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Der plötzliche Tod des Kanzlers Engelbert Dollfuss traf das Lager der Oesterreicher furchtbar. Noch war alles im Werden, die neue Verfassung kaum drei Monate alt, die Konsolidierung des inneren Aufbaus und der Abwehrkräfte keineswegs vollzogen, das Land im Nachbeben des Bürgerkriegs. Die Vaterländische Front hatte ihre endgültige Gestalt noch nicht erhalten; noch gab es zwei Auffassungen über ihre Funktion, die einander ausschlossen. Der eine Teil wollte, dass diese politische Monopolorganisation lediglich ein Dach sei, unter dem sich wie in früherer Zeit die Parteien, die einzelnen Verbände und Organisationen des Regierungslagers versammeln konnten. Dieser Ausdruck »Dach« gibt ein gutes Bild davon, was sich die Anhänger dieser Richtung vorstellten und versprachen. Sie wollten diesen Schirm gerne benutzen, solange der nationalsozialistische Wolkenbruch über das Land niederging, sie wollten lediglich unterstehen. Die andere Meinung sah in der V.F. eine selbständige Organisation mit einer eigenen bis zum Einzelnen hinabreichenden Unterorganisation. Einen Verband der Oesterreicher, die sich auf das Dollfussprinzip geeinigt hatten, der nicht durch andere politische Organisationen gestört werden sollte.
Als Nachfolger Dollfuss' hatte der Vicekanzler Ernst Rüdiger Fürst Starhemberg die Führung der V.F. übernommen. Der neue Bundeskanzler Dr. Kurt v. Schuschnigg fungierte als sein Stellvertreter.
Starhemberg war zugleich Führer des Heimatschutzverbandes, der stärksten militanten Organisation des Landes, die in den Kämpfen des Februar und Juli die grössten Opfer gebracht hatte. In dieser Organisation des Heimatschutzes, die vom politischen Geist der Kriegs- und Nachkriegsgeneration getragen wurde, herrschte naturgemäss eine Abneigung gegen das demokratisch-parlamentarische System der österreichischen Spielart, das trotz der genialen Führerpersönlichkeit eines Dr. Ignaz Seipel in immer grössere Schwierigkeiten geraten war und das in seiner besonders gefährdeten Situation nicht fähig zu sein schien, dem Staate, wie er nun einmal bestand, eine Form zu geben, die ihn in den Stand versetzt hätte, die Nöte der Zeit zu meistern und den Gedanken der neuen Zeit Rechnung zu tragen.
Der Heimatschutz, aus der von den hohen Idealen der Heimatliebe getragenen Verteidigung des engeren Vaterlandes entstanden, später Schutz- und Abwehrbewegung gegen die vom Führer der österreichischen Sozialdemokratie Dr. Otto Bauer in Wort und Schrift gepredigte und verlangte Diktatur des Proletariats, erlangte nach der ungeregelten Explosion des 15. VII. 1927, die in allen nichtmarxistischen Kreisen als ein Warnungssignal aufgefasst wurde, unerwartete Stärke. In den Reihen dieser zwar exklusiv politischen, aber doch ausserparlamentarischen Organisation, stand nun die junge Generation der bürgerlichen und Oberschicht, gewisse Teile der alpenländischen Arbeiterschaft, die noch halb im Bäuerlichen verankert, sich in das marxistische Denken nicht hineinfinden wollte und die Bauernschaft.
Der vorherrschenden Anschauung nach, war dieser Heimatschutzverband aus Monarchisten, Nationalen, Christlichsozialen zusammengesetzt, gebunden durch die gemeinsame Ablehnung des Marxismus und des demokratisch-parlamentarischen Systems.
Seit dem Juli 1927 machte sich die starke Tendenz nach der Begründung eines eigenen politischen Programms geltend. Insbesondere nach der Uebernahme der Bundesführung durch den Fürsten Starhemberg, der seiner Persönlichkeit, seiner ganzen Wesensart nach geeignet war, ein neues Staatsprogramm zu vertreten und zu propagieren. Am 18. Mai 1930 war in Korneuburg ein Heimwehrprogramm verkündet worden, das die ständische Neugestaltung im Rahmen eines autoritär geführten Staates verlangte.
Freilich stellte sich die Heimwehr diesen neuen Staat als einen »Heimwehrstaat« vor, das heisst, sie strebte nicht nur die restlose Durchsetzung ihres Gedankengutes, sondern auch die, wenn auch nicht exclusive, so doch massgebende Beherrschung des neuen Staatsgefüges durch ihre Anhänger an.
Dollfuss hat später mit seinem neuen Staatsprinzip die Wünsche der Heimwehren auch zu seinen eigenen gemacht. Mit der Gründung der vaterländischen Front, waren wesentliche Teile des Programms der Heimwehren zum Staatsprogramm erhoben worden.
Die Anhänger des Heimatschutzes blieben gleichwohl in einer abwartenden Stellung innerhalb ihres Verbandes. Die Beteiligung, die sie an der Macht erhalten hatten, schien ihnen ungenügend. Aber nicht nur dieses Ungenügen war es, das die Heimwehrleute dazu brachte, auch jetzt noch abwartend und kritisch neben der V.F. stehen zu bleiben, es war auch die Erkenntnis, dass viele Anhänger des Kanzlers Dollfuss in seinem Prinzip und in seiner Organisation nur einen Notbehelf sahen, ein kleineres Uebel, das man in Kauf nehmen muss, um ein grösseres zu verhüten. Die Ueberzeugung in den Kreisen des Heimatschutzes ging dahin, dass gerade solche Kräfte, wie ich sie eben beschrieben habe, einen unverhältnismässig grossen Anteil an der Macht des neuen Staates besassen.
Diese Meinung der Anhänger des Heimatschutzes war zum Teil richtig. Zum anderen Teil fehlte es aber diesem Verband, der ungeheuer viel Schwung, Zähigkeit und Opfermut bewiesen hatte, an genügend Kräften, die gewillt und befähigt gewesen wären, die politische Kleinarbeit, die nun nach der Kampfzeit für die Aufbauarbeit notwendig gewesen wäre, zu leisten.
Sowohl im Februar als auch im Juli 1934 hatte der Heimatschutz den Hauptteil der Last des Kampfes und auch die Mehrheit der Opfer zu tragen gehabt. Dadurch wuchs sein Anspruch auf führende Beteiligung an der Macht. Die Angehörigen des Heimatschutzes fühlten sich als Angehörige einer Eliteorganisation innerhalb der V.F. Dem Heimatschutz gegenüber standen die ehemaligen Anhänger der Christlichsozialen Partei und die verschiedenen Gruppen, die sich schon früher innerhalb dieser Partei gebildet hatten: Eine Richtung, die das Sozialprogramm in den Vordergrund stellte, unter der Führung des früheren Nationalrates Kunschak, die im Gewerkschaftsbund grossen Einfluss besass, ein Wehrverband der Arbeiter, der sich Freiheitsbund nannte, der die demokratische Seite des Dollfussprinzipes besonders pflegte, eine rechtsgerichtete Gruppe, die unter der Führung des Wiener Bürgermeisters Richard Schmitz stand und die ständischen Gruppen, die sich seit Jahrzehnten in Gewerbe- und Bauernbünden formiert hatten.
