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Die Antwort, die Lutz dem Justizrat erteilt hatte, schlug bombengleich ein, obwohl sie im Grunde genommen von allen erwartet worden war. Dennoch hatte man sich mit der Hoffnung getragen, daß es angesichts der Lückenlosigkeit des von Trendelenburg geführten Indizienbeweises wenigstens zu Verhandlungen kommen würde. So unversöhnlich der Haß der alten Frau war, auch ihrem Stolz wäre es erwünschter gewesen, wenn diese Familienangelegenheit unter Ausschluß der Öffentlichkeit ausgetragen worden wäre. Und sie hätte einer solchen Lösung zuliebe auch Opfer gebracht, um den Namen Teltzsch nicht durch Gerichtssäle und Zeitungsspalten schleifen zu lassen. Jetzt waren alle Wege zu gütlicher Verständigung verrammelt.
Es schien notwendig, unter diesen Umständen Klaus und Hilde endlich einzuweihen, und es war nur natürlich, daß die logischen Schlußfolgerungen des Justizrates auf beide jungen Menschen nicht ohne Eindruck blieben.
Bei Hilde sprach nur das Gefühl. Man griff Lutz an, und dieser Angriff hatte in ihren Augen etwas Hinterhältiges. Was konnte Lutz für Dinge, die bei seiner Geburt geschehen waren?
»Lutz ist doch an alledem unschuldig.«
»Gewiß, gnädiges Fräulein«, erwiderte der Justizrat, »aber wenn Sie, ohne es zu wissen, eine gestohlene Sache kaufen, müssen Sie sie herausgeben. Das ist hier nicht anders.«
»Weshalb hast du mir das alles verschwiegen, Papa? Du hast mir fest versprochen, daß du dich mit Lutz vertragen willst.«
Verlegen blickte Vinzenz auf seine Mutter. Er wollte etwas antworten, doch Hilde ließ ihn nicht reden.
»Nein«, sagte sie aufgeregt, »du hast dein Wort nicht gehalten, Papa.«
Und als er ihr schmeichelnd und tröstend Haar und Wangen streicheln wollte, riß sie ihren Kopf zur Seite und brach in wildes, unbeherrschtes Weinen aus.
Klaus, der trotz seiner Weichheit und Weltabsonderung ein kühler, urteilsfähiger Kopf und von einer peinlich strengen Rechtlichkeit im bürgerlichen Sinne war, wurde von der schroff ablehnenden Haltung seines Vetters bei aller Freundschaftlichkeit der Gesinnung vor den Kopf gestoßen. Mochte die Beweisführung des Justizrates Lutz vielleicht nicht vollkommen überzeugt haben, soviel mußte auch ihm klar geworden sein, daß seine Rechte zumindest stark anfechtbar waren. In solcher Lage jede Verständigung einfach abschneiden, war Gewalttätigkeit. Und alles, was nach Gewalt auch nur roch, widersprach der ganzen Weltanschauung, dem reinlichen, empfindsamen Rechtsgefühl des zartbesaiteten Klaus. Nein, das letzte Wort durfte noch nicht gesprochen sein. Die Dinge lagen ja auch gar nicht so einfach, wie der Vater und die Großmutter vermeinten.
»Was haben – Sie sich vorgestellt, Herr – Justizrat«, hackte er die Worte, »wer sollte die Werke – übernehmen?«
»Selbstverständlich nicht Ihr Herr Vater sondern Sie, Herr von Teltzsch.«
»Wir haben – vierzigtausend Arbeiter. Mit – ihren Familien ist das – das Dreifache. Wissen Sie, was – das heißt? Ich – kann das nicht.«
»Es gibt doch bezahlte Kräfte, Direktoren, Beamte. Glauben Sie, Krupp oder Stinnes haben alles selbst gemacht?«
Klaus schüttelte den blassen Kopf mit den kurzsichtigen Augen.
»So – geht das nicht. Ich werde – noch einmal mit Lutz – sprechen.«
Hilde flog ihm um den Hals. Die Tränen waren ihr nahe.
»Kläuslein, liebes, ja. Du mußt mit ihm sprechen. Auf dich wird er hören.«
»Und wenn nicht?« fragte Trendelenburg.
Die alte Frau stieß mit ihrem Stock hart auf den Boden auf. Ihr geschminktes Runengesicht war verbissene Entschlossenheit.
»Dann wird eben geklagt.«
Sie knirschte hörbar mit den falschen Zähnen und griff sich mit einer zuckenden Handbewegung nach dem Mund. Hilde stampfte mit dem Fuß auf. Sie funkelte die Großmutter aus den hellen, teltzschisch blauen Augen an.
»Ich will nicht, daß bei uns ewig Streit und Zank ist. Die Großmama muß immer ihren Krach haben.«
Unerhört, unfaßbar war diese Auflehnung. Vinzenz, der sich in einem Gefühl unbehaglicher Beengtheit bei den Besprechungen im Hintergrund hielt, wurde um einen Schatten blasser. Solche Sprache hätte er als Dreiundfünfzigjähriger nicht gewagt. Selbst Trendelenburg riß verblüfft die Brauen hoch. Jetzt mußte ein zermalmendes Donnerwetter auf das junge Mädchen niederfahren, das von der eigenen Kühnheit erstarrt war. Aber ein Wunder geschah – die Großmutter antwortete nichts. Sie richtete sich mit der Majestät einer beleidigten Herrscherin auf, den Mund fest geschlossen, die Backen ein wenig aufgeplustert, als ob sie Angst hätte, etwas zu verschlucken.
»Aber, verehrte Freundin –« sagte der Justizrat.
»Mama, es war doch nicht so gemeint«, wollte Vinzenz begütigen.
Kein Ton kam aus den zusammengepreßten welken Lippen. Ohne jemand anzusehen, verließ die alte Frau, bei jedem Schritt den Stock heftig aufsetzend, mit steifen, gichtischen Beinen stumm das Zimmer. Sie hatte beim wütenden Aufeinanderbeißen der Kinnladen das Gebiß zerbrochen und konnte nicht sprechen.
*
Hinter den streng verschlossenen Türen im großen Arbeitszimmer des Werksherrn war langes Schweigen eingetreten. Die beiden Freunde saßen einander stumm gegenüber, jeder mit dem Gefühl, daß sie im Begriff waren, unwiederbringlich Kostbares, die gegenseitige Freundschaft, zu verlieren. Klaus hatte mit allen Gründen des Verstandes und des Herzens auf den Vetter eingeredet, aber der hatte jedem Angriff, jedem Einwand sein hartnäckiges, unbeugsames Nein wie einen schützenden Schild entgegengestemmt. Und dieses Nein wuchs aus Schildesgröße zu Mauerhöhe, die die beiden endgültig zu trennen drohte. Klaus, von einer an ihm ungewohnten Zähigkeit, ließ noch nicht locker.
»Lutz, um unserer – Freundschaft willen. Es wird sich – ja nichts ändern. Du wirst weiter das Werk leiten wie bisher. Niemand – als du. Ich – will ja gar nicht.«
Der erzene Römerkopf schüttelte ein Nein.
»Hast du einen – Gegenbeweis für Trendelenburgs Behauptung? Sag mir's, Lutz. Dann will ich – für dich kämpfen.«
»Hier drin!« Lutz klopfte auf seine Brust. »Hier drin! Ich fühl's!«
»Das ist nichts!« Klaus stand unwillig auf. »Ich habe – geglaubt, dir liegt an – deiner Arbeit. Das hier – ist Selbstsucht.«
Lutz bekam einen traurigen Ausdruck. Sie sprachen aneinander vorbei, verstanden sich nicht. Das war noch nie gewesen.
