglocke zu schlagen, die Schicht anzusagen für die Belegschaft auf Revier sieben.
Nun stand er vor dem rostigen Stahlturm, wo hoch oben der Götze aus Erz hing. Er schnaufte erst eine Weile, schlug sich die Hände auf dem Rücken warm. Und wie er jetzt den holzsteifen Strang anzog, da bogen sich seine Knie nach außen. Und sein Gesicht beutelte Schmerz und Brutalität. Er läutete wohl fünf Minuten lang. Doch das singende Maul dort oben kämpfte mit Luft und seine asthmatischen Rufe blieben im Schneewirbel stecken.
Fjodor hob sein Gesicht vom Fenster und spuckte aus. In der Baracke war es ganz still. Die da hinaus sollten in den harten Mahlgang der Fron, schnarchten noch immer unter den muffigen Pferdedecken im Stroh. Die Glocke war nicht bis in ihr betäubtes Bewußtsein gedrungen. Die Glocke war dem Horchposten im Gehirn schon eine ausgeleierte Gewohnheit geworden.
An dem langen Eßtisch, in der Mitte der Baracke, stand Anduscha und reinigte die Kaffeetöpfe in dem stinkigten Wasser. Der abgeschabte Unterrock hing wie ein nasser Sack von den Lenden herab. Zwischen Rock und der roten Jacke aus Flanell bauschte sich das Hemd in einer großen grauen Falte. Ihr Haar hing noch ungekämmt in den Nacken; manchmal schob sich auch eine Strähne in das Gesicht hinein.
Mit dem wollenen Tuch rieb sie das Geschirr so mächtig, daß es quietschte und wie angefeiltes Eisen knirschte. In drei Doppelreihen standen die abgetrockneten Töpfe auf dem Tisch. Es lagen vierzehn Personen in diesem armseligen Hunderaum. Acht Männer und sechs Weibsbilder. Fjodor hatte Anduscha diese Stelle verschafft, nachdem sie neun Monate krank gelegen hatte an der Lungensucht. Nun war sie immer bei ihm und wartete auf den Tag, da eine Wohnung in der Kolonie frei würde und sie endlich heiraten konnten.
Ja, jetzt war sie immer bei Fjodor. Und brauchte nicht auf die Grube. Nur für diese Hausarbeit hatte sie sich verdingt. Und sie freute sich, für die düstere Armut der Armen zu sorgen wie eine gute Hausmutter.
Am Ofen saß jetzt Giese. Das war der älteste Bergmann im Revier. Sein Haar war schmutzig grau wie das Feld da draußen vor den Halden. Er schnitt sich ein Stück Kautabak mit dem Dolchmesser ab und schob den Priem in den zahnlosen Mund. Viele Jahre war es her, daß er unten auf der Sohle mit Schlägel und Fäustel hantiert hatte. Er war verwachsen mit dem schwarzen Stein des Gebirges. Es war seine Welt in allem.
Nun hatte er die Kantine, die zwischen den fünf Baracken unter dem Glockenturm stand. Und trieb den kleinen Handel mit Tabak, Schnaps, Speck und Kram. Aber wenn in der Kantine kein Leben mehr war, dann saß er hier bei Anduscha in der Baracke am Ofen und priemte und spann das endlose Grubengarn. In seinen Geschichten war kein unwahres Wort. Der Tod stand häufig darin. Aber auch das Frohe von Knappenfesten und Kindstaufsaufen.
Fjodor schleppte sich zu einer Bettlade, der obersten unter dem Dach, hinter der ewig schwarzen Ecke, wo es feucht war und nach faulen Kartoffeln roch.
Er kletterte hinauf und zerrte Stijn an den Beinen: »Uff, Du schwarze Kröte!« Stijn lag mit offenem Maul und zersägte die Gurgel mit dem kratzigen, scharfen Schnarchen. »Uff, Du schwarze Kröte!«
Da riß der Bursche die Augen auf, fluchte und rieb sich den Staub und die Strohhalme aus dem Gesicht.
»Schicht!« brüllte Fjodor ihm in die Ohren, daß es knallte.
Und setzte sich an den Tisch und kramte schwarzes Brot und ranziges Affenfett aus der Freßkiste.
Eine ganze Weile wog er das Messer in der Hand und starrte irgendwohin in die Welt. Das Essen war ihm zuwider. Der Gestank des ranzigen Schmalzes lag ihm in der Kehle und schnürte sie zu. Alle Tage dieses harte, saure Brot, dieses Fett, das zum Stiefelschmieren nicht einmal taugte … Der Teufel soll das aushalten und noch frisch dabei bleiben, zu schuften Tag und Nacht … Der Teufel soll das fressen!
Anduscha hatte die Kaffeetöpfe alle gesäubert. Ihr Gesicht glänzte fettig. Schlangenhaft ringelte das Haar sich um den Hals. Sie streifte die schleimig nassen Hände über den Unterrock. Und Fjodor sah, daß sie gerade und gesunde Beine hatte mit schön geformten Waden. Sein Herz schlug froh. Es war die einzige Welle Glück in seinem Leben. Nun langte sie einen Topf aus dem Haufen, füllte das braune Gesöff ein und schob ihn Fjodor hin. Ihre Augen hatten Glanz und gütige Weite.
Stijn kroch jetzt aus dem Stroh, prustete, fluchte und summte das Bergarbeiterlied in einem. Mit allen Kleidern am Leibe hatte er dagelegen, in dem Gewebe stachen lange Strohspitzen. Ein Igel fast kam da gekrochen mit stachlichtem Fell.
Stolpernd fand er den Tisch und benagte einen Kanten Brot. Das war fast alles für den Magen. Geld war weg. Ratzekahl weg! Wovon noch etwas kaufen zum Aufstrich, zum Belegen? Bei Giese, dem Schinderbart gab's auf Kredit nichts mehr. Und in fünf Tagen erst Löhnung –: Bande, dieses ganze Erdenvolk!
Und noch von drei Betten krochen die Männer herab. Und von der anderen Seite trollte die Witwe Barthou heran. Sie hatte einen Kropf und entzündete Augen.
Anduscha war hurtig mit dem Kaffee Einschenken. Eine blaue Wolke lag über dem Tisch. Die Gebisse knackten. Das trockene Brot röchelte in den Kehlen.
Fjodor schüttelte die Brühe in eine flache Schüssel, die neben ihm stand und kühlte sie mit heftigem Atem. Er trank in kurzen, ruckweisen Stößen, den Kopf in die Schüssel gesenkt. Ein durstiges, von Jägern belauertes Wild an der Tränke!
Der Schlaf war wieder da und peinigte ihn. In diesem Nebel drehte sich alles und verlor die feste Form. Der Schlaf legte sich in den Nebel und baute eine Wand daraus. Die Stimmen im Raum kamen wie von weit draußen her, gurgelnd und zischend. Der Alb legte sich auf Fjodors Brust und trieb die Angst hoch. Eine grauenhafte Furcht vor den Zwingmauern der Schicht. Warum muß man da hinaus, wenn man nicht will? Und auch nicht kann? Ewigkeiten vor der Maschine stehen, die Stahlzähne blecken sehen, die nach dem blutwarmen Körper langen … Und die Sturmwirbel des Schwungrades dazu und die endlosen, gierigen, nimmersatten Riemengänge … Ewigkeiten lang … unbarmherzig und ohne Gefühl für das Herz, das, weiß Gott, doch auch noch auf der Welt zu etwas da ist und nach einem Glück sich die Augen ausweint … Sein Kopf schlug hart auf die Tischkante. Ein Blitz zuckte durch das Gehirn –: Wach sein! Wach sein! Ewigkeiten vor der Maschine. Keine Wahl. Unbarmherziger Tritt vor den Magen. Grauenhaftes Muß! Nun dachte er wieder an den Schlaf. Gab ihm die Augen willig hin; flüsterte: Schlaf … Du wunderbar süßer Schlaf …
Da stand Stijn vor ihm, breitbeinig, gutmütig und rüttelte ihn wach: »Nicht einschlafen jetzt, Bruder! Nicht einschlafen … Der Brummbaß geht um.«
Fjodor fröstelte und ein Ekel stieg ihm hoch. Er würgte und würgte, bis er sich krümmen mußte und brechen. Anduscha holte ihm schnell Wasser, führte den Topf an seine Lippen und ängstigte sich.
Stijn brach auf und stampfte hinaus … »'s wird Zeit … höchste Zeit …«
Fjodor hatte Blei in den Beinen. Reckte sich und gähnte und fror. Endlich fühlte er den Boden wieder fest unter den Füßen und strich Anduscha durch das Haar. Unaufhörlich ging jetzt die Tür, und bald war kein Mensch von dieser Schicht mehr in der Baracke. Da drehte er sich auch um und wollte der Liebsten noch ein gutes Wort sagen, und sah plötzlich zum Ofen und erschrak, Jean, der Pferdejunge, stand dort und schlief im Stehen. Schaum stand auf seinen Lippen und von den Augen herab zuckten die Muskeln. Mit einem Ruck kippte der Kopf gegen das glühende Ofenrohr.
»Satan!« maulte der Bengel. Und knirschte mit den Zähnen. Er hatte sich die Stirn verbrannt. Ein tiefrotes Mal glühte auf der Haut und schmerzte. Und die Augen wurden miteins ganz groß und wach und bekamen Tränen.
Fjodor mühte sich in die nassen und schweren Schuhe hinein. Die Füße waren geschwollen. Er zog und zog an den Riemen und konnte den Hacken doch nicht herunter drücken. Er mußte eine Pause machen und sah wieder zu dem Pferdejungen hin. Der hielt sich die Stirn und rieb die Brandwunde. Es war doch ein armseliger Bengel, dieser Jean. Ein ausgehungertes, abgedroschenes Leben; so früh schon ausgesogen von der Grube, eine leere Kartoffelschale … in den Unrat der Straße geworfen! Jetzt steckte Stijn den Kopf wieder zur Tür herein und brülle unwillig –: »Zeit ist es, Fjodor! Zeit … Zeit!«
»Ja doch, Du Misthund!« knurrte Fjodor. Stülpte den Filz auf und merkte, daß er noch immer nicht fest auf den Füßen stand. Riß und preßte jetzt mit äußerster Gewalt und schaffte es endlich.
Anduscha legte die schmutzigen Decken auf den Betten zurecht und kämpfte mit Übelkeiten. Jean kam nun auch nach vorn gekrochen, ging bis zur Tür, schmeckte die frische Luft und fror vor Müdigkeit. Wie ein Trunkener taumelte er den schmalen Steg zum Schacht.
Parva, der Vogt, stand am Turm und läutete den Beginn der Schicht. Das Seil rieb ihm die Hände wund. Aber er läutete unverdrossen und schloß die Augen dabei.
Fjodor aber war der letzte Grubenmann auf der Straße. Unterwegs zur Schicht. Er dachte im Ausschreiten an den Schlaf … den ewigen, traumlosen Schlaf –: ach, wenn er doch kommen würde! Die Glocke läutete noch immer.
Fjodor schritt aus, als trauerte er seinem Körper nach, der kalt in den fünf Brettern des Sarges lag.
Es war eine gemeine, teerschwarze Nacht. Draußen verwaschener Schnee mit Sturm. Hier unten eine unerträgliche Stickluft.
Der Koksbrecher lärmte, daß die Steine von der Wand bröckelten. Die Schwungräder sausten dumpf. Schweflige Funkenschwärme schossen aus den Mahlzähnen herauf. Die Luft schmeckte giftig.
An der Maschine standen mit nacktem Oberkörper die drei –: Fjodor, Stijn und Jean. Man hatte den Bengel zur Aushilfe geschickt für Marek, der krank in der Baracke liegen geblieben war.
Jean hatte schon öfter hier aushelfen müssen. Er kannte die Arbeit genau. Sie paßte ihm aber nicht. Das blinde Pferdchen war sein lieber Freund, dieses Maschinenungeheuer aber der Satan selber.
Er stand auf der Plattform zwischen den Schwungrädern und regulierte mit Hebel und Bremsklotz den Mahlgang. Sein Gesicht war zu Stein geschrumpft. Die Anspannung preßte fingerdicke Adern auf die Stirn, aus der furchenzerrissenen Haut mit dem roten Brandfleck. Dieser Posten fraß wahrhaftig viel Nerven. Ein Griff zur unrichtigen Sekunde –: und der Tod regierte. Jean dachte oft an den Tod, und der Schweiß schoß in Bächen von seiner Brust herab auf den mißgestalteten Nabel. Die Haare hingen triefend von den Schläfen. In den Augen ängstete die Not der Seele. Die Lenkstange bog seine Arme auseinander, wollte die Klammern aus Knochen und Muskeln brechen. Jean trotzte mit äußerster Kraft. Denn er wollte doch nicht unterliegen.