Schliesslich die junge katholische Front, die sich in den »Ostmärkischen Sturmscharen«, deren Gründer und Führer Dr. Schuschnigg war, gesammelt hatte.
Neben diesen Gruppierungen, die ja auch ihren organisatorischen Ausdruck in Bünden, Verbänden und Vereinen fanden, waren einflussreiche Persönlichkeiten vorhanden, in deren Gefolgschaft mächtige Institutionen wirtschaftlicher Art standen, wie etwa der Präsident der Nationalbank, Dr. Viktor Kienböck.
Hätte Dollfuss länger gelebt, so wäre es ihm ohne Zweifel gelungen, diese Vielfalt stark aneinanderzuketten und ihr einen gemeinsamen Weg vorzuschreiben. So aber kam sein Tod viel zu früh. Schuschnigg sah, als er die Kanzlerschaft antrat, lediglich den Grundriss des neuen Gebäudes vor sich, die Mannschaft aber, die es bauen sollte, stand in verschiedenen Lagern, die den grossen Plan nicht ob seines Gesamtbildes, sondern verschiedener Einzelheiten wegen, die ihnen besonders zusagten, zu bauen unternahmen.
Schuschnigg wurde Bundeskanzler, Fürst Starhemberg Bundesführer der V.F. Damit war eine Doppelregierung begründet, die nicht auf die Dauer bestehen konnte. Es zeigte sich denn auch sehr bald, dass sich die verschiedenen Gruppen ausserhalb des Heimatschutzverbandes um die Person des Kanzlers gruppierten, um gegen den Elan, mit dem die Anhängerschaft des Fürsten Starhemberg ans Werk ging, Widerstand zu leisten.
Es steht eindwandfrei fest, dass beide Persönlichkeiten, der Kanzler und der Bundesführer, alles daransetzten, um die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Konstruktion ergaben, aus dem Weg zu räumen. Den letzten Anlass zur Trennung der beiden Politiker und zur Auflösung des Dualismus gaben innen- und aussenpolitische Vorfälle.
Schon im Jahre 1934 wurde der erste Versuch einer »inneren Befriedung« in dem Sinne eines Versuchs zur Heranziehung der vernünftigen nationalen Elemente zur Mitarbeit und Mitverantwortung gemacht. Ein oberösterreichischer Agrarier, Ing. Reinthaler, der seit März 1938 österreichischer Ackerbauminister ist, unternahm mit Billigung des Bundeskanzlers einen Versuch, die vernünftigen und loyalen Nationalen Oesterreichs zu sammeln. Diese »Aktion Reinthaler« ging in der allgemeinen Bürgerkriegsstimmung des Jahres unter.
Bis zum Jahr 1934 gehörten auch, nach Absplitterung der steirischen Gruppe, dem Heimatschutz eine grosse Zahl nationaler Persönlichkeiten an. An dem grossen Heimwehraufmarsch in Schönbrunn vom Mai 1933, bei dem Starhemberg und Dollfuss das österreichische Programm verkündeten, zu einer Zeit, in der sich die Fronten in grossen Linien bereits geschieden hatten, marschierte der Schwager des deutschen Reichstagspräsidenten Göring, als Führer des Salzburger Heimatschutzes, für die Idee Dollfuss. Von allem Anfang an waren die vaterländischen Kreise, insbesondere auch einzelne Führer des Heimatschutzes, bestrebt, Persönlichkeiten zur Mitarbeit zu werben, die Verbindung mit Nationalen hatten, aber die die Methoden des Nationalsozialismus ablehnten.
Die Nationalen Oesterreichs besassen vor und nach dem Juli des Jahres 1934 bis zum März 1938 eine grosse Zahl von Vereinen und Verbänden, in denen es ihnen möglich war, sich nach ihrer Art zu betätigen. Freilich unter Ausschluss jeder staatsfeindlichen oder illegalen Aktion. Der » deutsche Turnerbund 1919«, dessen Zweigvereine sich über das ganze Bundesgebiet erstreckten, war in grossen Zügen bestehen geblieben. Neben diesem Turnerbund aber war eine grosse Zahl von sportlichen Vereinigungen vorhandenen denen sich ausschliesslich nationale Mitglieder sammelten. Es bestand und blieb bestehen der » deutsche Schulverein Südmark«, ein Unterverband des Berliner »Verbandes für das Deutschtum im Ausland«, es bestand der » Oesterreichisch deutsche Volksbund«, eine Organisation, die früher Anschlusspropaganda betrieben hatte und nun der Pflege der kulturellen Zusammenarbeit zwischen Oesterreich und dem deutschen Reich diente. Daneben gab es nationale Gesangs- und Musikvereine, Leihbibliotheken und kulturelle Organisationen aller Art, in denen der vorzüglich nationale Teil der Bevölkerung sich betätigen konnte. Auch auf dem Gebiet der Presse hatte man das nationale Element durchaus nicht etwa ausgerottet. In Wien und in den Bundesländern erschien eine grosse Zahl national redigierter Tages- und Wochenblätter. In den wirtschaftlichen und ständischen Organisationen befand sich eine grosse Zahl von national eingestellten Persönlichkeiten an führenden Posten.
Das alles muss deshalb in Erinnerung gebracht werden, weil von den Nationalsozialisten die Behauptung aufgestellt wurde und noch immer aufgestellt wird, dass die nationalen Teile der österreichischen Bevölkerung nicht nur grausam unterdrückt, sondern auch jedes kulturellen und wirtschaftlichen Lebensraums beraubt gewesen seien, dass sich die Regierung beharrlich geweigert habe, die primitivsten Wünsche der Nationalen zu erfüllen. Das muss auch zur Klarstellung der Methoden gesagt sein, die auf dem Umweg über die Eroberung von Rechten für die sogenannte »nationale Bevölkerung« nichts anderes als die Herrschaft des Nationalsozialismus anstrebten.
Im Frühjahr 1936 war die Spannung zwischen dem Bundeskanzler und dem Fürsten Starhemberg so gewachsen, dass mit einer Lösung des Konfliktes für die nächste Zeit gerechnet werden musste.