»Willst du mich nicht begreifen, Klaus? Ich kann nicht Angestellter sein, gleich mit welchem Titel. Ich kann nur Herr sein, wenn's noch so hochmütig klingt. So bin ich erzogen, so bin ich geboren. Kein Mensch kann über sich selbst hinwegspringen. Wenn ich dafür kämpfe, so ist das mein gutes Recht.«
»Das ist – nur Gewalt. Gewalt darf – nie vor Recht gehen.«
»Ich habe gehofft, daß diese Sache unserer Freundschaft nichts anhaben kann. Es tut mir leid um sie.«
Der junge Gelehrte hatte schon seinen Hut in der Hand.
»Du – hast mich enttäuscht.«
»Klaus, du kündigst mir die Freundschaft?«
Mit dem Hut zwischen den Fingern blieb Klaus stehen. Er kämpfte sehr mit sich. Er war immer ungesellig und einsam, ein Abseitiger, der, schwerfällig und unzugänglich im Geblüt, sich schwer anschloß, noch schwerer aufschloß. Und Lutz war sein einziger Freund, dem alles gehörte, was andere in Freundschaften, Kameradschaften, Liebe, Geselligkeit verteilten.
»Ich warte, Lutz, bis du zu meiner – Meinung bekehrt bist.«
*
Die Trennung vom Freund traf Lutz nachhaltiger als alles andere bisher. Die Drohungen Trendelenburgs waren ein Gewitter, das von fernher grollte. Es konnte vorüberziehen. Noch war alles unverändert, noch saß er im großen Chefzimmer des Verwaltungsgebäudes als der Herr, dessen Wink Maschinen und Hände in Bewegung setzte. Die Zweifel an seiner Abstammung waren ein Schemen, den er in der reinen Luft des nächtlichen Fluges abgeschüttelt hatte. Aber daß Klaus ohne Händedruck die Tür hinter sich ins Schloß gezogen hatte, das war erste, harte Wirklichkeit. Und erste Niederlage. Lutz gestand es sich ohne Beschönigung. Nicht er hatte das Wort der Scheidung gesprochen, ihn hatte man fallen lassen. Und so fest, so unerschütterlich sicher war der sonst Schwache, Zaghafte gewesen, daß er gegen den Stärkeren Sieger blieb.
Lutz war nicht der Mann, dessen Kampfkraft eine verlorene Schlacht zu schwächen vermochte, keinen Augenblick dachte er an Nachgeben, nachdem er sich einmal entschlossen hatte, den hingeworfenen Fehdehandschuh aufzunehmen. Nur war an Stelle der Freudigkeit eine finstere Verbissenheit getreten. Lenore bemerkte mit angstgeschärfter Empfindsamkeit sofort die Veränderung, ohne den Mut zu einer Frage aufzubringen. Sie streichelte seine Hände, seinen Kopf und hielt zerbrochen inne, hellfühlend, daß er sich ihr entzog. Sie selbst erschrak vor dieser nichtbewußten, aus dunkeln Untergründen kommenden Bewegung. Es war mit einem Male eine bisher nicht gekannte Fremdheit da, die sich nicht überwinden ließ, ihn mit einer zähen, glasigen Raumschicht umschloß, durch die weder die Zärtlichkeit linder Berührung noch bittender Schimmer des Auges drang. Er sah sich in erstarrende, kalte Einsamkeit gestellt, und ihm schien, als er schon aus dem Zimmer war, er gehe unter einer sich durchsichtig wölbenden Glocke. Fast war es ihm unverständlich, daß er im Hinabsteigen der Treppe den ihm mit Blumen entgegenkommenden Gärtner am Ärmel streifte.
Es war nicht die richtige Stimmung, um mit Hilde zusammenzutreffen. Aber Begegnung und Aussprache waren notwendig. Reiner Tisch mußte gemacht werden, man mußte wissen, wen man für und wen man gegen sich hatte. Noch gestern war solcher Gedanke unmöglich, jetzt waren alle Zweifel losgelassen.
Am Telephon war ihre Stimme anders als gewöhnlich, von besonderem Klang gewesen. Und auch als sie am verabredeten Platz zu ihm in den Wagen stieg, war es nicht wie sonst. Ihr erster Gruß war immer ein Lachen und Aufblinken der Augen, heute hatte sie ihn zu Boden blickend erwartet, und ihr Händedruck war von hastig zugreifender Heftigkeit.
»Wollen wir nach dem Haarlaß?«
Sie nickte. Er ließ den Wagen laufen, daß ihnen die Juliluft summend um die Ohren schlug. Ah, Bewegung. Bewegung! Gar nicht aufhören zu sausen, fühlten beide, immer so die Bäume und weißen Kilometersteine vorüberspringen lassen. Dort der Wagen – vorüber. Das Haus dort vorn – wo war es? Schon vorbei, irgendwo hinten. Alles hinter sich lassen, Menschen, Zweifel, Streit, sich selbst – sich selbst. So gut war das, nicht sprechen zu müssen. Und doch warteten beide, daß der andere das erste Wort sagte. Er riß die Bremse mit unnötiger Gewalt an. Dann saßen sie an einem der Randtische, den Fluß vor Augen. Sie wußte schon, daß Klaus keinen Erfolg gehabt hatte, und war voll Angst. Was konnte sie gegen Lutz' Härte? Warum sagte er nichts? Warum fand er mit keiner Silbe den Weg zu ihr, der so breit und offen in ihr Herz führte? Er war voll Stolz oder Trotz und tat den Mund nicht auf. Ihn hatte man angegriffen, ihre Leute, ihre Familie hetzten gegen ihn, lauerten ihm auf. Weshalb kam sie ihm nicht entgegen, sie wenigstens als einzige von allen? Er biß die Kiefer aufeinander, daß es bis in die Zahnwurzeln schmerzte; über der Nase rissen zwei Falten mitten durch die Stirne. Da hielt sie es nicht mehr aus. Sie sagte leise, damit man es an den Nebentischen nicht hörte:
»Lutz, lieber, lieber Lutz, mich macht das alles so unglücklich. Höre einmal auf mich, bitte, bitte. Sprich doch mit Papa, sprich dich mit ihm aus, ich weiß es, dann wird alles gut werden. Du bist viel klüger und gescheiter als ich, aber dieses eine einzige Mal höre auf mich. Du hast doch versprochen, daß du dich mit ihm –«
Weiter kam sie nicht. Es war, als hätte sie Bresche in einen Damm gebrochen, hinter dem schon die drohenden Wasser gurgelten und die sich, endlich befreit, durch die Öffnung stürzten. Mit halblauter Stimme, in der zurückgehaltene Wut und Erregung zischten, fuhr er sie an.
»Mit deinem Vater sprechen? Na, herrlich! Dem Herrn, der mir seinen Rechtsanwalt mit einer schriftlichen Vollmacht auf den Hals schickt, da er zu feige ist, selbst zu kommen, dem soll ich jetzt vielleicht nachkriechen. Darauf habe ich bloß gewartet. Da küsse ich ja noch lieber der Großmutter die Hand, die ihr Gichtgestell von Berlin bis hierher schleppt, um die Hinrichtung persönlich zu leiten. Die ist doch wenigstens ein Kerl. Respekt vor dem alten Drachen. Aber der Henker, der das Abmurksen am liebsten schriftlich besorgen möchte, weil er kein Blut sehen kann – danke verbindlichst. So haben wir nicht gewettet. Noch haben die Herrschaften meinen Hals nicht in der Schlinge. Krieg gefällig? Kann man bei mir haben. Bis aufs Messer.«
Hilde war leichenblaß geworden. Ihre Fingernägel krallten sich ins bunt gewürfelte Tischtuch, das Herz klopfte ihr bis in den Hals hinauf.