Fjodor und Stijn schaufelten den Koks in den Höllenrachen –: eins … zwei … eins … zwei …!
Das waren nicht mehr Bewegungen von freien Menschen. Sie waren untertan der Maschine und hatten ihr Tempo angenommen ohne Widerstand, ohne Aufruhr.
Fjodor fühlte hinter der gehirnlosen Anstrengung wieder den Schlaf hochsteigen, litt es aber nicht und verfluchte sich. Aus seinen Nägeln spritzte Blut. Die Zunge lag trocken im Mund.
Gut, daß jetzt eine kurze Pause war. Fjodor sah auf das Blut und freute sich … so frisch und rot war doch das Blut und kam direkt aus dem Herzen her.
Dieses Herzblut, so frisch und so rot: geopfert dem feisten Höllen-Gott. Ganze Berge fraß er in sich und wurde weder satt, noch schläfrig davon.
Wieder war der Rachen leer und schrie nach Atzung. Die Schaufeln klangen aufs Neue im Takt: eins … zwei … eins … zwei!
Jean wurde die Lenkstange glühend in den schwielengehärteten Händen. Und die großen Schwungräder griffen nach seinem Kopf und begehrten ihn hinein zu zerren in den barbarischen Wirbel der Reißzähne. Sie griffen aber immer noch ins Leere. Und mit einem Male faßten sie doch die Mütze. Jean ließ Wasser vor Schreck und schrie. Und preßte jetzt den Oberkörper gegen die Lenkstange.
Dunkle Schatten gespensterten im Gang vor der Maschine. Das waren die Häuer, die hundert Meter tiefer wollten. Ihre Nagelschuhe schlugen Feuer. Man sah die Kaffeeflaschen aufblitzen.
Die Ruhepause wurde eingeläutet. Schwerfällig kroch Jean herab. Sein Gehirn hatte keinen Trieb mehr. Irgendwohin warf er sich lang. Schloß die Augen.
Nach einer Stunde kamen Fjodor und Stijn zurück, die einen Sprung nach der Baracke getan hatten im dichten Schneegestöber. Sie fanden Jean in tiefem Schlaf auf dem Kokshaufen. Er lag da wie auf weichem Stroh, gefühllos gegen die Härte der Steinstücke unter seinem Körper.
Der Vogt kam herzu, bellte gräßlich, daß die Maschine noch nicht angesprungen war, zog die Uhr … acht Minuten nach der Pause … zum Teufel, dieses faule Pack!
Da sah er Jean, der noch schlief, und stieß ihm die Stiefelspitzein den Leib –: »Pack Dich, faule Drecksau!«
Wie in tausend Stücke zerhackt fühlte sich Jean. Und weinte, und sammelte seine Knochen zu einem Ruck.
Und stand wieder oben auf der Plattform und legte die ganze Kraft seines Körpers in die Hände.
Die Schaufeln gingen im Takt; eins … zwei … eins … zwei! Der Rachen war nicht satt zu kriegen. Es war, als trieb jetzt der Teufel die Räder. Und hatte seinen Spaß, daß die Menschen so schuften mußten. Da zerbarst die Luft. Und ein Schrei übertönte den Riemengang. Fjodor und Stijn warfen die Schaufeln fort, hatten verstörte Augen und sperrten den Mund weit auf.
Jean war zwischen die Treibriemen geraten, und weiß der Teufel wie … weiß Gott warum … rissen die sausenden Schlangen den Körper in das gierschlundige Räderwerk. Blut siedete auf den warmen Eisen der Maschine.
Stijn fiel um vor Grauen und bekam einen epileptischen Anfall. Denn das war doch zuviel für seine kranken Nerven. Fjodor sprang nach oben und riß den Hebel zurück und setzte die Bremsen an. Langsam beruhigten sich die blutwilden Räder und standen grinsend still. Nun hob Fjodor die Leiche heraus. Ein Wagenschieber kam ihm zu Hilfe. Sie legten das gräßlich verstümmelte Gehäuf auf den Sandkasten und sprachen leise ein Vaterunser.
Ein Arm war abgerissen, der Hals fast durchgeschlagen. Der Kopf hing nur an einem Hautfetzen. Fjodor nahm das Haupt und rückte es, mit zusammengebissenen Zähnen den Ekel abwehrend, auf den Schultern zurecht.
»Erbarme dich unser«, seufzte er. Und seine Augen liefen über. Es war überhaupt heute eine Nacht zum bitter Weinen.
Er blieb, von dem Geschehnis furchtbar benommen, eine ganze Weile bei dem armen toten Burschen stehen und wußte nicht, wie er da stand und warum das so jäh gekommen war.
Stijn hatte inzwischen die Besinnung wieder. Und stellte sich neben Fjodor und klagte wie ein mutterverlassenes Kind.
Die Bergsamariter kamen mit der Tragbahre und drängten Fjodor und Stijn mit barschen Worten zur Seite. Und wie sie den Körper dann aufheben wollten, da blieb der Kopf mit dem großen offenen Mund im Sande liegen, und der Arm war auch nicht zu finden. War vielleicht zermahlen mit dem Koks und schon in die Wagen gekippt: weit, weit in die Welt zu rollen.
In Haufen standen jetzt die Männer herum. Und hatten schwere Glieder, und spürten Frostschauer im Nacken: So nahe war also der Tod. Wer weiß, wer morgen an der Reihe ist. Der Vogt kam und trieb sie alle auseinander und zurück an die Arbeit. Fjodor verlangte Urlaub für den Rest der Schicht, Stijn auch. Der Vogt brummte eine Weile ohne jemand anzusehen, und bequemte sich schließlich doch dazu, ja zu sagen.
Fjodor beschloß, in der Früh zu Jeans Mutter zu gehen, die im Dorf, eine Stunde von hier, einen Handel mit Webwaren trieb. Er wollte die Frau vorbereiten, damit der Schlag, nicht mit aller Gewalt ausholen konnte nach ihrem Herzen, Stijn wollte mit. Fjodor widersprach nicht, obwohl er lieber allein gegangen wäre.
Nun saßen sie beide wieder oben in der Baracke am Ofen und zerrieben das wunde Gehirn mit traurigen Gedanken. Sie sahen das Ereignis in allen Einzelheiten wieder. Den müden ausgemergelten Körper Jeans. Die totkranken Augen, die Witterung seines Herzens, das die Gefahr anstürmen sah. Den Fußtritt des Vogtes. Gott verdamm den Hund …!
Und dann der Schrei! Die Ohren waren noch gestopft voll davon. Sie hörten nicht, wie die Brüder, die aus dem Schlaf gerissen waren von dem Furchtbaren, wider den Mord tobten und die Menschheit anklagten, die solches zuließ auf der Grube.
Stijn jammerte mit einem tonlosen Schluchzen. Er war krank und eigentlich schon lange reif für das Spital. Aber der Grubenarzt, schrieb der Henker einen krank? Nur einen Totenschein stellte er aus, wenn ein Mensch kaputt war … Und lachte sich eins. Nach langen, zwecklosen Debatten legte man sich wieder schlafen, unter den muffigen Decken im faulen Stroh.
Fjodor hatte ein Grauen vor der Bettlade. Er legte sich auf die Bank, mit dem Rücken am Ofen. Zog den Hut über den Kopf und konnte doch nicht einschlafen. Die Luft war geladen mit Todesschreien, und kopflose Körper tanzten vor seinen Augen durch das Dunkel.
So lag er halbwach bis in die graue Frühe. Das Feuer im Ofen war ausgegangen. Es fröstelte über seinen Körper mit Stichen und Schlägen. Es waren die nervenzerquälten Schauder der Übermüdung.
Anduscha kam jetzt unter der Decke aus dem Bett hervorgekrochen. Die nackten Beine hingen vom Bettrand herab. Mit einem stoßweisen Gähnen zog sie den Rock über den Kopf und sprang auf die Erde. Rüttelte jetzt Fjodor auf. Er gab ihr einen leichten Klaps auf den Hintern. Sie zeigte ihm lachend das Gebiß und kratzte die Asche aus dem Ofen. Fjodor trug trockenes Holz und Kohlen herzu. Nun flackerte das Feuer wieder hell und legte sich unter den Wasserkessel. Als Anduscha nun die Kaffeemühle nahm und zwischen die Knie einklemmte, prallten die sehnigen Schenkel heraus. Fjodor fühlte das Blut zum Herzen steigen und eine sinnliche Erregung durchzitterte ihn. Ein Gefühl, das seinen quälenden Gedanken den frühen Ausgleich schaffte. Zärtlich küßte er Anduscha. Sie lächelte bloß: »Du Lieber!«
Fjodor mußte nun doch allein ins Dorf zu Jeans Mutter gehen, denn Stijn lag in einem schweren Fieber. Der Arzt hatte ihm ein gelbes Pulver verschrieben.
Als Frau Marten, Jeans Mutter, die Botschaft erfuhr, sackte sie ohne Laut zusammen. Und lag fast eine Viertelstunde so auf der Erde. Fjodor strich immerfort über ihr graues Haar und murmelte: »Gottes Wege gehen unerforschlich weit, liebe Frau!«
»Ja.« klagte jetzt Frau Marten, »Gott ist gerecht, langmütig und von großer Güte. Er handelt nicht mit uns nach unseren Sünden und vergilt an uns nicht unsere Missetat …
Und darum wird er nicht wissen, weshalb er den guten Jungen zu sich genommen hat … Er war doch ein guter Junge …«
»Ja, das war er,« antwortete Fjodor und konnte seine Augen nicht aus der grauenhaften Starre lösen.
»Werde ich ihn denn wiedererkennen, den Jungen?« wehklagte Frau Marten, und sah Fjodor ängstlich an.
»Gewiß … gewiß …« erwiderte Fjodor … »Das ist schon so eine böse Geschichte mit dem Toten.«
»Ist er arg verstümmelt?«
Fjodor unterdrückte ein Schluchzen und wußte keine Antwort. Wahrhaftig nicht.
»Ist sein Gesicht wenigstens noch zu erkennen?« fragte sie hastig.
»Das schon!« Es tat Fjodor bitter weh, hier reden zu müssen, wo man eigentlich laut aufheulen mußte. Nun machten sie sich auf und gingen zur Grube herab. Denn die Mutter wollte den Jungen um alles auf der Welt noch sehen, über sein Haar ihre Hand hinwehen lassen, die Wangen ihm kosen, den Mund berühren mit ihren Lippen, ehe die schwarze Erde sich über ihn wölbte.
Es ging nur sehr langsam vorwärts mit der alten Frau. Dieses weite Gehen war sie nicht mehr gewohnt. Und der Frost kniff und der Wind stemmte sich jedem Schritt mit Gebrüll entgegen.
Gegen Mittag erreichten sie das Gewerk und gingen an den Baracken vorüber gleich zum Direktionshaus. Vor dem Tor trafen sie einen Kontorboten.
»Ist der Direktor oben?« fragte Fjodor.
»Ich glaube!« schnarrte der Mann und schleppte die Aktentasche zur Stadt.
Auf dem Flur nahm Fjodor den Hut vom Kopf und Frau Marten strich sich das Haar unter dem Tuch glatt. Jetzt traten sie in das Direktionsbüro ein und stellten sich vor der Türe auf.
Der Direktor saß an einem Pult hinter der Schranke und maß mit dem Zirkel einen Grubenplan durch. Fjodor grüßte mit harter Stimme.
Nach einer Weile erst richtete sich der Direktor auf, sah Fjodor scharf an und brummte: »Nun, was gibt's hier?« Und hatte dabei die Karte am oberen Ende losgelassen, so daß sie pfeifend zusammenrollte.
Fjodor bekam eine böse Falte auf der Stirn und antwortete etwas erregt: »Hier ist Jeans Mutter, Frau Marten. Sie will den Jungen, ehe er eingescharrt wird, sehen!«
Frau Marten raffte sich auf, ging zur Schranke, um den Direktor ganz nahe an den Augen zu sein und legte ihre knochigen Finger auf das Holz. In ihren dunkelbraunen Augen flackerte ein heißes Feuer. Für einen Moment fiel der Schmerz von ihr ab und sie sah sich um in dem Raum und bemerkte die vielen blanken Instrumente in den Glasschränken, die Karten an den Wänden, die Gesteinssammlung, die Bücherregale und alle diesen vielen Dinge, von denen sie nie etwas gewußt hatte. In ihrem Kopf drehte sich alles und verwirrte sie.