Der italienische Regierungschef hatte Dr. Schuschnigg wissen lassen, dass er es für notwendig und richtig halte, einen weiteren Schritt zur inneren Befriedung in Oesterreich zu tun. Dieser Rat Mussolinis war vor allem aus seinem Wunsch heraus zu verstehen, die österreichische Frage, die einem engen Bündnis zwischen Deutschland und Italien im Wege stand, zu bereinigen. Eine solche Bereinigung sollte dem österreichischen Standpunkt weitgehend Rechnung tragen und die Unabhängigkeit des Landes »als Dogma der europäischen Politik« auch vom deutschen Reich endgültig garantieren lassen. Dr. Schuschnigg hatte Grund zur Annahme, dass die nationalsozialistische Regierung des Reiches einen solchen Vertrag erst dann zu unterfertigen bereit sein werde, wenn »diejenigen Gruppen und Persönlichkeiten der österreichischen Innenpolitik, die mit den Nationalsozialisten in unversöhnlicher Feindschaft lebten«, ausgeschaltet oder doch wenigstens in ihrem Einfluss wesentlich beschränkt würden. Die Notwendigkeit einen Vertrag mit dem deutschen Reich zu schliessen und zu einem Friedensschluss zu kommen, galt ihm als die Möglichkeit, den Einfluss des Heimatschutzes, der als die offensivste und unbedingteste antinationalsozialistische Gruppe galt, in eine geringere Position zu drängen. Hierbei hielt sich Dr. Schuschnigg an folgenden Gedankengang: Der Friedensschluss mit Deutschland und die Vollendung des von Dr. Dollfuss begonnenen Aufbauwerkes erfordern eine Vereinheitlichung und Konzentration aller Kräfte, die der Regierung zur Verfügung stehen. Dieser Friedensschluss erfordert die Verminderung des Einflusses der allzu agressiven Kräfte des Regimes. Demnach war der richtige Weg der einer Uebernahme der Frontführung durch den Bundeskanzler, und die Zusammenfassung der militanten Kräfte des Landes in Miliz und Bundesheer.
Die Miliz war schon unter der Führerschaft des Fürsten Starhemberg begründet worden und sollte eine Zusammenfassung der freiwilligen Wehrverbände, also des Heimatschutzes, der Sturmscharen, des Freiheitsbundes und der anderen kleineren Verbände sein.
Vorläufig war allerdings diese Zusammenfassung noch nicht weit gediehen.
Am 1. April 1936 legte die Regierung dem Bundestag ein Gesetz vor, das die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zur Tatsache machte. Dieses Gesetz hatte, obwohl es im Widerspruch zum Friedensvertrag von St. Germain stand, der Regierung keinerlei aussenpolitische Schwierigkeiten bereitet, war doch Deutschland mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht vorangegangen.
Dr. Schuschnigg war der Meinung, dass das neue Volksheer und die im Rahmen der V.F. stehende freiwillige Miliz die Kräfte, die sich bisher in den Wehrverbänden gesammelt hatten, aufnehmen würden. Dieser Gedanke, in dem der Kanzler übrigens auch durch Personen unterstützt wurde, die ihre Positionen durch den Heimatschutz bedroht sahen, war falsch. Dr. Schuschnigg übersah dabei den modernen politischen Menschentyp, der sich eine politische Betätigung nicht anders als in Reih und Glied vorstellen kann, der die Ungewissheit des Einzelschicksals im Kollektiv der Doppelreihe, in der disziplinierten Kameradschaft der Gleichgesinnten aufwiegen zu können glaubt, übersah die Propagandakraft und den Elan, der in einer militärisch gegliederten politischen Organisation liegt und übersah endlich, dass es durchaus nicht das Militärische allein war, das die Menschen zueinanderbrachte und beieinanderhielt, sondern der heisse Wunsch, durch diese militärische Betätigungsform einem politischen Ideal zu dienen, das noch nicht vollendet, erst der ganzen Verwirklichung harrt.
Miliz und Bundesheer boten Platz für den Soldaten, der dem Vaterland dient. Die Wehrverbände waren noch etwas anderes: Sie waren Verbände von politischen Soldaten, die zugleich mit dem Dienst für das Vaterland auch noch ein persönliches, politisches Ideal verwirklichen wollten.
Der italienische Gesandte in Wien, Preziosi, stand den Heimwehrkreisen nahe. In dem Augenblick, in dem es feststand, dass der Dualismus in Oesterreich beseitigt werden sollte, schaltete Mussolini für den Verkehr mit dem österreichischen Bundeskanzler die Person des Präsidenten des italienischen Kulturinstitutes in Wien, Senator Francesco Salata ein, der bis zum Juli 1936 den direkten Verkehr zwischen Schuschnigg und dem italienischen Regierungschef vermittelte, bis er selbst zum Gesandten ernannt wurde. Francesco Salata, in Istrien, das zum alten Oesterreich gehörte, beheimatet, hatte in Wien studiert und sich später führend an der italienischen Irredenta in Triest beteiligt, wie sein Landsmann, der spätere Staatssekretär für die auswärtigen Angelegenheiten, Fulvio Suvich. Salata verfügte – Historiker von Beruf – über eine ausserordentlich gute Kenntnis der österreichischen Geschichte und der Kräfte, die an der Politik des neuen Oesterreich beteiligt waren. Salata war ein unbedingter Anhänger des Gedankens der Beseitigung des Dualismus in Oesterreich und der Uebernahme der alleinigen Führung durch Schuschnigg. Auf seinen Einfluss ist es zurückzuführen, dass Mussolini sich mit einer österreichischen Lösung befreundete, bei der Fürst Starhemberg, mit dem er in engem Kontakt gestanden hatte, ausgeschaltet wurde.
Das könnte nun vielleicht so klingen, als hätte Mussolini einen direkten Einfluss auf die innerösterreichische Gestaltung genommen. Eine solche Annahme wäre unrichtig. Ich verweise darauf, was Bundeskanzler Dr. Schuschnigg über dieses Thema in seinem Buch »Dreimal Oesterreich« gesagt hat, indem er feststellte, dass sich die italienische Regierung immer eines Einflusses auf innerösterreichische Dinge enthalten hat. Die Bereitstellung italienischer Heereskräfte an der österreichischen Grenze in den Julitagen des Jahres 1934 galt der Erhaltung der Unabhängigkeit des Staates, zu der sich Mussolini bis zum März 1938 immer wieder bekannte.
Schon im Winter 1935/36 hatte der deutsche Gesandte in Wien, Franz v. Papen, in Privatgesprächen auf die Möglichkeit hingewiesen, den österreichisch-deutschen Konflikt durch einen Vertrag zu schlichten. Der italienische, wie der deutsche Wunsch bewegten sich also in der gleichen Richtung. In die gleiche Richtung gingen schliesslich auch die Wünsche der ungarischen Regierung, die im Konflikt zwischen Oesterreich und Deutschland eine Hemmung ihrer Politik sah.
Diese aussenpolitische Konstellation stand in keinem Widerspruch zu den Auffassungen des Bundeskanzlers Schuschnigg, der sich von einer Zurückdrängung des Einflusses der Heimwehren auch noch ein schnelleres Fortschreiten der Versöhnung mit der sozialistischen Arbeiterschaft versprach.
Wir müssen uns diese Gedanken und Situationen klarmachen, um die Vorgeschichte des Vertrags vom 11. Juli 1936 richtig zu verstehen.