»Ich will nicht, daß du so von Papa sprichst. Ich verbiete dir das, Lutz.«
»Ach soooo –« er zog das »so« ganz lang. »Und daß man mich hinterrücks angefallen hat, das hast du nicht verboten?«
»Ich hab's doch nicht gewußt, Lutz. Weshalb sagst du etwas, was du selbst nicht glaubst?«
Er war zu weit gegangen, doch er fand den Weg nicht zurück. Daß sie sich nicht bedingungslos auf seine Seite stellte, erbitterte ihn maßlos. War hier denn Kinderspiel oder blutiger Ernst? Es ging ums Ganze. Für unbeteiligte Zuschauer gab es zwischen den Kämpfenden keinen Platz, man mußte unzweideutig Partei nehmen.
»Du verstehst anscheinend nicht, worum es sich dreht. Man will mir an den Kragen im Namen deines Vaters, und er hat seinen Namen dazu hergegeben. Ich will reinen Tisch, für Halbheiten bin ich nicht zu haben. Entscheide dich, wie du willst, aber entscheide dich. Für ihn oder für mich. Beides zusammen geht nicht.«
»Lutz, du weißt es ja, ich gehe mit dir bis ans Ende der Welt, wohin du willst, aber verlange doch nicht von mir, daß ich mich zwischen euch stelle. Das ist doch nichts Schlechtes, daß ich meinen Vater lieb habe.«
Ihr Mund, ihre Augen, ihre Hände flehten. Sie gab ihrem Vater nicht recht, ganz genau wußte sie, daß er sein Wort nicht gehalten hatte, daß er schwach und wankelmütig war, willenloses Werkzeug seiner Mutter. Sie war erzürnt über ihn und hatte mit ihm nicht mehr gesprochen, seit sie alles erfahren hatte. Aber sie liebte ihn doch, wie er war, schwach und gutmütig, heiter, liebenswürdig, sorglos. Mit niemand war sie je so froh gewesen, mit niemand hatte sie je soviel gelacht, kein Mensch hatte soviel Rücksicht und Verständnis für kleine weibliche Schwächen. Oh, sie sah sehr klar und genau und konnte doch nicht alles so sagen. Ein bißchen schämte sie sich auch für ihn. Weshalb verstand Lutz das nicht von selbst? Er war sonst so klug und verstand spielend viel schwierigere Dinge, die kaum in ihren Kopf hineingingen. Halbheit. Vielleicht war das bei ihr Halbheit, vielleicht auch mehr Einfühlungsvermögen in die Wesensart eines anderen, Duldsamkeit, Nachsicht, ein bißchen Mütterlichkeit, die sie dem eigenen Vater gegenüber empfand. Er war ihr Vater, aber doch nur ein großes Kind. Nein, Lutz verstand das alles noch nicht, war zu jung und jetzt noch viel zu aufgebracht, um die Zartheit ihrer Regungen zu begreifen.
»Mein Platz ist hier, ich ergreife nicht die Flucht. Ich kann und will nicht fort. Mittelwege gibt es nicht bei mir. Wenn du glaubst, daß dein Platz drüben ist – bitte.«
Wie er sprach! So sprach man nicht, wenn man jemand lieb hatte. Trotz packte sie.
»Du bist gerade so wie die Großmutter. Ich mag unversöhnliche Menschen nicht.«
Er griff in die Tasche und drehte sich nach dem Kellner um.
»Ober, zahlen!«
War das alles? War sie ihm keine Antwort mehr wert? Fühlte er nicht, daß er ihr gegenüber nicht im Recht war?
»Lutz!«
Er stand auf, das Gesicht unbeweglich, die Augen irgendwohin ins Blaue gerichtet.
»Ich denke, wir gehen.«
Stolz bäumte sich in ihr auf. Sie war ihm entgegengekommen, nicht er ihr. Nachlaufen hatte sie nicht gelernt. So saßen sie verstockt nebeneinander im Wagen. Er hielt in der Nähe ihres Hotels, ließ nicht die Hand vom Lenkrad, um sie ihr zum Abschied zu reichen.
»Lutz!«
Er hörte nicht die Stimme des Erschreckens, der Sehnsucht, der Bitte, die sie in seinen Namen legte. Der Motor sprang an, der Wagen flog. Er sah nicht mehr die Hand, die sich nach ihm ausstreckte. Er hatte nur das Gefühl, hineinrasen in irgend etwas, in einen Laternenpfahl, in eine Mauer, den Wagen in Trümmer fahren. Die Leute blieben stehen und sahen kopfschüttelnd dem toll gewordenen Fahrzeug nach. Lutz hatte Schleier vor den Augen, die Kehle war ihm trocken, Fieber brannte in allen Adern. Hilde nicht auf seiner Seite. Auch diese Schlacht, die er unbedingt zu gewinnen wähnte, war verloren. Die Glasglocke war wieder da, über ihn und seinen Wagen gestülpt, und unter der Glocke war es eisig kalt.
*
Gina war ein seltener Gast geworden. Bewahre, daß sie von Vinzenz zu sehr in Anspruch genommen worden wäre – er vernachlässigte sie reichlich im sicheren Bewußtsein, sie mit einem gnädigen Lächeln, einem freundlichen Wort um den Finger wickeln zu können – aber seit sie sich durch ihren Verrat Lenore gegenüber ins Unrecht gesetzt hatte, ließ sie sich bitten, kam nicht mehr ohne besondere Einladung. Lenore war völlig ahnungslos. Mißtrauen war ihr fremd, und sie war zehnmal eher geneigt, sich selbst und ihrer trüben Stimmung die Schuld am Fernbleiben der Freundin zuzuschreiben. Sie war eine durchaus treue Natur, nicht aus einer besonderen, sittlichen Anschauung, sondern weil sie einfach nicht anders konnte. So wie manche Frauen auch dem ungeliebtesten Mann mit kampfloser Selbstverständlichkeit die Treue wahren, weil in der Stufenleiter ihrer Gefühle der Begriff der Untreue überhaupt fehlt. Von ihrem vertrauensseligen Mund wurde Gina erst unterrichtet, wie weit die Dinge schon gediehen waren. Weder Vinzenz noch seine Mutter, die in kluger Berechnung der urteilslosen Altjüngferlichkeit Ginas den Hof machte und von dieser in kühnen, nächtlich ausgesponnenen Träumen schon als Schwiegermutter betrachtet wurde, hatten sie so weit ins Vertrauen gezogen. Lenore, wieder in die tiefsten Höllen der Ungewißheit gestürzt und von allen Ängsten vor einer Entfremdung des Sohnes geschüttelt, brauchte ein geduldiges Ohr, in das sie die überbrodelnde Qual des Herzens gießen durfte.
»Keine Nacht mehr schlafen«, sagte sie, »keine Nacht. Sage, Gina, kannst du dir denn vorstellen, daß Vitali einer solchen Tat fähig gewesen wäre? Er hat vielleicht mit dem Gedanken gespielt, weil er mir so gern etwas Gutes getan hätte, aber um Gottes willen, einen solchen Gedanken kann man doch nicht ausführen!«
Gina schlug die Augen nieder.