Jetzt sah sie nur auf den Direktor, der ihr ein feiner und hoher Herr schien, wie er so am Pult saß und die goldenen Ringe an seinem Finger besah und eine Unruhe mit den Lippen zermalmte.
Dieses Schauen und Bestaunen und verwirrende Denken flog aber bald vorüber. Und nun wußte sie auf einmal wieder: Hier, auf dieser Grube hat man den Jean getötet. So nahe bei Reichtum und einer wunderlichen Welt.
Und da tat sie ihren Mund auf und fragte: »Ist mein Sohn noch zu erkennen?«
Der Direktor trommelte nervös mit den Fingern auf der Pultplatte und hob die Schultern und sagte: »Gott, etwas mitgenommen wird die Maschine ihn schon haben … das ist nun einmal so im Bergwerk.« Er bückte sich nach der Karte, die auf die Erde gefallen war, rollte sie fester zusammen und schob sie in das Holzfutteral. »Ich will meinen Jungen jetzt sehen!« verlangte Frau Marten. In ihrer Kehle saß etwas fest, das nicht hinunter wollte. Und ihre Finger, gekrümmt wie böse Krallen, bohrten sich in das Holz der Schranke. »Der Jean ist immer fleißig gewesen,« sagte Fjodor.
»Ja, ein brauchbarer Bursch,« erwiderte der Direktor, aber er war ganz wo anders mit seinen Gedanken.
Jetzt warf er die Karte in ein Fach, gab dem Schreiber, der am hinteren Fenster saß, eine Anweisung und wandte sich zu Frau Marten: »Kommen Sie mit!«
Sie gingen hinaus, über die Kohlenhöfe, den Weg an den Koksbrecher vorbei zum Spritzenhaus. Vorn, in einem geräumigen und sauberen Verschlag, stand auf einem niedrigen Postament der schwarze Sarg.
Der Direktor füllte mit seinem gut genährten Körper die Tür aus. Fjodor stand wie ein Schatten einen Schritt hinter ihm. Frau Marten war jetzt auch da und guckte hinein. Zog den Kopf schnell zurück und jammerte:
»Ach lieber Gott, wie schrecklich ist das doch!«
Da schob sich der Direktor vor und ließ Fjodor und die Frau herein. Mit den Augen gab er Fjodor einen Wink, daß er den Deckel abheben solle vom Sarg.
Fjodor mühte sich und grüßte mit wehzerrissenen Augen den Toten, der schon den Geruch des Grabes hatte. Dann trat er einen Schritt zurück und drehte sich nach Frau Marten herum.
Langsam kam sie näher. Die Knie drängten sich groß und stark unter dem kurzen Rock.
»Jean, mein lieber Jean,« klagte sie. Und stützte sich mit der einen Hand auf den Sarg. Ihre Augen liefen schnell über und es tropfte schwer und heiß auf das Leichentuch. Mit ihren Fingern strich sie leise über die breite Wunde auf des Toten Stirn.
»Gott, Gott … wie furchtbar ist das doch alles hier!«
Und nun küßte sie die blauschwarzen Lippen des armen Jean und röchelte und kämpfte mit der Luft.
Der Direktor bewegte sich auf der Stelle hin und her, und sein Gesicht zeigte blasse Furcht, daß die arme Frau die schwerste Verstümmlung entdecken könnte, und wie der Kopf abgetrennt war; er war mit dem Leichentuch nur lose drangebunden.
Mutter Marten weinte stetig. Kein anderer Laut war in den Raum. Fjodor hielt mit Macht den Husten zurück. Und der Direktor bereute jetzt, daß er hier war.
Von draußen hallte das Gedröhn der Koksbrecher herein und das Sausen der Förderkörbe und das Poltern der Kippwagen. Ein Pferdchen wieherte. Es war der blinde Gaul, den Jean so lieb gehabt hatte. Jetzt bog Frau Marten den Rücken wieder gerade. Und ihre Augen glitten über den ganzen Körper des Toten. Da sah sie plötzlich, daß dem armen Jean ein Arm fehlte … nur einer lag da starr auf der Brust mit krummen Fingern.
»Wo habt Ihr den anderen Arm gelassen?« schrie sie Fjodor an. Fjodor konnte die Augen nicht aufheben und blieb stumm. Und da bemerkte der Direktor für ihn: »Der Arm ist leider in der Maschine geblieben, Frau. Staub ist er geworden!«
»Ja!« sagte jetzt auch Fjodor.
»Ach ja … ja, dieser Jammer,« schoß es aus der alten Frau heraus. Und sie bedeckte sich mit verkrampften Händen die Augen. Schluchzte, wiegte den Körper hin und her.
»Gott wird ihn auch ohne Arm in den Himmel einlassen,« versuchte Fjodor zu trösten.
Und als er nun den Deckel wieder auflegen wollte, sprang sie ihm ins Gesicht und krallte die Faust in seine Haare.
Der Direktor löste sie los und beruhigte sie, indem er über ihre Schulter mit weicher Hand strich.
Frau Marten beruhigte sich aber nicht und schrie jetzt: »Ihr habt meinem Jean den Arm gestohlen …«
Nun drängte sie der Direktor energisch hinaus. Und Fjodor konnte den Sarg schließen.
Vor dem Schuppen sagte der Direktor zu Frau Marten: »Wir teilen Ihren Schmerz, liebe Frau … gewiß ist es schrecklich, wenn ein so junger Mensch hinstirbt … aber auf der Grube ist das nun einmal nicht anders … Das muß man sich alles vorher überlegen …«
Frau Marten hörte mit offenem Munde zu. Sie wog jedes Wort und bedachte es genau. Ihre kleinen Augen verkrochen sich unter den buschigen Brauen. Die Wangen bekamen rote, kreisrunde Flecken.
»Alle seid Ihr Schuld daran!« stieß sie plötzlich heraus. »Gott soll uns strafen, wenn es so wäre«, beteuerte Fjodor. Der Direktor wurde immer nervöser … wenn dieses Weib doch bloß wieder fort wäre.
Fjodor schlang seinen Arm um ihre Schulter und bat: »Kommen Sie, Mutter!«
Sie wich ihm aber aus wie ein weltscheues Tier. Und stellte sich vor den Direktor hin und schrie: »Satanspack!« Und spie aus.
Da lief er mit langen Schritten fort.
Und sie spie noch einmal aus.
Jetzt hatte Fjodor wieder Gewalt über sie und nahm sie mit nach oben in die Baracke. Sie möge doch etwas Kaffee trinken!
Giese, der heute wieder in der Baracke saß und mit Anduscha plauderte, begrüßte Frau Marten gleich mit einem Wort aus der Bibel und führte sie an den Tisch.
Anduscha setzte den Wasserkessel auf den Ofen und ließ sich von Giese einen Löffel Kaffee geben. Fjodor saß auf der Bank neben dem Ofen und stierte ins Feuer.
»Tja … uns arme Menschen treffen immer die härtesten Schläge«, tröstete Giese.
Er sog krampfhaft an seiner Pfeife und spuckte viel.
Frau Marten sah ihn nur an und sagte nichts.
Giese wiederholte die Worte.
Mit einem Male fragte die Frau: »Ob mein Jean wohl in die ewige Seligkeit eingehen wird …?«
»M …m …,« sagte Giese und klopfte die Asche aus der Pfeife auf die Erde … »M...ma, tja …, in der Schrift heißt es, daß die größte Gnade denen zuteil wird, die hier auf Erden in Einfältigkeit und Blindheit dahinwandeln, den Unmündigen und Duldenden. Nie aber den Klugen und Weisen und Reichen …«
»Ja, ja«, meinte Frau Marten, »Jean hat immer in Einfalt und Armut gelebt. Gott stand wie ein großer Bruder neben ihm … aber kann man denn wissen, daß er jetzt eingeht in Gottes Reich … so ohne Vorbereitung, ohne die heiligen Sakramente?«
Giese wußte nun nicht, was er darauf antworten sollte. Und darum tat es Anduscha für ihn und gab der Frau diese Antwort: »Wer böse von Herzen ist, dem kaufen auch die Sakramente nicht einen Platz im Himmel. Wer aber so reinen Herzens ist, wie Jean immer war, der wird vor Gott auch ohne Fürsprache des Priesters bestehen … Wenn es anders wäre, dann ist eben Gott nicht der Gott, den wir anbeten.«
»Das meine ich auch«, bekräftigte Giese.
Frau Marten schien nun beruhigt.
Anduscha holte jetzt ein paar Töpfe und goß den Kaffee ein und sagte: »Kaffee frischt auf, Mutter Marten.«
»Gott vergelt's Euch«, flüsterte Frau Marten, und hob den Topf zum Mund.
Nun stand Giese auf und schnitt von seinem Brot ein paar Scheiben, bestrich sie mit Schmalz und brachte sie der Frau. »Etwas essen müssen sie nun auch schon. Vom Heulen wird man nicht satt.«
Frau Marten steckte ein Stück Brot in den Mund, kaute und kaute und schob es mit der Zunge hin und her. Es war, als würde der Bissen im Munde wachsen, ihr die Kehle zudrücken, den Atem abwürgen. Sie brachte nichts herunter und war mehr als satt von dem Jammer. Stumm saß sie da und stierte vor sich hin. Und legte die Hände ineinander und grub sich die Nägel in das Fleisch.
Die Grubenleute, die jetzt von der Tagschicht kamen und die alte Frau da sitzen sahen in der Trauer und dem Entsetzen vor dem Unglück, traten behutsam auf, um mit dem Gepolter nicht die Andacht des armen Herzens zu stören. Denn nun saß das arme Weiblein da, wie ein Stück ansteckenden Schmerzes, und ihr stilles In-sich-hinein-Weinen legte sich auf das Gemüt der harten Männer.
Als alle ihre Mahlzeiten eingenommen hatten, rückten sie mit den Schemeln an den Ofen im Kreis und sprachen leise von ihr, die so schwer tragen mußte an dem Jammer der Welt.
Frau Marten beachtete keinen. Ihr Gehirn rang mit dem einen Gedanken, ob Jean wirklich Gnade vor Gottes Augen gefunden hat.
Gegen Abend bereitete Anduscha der armen Frau ein Lager auf der Erde nahe bei ihrem Bett. Und als sie alle sich legten, warf sich auch die Alte hin und betete laut und inbrünstig.
Der Mond warf ein reines Licht in den Raum. Es war fast taghell. Und in dem Ofen summte die Hitze ein eintönig sausendes Lied.
Frau Marten lag lange wach und mußte immer wieder, obwohl sie es nicht wollte, an den verstümmelten Körper denken. Und ob Gott den wohl aufnehmen würde …
Auf einmal überwältigte sie der Drang, Jean gute Nacht zu sagen. Er war ja noch auf der Erde. Und das würde ihm sicher gut tun, wenn sie mit der warmen Hand durch sein Haar ginge … die kalten Lippen aufwärmte mit ihrem Mund … Nur heute ginge das noch. Morgen liegt schon Erde darüber. Und die Finsternis. Und das Grauen. Sie hob den Kopf und horchte … Jetzt schliefen sie doch gewiß alle.
Fjodor phantasierte und schlug um sich.
Von den andern wachte niemand auf.
Da stützte die Frau sich hoch, zog die Schuhe an, drehte den Kopf nach allen Seiten und horchte.
Ja, sie schliefen alle.
Auf den Zehen schlich sie zur Tür, löste den Riegel und stand draußen. Horchte wieder eine Weile. Und tastete sich an der Wand entlang und fand den schmalen Fußweg hinunter zum Gewerk. Sie suchte zwischen den Gebäuden lange, drückte sich in Mauerspalten, wenn jemand von der Nachtschicht vorüberkam oder ein Wagen über die Schienen sauste. Endlich stand sie vor dem Spritzenhaus. Die Tür war, Gott sei Dank, nicht verschlossen. Sie streckte die krummen, starken Knie und hob den Drücker hoch.
Da stand wieder der schwarze, armselige Sarg. Stand wie ein sprunggeducktes Tier in dem Halbdunkel und schlug nach ihr.
Sie krümmte sich schmerzhaft zurück. Auf ihrer Stirn stand das Wasser eiskalt.
Endlich machte sie sich frei von dem Alb, bat Gott um Beistand und schritt näher heran. Mit zitternden Händen tastete sie über die Kante des Sarges und wimmerte kläglich.
Wieder hatte sie Angst und ließ den Sarg los und wischte sich mit dem Rockzipfel das Gesicht trocken.
Aber sie mußte Jean doch noch einmal sehen. Dieses letzte, allerletzte Mal … Wenn Gott doch nur helfen wollte!