Am Anfang steht die italienische Patronanz der Unabhängigkeit Oesterreichs, die in einer Zeit, in der die Weststaaten kein Verständnis für die Politik Oesterreichs zeigten, die alleinige Hilfe für den schwer gefährdeten Staat darstellte.
Der zweite Markstein: Die aussenpolitische Isolierung Deutschlands, die zur Bereitschaft führt, mit Italien ein Bündnis zu schliessen. Drittens: Die Völkerbundsanktionen gegen Italien bringen Mussolini zu einem engen Kontakt mit dem deutschen Reich und bestärken den Wunsch, das Hemmnis des österreichischen Konflikts zu beseitigen.
Viertens: Die innenpolitische Konstellation, die nach einer Vereinheitlichung des Kurses drängt.
Am 13. Mai 1936 bat der Bundeskanzler den Fürsten Starhemberg zu sich, um mit ihm die Frage zu bereinigen. Er schlug ihm Lösungen vor, die Starhemberg von seinem Standpunkt aus für untragbar hielt. In den Abendstunden des 13. versuchte der Bundeskanzler eine Regierung unter Ausschluss des Heimatschutzes zu bilden. Er besprach sich mit dem früheren Unterrichtsminister, dem bekannten Historiker Dr. Heinrich Srbik und bot ihm, der als Nationaler konservativer Richtung bekannt war, das Amt eines Vicekanzlers an. Der Kanzler konnte sich mit ihm jedoch nicht einigen. Starhemberg schied mit dem Aussenminister Berger-Waldenegg, der dem Heimatschutz angehört hatte, aus dem Kabinett. Ausserdem trennte sich Schuschnigg von dem Sozialminister Dr. Dobretsberger, den er durch den bekannten Sozialrechtler Dr. Resch ersetzte. Weiters verliessen der Ackerbauminister Dr. Strobl und der Justizminister Winterstein, die nicht dem Heimatschutz angehört hatten, das Kabinett. Auf den Posten eines Vicekanzlers wurde der Führer der niederösterreichischen Heimwehr, Major Baar-Baarenfels, berufen, das Finanzministerium verblieb in den Händen Dr. Ludwig Draxlers, der ebenfalls der Heimwehr angehörte, ins Justizministerium zog, über Wunsch der Fürsten Starhemberg, Baron Hans Hammerstein-Equord, der schon einmal Staatssekretär für Sicherheitswesen gewesen war, ein; das Ackerbauministerium erhielt ein Bauer, Peter Mandorfer aus Oberösterreich. Ich wurde als Staatssekretär ins Bundeskanzleramt berufen und einige Tage später zum Generalsekretär der V.F. ernannt.
So war denn diese Kabinettsumbildung ein Kompromiss. Der Heimatschutz blieb weiterhin mit mehreren Vertretern im Kabinett, eine nationale Vertretung war vorerst vermieden worden, die Führung der V.F. ging auf den Bundeskanzler über. In Wahrheit war natürlich das Ausscheiden des Fürsten Starhemberg das wichtigste und bedeutungsvollste Ereignis.
Es hatte zwei Folgen: Die demokratisch orientierten Gruppen der V.F. begrüssten die Uebernahme der Frontführung durch den Bundeskanzler, der durch die Veränderung in der Staatsführung zum alleinigen Herrn geworden war und versprachen sich schnell fortschreitende Erfolge bei der weiteren Heranführung der Arbeiterschaft. Das Vertrauen der katholischen Kreise zu Schuschnigg, dem man in den letzten Monaten immer häufiger allzu grosse Nachgiebigkeit gegenüber den Wünschen des Heimatschutzes, in dem man sonderbarerweise eine allzu liberale Haltung vertreten sah, beschuldigt hatte, wurde neu gestärkt.
Andererseits entstand in der Anhängerschaft des Heimatschutzes eine grosse Unzufriedenheit. Die Heimatschützer verziehen es dem Kanzler Schuschnigg nie, dass er sich von Starhemberg getrennt hatte. Damit traten aktive österreichische Kräfte trotz aller Bemühungen und trotz der vornehmen und loyalen Haltung des Fürsten Starhemberg in eine passive Resistenz und nahmen der vaterländischen Bewegung viel von ihrer Schwungkraft und ihrem Kampfgeist.
In der Zeit zwischen der Regierungsumbildung und dem Juli 1936 fanden in Wien zahlreiche Verhandlungen zwischen dem Bundeskanzler und Persönlichkeiten nationaler Einstellung statt. Am ausführlichsten gestalteten sich die Besprechungen mit dem damaligen Staatsrat und Generalarchivar Dr. Edmund Glaise-Horstenau, den der Bundeskanzler dazu ausersehen hatte, in eine massgebliche Position einzurücken. Glaise formulierte in einer Schlussaussprache, die in der Wohnung des Bundeskanzlers stattfand, die Wünsche der nationalen Kreise, die auf Amnestierungen und Erleichterungen im Vereinsleben hinaus liefen. Es kam zu einer vollen Einigung. Dr. Schuschnigg stellte nun Glaise vor die Wahl, entweder den Posten eines österreichischen Gesandten in Berlin zu übernehmen oder als Minister ohne Portefeuille in die Regierung einzutreten. Glaise entschloss sich dafür, Minister zu werden. Herr v. Papen reiste mit Glaise am 10. Juli nach Berchtesgaden, wo beide Herren eine Aussprache mit Hitler hatten.
Es war vereinbart worden, dass zur gleichen Stunde in Deutschland und Oesterreich ein gemeinsames Comuniqué, das die wesentlichen Teile des Abkommens beinhaltete, verkündet werden sollte. An die Verlautbarung sollte sich ein freundschaftlicher Kommentar schliessen.
Am Abend des 11. Juli verlas ich vom Schreibtisch des Bundeskanzlers aus den Wortlaut der Uebereinkunft im Rundfunk. Dr. Schuschnigg schloss an die offiziellen Texte eine überaus freundlich und positiv gehaltene Rede. Auf deutscher Seite erfolgte die Verlesung durch den Propagandaminister Göbbels – kommentarlos. Diese Inkorrektheit in der Verlautbarung war kein gutes Vorzeichen für den Vertrag.
Das Abkommen lautete:
In der Ueberzeugung, der europäischen Gesamtentwicklung zur Aufrechterhaltung des Friedens eine wertvolle Förderung zuteil werden zu lassen, wie in dem Glauben, damit am besten den vielgestaltigen wechselseitigen Interessen der beiden deutschen Staaten zu dienen, haben die Regierungen des deutschen Reiches und des Bundesstaates Oesterreich beschlossen, ihre Beziehungen wieder normal und freundschaftlich zu gestalten.
1.) Im Sinne der Feststellungen des Führers und Reichskanzlers vom 21. Mai 1935 anerkennt die deutsche Regierung die volle Souveränität des Bundesstaates Oesterreich.