»Ich glaube nicht, daß er es getan hat«, antwortete sie gedrückt. »Und was wollt ihr jetzt tun?«
»Lutz will dieses Mädchen aufsuchen und die Tochter. Er will Klarheit, wie wenn es etwas Klareres geben könnte, als was einem das Herz sagt. Es hat sich alles gegen mich verschworen.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Gott, Gott im Himmel, wenn Herbert das wüßte. Meinen Jungen wollen sie mir nehmen.«
»Fährst du mit?«
»Weiß ich denn, was ich tun soll?«
Lutz hatte tatsächlich beschlossen, nach Essen und nach Charlottenburg zu fahren. Der Aufruhr des Blutes hatte sich ausgetobt, der Rückschlag war eine erfrorene Ruhe. Weichheit, die sich seiner zu bemächtigen drohte, schob er von sich. Daß er morgens Klaus nicht abholen konnte, hinterließ ein leeres Gefühl. Die Stunden mit dem Freund waren sehr in sein Leben verwoben, und wenn er jetzt in der Nähe der stillen Straße, in der Klaus wohnte, vorüberfuhr, gab er dem Wagen doppelte Geschwindigkeit. Überwinden. Ein Abend ohne Hilde war graue Einsamkeit. Hinunterschlucken. Er arbeitete mit der verbohrten Besessenheit eines Menschen, der dem eigenen Herzen zu entfliehen sucht. Man brauchte einen klaren Kopf, alle Schärfe des Verstandes, Entschlußkraft, die kein Zögern kannte. Entweder man glaubte an sich oder man mußte alles stehen und liegen lassen, bedingungslos die weiße Fahne hissen. Und das eben war das Unausdenkbare. Lutz fühlte mit Erschauern, daß es für ihn keine Zwischenlösung gab, keinen Mittelweg. Er war nicht der Mensch, der sich ergeben und abfinden konnte. Er mußte kämpfen, solange ein Funken Kraft in ihm war, aus innerster Notwendigkeit. Einen Gefangenen würde man aus ihm nicht machen können. Er erinnerte sich lächelnd, daß sein Oberst im Krieg einmal eine Ansprache gehalten hatte, in der die Wendung »Sieg oder Tod« vorgekommen war. Was für ein theatralisches Schlagwort! Aber es mußte wohl Menschen geben, erkannte er sich selbst, für die dieses Schlagwort unabänderliches Gesetz war. Jedes Wort, das Trendelenburg gesprochen hatte, die Beweiskraft jeden Umstandes mußte erneuter Prüfung unterzogen werden. Es war alles mit bestechender Folgerichtigkeit aneinandergereiht. Gab es jedoch nicht Zufälligkeiten, die scheinbare Zusammenhänge schufen? Hatte man nicht schon Unschuldige eingekerkert, zu Tode verurteilt, weil solche Zufälle ihr verwirrendes Spiel trieben? Da war vieles, das zweifache Deutung zuließ. Wer durfte die Behauptung wagen, daß seine Deutung die einzig richtige sei? Die Maschen des Netzes waren ungleich, wenn eine zerriß, war das ganze Gespinst zum Teufel. Das schien auch Lutz zweifellos, daß Vitali alles vorbereitet hatte, um einen Austausch der Kinder vorzubereiten. Vier Fünftel aller Verdachtsmomente bestanden nur aus diesen Vorbereitungen. Ob das letzte Fünftel jeder Belastungsprobe standhielt, ob der Tausch wirklich vorgenommen war? Der Gegenbeweis mußte den Faden nicht, wie es Trendelenburg getan hatte, am Anfang, sondern am Ende ergreifen.
Lutz besprach alles mit Doktor Benting, der auch sein Rechtsanwalt war. Der wiegte zwar bedenklich den Kopf und riet zu einem Vergleich. Prozesse seien immer unsicher, ein magerer Vergleich und so weiter – man kannte das. Immerhin fand auch er es richtig, die Beweiskette auf schwache Stellen hin abzuklopfen, es konnte bei Verhandlungen von Nutzen sein. Er füllte einen Bogen mit kritzelnden Bemerkungen. Benting war ein kleiner, behäbiger Herr zwischen einem unordentlichen Haufen Akten mit einer blank polierten Billardkugel als Schädel, aus dem zwei gutmütig listige Äuglein blinzelten. Ein unermüdlicher Verhandler, der nie Nerven und Humor verlor und nicht ganz so harmlos war, wie der Eindruck, den er machte.
»Sie kennen ja meine Taktik, Herr von Teltzsch, ich habe für Ihren Herrn Vater manchen Strauß ausgefochten. Mürbe machen. Wenn man so vier, fünf Stunden verhandelt, meinetwegen auch sechs oder acht, und dem Gegner vor Müdigkeit die Nase in den Westenausschnitt fällt, dann ist er meist vergleichsbereit. Aber Sie müssen sich ebenfalls ein bißchen müde rennen. Sie entschuldigen schon, Sie sind noch sehr jung, da muß man sich erst die Hörner ablaufen. Ob es in der Liebe stimmt, weiß ich nicht mehr so genau, in Prozessen stimmt es sicher.«
»Nein, Herr Doktor, hier liegt die Sache ein bißchen anders. Diesmal geht es um Tod und Leben.«
»Aaaber, ich bitte Sie, Tod und Leben! Ums Geld geht's, Verehrtester, reden wir deutsch miteinander.«
»Es hat keinen Zweck, das zu erklären. Es ist ja auch für Sie gleichgültig.«
»Na, schön, sollen Sie recht haben. Kämpfen Sie in Gottes Namen um Tod und Leben, ich werde inzwischen ums Geld kämpfen.«
*
Die Abteile des D-Zuges dampften in der Augusthitze. In der dritten Klasse sah man viel Hemdärmel und Hosenträger, in der zweiten und ersten fächelte man sich mit dem Taschentuch und netzte sich mit Kölnisch Wasser. Die Räder stampften über blanke, glühend heiße Schienen, die der schweren Lokomotive aufblinkend voranliefen.
Lutz und Lenore saßen auf den beiden Fensterplätzen, ihren Gedanken verfallen. Die Frau in Schwarz mit mild ergrauendem Scheitel, geschlossenen Augen, war schlaff zusammengesunken, angstgerüttelt vor etwas Furchtbarem, das sie mit geheimnisvoller Macht anzog, das sie nicht auszudenken wagte und das doch zum hundertsten Male vordringlich in immer gleich greifbarer Deutlichkeit erschien: Lutz zwischen ihr und der anderen Frau, mit der sie kämpfen mußte um den Besitz des Sohnes, um ihren Jungen, den sie genährt, dem sie mit der Milch ihrer zärtlichen Brust Herzblut und Liebeswärme in den kleinen, heftig saugenden Mund geflößt hatte und der in grauenvoller Verwirrung des Lebens einem anderen Leib entsprossen sein sollte. So deutlich war dieses Bild ihres Kampfes, daß sie sich nach der Kehle fuhr, als rühre die schnürende, atemhindernde Enge im Hals von einem feindseligen Griff, den sie abwehren müßte. Und nur das Gesicht ihrer Gegnerin verschwand in der schwülen Hitze ihrer Vorstellungen zu fließend wandelbaren Zügen, die einmal der alten Frau Teltzsch, einmal Trendelenburg glichen, dann wieder Vitalis fratzenhaft verschobene Maske annahmen und in undeutlich blasse Erinnerung an einen längst vergessenen Mädchenkopf übergingen. Aber dieser Mädchenkopf war furchtbarer als alle anderen Gesichter, denn sie sah von ihm keine Augen, keine Nase, sondern nur einen rund und schwarz klaffenden Mund, dem der wilde, erschütternde Schrei der gebärenden Frau entquoll. Lenore betete lautlos und schnell den Namen Gottes in sich hinein, nichts als den Namen Gottes, der barmherzig sein mußte, wenn er ein Ohr hatte für die Schmerzen der Menschen, die sein Werk und sein Ebenbild waren.
Der sehnige, junge Mann lehnte in seiner Ecke, aufgestrafft trotz der Hitze, das Kinn gehoben, das dem leidenschaftlichen Kopf erwartungsvoll beherrschte Wendung nach einem ungewissen, unvorstellbaren Ereignis gab. Er zog die Uhr. Noch zwei Stunden, dann stand man einem Menschen gegenüber, dessen Antlitz vielleicht die eigenen Züge trug, mit dem man vielleicht sein Leben lang durch plötzlich sichtbar werdende Fäden verbunden gewesen war. Manchmal versuchte er sich vorzustellen, wie er sich bei dieser seltsamen Begegnung verhalten werde. Nein, man konnte sich nichts Bestimmtes vornehmen. An jeder Wegbiegung mochte ein fremdes Schicksal anspringen, man konnte nur alle Kräfte sammeln und mit erzwungen ruhigem Atem bereit sein, im Augenblick ohne lange Überlegung aus sich heraus das Richtige zu tun. Niemand konnte vorher bestimmen, wie dieses Richtige beschaffen sein würde. Man mußte steinerne Mauer sein, um jeden Anprall auszuhalten, und pfeilbewehrte, faustgespannte Sehne, jeden Angriff mit Angriff zu erwidern.