Nun kam ihr wieder Kraft in die Arme und es gelang ihr, den Deckel abzuheben. Vorsichtig schob sie das Tuch fort.
Da lag wieder der Jean … so stumm … so kalt … Ach ja … ach ja … Sie strich über die Stirnwunde hin … über das böse Zeichen des Todes. Und flüsterte: »Still, still, mein guter Junge … bald werden wir uns ja wiedersehen. Bei Gott, unserem lieben Herrn … Still, still …
Eine ganze Weile verharrte sie jetzt und dachte, wie das Wiedersehen wohl sein würde. Und schluchzte nicht mehr. Ihre Augen waren zusammengeschrumpft und ausgetrocknet. Wie eisige Krater. In der Brust aber bohrte der Schmerz weiter und stieß Galle herauf und füllte den Mund damit aus.
Aber ja … ach ja … o mein Gott –: Da fiel ja sein Kopf zur Seite und blieb liegen mit der einen Wange auf dem Strohkissen!
Sie stieß einen unheimlichen Schrei aus, packte den Kopf mit beiden Händen und hob ihn empor … Er ließ sich heben … wie ein fremdes Ding, das gar nicht hierher gehörte … und da unten lag der Rumpf … und die schreckliche Wunde der abgerissenen Kehle dunkelrot über den Schultern.
Es wurde ihr höllenschwarz vor den Augen. Sie fühlte sich wie in eine ungeheure Nacht hinuntergestoßen. Durch ihre Ohren sauste ein wahnsinniger Lärm … Posaunenstöße … Donner … und Gottes Stimme, die die Welt verfluchte im Jüngsten Gericht.
Von einem unbeschreiblichen Schauder gepackt, ließ sie den Kopf los. Und er fiel mit einem dumpfen Schlag neben den Sarg hin, das blauschwarze und verzerrte Gesicht gegen das Eis der Erde gedreht.
Ein Riß jagte jetzt quer durch ihr Gehirn. Mit den Armen fuchtelnd, als müsse sie sich Bahn brechen durch ein dichtes Gehölz, stürzte sie hinaus.
Ein Wächter sah sie so laufen. Ihr Schreien machte den Halbschlafenden wach. Ihr Schreien, das noch nie gehört ward von Menschen, trieb die Arbeiter aus den Verladebühnen. Man jagte hinter ihr her. Verlor sie aus den Augen. Und suchte jetzt mit Laternen.
Auch Fjodor weckten die Leute. Er ging auch suchen. Und ängstete sich um die arme Frau.
Nach drei Stunden fand er sie schließlich hinter einer Halde im Schnee sitzend. Mit den Nägeln kratzte sie sich am Hals herum. Und die graue Jacke war schon ganz schwarz von Blut.
Er leuchtete in ihr Gesicht hinein. Es war grauenhaft verzerrt. Und die Strähnen, die herumhingen, waren jetzt weiß wie Schnee.
»Mutter Marten!« wimmerte Fjodor …
Da sah sie ihn an und tat ein grauenhaft irres Lachen:
»Der Kopf von meinem Jungchen liegt bei der Kiste … liegt bei der Kiste …«
Ein paar Männer kamen noch hinzu.
Und da hoben sie die Irre auf und trugen sie auf die Wachstation. Und Fjodor blieb die Nacht bei ihr und streichelte den eisgrauen Kopf, wie man ein Kind einschläfert.
Nach Jeans schrecklichem Tod und dem Irrsinn seiner Mutter war es Fjodor unmöglich, regelmäßig zu arbeiten. Nur drei, vier Schichten in der Woche stand er mit Stijn unten in der Grube vor dem widerspenstigen Flötz, der dort freigelegt war, und bohrte und hämmerte. Er dachte nicht darüber nach, daß er kaum noch zu essen hatte, keinen Anzug mehr und bei Giese nicht für einen Sechser Kredit. Und bei diesem Hundeleben wollte er Anduscha heiraten und dann für zwei sorgen müssen, oder gar drei und vier hungrige Mäuler? Ja, ja, in seinem Kopf war manchmal eine trostlose Leere. Daran zerschellte jeder Wille. Und wenn diese Leere da war und ihn müde machte, und stumm und stier, dann konnte selbst Anduscha nicht eindringen in sein Herz und ihre Küsse stieß er zurück wie ekliges Spinngewebe.
Eines Tages kam Bijge, der alte Vorarbeiter, zu ihm. Stand da, die Hände auf dem Rücken und mit einem Maul wie ein bissiger Köter.
»Fjodor,« sagte er, »Du bist früher der fleißigste im Schacht gewesen«; hast gut verdient, könntest was auf der Sparkasse haben, wenn Du nicht alles gleich versoffen hättest. Aber nun säufst Du ja nicht mehr, doch arbeiten willst Du auch nicht. So ein gesunder Kerl wie Du will nicht arbeiten? Und gar noch heiraten? Fjodor, der selber nichts zu beißen hat, will eine Frau ernähren? Übrigens, der Direktor hat gedroht, Dich aufs Pflaster zu werfen, wenn Du so weiter bummelst … Schäme Dich! … Und dann: Wann bist Du wieder unten?«
Fjodor gab ihm keine Antwort. Es war ihm, als läge er auf der Heide unter einem Baum. Und in der Krone oben ging der Wind. Und die Fernen wanderten mit dem Gesang der Wolken. Da ging Bijge hinaus und dachte: Der Hunger wird ihn schon zahm machen.
Fjodor träumte noch immer von den Bäumen da draußen auf der Heide, wo er groß geworden war und an die hundert Schafe hüten mußte. Anduscha näherte sich und sagte ihm etwas ins Ohr. Da wurde er wild und schlug sie. Sie ging in die Ecke und weinte still. Das brachte ihn noch mehr auf. Und da lief er hinaus und trieb sich vier Tage lang unten in der Stadt herum.
Dann kam aber die barbarische Krankheit der Armen, der Hunger, über ihn, und mit leerem Magen wanderte er zur Grube zurück.
Nun stand er vor der Kantine. Giese war drin und bediente ein paar Grubenleute.
Als Fjodor schon die Türklinke mit der Hand packte, bekam er einen Widerwillen hinein zu gehen. Denn was nutzte es, den Geizkragen um Kredit zu betteln. Es gab ja doch nichts ohne Geld vorläufig.
Eine ganze Weile stand er auf der Schwelle. Drinnen soffen die Kameraden mit Giese Rum. Und er: Hunger, war gräßlich. Und solche Armut noch nie, obwohl er sich doch immer geschunden hatte. Weiß Gott. Und doch nicht schlechter war wie andere Menschen.
Nun schleppte er sich zur Baracke und stieß die Tür auf. Die Wärme schlug ihm mit unsinniger Kraft entgegen. Am Tisch saß Stijn und ein neuer Junge. Anduscha war nicht da.
Da suchte er das Bett auf und warf sich hinein in dieses Lumpennest. Bitterkeiten zerrissen sein Denken. Seine Seele schrie. Wie gräßlich leer war doch dieses Leben. Wie geplagt die Menschheit, die für die Geldsäcke der Herren, der feisten Müßiggänger, arbeiten mußte! O dieser teuflisch grinsende Fluch der Armut. Niemand hatte mehr Mut, das Joch abzuschütteln. Alles war müde und stumpf geworden. Er selber wie arm, bettelarm. Nicht einmal ein Hemd zum Wechseln!
Er schlug mit der Faust auf die Bettkante, daß ein Stück absplitterte und herabfiel.
Da kam Stijn zu ihm, fragte: »Nun … bist wohl gar krank?« Fjodor schrie ihn an: »Hast wohl Angst, daß ich Dich anstecken könnte, wie?«
Da ging Stijn und sagte nichts mehr. Nach einer Weile aber kam er zurück und fragte »Willst Du mitessen? Ich hab Speckkartoffeln gemacht …«
Fjodor bekam den Mund voll Wasser und bequemte sich aufzustehen. Als sie bei Tisch saßen und mit den scharfen Blechlöffeln aus der Pfanne das Gebratene langten, meinte Stijn so nebenbei: »Wann willst Du wieder einfahren?«
Fjodor besann sich eine Weile und antwortete ganz ohne Lust: »Heut Nacht!«
Stijn hob die Augen: »Du kommst doch wieder zu uns …? Das Gestein gibt jetzt besser nach. Acht Wagen haben wir heute früh geschafft; der Mansar und ich … Also nun komm man schon zu uns. Ich melde Dich an!«
Fjodor sprach in Gedanken vor sich hin: »Wenn mir jemand doch ein Hemd borgen würde!«
Stijn gab ihm ein reines Hemd.
Fjodor fühlte sich jetzt wohler in dem sauberen Leinen. Fragte Stijn: »Hast Du keinen Priem?«
Das war ein sicheres Zeichen für Fjodors gute Stimmung, wenn er Priem verlangte.
Stijn schnitt ein mächtiges Stück, das eigentlich für zweimal reichen sollte, ab.
Fjodor steckte es in den Mund und schluckte den frischen Saft mit Behagen hinunter.
Die Glocke läutete draußen das erste Mal.
Stijn erhob sich, zog die Bluse an und fragte Fjodor: »Kommst Du gleich mit?«
Fjodor sagte: »Geh' man schon, ich muß noch die Stiefel ölen!« Stijn schob sich hinaus.
Fjodor stand unschlüssig da, kramte in den Taschen herum, suchte etwas, wußte aber selbst nicht, was er eigentlich wollte und setzte sich wieder an den Tisch und brütete.
Nach einer Weile ging er zum Wandregal, hob die Freßkiste herunter und fand einen steinharten Brotkanten. Schimmel war schon angesetzt und grüner Schmutz. Da nahm er diesen armseligen Brotrest und putzte ihn am Hosenbein sauber, als wäre es ein Stück Messing, und setzte die Zähne hinein.
Teufel, wie Seife schmeckte das Zeug! Er spie es aus und schabte mit der Zunge die Lippen fast blutig.
Teufel, war das ein Geschmack! Eine helle Wut überkam ihn, fingerdick lag die Ader auf der Stirn.
Da schmiß er den Kanten an die Wand und fluchte: Das war, beim Teufel, ein ganz gemeiner Dreck von Brot. Der elendste Fraß auf der Welt. Haben denn andere Menschen mehr Recht auf Brot als ich? Muß ich mich nicht schinden wie ein erbärmliches Vieh?
Die Glocke läutete zum zweiten Male.
Da nahm er die Mütze, steckte die Grubenlampe an und stolperte in die Nacht.
Der Seilschläger sah ihn schief an, als er sich zur Einfahrt meldete. Fjodor fing den Blick auf und ballte schon die Faust, dem Kerl die Zähne einzuschlagen. Da kam aber der Aufseher und die Förderschale sauste ab.
Unten benahm ihm die Luft fast den Atem. Schweiß kochte aus den Poren. Er mußte sich abkühlen und lief in den alten Luftschacht. Eisiger Wind strich hier und ein Saugen wie aus dem schwarzen Brunnen der Ewigkeit herauf.
Die gelbrote Flamme in seiner Lampe zitterte und gab ein zischendes Geräusch. Er stolperte über hockrige Gesteinsstücke und fiel in Schlammpfützen, seine Beine in den durchlöcherten Schuhen brannten von der Säure des Morastes. Die Verzimmerung war fast überall schon eingesackt. Die Stempel und Balken lagen in einem wüsten Durcheinander quer im Weg. Die Steine waren mit silbernen Zapfen behangen. Der Schacht glich einer breiten Straße in der endlos weiten und weißen Polarwelt. Auf einem Holzstumpf ruhte er sich eine Weile aus und sah auf die zauberhaften Blumen, die der Frost aus den Wänden getrieben hatte. Die Lampe warf rote und blaue Reflexe auf das Geglitzer. Im Gehirn legte sich endlich der Druck, der das Denken so lange benommen hatte.
Fjodor stand wieder auf und ging den Weg zurück. An der Biegung zum Hauptschacht stieß er auf das Gerippe eines Grubenpferdes. Mindestens zwanzig Jahre mußte das hier schon gelegen haben. Die Kinnladen mit den großen, graden Zähnen gähnten sperrweit und in den leeren Augenhöhlen nistete das Eis.
Fjodor mußte an Jean denken, der vor acht Tagen noch so rot war und bald wohl auch so ausgelaugt sein würde vom Salz der Verwesung wie das Gerippe dieses armen Pferdes.
Gebeugt schlich er nun vorwärts. Wischte mit dem Blusenärmel eine Träne aus dem Gesicht.