2.) Jede der beiden Regierungen betrachtet die in dem anderen Land bestehende innerpolitische Gestaltung, einschliesslich der Frage des österreichischen Nationalsozialismus, als eine Angelegenheit des anderen Landes, auf die sie weder unmittelbar noch mittelbar Einwirkung nehmen wird.
3.) Die österreichische Bundesregierung wird ihre Politik im allgemeinen, wie insbesondere gegenüber dem Deutschen Reiche, stets auf jener grundsätzlichen Linie halten, die der Tatsache, dass Oesterreich sich als deutscher Staat bekennt, entspricht. Hierdurch werden die römischen Protokolle ex 1934, sowie die Stellung Oesterreichs zu Italien und Ungarn, als den Partnern dieser Protokolle, nicht berührt.
In Erwägung, dass die von beiden Seiten gewünschte Entspannung sich nun verwirklichen lassen wird, wenn dazu gewisse Vorbedingungen seitens der Regierungen beider Länder erstellt werden, wird die Reichsregierung sowohl wie die österreichische Bundesregierung in einer Reihe von Einzelmassnahmen die hierzu notwendigen Voraussetzungen schaffen.
Der offizielle Kommentar, der im Anschluss an dieses Comuniqué verlautbart wurde, hatte folgenden Wortlaut:
Das Uebereinkommen, das zwischen Oesterreich und dem Deutschen Reich geschlossen und heute veröffentlicht worden ist, beantwortet eindeutig eine Reihe von Fragen, über die bisher nicht allseits völlige Klarheit geherrscht hat. Die Feststellungen des deutschen Reichskanzlers im offiziellen Comuniqué stellen einen Tatbestand, den gewisse Kreise manchmal anzweifeln zu müssen geglaubt haben, von massgebendster reichsdeutscher Stelle her nochmals eindeutig fest. Gleichzeitig ist durch das Uebereinkommen, das zwischen den beiden Regierungen geschlossen worden ist, endgültig klargestellt, dass sowohl Oesterreich als auch das Deutsche Reich ihre beiderseitige innenpolitische Gestaltung anerkennen und respektieren, dass insbesondere auch im Hinblick auf den Nationalsozialismus in Oesterreich Einmischungen oder Einwirkungen in mittelbarer oder unmittelbarer Form unterbleiben. Durch diese Feststellung ist ein wesentlicher Beitrag zur Sicherung der Unabhängigkeit Oesterreichs und ein wertvoller Beitrag zur Erhaltung des europäischen Friedens geleistet worden. Die Aussenpolitik Oesterreichs wird in Hinkunft so wie in grosser Linie bereits bisher unter Bedachtnahme auf die friedlichen Bestrebungen der Aussenpolitik des Deutschen Reichs geführt werden. Damit ist jedoch keine Veränderung in der Einstellung Oesterreichs zu den Römischen Protokollen und ihren Partnern gegeben. Die Verlautbarung über das Uebereinkommen stellt so mit seltener Klarheit fest, dass der Friede zwischen den beiden deutschen Staaten auf der Basis voller Gleichberechtigung und vollkommener Respektierung der gegenseitigen Einrichtungen zustande gekommen ist. Damit ist ein schon von Kanzler Dr. Dollfuss und auch seither immer wieder angestrebter Zustand erreicht worden. Es ist selbstverständlich, dass die Stellung der Vaterländischen Front als einziges Organ politischer Willensbildung in Oesterreich durch das Uebereinkommen nicht berührt ist.
In einem Zusatzprotokoll, das nicht veröffentlicht wurde, erklärte sich die Oesterreichische Regierung bereit, eine Amnestie zu erlassen und Vorsorgen für den Einbau der abseitsstehenden Nationalen in die V.F. zu treffen.
Ausser dem Staatsrat Glaise-Horstenau wurde am 11. Juli 1936 auch noch der Vicedirektor der Kabinettskanzlei Dr. Guido Schmidt als Staatssekretär für die auswärtigen Angelegenheiten in die Regierung berufen.
Dr. Schmidt, der, wie Dr. Schuschnigg, seine Gymnasialstudien im Kollegium »Stella matutina« der Jesuiten in Feldkirch in Vorarlberg absolviert hat, entstammt einer Kaufmannsfamilie in Bludenz in Vorarlberg, studierte in Wien und Berlin die Rechtswissenschaften und trat dann als Sekretär der österreichischen Gesandtschaft in Paris in den Staatsdienst. Durch die Vermittlung Dr. Seipels wurde er später in die Kabinettskanzlei nach Wien berufen. Mit Dr. Schuschnigg verband ihn eine intime Freundschaft, die bis zum März 1938 bestanden hat. Dr. Schmidt gehörte wie Dr. Schuschnigg dem katholischen Studentenkartell C. V. an. Parteimässig hatte er sich vor seinem Eintritt in die Regierung nicht betätigt. Seiner Herkunft nach galt er allerdings als Christlichsozialer. Dr. Schmidt, der einen aussergewöhnlich grossen Einfluss auf den Kanzler besass, war ein geschickter Debatter, ein ehrgeiziger Arbeiter, mehr ein politischer Jongleur als ein Mann, der eine gerade Linie zielgerecht geht. Dr. Schmidt hatte, wie es bei seiner einflussreichen Stellung nicht anders möglich war, eine grosse Zahl von Feinden und Neidern. Sein Charakterbild ist nach dem Umbruch in Oesterreich noch schwerer zu zeichnen als vorher. Er arbeitete nicht nach einem eigenen grossen Konzept, sondern überliess die Verantwortung für die Hauptlinien seinem Chef. Aber er beeinflusste Dr. Schuschnigg in der Verfassung seiner Konzepte. Er war durchaus kein Nationalsozialist, aber er liess es gerne zu, dass die Nationalsozialisten in ihm einen der Ihrigen sahen. Er fällte über Menschen und Situationen ungemein schnell ein Urteil. Und zog aus diesem Urteil alle Konsequenzen. Dadurch kam es immer häufiger vor, dass er Menschen in Positionen brachte, denen sie nicht gewachsen waren – dass er gegen verschiedene Personen grundlos zum Angriff überging. Er war eitel. Schmeichlern glaubte er gerne. Aber er war das nicht, was man von ihm ausserhalb Oesterreichs vielfach glaubte. Er hatte nicht die Absicht, ein falsches Spiel zu treiben, etwa Schuschnigg zu verraten oder mit den Gegnern des Landes zu paktieren. Aber er konnte oder wollte auch keine Handlung setzen, die seinen Ruf verändert hätte.
Der Führer der illegalen nationalsozialistischen Partei in Oesterreich war zu dieser Zeit ein gewisser Hauptmann Leopold, eine vielumstrittene Figur, über die kein Mensch gestritten hätte, wenn sie nicht der Zufall und Adolf Hitler auf einen politisch interessanten Posten gestellt hätte: halbgebildet, primitiv im Denken und Handeln. Er schätzte den sturen Parteigenossen und hatte eine geradezu physische Abneigung gegen die Intellektuellen der Partei. Das trug ihm die Feindschaft der Akademiker ein. Leopold war S.A. Führer, demnach hatte die S.A. ein Uebergewicht in der Führung der Partei. Das trug ihm die Feindschaft der S.S. ein.