Brigitte Hartwig wußte von dem bevorstehenden Besuch, Lutz hatte sich vorher angemeldet. Aber auch Trendelenburg, der über Vinzenz von Gina benachrichtigt worden war, hatte kurze Anweisung nach Essen gehen lassen. Ursprünglich hatte er dieser Begegnung selbst beiwohnen wollen, hatte es sich aber im letzten Augenblick anders überlegt. Dort war er nicht nötig.
Die Armseligkeit der kleinen Wohnung in der Viehofer-Straße war auf Glanz gerichtet worden. Die Tüllvorhänge, frisch gewaschen und frisch gestärkt, spreizten sich in steifen Falten zu seiten der Fenster, Stecknadeln hielten weiße Deckchen auf der abgeschabten Rückenlehne des grünen Sofas fest. Den Tisch deckte eine bunt bedruckte Leinendecke, auf der Kaffeegeschirr mit blauem Zwiebelmuster und ein Kuchenteller aufgestellt waren, alles Leihgaben der Nachbarin. Ein kleiner Blumenstrauß leuchtete in der Mitte. Brigitte getraute sich kaum, sich in der eigenen Wohnung hinzusetzen – so leicht konnte etwas in Unordnung geraten, zerdrückt werden – und zog sich einen der billigen Rohrstühle ans Fenster. Müde, die übereinandergelegten Unterarme im Schoß, wanderten ihre Augen die Straße hinauf und hinunter, ohne irgend etwas mit Bewußtsein wahrzunehmen. Verworren wogende Vorstellung, gespeist aus zerlesenen, billigen Romanheften, die die Kolleginnen einander borgten, aus Erinnerungen selten gegönnter Kinovorstellungen, erfüllte ihr Kopf und Brust mit der Erwartung rührender, tränenvoller Szenen von Wiederfinden, Wiedererkennen, endlichem Vereinigen. Umarmt und geküßt werden, jemand umschlingen dürfen und die eigene, trostlos tiefe, einsame Müdigkeit an eine Schulter lehnen können. Oh, so viel leichter wäre es gewesen, einen abgerissenen, zerbrochenen, von der Welt ausgespienen Sohn zu empfangen, dem man ein Verbrechen hätte vergeben können, weil man mit schuld war an seiner Schuld. Einem Heimatlosen, zum Schutt der Straße geworfenen Kind ein Bett zu bieten und sich selbst auf die Erde zu legen. Mit einem Verhungerten das schmal gemessene, schwer erschuftete Brot zu teilen. Sehnsucht allertiefster Weiblichkeit brach aus, Sehnsucht, zu opfern, zu opfern, dreimal zu opfern, weil alle Liebe Opfer ist und ewig bleiben wird.
Und dann kam Lutz.
Der Wagen, der vor der Tür hielt, wurde träumend übersehen, das dünne Klingeln an der Eingangstür riß in grelles Erwachen. Da stand ein großer, sehr eleganter junger Herr mit einer schwarz gekleideten, schönen Dame im muffigen Treppenhaus und fragte mit einer Stimme, die nichts von Erwartung und Freude hatte, sondern knapp und klar wie ein heller Trompetenstoß in das Ohr einer demütigen, armen Frau drang:
»Fräulein Hartwig?«
Und der schwarz gekleideten Dame den Vortritt lassend, stellte die helle Stimme lässig und weltsicher vor:
»Meine Mutter.«
Meine Mutter! Ein Schwamm, der über kreidebeschriebene Tafel fährt, so wischten zwei Worte alle schönen Bilder fort. Meine Mutter! Über ein aufgeschlossenes Herzensfenster, in dem sich aufbewahrte Güte, unzerstörter Liebesreichtum schamvoll zur Schau stellen und bittend darbieten wollten, rissen zwei Worte einen eisernen Rollladen herunter.
Häßlich war auf einmal diese frisch geputzte Stube, als der schöne, starke, junge Mann darinnen saß auf dem grünen Lehnsessel, die Beine übereinandergeschlagen, den Hut auf den Knien, als ob er keine überflüssige Minute zu bleiben gedächte. Häßlich und beschämend schäbig war man selbst, während man dieser schönen Frau gegenüberstand und rasch noch einmal die Finger am Rock abstrich, um die dargereichte weiße Hand zu ergreifen. Eine andere, fremde Welt war eingedrungen, vor der die enge, kleine, in der man hauste, sich scheu und bescheiden in die Ecken verkroch. Nichts Warmes strömte hinüber, herüber. Sachliche Fragen klangen, leise Antworten wurden mit unsicherer, abwehrender Stimme gegeben. Nein, nein, man wußte nichts, hatte nichts gesehen, nichts gehört, man hatte ein Kind gehabt, Knabe oder Mädchen, das man nicht kannte, man war mit niemand im Einverständnis gewesen, hatte von niemand Geld bekommen, alles war längst vorüber, Kind, Sehnsucht, Reue, Liebe. Alles hatte die Vergangenheit geschluckt.
Drei Menschen saßen, still geworden, um einen runden, frisch gedeckten Tisch, an dem niemand etwas anbot, niemand etwas nahm.
»Würden Sie mir den Namen des Mannes nennen, der Sie« – Lutz, plötzlich das Schweigen brechend, suchte nach einer passenden Wendung – »damals in diese Lage gebracht hat?«
»Kurt Schrötter. Aber so hieß er wohl nicht.«
»Sie wissen also eigentlich gar nichts.«
Brigitte zuckte zusammen. Was wollte man noch von ihr? Sie verlangte nichts, hatte niemanden gerufen, niemandem sich aufgedrängt – weshalb mußte sie die Tür ihres Lebens aufreißen und anderen Menschen gestatten, in allen Ecken zu schnüffeln? Hatte der junge Mann nicht die andere Frau seine Mutter genannt, sich gegen sie, die Arme, erklärt, bevor er sie noch gekannt hatte? Ein fremder Herr saß da, der sich gegen sie wehrte, nichts von ihr wissen wollte. Sie fühlte das sehr genau. Röte floß über das graue Gesicht. Scham preßte sie, daß sie nicht einmal mit Sicherheit den Namen des Mannes kannte, der der Vater ihres Kindes war. Aber die erste, einzige Liebe war doch heilig geblieben trotz Unglück, Enttäuschung, Elend, mit denen sie überschüttet war. Drei, vier Wochen waren im ganzen Leben schön und licht gewesen – wen ging es an? Ein Mann hatte vielleicht schlecht an ihr gehandelt – wen kümmerte es? Wer er war, wo er war – wer hatte danach zu suchen, wenn sie es nicht tat?
»Nichts weiß ich!« sagte sie trotzig.
Die Augen des schönen jungen Mannes forschten in den früh gealterten, erstarrten Zügen, glitten nicht freundlich und nicht unfreundlich, aber erst recht nicht liebevoll an einer schmalbrüstigen Gestalt hinab, deren Rücken Arbeit gerundet hatte und die sich vor diesen Augen schamhaft noch stärker krümmte und zusammenzog.