Stijn stand schon eine Viertelstunde vor Ort, als Fjodor endlich kam. Er freute sich und sagte: »Nun wird die Not bald ein Ende haben, Bruder!«
Sie arbeiteten auf einer Sohle unter dem Hauptstollen. Die Gerüste der Zimmerung waren über mannshoch. Sie hängten ihre Lampen unter die Decke. Die Eisen sausten im Takt auf das schwarze fettglänzende Gestein. Aus den Rissen der Deckenwölbung tropfte lehmgelbes Wasser, das roch sauer und war schwefelhaltig. Es tropfte in einem regelmäßigen, die Nerven aufreibenden Rhythmus, wie das Tick-Tack einer Pendeluhr … einer Uhr in ewigem, unaufhörlichem Gang, Stunde auf Stunde, Tage und Nächte lang, Jahrzehnte – vielleicht ein Jahrtausend schon.
Nach drei Stunden hatten die Beiden die losen Stücke frei geschlagen. Nun mußten sie bohren, zehn, vierzehn, zwanzig Sprenglöcher. Dann kam der Schießmeister und preßte das Dynamit hinein, legte die Schnüre und zündete sie an. Und wenn dann die Sprengkapseln aufblitzten im Dynamit und die Ladung explodierte, wankte der ganze Berg unter dem donnernden Getöse. Die Felsstücke flogen nach allen Seiten. Und die Sohle füllte sich mit einem fetten, erstickenden Qualm.
Fjodor verkroch sich nur selten hinter den Wänden. Mit einem wilden Trotz stand er ungeschützt vor dem Sprengherd und versuchte den Tod. Stijn verwarnte ihn nutzlos. Das ging nun schon acht Tage so.
Eines Nachts, als Stijn und Fjodor wieder an einer gefährlichen Stelle vor Ort hockten, war es Fjodor, als würde ihn jemand in Pausen rufen und rufen. Die Stimme klang hohl und schien in einer ungeheuren Tiefe zu wohnen.
Fjodor wurde es allmählich unbehaglich zumute. Er machte Stijn auf dieses ferne Rufen aufmerksam.
Stijn lachte und sagte nach einer Weile: »Du denkst zuviel an den armen Jean.«
Plötzlich packte ihn Fjodor an der Schulter und flüsterte: »Horch … da ruft es wieder!«
Sie horchten jetzt beide angestrengt in die Nacht der unterirdischen Felsen hinauf. Aber keine Einzelstimme scholl herauf, nur das Geräusch der Fäustelschläge, manchmal Pferdewiehern und dann und wann das dumpfe Gedröhn von Sprengungen auf dem hinteren Stollen. Stijn reckte sich wieder gerade und beschwichtigte Fjodor: »Ich sagte Dir doch gleich, daß nichts da unten los ist. Die Stimme, die Du meinst, pocht in Deinem Blut. Du bist überreizt. Mußt besser essen. Und Schnaps saufen. Schnaps ist der beste Fiebersaft.«
Fjodor richtete sich auch wieder hoch und nahm das Eisen und schlug auf die Felsstücke ein. Das Gewölbe donnerte von den wilden Schlägen. Der Kippwagen war voll und daneben lag ein Berg, genug für einen zweiten Wagen. War das nicht wieder die ferne, klagende Stimme, die Not eines von grauenhaften Erlebnissen gequälten Menschen?
Fjodor hielt mit der Arbeit ein, warf das Eisen in die Ecke und hielt sich mit beiden Händen die Schläfen.
Wer rief von dort unten herauf immer so grauenhaft weh? Wer … Wer? Er lehnte sich mit dem Rücken an einen Pfosten, denn seine Beine drohten einzusacken. Der Lärm, den Stijn dort vorn machte, wurde ihm unerträglich, er unterbrach die Notrufe, die er doch hören und dem Zweck ihrer wehen Stöße auf den Grund kommen wollte, mit seinem ewigen Schlägelgeschmetter.
Seine Augen begannen zu flackern. Durch sein Gehirn ging eine Drehung. Feuerzungen schossen aus dem Gestein herauf und flogen durch den Gang, setzten sich überall an wie rotschillernde Falter und knisterten und zischten.
Er hob die Hände hoch und wollte schreien … ganz laut: Da bin ich …! Ich höre Dich! Ich … fühle … Dich schon …!
Und fiel um und schlug mit dem Kopf gegen einen Felsblock. Der rote Lichtschein ergoß sich auf den schwarzen Glimmer.
Fjodor lag mit ausgebreiteten Armen.
Sein Gesicht war kalt und klamm wie der Tod.
Als Stijn ihn in jener Nacht von der Grube heraufgeschleppt hatte, war ihm Anduscha schon von der Baracke entgegen gekommen. Half den Bewußtlosen betten und wischte ihm mit einem nassen Tuch den schwarzen Schlamm aus dem Gesicht.
Nun lag er schon vier Tage im Bett. Sein Gesicht hatte einen wächsernen und stumpfen Glanz. Das Fieber hatte noch Macht über sein Blut. Häufig lagen Schaum und Blut auf seinen Lippen.
Einmal, mitten in der Nacht, als die anderen Männer gerade von der Schicht gekommen waren, sprang Fjodor aus dem Bett heraus, triefenden Gesichts und mit geschlossenen Augen und schrie: »Der Teufel soll Deine Seele fressen, wenn Du mich noch einmal schlägst mit dem Stumpf … mit dem stinkigten Knochen …«
Die Männer hatten Mühe, den Rasenden zu bändigen. Sie mußten hart zupacken. Und brachten ihn wieder ins Bett zurück. Anduscha lag davor und heulte zum Gotterbarmen.
Der alte Giese nahm die Pfeife aus dem Mund, spie aus und murrte: »Ist das ein Wunder, daß unsere Leute verrückt werden bei der Schufterei und dem Saufressen?«
Stijn fuhr ihn an: »Und bei Deiner Knickrigkeit, Du Geizhals!« Da drehte sich Giese um und ging zum Fenster und sah in das Dunkel hinaus. Es tat ihm jetzt leid, daß er Fjodor keinen Kredit gegeben hatte … Nun soll er aber soviel bekommen, wie er braucht …
Am sechsten Tage endlich war das Fieber verraucht und Fjodor schlug die Augen auf. Es war ihm, als wäre er aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht. Und lag jetzt da und fühlte das klare Licht des Tages und sein Herz bebte. Sein ganzer Körper war gleichsam zu einem froh klopfenden Herzen geworden.
Anduscha saß auf einer Bank vor dem Bett. Ein großes, grobes Wolltuch bedeckte ihre Schultern. Sie fror, obwohl der Ofen eine knarrende Hitze abgab.
»Dein Gesicht war eben so froh, Liebster,« sagte sie.
Er nickte. Und dachte darüber nach, was er wohl Frohes geträumt haben mochte. Und konnte sich auf nichts besinnen. Und sein matter Blick legte sich auf Anduschas Gesicht.
Was war das doch für ein grenzenloser Jammer um Anduscha, die auf ihn wartete und wartete, fünf Jahre schon … und der er doch nichts geben konnte als die elende Armut seines Herzens.
Ihr Kopf sank vor Müdigkeit auf die Brust, der Schlaf pochte an ihre Augen und streute den schweren Sand hinein.
Plötzlich fühlte sie Fjodors schmerzlichen Blick auf ihrem Gesicht brennen und erschrak und entschuldigte sich: »Ach, ich war auf einmal so müde … soll ich Dir was bringen? Wasser, oder einen Bissen Brot?«
Fjodor schüttelte den Kopf.
Sie trocknete mit der Kante des Tuches etwas Speichel vom Kinn und zog das grobe, kratzige Gewebe fester um den Hals. Sie fühlte, das Fjodor noch immer seine Augen in ihr Gesicht bohrte. Da senkte sie den Kopf und versuchte etwas zu sagen, das aber nicht Wort werden wollte, wie sehr sie damit auch rang. Schließlich kam es doch heraus und tönte zu dem Kranken hin: »Fjodor … mir war so schrecklich bang um Dich!« Ihre Wangen näßten sich und auf ihrer Brust lag ein heftiges Zittern.
Fjodor fühlte, daß er nun etwas sagen mußte, um sie zu trösten, um für das Opfer, das sie ihm gebracht hatte, den Dank zu finden, der sie froh machen konnte.
Aber auch ihm blieben die Worte nur ein tonloses Lallen, ein heißer Schauer lief über sein Herz hin.
Nach einer langen Pause bat er sie, ihn besser zuzudecken. Und das Kissen heraufzurücken.
Als sie sich nun über ihn beugte, und das Kissen herauflegte, und die Decke glatt zog, da nahm er ihre Hand und zog sie an sein Herz heran und stammelte: »Wenn auch die Armut jetzt so groß ist, Anduscha, bald soll es besser werden. Für Dich und für mich. Und für die Stube, wo wir alle wohnen werden.«
Sie küßte seinen Mund und seine Augen.
Und ging zu ihrem Bett hinüber und weinte sich in einen von frohen Träumen überwölbten Schlaf.
Am anderen Tag fühlte sich Fjodor frisch und kräftig genug, die Arbeit aufzunehmen. Er sah zwar noch bleich und schwach aus. Aber seinen Knochen hatte dieser tagelange Schlaf so wohl getan.
Giese war gerade in der Baracke, als Fjodor aufstand und zu Stijn sagte, daß er heute wieder einfahren wolle. Da holte er aus dem Schrank ein halbes Brot heraus und ein Stück Speck und legte es Fjodor in den Arm: »Da, mein Bruder, damit Du mir da unten nicht wieder umfällst … Und wenn Du sonst noch etwas brauchst … ich gebe Dir gern ohne Geld diesen Monat.«
Fjodor war gerührt und schüttelte Giese die Hand.
Am späten Nachmittag ging Fjodor mit seinen Kameraden zur Schicht. Er war den ganzen Weg über aber nicht so gesprächig, wie er es früher war. Durch seine Seele stürmte ein Verlangen nach dem Erlebnis des Frühlings, nach der Sonne und dem jungen Grün in den Wäldern. Vierzehn Tage ging Fjodor mit diesem Begehren zur Grube und hielt sich unten aufrecht und trug die Schwere der Fron mit heiterer Gelassenheit.
Eines Abends, als er von der Schicht kam, strich ein lauer Wind in der Luft. Der Himmel war regengrau und ein dichter Nebel umdampfte die Waldberge. Es schmeckte nach braunen Märzknospen. Der Frühling war auf der Reise.
Tiefatmend wölbte Fjodor die Brust heraus. Ihm war froh zu Mut. Der Schlaf wich aus den Gliedern und das Grübeln aus dem Blut. An diesem Abend sprach er lange mit Anduscha, die sich schon drei Monate Mutter fühlte, und sie kamen überein, im Mai zu heiraten.
Mit jedem Tag sank der Schnee auf den Halden immer mehr zusammen. Hinter der Baracke, auf dem Stückchen Feld, lagen ein paar Rasenflecke frei in der Sonne und hatten schon einen leichten grünen Schimmer.
Da dachte Fjodor, daß er am Sonntag gut zu seiner Mutter gehen könne, um mit ihr über Anduscha zu sprechen und daß er sie im Mai heiraten wolle.
Und in der grauen Frühe dieses Sonntags machte er sich auf den Weg. Das Dorf, wo seine Mutter in Witweneinsamkeit im Spital lebte, war gute vier Stunden von hier aus in den Waldbergen.
Der Nachthauch fiel in glitzernden Silbertropfen von den goldbraunen Birkenruten. Zwischen den Steinen wucherte Kraut mit dem zarten Flor des jungen Grüns. Die Amsel schlug helle Triller. Der Maulwurf warf überall Erde hoch. Büchsenschüsse krachten. Die Sonne begann den Himmel zu röten.
Fjodor nahm die Mütze ab und ließ die Frische des Waldes durch sein Haar streichen. Ihm war, als wandle er zum Hochamt der göttlichen Gnade. Jetzt war die Höhe der Waldberge erklommen und auf der Lichtung ruhte sich Fjodor aus, aß einen Kanten Brot und wartete, bis der Nebel das Dorf freigab, wo seine Mutter hauste.
Nach einer halben Stunde reckte sich der Kirchturm auch aus dem Grau herauf und nach und nach lagen die Schieferdächer blank in der Sonne.
Mit einem lustigen Gesang auf den Lippen stieg Fjodor hinab und läutete am Tor. Der Pförtner schüttelte den Kopf über den frühen Besuch und wollte ihn zuerst nicht hereinlassen. Aber da Fjodor so rührend bat, gab er ihm den Weg frei.
Mutter lag in dem kleinen Bodenstübchen noch im Bett. Sie schlief und ihre runzligen braunen Arme ruhten ausgestreckt auf der großkarierten Kattundecke.