Leopold schätzte den illegalen Kämpfer, der es wagte, für seine Ueberzeugung einzutreten. Das trug ihm die Feindschaft der Opportunisten und Schleicher ein, die ihren politischen Einfluss gerne aus dem sicheren Hinterhalt verzapften, ohne sich persönlich zu gefährden.
Leopold hatte die Allüren eines Paschas. Er fuhr in einem Auto, das viel luxuriöser war als die Autos der Regierung. Das trug ihm die Feindschaft der kleinen Leute ein, die es nicht gerne sehen, dass in den Zeiten, in denen es ihnen schlecht geht, ihre Führer besonders luxuriös durchs Land reisen.
Wenn in der Zeit vom Juli 1936 an keine Anschläge der Nationalsozialisten gegen das Regime erfolgten, so war das zum nicht geringen Teil die Folge eines erbitterten Kampfes, der zwischen den einzelnen Gruppen und Richtungen innerhalb der illegalen Partei ausgetragen wurde und die Kräfte der Partei fast völlig absorbierte. Jede der sich bekämpfenden Gruppen hatte einen Schirmherrn in Deutschland. Wenn sich Leopold auf Göbbels berief, antwortete der Gegner mit einer Berufung auf Göring. Wenn die einen Himmler hinter sich hatten, dann konnten die anderen eine Empfehlung des Ministers Hess vorweisen. In diesem Kampf, den wir mit Aufmerksamkeit verfolgten, behielt Hauptmann Leopold bis um die Jahreswende 1937/38 die Oberhand.
In einem Gedächtnisprotokoll zum Abkommen vom 11. Juli hatte der Bundeskanzler die Erklärung abgegeben: er sei bereit »mit dem Zweck, eine wirkliche Befriedung zu fördern, in dem geeigneten Zeitpunkt, der für nahe Zeit in Aussicht genommen ist, Vertreter der sogenannten nationalen Opposition zur Mitwirkung an der politischen Verantwortung heranzuziehen, wobei es sich um Persönlichkeiten handeln wird, die das persönliche Vertrauen des Bundeskanzlers geniessen und deren Auswahl er sich vorbehält. Hierbei besteht Einverständnis darüber, dass die Vertrauenspersonen des Bundeskanzlers mit der Aufgabe betraut sein werden, nach einem mit dem Bundeskanzler zuvor festgelegten Plan für die innere Befriedung der nationalen Opposition und ihre Beteiligung an der politischen Willensbildung in Oesterreich zu sorgen.«
Hauptmann Leopold stellte sich in der folgenden Zeit auf den Standpunkt, er sei der berufene Führer dieser »nationalen Opposition«, von der in diesem Gedächtnisprotokoll die Rede ist, der Bundeskanzler hätte also mit ihm in Verhandlungen über eine Regierungsumbildung einzutreten, denn die »Mitwirkung an der Verantwortung« könne wohl nur von der Regierung aus erfolgen.
Davon konnte natürlich keine Rede sein. Der Bundeskanzler hatte es immer abgelehnt, mit den Vertretern der illegalen Partei zu verhandeln. Die Verhandlungen mit Leopold hätten nichts anderes als die Anerkennung der Illegale und die Rückkehr zum Parteiensystem bedeutet. In diesem Fall wäre naturgemäss auch eine Verhandlung mit den Sozialdemokraten berechtigt und notwendig geworden. Sinn und Wortlaut der Verfassung sprachen ebenso wie Sinn und Wortlaut des Abkommens vom 11. Juli gegen eine solche Methode.
Die Ueberführung der Wehrverbände in die Miliz ging nicht in der gewünschten Weise vonstatten. Die einzelnen Organisationen bildeten Widerstandskörper gegen den einheitlichen Führungswillen des Bundeskanzlers. Die Miliz übte unter der Führung des Vicekanzlers Baar-Baarenfels, der sich mit Starhemberg überworfen hatte, wenig Zugkraft aus. Dr. Schuschnigg überlegte nun, von Freunden dazu bestimmt, eine Rückberufung des Fürsten Starhemberg an die Spitze der Miliz.
In den ersten Oktobertagen des Jahres 1936 reiste ich über Auftrag Schuschniggs nach Totis in Ungarn, wo sich Starhemberg aufhielt, um ihm das Anbot des Kanzlers zu übermitteln. In einer langen Aussprache wurden die Bedingungen der Rückkehr des Fürsten besprochen. Sie stimmten mit den Vorstellungen, die sich der Bundeskanzler gemacht hatte, völlig überein. Einige Tage später kam es denn auch zu einer Begegnung der beiden Staatsmänner, in der die Grundlagen einer neuerlichen Zusammenarbeit festgelegt wurden.
Um das Verständnis für die italienische Freundschaft der Regierung zu stärken, folgte ich am 6. Oktober mit etwa 300 Führern der V.F. einer Einladung der fascistischen Partei zu einem Besuch in Italien. Bei der Verabschiedung erschien der Bundeskanzler am Bahnhof und erzählte mir vom positiven Ausgang seiner Besprechungen mit Starhemberg.
In Italien wurden die Oesterreicher mit ausgesuchter Höflichkeit empfangen. Wir erlebten wunderbare Tage in Florenz und Rom, die leider für mich jäh endeten.
Ich hatte Gelegenheit, in Rom mit Mussolini, Ciano, Alfieri, Starace und anderen Führern Italiens zu sprechen. Der Eindruck, den die Persönlichkeit des Duce hinterliess, war ein grosser. Er betonte mehrmals die herzliche Freundschaft, die er Oesterreich entgegenbringe. Graf Ciano entwickelte mir in einer langen Aussprache die Ziele der italienischen Politik und die Notwendigkeit, jede Reibungsfläche zwischen Oesterreich und Deutschland zu vermeiden. Hierbei stellte er die Unabhängigkeit des österreichischen Staates selbstverständlich, wie Mussolini, ausser jede Diskussion. In noch dringenderer Form wiederholte mir Minister Alfieri, der eben aus Berlin angekommen war, diese Gedankengänge.
Ein Höhepunkt der römischen Tage war die Audienz, die mir der Papst gewährte. Das Zeremoniell einer offiziellen Audienz beim heiligen Vater, die Persönlichkeit des Stellvertreters Christi, sind für jeden Besucher ein unvergessliches Erlebnis. Auch Pius XI. sprach deutsch. Seine Worte über Oesterreich, über die vaterländische Front und die Aufgaben, die sie zu erfüllen hatte, zeugten von grosser Fürsorge und väterlicher Liebe.