Wie lange hatte der Besuch gedauert? Eine halbe Stunde, kürzer, länger? Brigitte wußte es nicht. Ihr kam er qualvoll unendlich vor. Dann stand der ihr immer fremder werdende Herr auf und gab ihr zu kurzem Druck eine kühle, große Hand. Nur die schöne, vornehme Frau im schwarzen Seidenkleid nahm mit aufwallender Wärme zwischen ihre weichen Hände zart und doch fest eine schrundige, rauhe. Und zwei große, traurige Augen begegneten zwei leeren, hoffnungslosen. Aus den beiden traurigen liefen zwei Tränen, die hoffnungslosen blieben trocken. Lenore sagte stockend:
»Fräulein Hartwig – wenn Sie einmal jemanden brauchen – ich werde für Sie immer da sein. Ich denke an Sie.«
Brigitte Hartwig antwortete nicht. Schritte klappten die Treppe hinunter. Eine Tür schloß sich. Unten im Hausflur blieb Lutz stehen. Er atmete mit hoher Brust die staubige Luft ein, die von der Straße in den zugigen Toreingang strömte. Beherrschung fiel ab. Und er griff mit rascher, heißer Bewegung nach dem Handgelenk Lenores. Dort oben war Trübseligkeit, Grauen, bedrückende Enge gewesen, die sich auf die Lunge gelegt und ihn mit körperlicher Abneigung erfüllt hatten. Nichts, nichts, kein spinnwebdünner Faden zog ihn zu dem grauen, trostverlassenen Schatten in der kümmerlichen Behausung, keine Sekunde hatten seine Pulse verwandten Schlag gehört, keinen einzigen eigenen Zug hatte er im Elendsgesicht wiedergefunden. Es mochte hart oder herzlos sein, aber er hatte sich abgestoßen gefühlt, mit Widerwillen bis an den Rand der Lippe vollgegossen. Er zog in überquellender Befreitheit Lenore an sich und küßte sie, die an seiner Brust in sich hineinweinte ohne Erlösung, ohne Jubel, nur mitleidsvoll und traurig über sich und über das arme Bündel Mensch dort oben, das ihr nicht anders vorkam, als sie selbst. Ebenso bejammernswert, ebenso zerbrochen. Nur tapferer.
»Mutter.«
Das Wort, wärmer denn je gesprochen, beglückend in jedem anderen Augenblick, ließ sie, ihr selbst unverständlich, heftiger aufschluchzen.
»Lutz, du warst nicht gut zu ihr.«
*
Leise, wie man in Krankenzimmern schleicht, ging Brigitte Hartwig in ihr Zimmer zurück. Mit der Hand strich sie über den Stuhl, auf dem Lutz gesessen hatte und rückte ihn auf seinen Platz. Auf dem Tisch standen unberührt die Tassen, der Kaffee war draußen auf dem Herd geblieben, niemand hatte vom Kuchen gegessen. Ein zögernder Schritt wollte zum Fenster. Wozu? fragte ein Achselzucken. Aus dem Spind, in dem sie ihre Wäsche aufbewahrte, nahm Brigitte ein Bild, das in schlechtem Zeitungsdruck Lutz zeigte, das Bild, das ihr Trendelenburg gelassen hatte. War das ihr Kind? Vielleicht! Aber das war alles unwirklich und gegenstandslos geworden. Wenn sie das alles in einem Buch gelesen hätte, würde sie heiße Tränen vergossen haben. Da es ihr eigenes, greifbares Leben war, kam kein Tropfen in ihre Augenwinkel. Sie schob Tassen, Kuchenteller, Blumen beiseite und legte das Bild vor sich auf den Tisch. So ihn ansehen und glauben, daß er ihr Kind sei. Nur seine Stimme durfte man nicht hören, diese herrisch junge, helle Stimme, die nicht einen weichen Ton für sie gehabt hatte. Die Stimme durfte nicht in ihren Traum klingen. Die Zeigefinger stopfte sie in beide Ohren, um den nachhallenden Klang aus ihnen zu bannen. Wie er auf dem Bild war, schön, stark, mit festem Blick im dunklen Gesicht und trotzig die Bögen der Lippen übereinandergeschlossen, so sollte ihn die Welt sehen. Für sich durfte man ausdenken, wie er hereinkäme, die ernsten Augen lachend, den trotzigen Mund geöffnet zu einem lieben Wort. So war er ihr geliebtes, erträumtes Kind. Keine Wirklichkeit durfte den Traum scheuchen.
*
»Liebes Fräulein Grabowski, Sie wissen, wie Sie sich zu verhalten haben«, sagte Justizrat Trendelenburg zu der jungen Dame, die zu Seiten der alten Frau Teltzsch saß und fuhr zu dieser gewandt fort, »ich hoffe doch, daß wir mit dieser Zusammenkunft ein Stück vorwärtskommen und der junge Mann Vernunft annimmt. Es hat einen Kampf gekostet, die Herrschaften zu diesem Besuch zu veranlassen.«
Das war verabredet gewesen, daß Kläre Grabowski für Lutz und Lenore unerreichbar blieb, damit Trendelenburg die Führung nicht aus der Hand verlor. Als sie in der Spandauer Straße in Charlottenburg vorsprachen, hieß es, Fräulein Grabowski sei bei der Frau »Großmutter«. »Der Herr« möchte sich doch mit dem Justizrat in Verbindung setzen. Lutz verstand. Hier wurde offenbar alles sorgfältig vorbereitet. Man mußte sich auf verschiedenes gefaßt machen. Er ließ sich mit Trendelenburg verbinden und verlangte, daß die Begegnung mit Kläre an einem dritten Ort stattfinden sollte. Der Justizrat blieb hart. Hier bestimmte er den Kampfplatz. Unbedingt sollte es die Wohnung der alten Frau Teltzsch sein. An sich hätte es ihm gleichgültig sein können, wo man sich traf, aber er wollte Lutz zum ersten, wenn auch kleinem Nachgeben zwingen. Es sollte mit der Wahl dieses Ortes auch dargetan werden, daß von Seiten seiner Partei Kläre Grabowski sozusagen halböffentlich in den Kreis der Familie bereits aufgenommen worden sei. Natürlich würde er bei der Unterredung dabei sein. Darauf mußte er unbedingt bestehen.
»Und meine Großmutter?«
»Frau von Teltzsch eigentlich auch.«
»Herr Justizrat«, hatte Lutz erwidert, »ich nehme an, daß Sie von meiner Nachprüfung Ihres Beweismaterials ein Einlenken meinerseits erwarten, sonst würden Sie das Zusammentreffen verhindern. Ich nehme Ihre Ortswahl an, um überflüssige Erörterungen zu vermeiden, unter der Bedingung, daß meine Großmutter diesem Zusammentreffen fernbleibt. Ich wünsche, meiner Mutter unnötige Aufregungen zu ersparen. Den Zweck Ihrer Gegenwart verstehe ich. Für meine Großmutter ein Schauspiel zu veranstalten, wird abgelehnt. Das sind Theaterwirkungen.«
»Ich möchte doch sehr bitten, Herr von Teltzsch.«
»Verlieren wir keine Zeit, Herr Justizrat, entweder ohne großmütterlichen Beistand oder gar nicht.«
In diesem Punkte hatte es Trendelenburg für richtig befunden, nachzugeben.
Der Weg in die Viktoriastraße war Lenores schwerster Gang. In allen Nerven ahnte sie, daß sie dort etwas erwartete, dem sie nicht gewachsen war, und zitterte während der Hinfahrt am ganzen Körper. Sie legte eine eiskalte Hand auf Lutz' Knie, der sie beruhigend streichelte.
»Nicht so aufgeregt sein, Mutter, siehst du denn nicht, daß hier Theater aufgeführt wird? Große Szene des zweiten Aktes, Regie Justizrat Trendelenburg, Dekorationen von der Firma Teltzsch.«
Sie antwortete nicht. Die Zähne schlugen ihr im Fieber zusammen. In Lutz' Stimme war trotz des scherzenden Tones noch ein Verborgenes, das sie mit überscharfem Ohr heraushörte. Äußerlich schien er ruhig. Niemand hätte erraten können, wieviel von der nächsten halben Stunde für ihn abhing. Es war ja gut, daß wenigstens er sich beherrschen konnte, denn sie war am Ende ihrer Kraft. Der Toreingang lag unter einem großen Erker, den mit sklavisch gebogenem Nacken rechts und links zwei muskelstrotzende Karyatiden stützten. Der Fahrstuhl brachte die beiden Ankömmlinge in den ersten Stock. Bevor Lutz an der Klingel zog, schob er seine Hand unter Lenores Arm.