Leise trat Fjodor näher, nahm ihre Hand, die sich kalt und hart wie Stein anfühlte: »Mutter!«
Sie schlug die Augen auf und ein müdes Lächeln lief über die Furchen des Gesichtes.
»Kind, mein Kind, eben habe ich so schön von Dir geträumt … warst der kleine, auf der Wiese spielende Junge … Wie gut, daß Du nun da bist!«
Er setzte sich auf die Bettkante. Und strich ihr liebkosend durch das eisgraue Haar.
Sie lächelte.
»Du bist immer so lieb zu mir gewesen, Mutter!
Und blieb lange so sitzen und sah sie wieder und wieder an. In den Fensterscheiben lag jetzt der helle Sonnenschein.
Und da erzählte er alles von Anduscha. Und daß im Mai die Hochzeit sein sollte.
Die Nächte waren noch immer kalt und grau. Fjodor fror, wenn er aus der Grube heraufkam, wie er im schärfsten Winter nicht gefroren hatte. Er arbeitete wie ein starkknochiges Pferd vor Ort und seine Hose und sein Hemd waren immer triefend naß.
Aber er mußte ja schuften, zehn, elf Schichten die Woche. Denn zum Hochzeitmachen gehörte doch Geld. Und mit Anduscha war es höchste Zeit.
Als sie eines Nachts wieder durchfroren von der Grube kamen, lag Parva, der Grubenvogt, auf der Bank am Ofen und schnarchte unter dem dicken Pelz, mit dem er sich zugedeckt hatte.
Stijn polterte zu ihm hin und sah sich diesen Antreiber von der Nähe an. Er spürte eine Lust, die Bank umzukippen. Damit der Kerl auf die Erde rolle. Was hatte der in der Baracke zu suchen?
Da kam ihm auf einmal ein anderer Gedanke. »Halt«, sagte er, »Du armer Schelm darfst bei uns doch nicht frieren … warte mal … einheizen werden wir Dir, daß Deine alte Schwarte braun und knusprig wird!«
Und ging an den Ofen, riß das Feuerloch auf und warf ein halbes Dutzend Schaufeln ganz fette Kohlen hinein.
Jetzt wurde der Ofen gelbweiß vor Glut und die Luft so trocken und glühend, daß Stijn sich die Bluse erst und dann noch das Hemd ausziehen mußte. Die Kameraden fingen an zu fluchen, obwohl sie wußten, warum Stijn dieses Höllenfeuer schürte.
Plötzlich wachte der Vogt auf von der infernalischen Hitze. Sein Gesicht troff blaurot von Wasser. Er warf den Pelz herunter, tastete mit den Beinen nach einem Halt und schlug lang auf den Steinboden.
Ein helles Gekicher war in der ganzen Baracke laut. Das alte Weib mit den Triefaugen schrie: »Jetzt weiß der Satan endlich was Schwitzen heißt!«
Mühsam richtete sich der Vogt auf und in seinen Augen war ein böser Glanz, als er die Baracke verließ.
Fjodor riß ein Fenster auf und stellte sich breit in den frischen Luftzug. Ihm war, als strichen zarte Frauenhände durch sein Haar.
Der Himmel aber war schwarz und ohne Sterne.
Die Bergarbeiter legten sich einer nach dem anderen hin. Stijn saß in seiner Ecke auf dem Bettrand und kratzte sich die Beine. Er pfiff ein sündhaftes Lied dazu.
Fjodor hatte noch Lust auf einen Topf Kaffee und wärmte sich den Rest aus der Grubenflasche auf.
Anduscha schleppte sich hundemüde, mit dem Besen in der Hand, durch die Stube und kehrte den Schmutz zusammen. Ihr Gesicht war in den letzten Wochen bleigrau geworden. Das rote Mieder trug sie jetzt offen über der Brust, die geschwollen war und in den Warzen schmerzte. An den Rockbund hatte sie eine neue Öse nähen müssen.
Fjodor saß am Tisch und trank seinen Kaffee. Er sah Anduscha, als er den Topf über die Nase stülpte, bekümmert an. Auf seiner Stirn regte sich die böse Ader.
Da kam Anduscha zu ihm hin, wischte mit der Hand ein wenig Schmutz von seiner Bluse.
»Liebe Anduscha«, sagte er. Stellte den Topf hin und klopfte ihr lächelnd auf die Lenden.
Anduscha drehte sich ganz zu ihm herum und setzte sich auf seinen Schoß. Flüsterte ihm zu: »Der Tischler Weech will uns die Möbelstücke für 150 Franken auf Kredit geben. Jeden Monat brauchen wir bloß 10 Franken abzahlen … Ist das nicht freundlich von dem Mann?«
Fjodor knurrte, griff in die Tasche nach der Tabaksdose und biß einen Priem ab.
Nach einer Weile knurrte er wieder: »Und wenn wir die 10 Franken einmal nicht bezahlen können, pfändet er uns den Lohn! Kenn' das schon … Aber was sollen wir elenden Hunde machen?«
Anduscha lächelte ein wenig und schleppte sich weiter mit dem Besen.
Nun legte sich auch Fjodor hin und nach einer Weile kam Anduscha zu ihm gekrochen und heulte sich aus …
Fjodor wurde erst wach, als die Glocke schon zum dritten Male läutete. Die anderen Bergleute saßen arbeitsfertig am Tisch, die Lampen in den Händen und die Zündschnüre um den Hals. Schlaf, freilich, lag allen noch in den Gliedern. Kein Lächeln, keine Spannung war den Gesichtern gegeben. Die Müdigkeit und der Mißmut wucherten gleichsam in der Luft als Keimzellen einer bösen Seuche.
Fjodor trank im Stehen lieblos den heißen Kaffee und Anduscha steckte ihm den Kanten Brot in die Tasche. Und einen Handkäse, den sie sich vom Mund abgespart hatte, dazu.
Nun kam der Vogt und jagte die Leute hinaus. Sie schleppten sich zu dem Gewerk hinab wie eine Schar Kriegsverwundeter. Fast alle hatten sie ein Merkzeichen aus dem Getümmel auf dem Schlachtfeld der Arbeit davongetragen. Einige hinkten, andere hatten krumme Rücken und Lenden. Die Einäugigen starrten mit den großen dunklen Pupillen, wie Hilfe suchend umher. Die Lahmen schritten für sich und kamen nur langsam vorwärts. Die Greise aber, mit ihren eingedrückten Knien, blieben die letzten im Zug. Das flackernde Licht der vielen Lampen durchwogte die Reihen. Es sah aus, als wateten die Menschen durch ein Flammenmeer. Schließlich verschluckte sie der Grubenhof mit seinem Gewirr von Gebäuden, Türmen, Kohlenhaufen und Maschinengerümpel. Bald kamen die ersten Kippwagen aus der Wäscherei und türmten neue Halden vor dem Schacht. In dem Verwaltungsgebäude aber war alles noch dunkel bis auf die Fenster der Aufseherstube.
Unten, wo Fjodor und Stijn zusammen in einem Gedinge hockten und drauflosschlugen, daß die Funken wie ein Hagelwetter ihre Gesichter umtobten, war man sich einig, heute drei Wagen mehr zu laden. Denn es war Lohntag und das hieß soviel, daß aus der Frühschicht nichts wurde. Fusel mußte man zur Feier doch trinken. Aber der schwere Schädel nach der Sauferei brauchte mehr Schlaf, als die fünf oder sechs Stunden, die man sich sonst gönnen konnte.
Stijn trällerte ein lustiges Lied und sah sich nach Fjodor um, ob er nicht bald mitsingen würde. Warum immer diese Grillen? Wenn's Geld gab, durfte kein muffiges Gesicht mehr sein.
Fjodor aber dachte daran, wieviel Geld er heute wohl weglegen könne, um dem Tischler die Möbel anzuzahlen. Und für einen Braten und eine Flasche Schnaps mußte doch auch Geld übrig sein. Er rechnete und rechnete. Und kam zu keinem frohen Resultat. Ob er wohl die vom Vater ererbte silberne Uhr verkaufen könnte? Fünfzehn Franken dürfte Giese schon dafür geben.
Er nahm sich vor, Giese dieses Angebot zu machen. Die Stunden flogen rasend schnell vorüber. Durch den Schacht schellte das Schichtwechselsignal.
Fjodor rückte den Rücken gerade und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus den Augen. Zog darauf die Bluse über und langte nach der Lampe. Stijn war auch fertig und warf die Eisen mit einem frohen Fluch in die Ecke, rieb sich vor Vergnügen die Hände.
Jetzt schritten sie lang aus, um mit dem ersten Schub zum Förderkorb zu kommen. Die Sohle war aber seltsamerweise leer. Die Kameraden in den Seitenschächten mußten wohl schon ein paar Minuten früher aufgehört haben.
Plötzlich stießen sie, kurz vor dem Seilgerüst, auf ein böses Hindernis. Da stand quer ein Wagen in den Schienen. Irgend ein Lümmel hatte nicht aufgepaßt und die Räder aus dem Gleis springen lassen. Blieb das Biest hier so stehen, konnte in der Nachtschicht ein Unglück geschehen.
Stijn und Fjodor strengten sich an, das Ungetüm wieder aufs Gleis zu bringen. Es wollte nicht gelingen. Da kam Fjodor die Wut hoch –: Das Biest von Hund muß rauf und wenn der ganze Berg einstürzt! Er kroch auf den Knien unter das Wagengestell, krallte sich mit den Händen in den eisernen Laschen fest und sammelte seine Kraft mit einem tiefen Atemzug … Ein einziger Ruck, und da stand die Kiste wieder gerade auf den Schienen.
Stijn lachte: »Na, siehst Du … was Du noch für Saft in den Knochen hast. Anduscha wird nichts zu lachen haben bei Dir im Bett.«
Fjodor fühlte aber Stiche in der Brust und wie er sich mit dem Blusenärmel den Mund wischte, war es Blut, was da so feucht klebte. Er spuckte aus. Wahrhaftig Blut. Teufel noch mal!
Es war aber keine Zeit, lange nachzudenken. Der Seilschläger meldete den Korb. Und im Nu gings hoch.
Im Kassenraum war es gerammelt voll von Wartenden. Dreckig und speckig wie sie von Ort hochgekommen waren, standen die Bergleute da und lauerten, bis sie aufgerufen wurden. Sie drehten ihre Mützen in den Händen und schielten nach dem Kassierer, der hinter dem Gitter saß und mit seinen weißen Spinnenfingern in den Bündeln der Papierscheine blätterte.
Der Kassierer verlangte Respekt von den Grubenleuten. Wehe, wer mit der Mütze auf dem Kopf an den Zahltisch trat.
Mit einer fast hündischen Unterwürfigkeit nahmen sie das Geld in Empfang. Und murmelten ein Dankwort. Und der Kassierer äugte gnädig von oben herab und nickte befriedigt.
Endlich wurde auch Fjodor gerufen. »Fjodor Brussow! Der Lohn ist gepfändet vom Spital Sankt Martin!«
Fjodor wurde weiß und taumelte. Stijn fing ihn auf, sonst wäre dieser starke Mensch hingeschlagen wie ein Sack. Schnell aber kam die Kraft zurück. Seine dunklen Augen phosphoreszierten, die Haarsträhnen flogen aus der Stirn –: »Der Teufel soll mich holen!«
Mit einem Satz war er wieder am Schalter und schrie: »Mit welchem Recht darf mir der gesamte Lohn gepfändet werden? Soll ich den ganzen Monat hungern?«
Der Kassierer kicherte: »Deine Mutter will doch auch fressen und schlafen im Spital … Zahl deine Alimente pünktlich jeden Monat, dann kommt man auch nicht pfänden …«
»Ich habe nicht einen Happen zu fressen, nächsten Monat!«
»Der nächste!« schrie der Kassierer.
Fjodor wich nicht und tobte wild. – »Ich muß den Vorschuß haben, 50 Franken wenigstens!«
»Keinen Cent geben wir!«
»Das ist Satansunrecht, Kassierer!«
Da warf der Kassierer zornig das Lohnbuch bei Seite, sprang vom Stuhl auf, trat dicht an das Fenster und zischte: »Wenn Du noch ein Wort sagst, kannst Du Dir wo anders Arbeit suchen … Lumpenkerl!«
Da schlich Fjodor wie ein geprügelter Hund hinaus und hatte Tränen vor Schmerz und Wut. Wie sollte das mit der Hochzeit werden? Zum Essen würde Giese schon Kredit geben. Aber all das andere … Der Pfarrer und die Sauferei nachher … womit sollte man das bezahlen?!