Noch bevor das offizielle Programm beendet war, rief mich Dr. Schuschnigg nach Wien zurück. Seit meiner Abreise waren in den weiteren Verhandlungen zwischen ihm und dem Fürsten Starhemberg Schwierigkeiten aufgetaucht. Durch Zwischenträgereien war es zu einem neuerlichen Bruch gekommen. Ich traf am Morgen des 9. Oktober in Wien ein und erfuhr, dass der Beschluss, die Wehrverbände aufzulösen, gefasst sei. Fürst Starhemberg verlangte nun, dass Vicekanzler Baar-Baarenfels seine Demission gebe. Baar weigerte sich, diesem Auftrag nachzukommen. Der Bundeskanzler hatte den Ministerrat für den frühen Nachmittag einberufen und hoffte, die Krise bis zum Abend gelöst zu haben. Einige Tage vorher war der ungarische Ministerpräsident Julius v. Gömbös gestorben. Der Bundeskanzler sollte an den Trauerfeierlichkeiten in Budapest teilnehmen und mit dem Abendzug nach Budapest reisen. Die Krise verschärfte sich. Um Mitternacht dauerte der Ministerrat immer noch an. Es war keine Entscheidung gefallen. Die Verhandlungen endeten mit dem Beschluss der Bundesregierung, alle Wehrverbände aufzulösen. In den Morgenstunden reiste Dr. Schuschnigg, nachdem wir die ganze Nacht verhandelt hatten, mit dem Flugzeug nach Budapest, wo er anlässlich der Trauerfeierlichkeiten auch mit Göring, der die deutsche Regierung vertrat und mit dem Grafen Ciano zusammentraf.
Diese erste und meines Wissens einzige Begegnung zwischen Schuschnigg und Göring erweckte bei beiden Partnern keine besondere Sympathie für einander.
Rückschauend muss man feststellen, dass die Auflösung der Wehrverbände, wenn sie auch wahrscheinlich für den damaligen Augenblick taktisch richtig war, der schwerste Fehler gewesen ist, den die Regierung Schuschnigg gemacht hat. Diese Auflösung der Wehrverbände beraubte das Regime endgültig der Mitarbeit seiner aktivsten und begeistertsten Anhänger. Sie bedeutete eine weitere Verschmälerung der Regierungsbasis. Dr. Schuschnigg hatte damit gerechnet, dass der energische Schritt, den er da tat, die Mitarbeit der nationalen Kräfte ermöglichen und das Vertrauen der Arbeiterschaft in das Regime verstärken würde. Beide Gruppen galten als eingeschworene Gegner der Wehrverbände. Die Nationalen, weil sie im Heimatschutz das Lager des integralen und kampfbereiten Oesterreichertums sahen, das durch seine politischen Methoden und Anschauungen der nationalsozialistischen Partei viel Wind aus den Segeln nahm, die Arbeiterschaft deshalb, weil die Propaganda der sozialdemokratischen Partei noch nachwirkte, die den Heimatschutzverband als radikalen Gegner der Arbeiterschaft – übrigens zu Unrecht – ausgeschrieen hatte.
Diese Erwartungen trafen indes nicht ein. Die Nationalen betrieben, von reichsdeutschen Stellen in dieser Haltung bestärkt, weiterhin ihre Obstruktionspolitik – die Arbeiterschaft verlor bei der Auflösung der Wehrverbände auch die Organisation des »Freiheitsbundes«, der fast ausschliesslich aus Arbeitern bestanden hatte.
Die Anhänger der aufgelösten Verbände, die schon durch die Regierungsumbildung vom Mai verschreckt waren, nahmen nun vollends, wenn auch nicht eine oppositionelle, so doch eine verstärkt passive, misstrauische Haltung ein.
Ueber dem Geschick des Heimatschutzes lag eine gewisse Tragik. Der Verband, der es durch seine aktive und einsatzbereite Haltung dem Kanzler Dollfuss möglich gemacht hatte, seine Politik der Erneuerung zu verfolgen, der ungezählte Opfer für die Verwirklichung der Ziele, die er mit Dollfuss gemeinsam verfolgt hatte, auf sich genommen hatte, wurde nun, da der neue Staat gesichert schien, aufgelöst, – ruhmlos entlassen.
Schuschnigg bemühte sich sehr darum, den Anschein des Undanks, den der Beschluss der Regierung hervorrief, zu verringern und gutzumachen. Allerdings ist ihm das nicht vollends gelungen.
Der Kanzler ging von der Ueberzeugung aus, dass der Vertrag, den er seit dem 11. Juli in Händen hatte, ein ehrlicher Vertrag sei. Nur aus seinem unbedingten Glauben an die Vertragstreue des Partners und aus seinem Willen, diesen Vertrag getreulich zu erfüllen, ist seine Politik bis zum März 1938 zu verstehen. Die deutsche Regierung hat, wenn man den Aeusserungen nationalsozialistischer Führer nach dem März Glauben schenkt, nie den Willen gehabt, im Abkommen vom 11. Juli mehr zu sehen als einen Methodenwechsel im Kampf um die Eroberung Oesterreichs. Die Einmischung deutscher Parteistellen und deutscher Persönlichkeiten in die innerösterreichischen Verhältnisse hat nie aufgehört.
Das war Schuschniggs Fehler: Er glaubte in Hitler einen Vertragspartner zu haben, der die Welt und die Methoden der Politik von denselben Grundsätzen aus betrachtet wie er selber. Man könnte sagen, dass die Geschichte des Abkommens vom 11. Juli ein Schulbeispiel für die Vertragsmoral der Nationalsozialisten ist und könnte verleitet sein zu glauben, dass diese Geschichte den Beweis für die völlige Unmoral des deutschen Vertragspartners erbringe. In Wahrheit handelt es sich darum, dass der Nationalsozialismus einer anderen moralischen Welt angehörend, die Einhaltung von Treu und Glauben nur denjenigen zugesteht, die er sich im Geheimen dazu auswählt. Auch hier wieder: Es waren zwei Welten, für die es keine Gleichung gab, gibt, geben wird.
Die illegale nationalsozialistische Partei in Oesterreich setzte nach dem 11. Juli ihre Tätigkeit gegen die österreichische Regierung in der alten Weise fort. Die Amnestie, in die alle politischen Vergehen, mit Ausnahme der gemeinen Verbrechen, eingeschlossen waren, wurde als ein Geschenk Hitlers an die österreichische Partei, als ein Schwächezeichen der Regierung angesehen. Jede Massnahme der Regierung, die den Nationalen entgegenkam, erweckte das Misstrauen der Arbeiterschaft, das Misstrauen der integralen Oesterreicher, insbesondere der Legitimisten, deren Anhängerschaft in allen Schichten, besonders auch in der Arbeiterschaft, ständig anwuchs. Das erschwerte die Politik der Regierung und verzögerte die Fertigstellung des berufsständischen Aufbaus.