»Mutter, ich bitte dich, ein bißchen zusammenreißen. Mir zuliebe.«
Aber er selbst stand mit gerunzelter Stirn und mußte sich einen Ruck geben, um die nötige Haltung zu bewahren. Sie wurden in den französischen Salon geführt und waren kaum eingetreten, als durch die Tür des Nebenzimmers Trendelenburg sie empfangen kam. Er küßte Lenore die Hand und wechselte mit Lutz einen Händedruck.
»Ich freue mich, Herr von Teltzsch, einen Gegner, vor dem ich alle Hochachtung habe, zu begrüßen. Wir haben uns ja vorläufig noch nichts zu sagen, da ist es Ihnen wohl recht, wenn ich Ihnen Fräulein Grabowski gleich vorstelle.«
Er ging zur Tür zurück, aus der er herausgetreten war, öffnete sie und sprach mit einer Geste ins Nebenzimmer wie ein Impresario, der den Zuschauern die auftretende Künstlerin vorstellen will:
»Mein Fräulein, darf ich bitten!«
In Lutz spannten sich alle Muskeln. Lenore starrte aus dem zierlichen Polsterstuhl mit aufgerissenen, leeren Augen auf die Tür. In der hohen, schmalen Öffnung des zurückgeworfenen Flügels stand wie hingezaubert im geschmackvollen Nachmittagskleid eine junge Dame, schlank und groß gewachsen und zeigte, indem sie sich ein wenig verlegen an den Justizrat wandte, im auffallenden Fensterlicht ein Gesicht, so ganz und gar in allen Zügen teltzschisch, daß Lutz, verblüfft ob der Unwahrscheinlichkeit dieser Erscheinung, die begrüßende Verbeugung vergaß. Eine etwas lange Nase, steil aufsteigende, überhohe Stirn, blondes Haar, ein kräftiger Mund und fast kleine, helle Augen – das war Kläre Grabowski. Alle Merkzeichen, die die Bilder der Vorfahren in der Mannheimer Villa einander ähnlich machten, in diesem Antlitz, das gut und damenhaft wirkte, ohne ausgesprochen hübsch zu sein, kehrten sie gesammelt wieder und ließen keinen Zweifel an der Zugehörigkeit ihrer Trägerin zur Familie. Lutz wußte, daß Trendelenburgs Augen auf ihm ruhten. Nicht beschleunigt, eher verlangsamt, aber mit lautem, fast dröhnendem Schlag klopfte ihm das Herz gegen die Rippen. Die Zunge lag ihm schwer und unbeweglich wie ein heißer Klumpen im ausgetrockneten Mund. Der Justizrat ging mit raschen Schritten auf Lenore zu.
»Um Gottes willen, gnädige Frau, was ist Ihnen?« Lenore saß mit seitwärts hängendem Kopf, aus dem jeder Blutstropfen gewichen schien, bewußtlos im Sessel. Nur die Armlehne, gegen die sie gesunken war, hinderte sie, von ihrem Sitz hinabzugleiten.
»Bitte, rasch etwas Kölnisch Wasser.«
Kläre sprang davon und war im Augenblick zurück. Lutz stützte die Ohnmächtige, das junge Mädchen benetzte ihr, vor ihr kniend, Stirn und Wangen mit kühlenden Tropfen. Lenore schlug langsam die Lider auf und blieb mit einem langen, abwesenden Blick auf dem Gesicht der Knienden hängen, bis Besinnung sie völlig wach machte. Das Erkennen füllte ihr die Schwärze der Pupillen wieder mit weitender Angst, sie zog sich mit rückschiebenden Knien in die Tiefe des Stuhles hinein und streckte in Abwehr, den Kopf heftig schüttelnd, die Hände gegen Kläre aus.
»Mein Fräulein«, ersuchte sie Lutz, »Ihre Gegenwart regt meine Mutter auf. Sie sind nicht böse, wenn ich Sie um Rücksicht bitte.«
Deutlicher als seine Worte forderten Geste und Haltung sie zum Verlassen des Zimmers auf. Kläre erhob sich unentschlossen und verwirrt mit einer fragenden Miene nach dem Justizrat hin. Ohne die Antwort Trendelenburgs abzuwarten, sagte Lutz, jetzt schon in entschiedenem Ton:
»Ich glaube, wir haben allein miteinander zu sprechen, Herr Justizrat.«
Er hatte sich wieder in der Gewalt. Wie wenn die Überraschung des soeben Erlebten, von dem Lenore umgeworfen worden war, erst seine volle Kampfbereitschaft losgebunden hätte, fühlte er sich ohne anderen Grund als im Bewußtsein seiner Kraft Herr der Situation. Sein schöner, dunkler Kopf war von Willenskraft geladen, die beunruhigend in den Augen flackerte. Der Justizrat empfand unbehaglich die Möglichkeit eines unerwünschten Ausbruches. Er winkte begütigend ab.
»Liebes Fräulein Grabowski, wir wollen die gnädige Frau einige Augenblicke allein lassen.«
Er nickte Lutz zum Zeichen des Einverständnisses zu und führte Kläre, die unwillig den blonden Kopf in den Nacken warf, aus dem Zimmer. Lenore verkrampfte sich in den Rockumschlag des Sohnes, ihr Blick war glasig vor Entsetzen.
»Lutz, hast du sie gesehen? Mein armer Junge.«
Vollkommen fassungslos war sie. Lutz drückte sie sanft in den Stuhl zurück.
»Lutz«, flehte sie, »gib nach. Ich kann nicht mehr weiter. Ich will nichts haben, nur bei dir bleiben dürfen. Nicht allein lassen. Ich werde wahnsinnig. Mein süßer Junge. Nicht allein lassen.«
Sie wimmerte in sich hinein wie ein krankes Tier. Was sollte er mit ihr beginnen? Gegen diese Verzweiflung half kein Zureden, kein Streicheln.
»Bitte, sprich kein Wort mehr. Schau, ich bin ganz ruhig, Mutter, da brauchst du doch keine Angst zu haben.«
Trendelenburg kam zurück. Er war im Grunde höchst zufrieden. Die Wirkung dieser Begegnung war stärker, als er erwartet hatte. Lutz stand zwar aufrecht wie ein starker, junger Baum, aber es war ausgeschlossen, daß der Zusammenbruch Lenores auf ihn ohne Eindruck geblieben sein sollte.
»Ich bedaure lebhaft, gnädige Frau, daß der Anblick Fräulein Grabowskis Sie derartig mitgenommen hat. Wenn ich das geahnt hätte, würde ich Sie gebeten haben, nicht mitzukommen.«
Lenore biß sich auf die zitternde Lippe, um jeden Ton in die schwer schluckende Kehle zurückzudrängen. Trendelenburg machte eine kurze Pause.