Er hatte keine Lust in die Baracke mit dieser Laune zu gehen. Auf dem halben Weg stieß er mit Stijn zusammen, der auf ihn wartete.
Stijn fragte: »Na, bist Du zufrieden diesen Monat? Hundertzehn Franken habe ich gemacht. Und Du?«
»Einen Dreck!« knurrte Fjodor und erzählte Stijn die Gemeinheit mit der Pfändung. »Du kommst auch aus dem Pech nicht mehr raus … na, wir wollen mal sehen, ob sich nicht etwas machen läßt.«
Fjodor hörte gar nicht hin. Wie er in die Baracke kam, ging der Fusel schon um und ein unbändiger Lärm tobte. Es überlief ihn eiskalt. Er setzte sich gleich an den Ofen und drehte den lustigen Kameraden den Rücken zu.
Nach einer Weile klopfte Giese Fjodor auf die Schulter. Hatte ein verschmitztes Lächeln im Gesicht und sagte: »Hör mal Bruder. Das war nicht schön, daß das Spital Dir den ganzen Lohn gepfändet hat. Die Hälfte, das wär auch schon zuviel gewesen. Aber hungern sollst Du nun doch nicht. Ich will Dir diesen Monat noch das bißchen Fressen aufschreiben … Aber Du wirst auch sonst noch mancherlei brauchen … Heiraten kostet Geld. Und da haben wir alle ein bißchen gesammelt für Dich. Hier … Du Pechvogel!«
Fjodor sprang ganz verwirrt auf. Wog das viele Geld in der Hand. Sah Giese an und die andern, die am Tische saßen und leise lachten. »Vergelts Euch Gott!« sagte er. Und ging zum Tisch und drückte jedem die Hand.
»Arme Leute müssen sich gegenseitig aushelfen,« meinte Stijn, der die Sache eingefädelt hatte mit dem Sammeln und holte seinen Priem aus dem Mund, legte ihn solange vor sich hin, spuckte nach dem Ofen aus und putzte sich die Lippen.
Fjodor mußte sich jetzt an den Tisch setzen und mittrinken. Und Anduscha, die gerade von draußen kam, auch. Es wurde ein verdammt lustiger Abend, Giese spielte auf der Ziehharmonika. Fjodor gab sich nicht eher zufrieden, bis Anduscha mit ihm einen Krakowiak tanzte.
Zwei Sonntage darauf war Hochzeit in der Baracke. Der Pfarrer tat Fjodor und Anduscha zusammen. Sie knieten auf einer leeren Margarinekiste, die Giese heruntergebracht hatte. Als Zeugen wurden Stijn und der Aufseher Moyrén aufgerufen.
Der Pfarrer war nicht sanft mit Worten, weil es für Anduscha schon hohe Zeit war, daß sie den Mann bekam. Er weihe sie für den heiligen Stand der Ehe auf dem sumpfigen Weg des Leichtsinns und der Sünde, sagte er.
Anduscha spürte Brechreiz vor Scham und Ärger.
Der Pfarrer verschwand aber bald. Und da ging der Trubel los. Die ganze Nacht wurde gesoffen und getanzt. Sogar der Steiger war auf eine Stunde gekommen und hatte Fjodor eine englisch-lederne Hose zum Geschenk mitgebracht und für Anduscha fünf Meter Leinwand. Fjodor, schon halb betrunken, wollte ihm einen Kuß geben. In der Frühe ging von der ganzen Bande nicht einer auf die Grube. Anduscha mußte einen starken Kaffee kochen. Das war ihr letzter Dienst in der Baracke.
Am Abend saß sie schon in ihrer Hütte. Das war früher einmal ein Pferdestall gewesen. Nun hatte man mitten eine Bretterwand gezogen und zwei Stuben daraus gemacht. In der einen hauste der Maschinist Streuwel mit sechs Kindern, und die andere hatten jetzt Fjodor und Anduscha.
Fjodor war nicht beglückt von dieser Behausung. Aber Anduscha meinte: man hat doch wenigstens ein Dach überm Kopf.
Schlimm war es, wenn man im Kochherd feuerte. Dann stank es gemein nach Pferdemist, der unter dem dünnen Fußboden lag und faulte. »Hautausschlag und Eiter in den Augen kriegt man davon«, brummte Fjodor.
Anduscha tröstete ihn mit stillem Lächeln.
Sie blickte, während Fjodor hämmerte und sägte, ab und zu aus dem kleinen Fenster, Da schlängelte sich der Grubenweg, braunrot mit tief ausgefahrenen Wagenspuren. Und ganz unten, nicht mehr so drohend anzusehen wie von der Baracke aus, rauchte der Betrieb der Grube und lag verwischt wie hinter einer Milchglasscheibe. Über den Waldbergen stieg der frühe Mond empor. Die Sonne ließ seinen perlmutterweißen Glanz noch nicht durch.
Anduscha dachte: Hier werde ich nun jeden Abend stehen und auf Fjodor warten, wenn er aus der Grube kommt. Und wenn er nahe genug an dem Haus ist, gehe ich ihm entgegen mit dem Kind auf dem Arm.
Wenn es ein Junge ist, soll er Fjodor heißen.
Es war eine tiefschwarze Nacht. Weder Stern und Mond standen am Himmel. Die Wolken flogen tief und stießen sich an den Waldkuppen. Da gab es ein Heulen und Brausen in den Wipfeln, als wäre der Stein von der Hölle gewälzt.
Anduscha ging mit dem kranken Kind, das ein Mädchen war, auf und ab in der Stube. Es jammerte und winselte und hatte einen unheimlich großen Kopf.
Fjodor wälzte sich unruhig auf dem Lager. Der Schlaf wollte nicht in die Augen kommen. Das Kindsgeschrei war nicht auszuhalten. Immer war dieses fürchterliche Geplärr um ihn. Draußen und hier drinnen. Sein Kopf war schon ganz zerfasert davon. Es war ihm, als läge etwas in seinem Gehirn, das da mitheulte und röchelte und hustete. Er sah Anduschas zusammengeschrumpfte Gestalt, so oft sie an seinem Lager vorübertaumelte. Nie kam eine Klage von ihren Lippen. Nur müde, grauenhaft zerschlagen war sie vom ewigen Herumschleppen des siechen Körpers.
Aber kann man denn sein eigen Fleisch und Blut so herzlos liegen lassen in den Schmerzen, sein eigenes, liebes Kinderseelchen? Sie wiegte es mit einem leisen Singen und tuschelte und lullte es ein. Und wenn es dann schlief, schlich sie durch die Stube und nahm sich in acht mit der Arbeit, damit das Kind ja nicht wieder wach wurde. Der Schlaf umwogte sie selbst wie ein graufeuchter, bedrückender Nebel.
Draußen war es noch schwärzer geworden. Die Wolken lagen schon tief auf der Erde und gossen den Regen in dicken Strichen. Sie setzte sich ans Fenster und starrte hinaus mit wehen, tränenlosen Augen. Sie hörte Fjodors schwere Atemzüge unter der Decke. Und da kam auch ihr der Schlaf und machte den Kopf so schwer, daß er auf die Brust fiel. Sie wachte jedesmal auf davon. Und horchte eine Weile in die Stube hinein. Jenseits der Bretterwand schnarchten die sechs Kinder Streuwels. Und knirschten mit den Zähnen vor Hunger. Von der Grube herauf schrillte eine Glocke. Schichtwechsel.
Da erwachte das Kind jäh und schluchzte in krampfhaften Zuckungen. Es blieb Anduscha nichts anderes übrig, als mit dem kranken Wurm die Wanderungen durch die Stube wieder aufzunehmen. Das ging eine Stunde lang, bis der Schlaf die entzündeten Augen des Kindes wieder für eine Weile schloß.
Irgendwo in der weiten schwarzen Nacht meinte Anduscha ein anderes Kind weinen zu hören. Sie konnte es nicht fassen, wo es wohl sein könnte.
Sie stand am Fenster und stieß ihr ganzes Denken in das Dunkel hinaus. Aus den Wolken, die sich gegenseitig zerfetzten, schimmerte ein großer Stern herab. Der dünne Lichtstrahl zärtelte sich zitternd durch die Scheiben. Anduscha atmete tief und fühlte sich irgendwie in ihrem Herzen beglückt von der silbernen Welle des Lichts.
Aber plötzlich erlosch es wieder. Die Nacht wälzte sich schwarz und regenkalt an die Hütte heran.
Dann wieherte ein Pferd. Der Tierlaut klang in der eisigen Stille wie ein heißer Notruf zu Gott.
Anduscha brach vor Müdigkeit zusammen. – – –
Fjodor mußte sich schwer strecken unten im Schacht, um mit seinen Kameraden gleichzustehen in der Leistung. Seine alte viehhaft unbändige Kraft war gebrochen. Das Gefühl des Schwindels nahm beständig zu. Seine Glieder sackten manchmal zusammen, wie wenn jeder Nerv darin abgetötet wäre von einem schnellwirkenden Gift.
Schließlich kam es soweit mit ihm, daß er nur die Hälfte von dem schaffte, was seine Kameraden bewältigten. Da mußte er die Arbeit unter Tag aufgeben und vor den Dampfkessel als Heizer antreten.
In den ersten Tagen gefiel ihm diese Arbeit, er fror nicht dabei und auch der Schlaf drückte nicht mehr so stark auf sein Gehirn. Wenn das Feuer der großen Heizungshöhlen aus der offenen Tür heraussprang und sein Gesicht beschien, bewegte sich der Mund zu einem leichten Lächeln.
Anduscha erzählte er jetzt wieder lustige Geschichten, wenn er schwarz wie ein Hottentotte von der Schicht kam. Und sagte ihr auch, daß er mit dem neuen Posten keinen schlechten Tausch gemacht habe. Und klopfte ihr auf die Schultern und versprach ihr einen neuen Rock zum Lohntag.
Anduscha hatte es immer schwerer mit dem kranken Kind. Das Fieber wollte nicht weichen und auf seinem Gesicht lag der Ausschlag wie ein schwammiges Gewächs.
Sie trug es Tag und Nacht auf den Armen herum und wollte ja auf Schlaf und Essen und alle Freuden gern verzichten, wenn nur die Gesundheit dem armen Wurm wiederkäme.
Nach einigen Tagen aber versank Fjodor in die alten Grübeleien. Die gallige Not der Seele war wieder da. Hatte er denn überhaupt eine Seele, die in aller Ewigkeit leben mußte? Und in der Qual der Verdammung brennen ohne ein Fächeln von Kühle und Tröstung?
Wie mußte das wohl sein, wenn er jetzt tot wäre, zerrissen von der Maschine wie Jean, oder erschlagen von einem Gesteinsturz wie so viele schon, die unten im Schacht froh bei der Arbeit gestanden hatten.
Ach, wäre er doch damals schon zugleich mit Jean umgekommen. Dann wäre der Tod endlich überstanden. Jetzt aber stand man ihm als Feind gegenüber und mußte das Grinsen ertragen ohne Widerstand.
Jeden Tag kam fortan dieser Mißmut über ihn, wenn er an der Maschine saß und in das dumpfe Sausen der Räder horchte, ob nicht jenes Rufen darin war, dem er mit frohen Augen folgen wollte. Er wußte nicht, weshalb er sich so abmühen wollte. Ihn fror und hungerte auch nicht. Nur die Zeit schlich so entsetzlich träge dahin. Er wurde unsäglich müde und willenlos. Das Räderbrausen klang so schwer und betäubend, die langen Treibriemen winkten ihm gleichsam in ihrem pausenlos geschäftlichen Lauf zu mit einem eintönigen Geplärr. Und die Feuer unter den Kesseln glotzten unaufhörlich ihre zischende Qual in die Dunkelheit der Welt. Wenn man nachts wenigstens ordentlich schlafen könnte. Aber da lärmte das Balg zum Gotterbarmen.
Der Anblick Anduschas, wenn sie gebeugt in dem schwarzen Loch des Fensters hockte, peinigte ihn auch. Oft fuhr er vom Bett auf, schlüpfte fröstelnd in die Kleider und nahm ihr das Kind ab. Er hopste mit dem Wurm in der Stube hin und her, daß ihm die teerspeckigen Hosen nur so um die Beine klatschten. Er summte unaufhörlich wortlose Lieder, den Takt mit den Holzschuhen schlagend. Der große Kindskopf rollte gleichsam in seine Seele herunter wie ein furchtbarer Fluch Gottes. Diese unnatürlich großen, grauen Augen, dieser wollige Nacken und dieses hautlose Kinn! Herr Gott –: diese ausgedorrten Glieder, dieses Gestell wie aus Holz!