»Da aber diese Ungeschicklichkeit nun einmal geschehen ist, darf ich Sie doch um Äußerung bitten, wie Sie sich jetzt zu unseren Forderungen stellen. Sie sehen wohl selbst ein, daß wir mit schwerwiegenden Gründen auf den Plan kommen.«
»Herr Justizrat, nicht meine Mutter, sondern ich bin der Erbe. Ihre Forderungen richten sich gegen mich. Außerdem erfordert es der Zustand meiner Mutter, daß unsere heutige Unterhaltung nur zwischen Ihnen und mir fortgesetzt wird.«
»Ich zweifle nicht, Herr von Teltzsch, daß auch Sie sich unseren Beweismitteln nicht verschließen werden. Wir haben jede Geduld geübt, um Ihnen Gelegenheit zu geben, sich selbst zu überzeugen. Sie werden sich inzwischen eine Meinung gebildet haben.«
»Sicher nicht die, die Sie erwarten.«
Mit einer verbindlichen Verbeugung erwiderte Trendelenburg:
»Ich habe viel zu großes Vertrauen in Ihre Urteilskraft, um nicht gewichtige Gegengründe bei Ihnen zu vermuten. Wir haben um einer gütlichen Verständigung willen mit offenen Karten gespielt, Sie können uns keine Unlauterkeit vorwerfen. Ich bitte Sie, ebenso offen zu sein und Ihre Karten aufzudecken. Wir lassen uns gern überzeugen.«
Lutz lächelte. Trendelenburg sah es erstaunt.
»Ich bin der Angegriffene, Herr Justizrat, ich kann mir leider meine Kampfesweise nicht vorschreiben lassen. Ich muß nur sagen, daß die Zeugen, die wir gesehen und gehört haben, alle zusammen nichts wissen. Bitte, ich weiß, was Sie sagen wollen. Daß meine Mutter auch nur verdächtigt wird, lehne ich auf das entschiedenste hier ab. Wenn das, was Sie als Tatsache annehmen, beabsichtigt war, so wußte ausschließlich ein Mensch darum, und der ist von Ihnen nicht befragt worden.«
»Es ist nicht schwer, Sie zu verstehen, Sie meinen Professor Vitali. Die gnädige Frau hat ja die Tagebücher des Professors geerbt, es liegt nur an Ihnen, uns auch die Befragung dieser Person zu ermöglichen. Legen Sie uns die Tagebücher vor.«
Nach kurzem Überlegen sagte Lutz:
»Hätten die Tagebücher für Sie unbedingte Beweiskraft?«
Trendelenburg witterte eine Falle. Er war vorsichtig.
»Das kommt darauf an. Unter Umständen – .«
Lutz lächelte noch immer.
»Verstehe. Wenn die Tagebücher zu Ihren Gunsten sprechen, sind sie beweiskräftig, im umgekehrten Falle nicht. Ich bedaure, daß ich Ihre Ansicht nicht teilen kann. Für mich sind die Tagebücher von unanzweifelbarer Richtigkeit.«
»Vielleicht auch für mich. Ich kann das nicht wissen, ehe ich sie nicht gesehen habe. Legen Sie sie vor, gewähren Sie uns Einblick.«
»Ihnen nicht, Herr Justizrat – aber dem Gericht.«
»Sie bestehen auf dem Prozeß?«
»Nein, Sie! Sie sind der Kläger.«
»Ich warne Sie, Herr von Teltzsch. Ich bin wohl der Vertreter Ihrer Gegner, aber ich meine es auch mit Ihnen gut, Sie sind mir sympathisch, ich habe Respekt vor Ihnen!«
»Sehr liebenswürdig!«
»Hören Sie auf den Rat eines Mannes, der fast dreimal so alt ist wie Sie und – ohne Ihnen nahezutreten – die hundertfache Erfahrung in solchen Dingen besitzt. Sie können jetzt noch viel für sich retten, wir sind nicht kleinlich. Lassen Sie es zum offenen Streit kommen, so können Sie auf keine Rücksicht mehr rechnen. Ich schmeichle mir, den Kampf bis jetzt auf ritterliche Art geführt zu haben. Wenn es hart auf hart kommt, kann ich ein minder freundschaftlicher Gegner sein. Gnädige Frau, ich bitte Sie, wenden Sie Ihren ganzen Einfluß auf, um Herrn Lutz zur Einkehr zu bewegen, es steht viel auf dem Spiel. Auch für Sie, besonders sogar für Sie. Sie werden sich ja einen Rechtsbeistand nehmen, fragen Sie ihn, was im Strafgesetzbuch steht.«
Mit herrisch zwingendem Ton, der jeden Widerstand im Keime erstickte, fragte Lutz:
»Mutter, hast du Angst?«
Sie zitterte am ganzen Körper und antwortete doch unter der Macht des Befehls, der in der Frage lag, mit elender Stimme:
»Nein, Lutz.«
»Wir wollen uns doch klar sein, Herr Justizrat. Sie verlangen meinen Rücktritt von meinem Erbrecht?«
»Von Ihrem vermeintlichen Erbrecht, ja.«
»Und wollen mir dafür, gnadenhalber, irgendeine Abfindung zahlen?«
»Nicht ganz so, aber ungefähr. Es kommt hier nicht auf das Wort an.«
»Das meine ich auch.«
Lutz spürte, jetzt sprach er das entscheidende Wort, ein »Nein« setzte alles aufs Spiel, Lebenszweck, Macht, Reichtum, Ehre, alles, ein »Ja« bedeutete einen Direktorposten, etwas Geld oder beides zusammen, Herabsteigen, Demütigung, Kleinwerden. Er erhob sich langsam, stand kerzengerade, mit gegrätschten Beinen, die Fäuste in die Hüfte gesetzt.
»Nein, Herr Justizrat.«
»Ihr letztes Wort?«
»Mein letztes.«
Auch Trendelenburg erhob sich. Er sagte ärgerlich mit merklich erhobener Stimme:
»Sie entschuldigen, aber was Sie da tun, ist unvernünftig, beinahe hätte ich kindisch gesagt. Ich habe Ihnen die Hand freundschaftlich entgegengestreckt, Sie stoßen sie zur Seite. Das bin ich nicht gewöhnt. Überlegen Sie sich noch einmal gut, was Sie sagen. Es ist keine Schande, sein Unrecht einzusehen und einzulenken. Bitte, ich warte noch –«
»Nein.«
»Ich bedaure außerordentlich. Sie werden von mir hören.«
Der Justizrat nickte Lutz kurz zu und machte eine knappe Verbeugung vor Lenore. Lutz berührte sie leise und reichte ihr den Arm.
Als Trendelenburg in das Zimmer der alten Frau trat, die ihn mit Kläre Grabowski erwartete, mußte er erst seinem Zorn Luft machen.
»So etwas ist mir ja noch nicht vorgekommen. Ich habe schon manches an Hartköpfigkeit erlebt, aber dieser junge Mann übertrifft den größten Dickschädel, der mir jemals begegnet ist.«
»Erzählen Sie, lieber Freund, erzählen Sie. Ich finde das großartig, daß meine Schwiegertochter in Ohnmacht gefallen ist. Sie wird schon wissen warum.«
»Na ja, aber ich weiß nicht, was in den Tagebüchern des Professors Vitali steht. Da scheint irgend etwas drin zu sein, woraus der junge Mann Hoffnung schöpft.«
»Hat er sie Ihnen gezeigt?«
»Nein. Energischst abgelehnt.«
»Bluff.«
»Das dachte ich auch. Aber weshalb hat er dann auch jede Verhandlung abgelehnt? Ich habe ihm zugeredet wie einem kranken Pferd.«
»Und ich sage Ihnen, Justizrat, wenn in den Tagebüchern etwas stände, was die beiden retten könnte, hätte er sie Ihnen gezeigt. Aber es ist möglich, daß in einiger Zeit etwas in ihnen stehen wird.«
»Sie meinen?«
»Tagebücher kann man fälschen.«
Die alte Frau war Gift und Galle. Sie traute Lutz und Lenore jedes Verbrechen zu.
»Man kann«, sagte Trendelenburg bedächtig, »natürlich kann man alles. Man wird ja sehen. Wir haben jetzt nur den Weg der Klage. Sind Sie einverstanden, Fräulein Grabowski?«
Die Greisin legte ihre welke Hand auf Kläres Schulter und die Augen im geschminkten, alten Gesicht sprühten spitz und dunkel.
»Vergessen Sie nicht, liebes Kind, daß Sie eine Teltzsch sind.«