Er sprang mit dem Kinde durch die Finsternis, als trüge er sein schwarzes Gewissen auf den Armen, sein ganzes verfluchtes und zweckloses Leben.
Da mußte er das Kind wieder in Anduschas Arme zurücklegen. Das Gefühl des Schwindels zerrte ihn fast zu Boden. In der Brust bohrte ein langes spitzes Messer. Und so sank er auf den Holzstuhl am Ofen, saß stundenlang und starrte zu Boden, wo der Schein der Glut wie geronnenes Blut klebte. Er stöhnte unter den Schmerzen.
Nein, dieses Hundeleben war wahrhaftig nicht auszuhalten!
Aber mit eins, da schreckte er auf, griff sich an den Kopf, stöhnte und atmete schwer. Der Schemel unter ihm schob sich in die Höhe. Er sprang auf. Da unten, irgendwo tief in der Erde war ein gewaltiges Läuten. Und ein Summen von tausend Menschenstimmen.
Blitze zuckten vor seinen Augen. Durch seine Ohren donnerte ein Höllenspektakel. Dazwischen dröhnten Posaunen. Und eine Stimme scholl groß und herrisch über den Stimmen der Vielen.
Mit einem Male war wieder alles still. Rein nichts rührte sich. So blödsinnig still war alles. Nicht auszuhalten. Er nahm die Ringe vom Ofen, nur um ein Geräusch zu machen. Denn die Stille war ja unerträglich.
Anduscha, die eingeschlafen war, wachte auf und bat ihn, doch ins Bett zu kommen. Er wollte nicht. Da kam sie, legte ihre Hand auf seine Stirn und beruhigte damit seine Erregung.
An ihrem fieberheißen Körper kam sein Blut wieder zurück zum Herzen. Und machte endlich den Schlaf frei.
Eines Abends aber, als er wieder so zergrübelt am Dampfkessel saß, überlief es ihn plötzlich eiskalt. Er sah aus der Ecke, wo die Kohlen lagen, die Konturen eines Gesichts sich schälen. Er reckte sein Gesicht dorthin und stielte die Augen weit vor. Ein eisiger Hauch blies ihn an. Ein ekelhafter Geruch strömte.
Nun bekam das verwischte Gesicht der Erscheinung Form. Blauweiß wie ein schwelender Phosphorklumpen schimmerte es.
Es war das Gesicht des toten Jean.
Da sprang er auf, nahm eine Schaufel und schlug wie wild nach dem näherkommenden Gesicht. Es wich nicht von der Stelle. Die Schaufel glühte jetzt ebenso phosphorhell, wie das Gesicht.
Er taumelte gegen das Feuerloch. Der kalte Schweiß brach ihm aus. Er versuchte zu schreien, aber die Zunge lag schwer im Mund. Da stürzte er in das Freie hinaus, halbnackt, barhäuptig. Draußen im Schneesturm erwachte er wie von einem bösen Traum. Er irrte eine halbe Stunde in der Dunkelheit herum.
Endlich war sein Kopf wieder klar. Als er in das Kesselhaus kam, waren die Feuer beinahe ausgebrannt.
Anduscha wurde immer elender. In der Stube grinste die Armut unheimlich. Und das Kind war schon so herunter, daß sein Schreien nur noch wie ein rasselndes Atmen schallte.
Sie ging mit leerem, nichtssagendem Blick umher, ihre Worte fielen dazwischen ohne Wärme und Klang. Sie murrten wie aus einer düsteren Höhle herauf.
Manchmal kam die alte Barthou von der Baracke herauf und half Anduscha bei der Arbeit. Nahm ihr das Kind ab und setzte sich an den Ofen, damit Anduscha wenigstens eine Stunde Ruhe habe. Und dann kroch sie unter die Decke, verkommen und abgezehrt, wie ein Tier verwildert und stumpf.
Mit Fjodors Wahnvorstellungen wurde es von Tag zu Tag schlimmer. Er sah Jeans Gesicht jetzt auch bei Nacht in der Stube. Es stieg hervor zwischen Ofenrohr und Wand, reckte die Knochenhand und winkte mit einem blutigroten Taschentuch.
In seinem Unterbewußtsein fühlte er, daß dies Wahnsinn war, der an seinem Gehirn zerrte, um es zu unterjochen. Er nahm sich vor, am Sonntag in die Stadt zum Arzt zu gehen. Als der Sonntag dann da war, gab er es auf, in die Stadt zu gehen, holte sich vielmehr von Giese ein Achtel Schnaps und trank Glas um Glas und hatte seine Ruhe für den Tag.
In der Nacht aber, wenn das Kind wieder zu wimmern anfing und Anduscha es herumtrug, war der Wahn wieder mächtig. Und es geschah jetzt, daß er in solchen Nächten vor dem Schreien des Kindes in die Nacht hinausfloh. Rannte, und stehen blieb und lauschte, weiter lief, bis das Kindergeschrei ihn nicht mehr erreichen konnte.
Anduscha litt unbeschreiblich unter diesem Jammer, sie wußte sich keinen Rat. Sie hatte niemand, den sie um Beistand anrufen konnte. Oft legte sie ihre Arme schmeichelnd um Fjodors Nacken, und versuchte ihn mit sanften Worten und Zärtlichkeiten zu beruhigen. Sie bat und bettelte unter Tränen, er möge sich doch nicht so unterkriegen lassen von dem Jammer und der Armut dieses Lebens. Die Nacht würde doch nicht ewig dauern. Irgendwann müsse gewiß auch das Morgenrot aufgehen.
Er schob sie aber von sich, als wäre sie ein toter und kalter Gegenstand. Und wenn sie zögerte, von ihm zu gehen, schlug er sie. In ruhigen Augenblicken wieder, litt er ihre Tröstungen und weinte auf ihre Hand schwere Tränen und klagte, daß das Schicksal mit keinem Menschen es so böse meine, wie gerade mit ihm. Wo, um alles in der Welt sei er denn schlechter als die hundert Menschen in der Nachbarschaft? Die lebten ihren Tag redlich und in Frohheit, und wenn auch Armut auf den Schwellen ihrer Stuben läge, so sei sie doch nicht so unbarmherzig und hart wie dieser Jammer hier. Alle seine Gedanken brachen gleichsam aus einer schrecklichen Wildnis hervor und standen angstallein in der sternlosen Nacht … Ja, kein Stern war in dieser Nacht. Nur das Grauen. Und der geisterhaft röchelnde Tod.
Anduscha verstand, daß er unmenschlich zu leiden hatte. Und sie konnte ihm nicht helfen, wie sehr sie sich auch mühte.
An seinem Wahnsinn führte kein Weg vorbei.
»Ja«, sagte er, als ihn Anduscha eines Nachts wieder beruhigt hatte, »ja, die Nacht … die furchtbare Nacht der Toten, die keine Ruhe finden. Sie beherrscht Himmel und Erde und Menschen und Tiere. Und die ewige Ewigkeit!«
Öde und unfreundlich war es in der Baracke geworden, seit Anduscha nicht mehr für die Bergleute sorgte. Das neue Mädchen, das sie jetzt hatten, war faul und schlampig. Tat nur das Notwendigste. Und das auch nur widerwillig.
In allen Sachen war keine Regel und Ordnung mehr. Um den großen eisernen Ofen hingen die nassen Kleidungsstücke und dampften in der Wärme und dunsteten scheußliche Gerüche von Schweiß und Dreck. Die Betten schimmelten und in den Decken nisteten Läuse.
Die nassen Fettkohlen im Ofen stießen den Rauch nach außen. Stijn saß auf der Bank, die Strumpfbänder zwischen den Zähnen und schnitt sich mit dem Dolchmesser die Fußnägel. Er sprach zu Giese herüber, der am Tisch saß und seine Pfeife stopfte: »Aus dem Dynamitkeller sind gestern nacht zwölf Patronen und an die zehn Meter Schnur gestohlen worden … weiß der Teufel, wer damit eine Heimlichkeit vor hat!«
Giese knurrte: »Gestohlen, sagst Du?«
»Na gewiß doch! Das Vorhängeschloß war aufgebrochen mit einer Kneifzange.«
Giese dachte eine Weile nach … und brummte dann: »Ich habe so meine eigenen Gedanken darüber … wenn ich das nur bestimmt wüßte … Sag' mal, weiß Fjodor, wo die Sprengkiste immer zur Nacht eingeschlossen wird?«
»Gewiß weiß er das. Er hat sie oft genug dort eingeschlossen … aber … was meinst Du damit …?
Fjodor … was soll der mit Dynamit?«
»Die Verzweiflung ist ein eigen Ding, mein Lieber! Ich weiß natürlich nichts … Aber gestern Nacht bin ich dem Fjodor auf dem Grubenweg begegnet. Er sprach ein blödes Zeug vor sich hin, und als ich ihn anrief, drehte er sich um und lief wie ein Hase, davon!«
Stijn zog sich jetzt die Strümpfe wieder an und stieg in die Holzpantoffeln. Kam zu Giese und sagte: »Weißt Du bestimmt, daß es Fjodor war, dem Du gestern abend begegnet bist?«
»Aber ich werde doch unseren Fjodor noch erkennen!«
Stijn drehte sich nachdenklich um, holte den Grützetopf vom Haken unter dem Dach herunter, nahm den Deckel ab und stellte den Topf auf den Tisch. Dann hob er die Milchkanne herauf und goß die Dickmilch hinein. Es gluckerte seltsam dumpf in der Kanne.
»Es ist doch ein Jammer, den Verstand zu verlieren!« meinte Giese.
»Der Jammer mit dem Kind und die verfluchte Armut ist es, was Fjodor quält, nichts weiter,« bemerkte Stijn. »Ich will der Anduscha jetzt eine kräftige Suppe kochen … vor lauter Elend kommt sie gar nicht mehr zum Kochen.«
Draußen blieb es rauh und kalt. Schneewolken wälzten sich mit einem donnerdumpfen Brausen von den Bergen zum Grubengewerk herunter. Der Winter sagte sich deutlich genug an. In der Waldung kochte die Hölle. Unten, über den Grubenhöfen staute sich der Rauch und baute ein großes Totengewölbe. In seinem stickigen Raum stand der große Koksbrecher still. Auch die Siebe der Wäscherei raschelten nicht. Nur die Pumpen ächzten und auf den Schienen kreischten die Kippwagen zu den Halden herüber.
Giese zog jetzt den Löffel aus der Schublade und begann seine Speckkartoffeln zu essen.
Der alte Blonay saß ihm mit wässeriger Zunge gegenüber. Sein weißer Bart lag breit auf der nackten Brust.
Da donnerte plötzlich ein furchtbarer Schuß. Und vor den Fenstern der Baracke flammte es blutrot.
»Das war oben beim Glockenturm!« murmelte Giese und warf den Löffel in die Pfanne.
Stijn sprang ans Fenster und starrte hinaus. Nach allen Seiten. Sah nichts.
Aber alle Bergleute, die schon schliefen, kletterten aus den Betten und schrien wirr durcheinander: »Was ist passiert?!«
Stijn und Giese liefen hinaus. Draußen sprangen schon von allen Seiten Leute herbei. Mit Laternen einige, andere mit Windlichtern.
Die ganze Grubenbevölkerung rannte kopflos durcheinander und wußte nicht wohin.
Irgendwas mußte schon geschehen sein. Aber wo … wo … wo?
Die Nacht war undurchdringlich finster und der Sturm warf die Menschen fast um. Der Schnee fegte über die Erde mit mächtigen Besenstrichen.
Da durchfuhr zum zweiten Male ein scharfer bläulicher Blitz die Luft, daß es blendend hell wurde in der ganzen Umgebung. Und sekundenlang starrten sich die Menschen in die schreckensbleichen Gesichter und zitterten. Und standen da wie aufgescheuchte Nachtgespenster. Abermals grellte der Blitz, und da sah man, wie der Glockenturm wankte und mit dem Donner der Explosion und dem Gepolter des Gebälks zusammenkrachte. Und wieder sahen sie sich ratlos in die Augen.
Aber da gellte ein entsetzlicher Schrei, der den Sturm und das Schneetreiben und den Lärm der Grubenarbeiter überdröhnte.
Im Sturmschritt liefen sie zu den Trümmerhaufen. Und standen vor einer Leiche, die kaum zu erkennen war.
Drunten aber im Schneewasser lag Anduscha auf den Knien. Und schrie: »Welch ein schreckliche Ende … Fjodor, welch ein Ende …!«
Die Grubenleute standen entblößten Hauptes. Und Giese murmelte ein Gebet, das die andern alle leise nachsprachen.