Anlässlich eines Besuches in Budapest hatte Dr. Schmidt eine längere Aussprache mit dem ehemaligen Minister Neustädter-Stürmer, der als Gesandter bei der ungarischen Regierung wirkte. In diesem Gespräch erläuterte Neustädter ein Projekt zur inneren Befriedung in Oesterreich. Dr. Schmidt war von den Plänen Neustädters begeistert und bestimmte den Bundeskanzler, den früheren Minister nach Wien zurückzurufen und ihn neuerlich in der Regierung zu verankern.
Nach der Auflösung der Wehrverbände vom 10. Oktober 1936 war eine abermalige Regierungsumbildung notwendig geworden. Vicekanzler Baar genoss nicht mehr das Vertrauen der ehemaligen Anhänger des Heimatschutzverbandes, zwischen den beiden Wirtschaftsministern Dr. Draxler und Fritz Stockinger waren schwere Differenzen ausgebrochen, die Arbeiterschaft wollte einen der ihren als speziellen Vertreter der Interessen der Arbeiter- und Angestelltenschaft in der Regierung sehen, die nationalen Kreise drängten nach einer stärkeren Vertretung. Wenigstens Glaise-Horstenau, der bisher Minister ohne Portefeuille gewesen war, sollte ein Ressort erhalten.
In den ersten Novembertagen, weniger als vier Wochen nach Auflösung der Wehrverbände, gaben nun Vicekanzler Baar, die Minister Draxler und Stockinger und Hammerstein-Equord über Wunsch des Kanzlers ihre Demission. An ihre Stelle rückten als Vicekanzler der bisherige Landeshauptmann von Kärnten, Feldmarschalleutnant Ludwig Hülgerth, der der Heimwehr nahestand, und als Finanzminister Dr. Rudolf Neumayer, der bisher Finanzreferent der Gemeinde Wien gewesen war, was eine Verstärkung des Einflusses des Bürgermeisters von Wien, Richard Schmitz, bedeutete. Allerdings hatte Neumayer in seiner Vergangenheit schon verschiedenen Herren gedient. Er war aus einer nationalen Burschenschaft gekommen und wurde in der Zeit der sozialdemokratischen Herrschaft über Wien die rechte Hand des Stadtrates Breitner, der ohne Zweifel, obwohl er eine Politik vom rein sozialistischen Standpunkt trieb, einer der fähigsten Finanzleute war, die nach dem Krieg in Oesterreich in einer öffentlichen Position standen. Später, nach der Uebernahme der Verwaltung der Gemeinde Wien durch Bürgermeister Schmitz, war Neumayer bemüht, seinem neuen Herrn mit besonderem Eifer zu dienen. Im März 1938 erinnerte er sich dann wieder der Ideale seiner Jugend und wurde Finanzminister der nationalsozialistischen Regierung. In das Handelsministerium zog der Direktor der Grazer Handelskammer Dr. Taucher ein. In das Justizministerium Dr. Pilz. Neustädter-Stürmer wurde Sicherheitsminister, Glaise-Horstenau erhielt einige Sektionen des Innenministeriums zur Verwaltung.
In den ersten Wochen der Wiener Tätigkeit Neustädter-Stürmers hatte ich mit ihm, der sich für alle Fragen der inneren Politik ausserordentlich interessierte und verschiedene Pläne hatte, die das Ziel verfolgten, zu einem dauernden Frieden mit den Nationalsozialisten zu kommen, mehrere Aussprachen. Ich konnte mich nicht mit ihm einigen. Neustädter wollte die nationalen Kräfte in einem Verband vereinigen, der dann die Repräsentanten für die Mitarbeit in der V.F. und an den verschiedenen Stellen des Regimes hätte stellen sollen. Ich war der Ansicht, dass jede Formierung der Opposition gefährlich sei und hielt seinem Plan mein Projekt einer direkten Personalauswahl entgegen. Ich glaubte, dass es leicht sei, eine gewisse Anzahl von Menschen, die Ansehen und Anhang besassen, in verschiedene Positionen zu rufen. Dieser Vorgang hätte zu einer Auffrischung in der V.F. geführt und den gegenseitigen Eifer der Anhänger der verschiedenen Nuancen innerhalb der Frontorganisationen gesteigert.
Wir konnten uns nicht verständigen. Neustädter ging seinem Plan nach und tat sich mit Minister Glaise zusammen, der indess als die weniger energische und bedeutende Figur bald im Schatten Neustädters stand. Neustädter veranstaltete eine Unterschriftssammlung. Er wollte alle bürgerlichen Kräfte, die nicht aus dem Lager des Marxismus und nicht aus dem Lager der katholischen Gruppen kamen und die eine Befriedung der Nationalen anstrebten, in einem Verein sammeln, für den man sich den Namen »Deutschsozialer Volksbund« ausgedacht hatte. Die Namensgebung zeigte die Tendenz, den Nationalsozialisten eine Freude zu machen. Deutsch konnte ruhig als national, sozial als sozialistisch verstanden werden. Die Unterschriftensammlung wurde eifrig betrieben. Man beschränkte sich darauf, Namen anzuführen, die bekannt waren und deren Besitzer irgend eine öffentliche Funktion ausübten. Mehrere hundert Persönlichkeiten unterschrieben sich denn auch und übergaben dem Bundeskanzler durch die Minister Neustädter und Glaise das Statut des neuen Vereins mit dem Ersuchen um Genehmigung.
Der Plan war sehr gut durchdacht. Die Regierung konnte, wenn der Verein angemeldet wurde, auf Grund der Vereinsgesetzgebung kaum etwas gegen die neue Organisation unternehmen. Sprach sie ein Verbot aus, so blieb den Proponenten der Ausweg eines Rekurses an den Bundesgerichtshof, der auf Grund der Gesetzeslage das Verbot wahrscheinlich aufgehoben hätte. Das Verbot andererseits war kaum denkbar ohne eine Demission der beiden Minister, die den Vorschlag gemacht hatten. Eine solche Demission hätte ohne Zweifel Unruhe gestiftet und die Bemühungen um eine Befriedung weit zurückgeworfen. Es war wahrscheinlich, dass man aus der Ablehnung der Vereinsgründung auch einen Bruch des Abkommens vom 11. Juli hätte konstruieren wollen.
Aber es geschahen zwei Fehler. Den ersten beging der Führer der Nationalsozialisten, Hauptmann Leopold, indem er allen, die die Proponentenliste, die im Volk »Präpotentenliste« genannt wurde, unterschrieben hatten, einen Brief schickte, in dem er als »Führer der nationalen Opposition für das Bekenntnis zur nationalen Sache, die durch die Unterschrift zum Ausdruck gebracht worden sei, dankte.
Damit lieferte Leopold den Beweis dafür, dass die ganze Aktion unter Führung der illegalen Partei stand.
Der zweite Fehler bestand darin, dass man sich bei der Unterschriftensammlung bemüht hatte, gerade Persönlichkeiten zu wählen, die ein öffentliches Amt oder Mandat besassen. Die Liste, in der neben dem Namen auch alle Titel und Funktionen aufgezählt waren, war so ein sprechender Beweis für die These der Regierung, dass die nationale Bevölkerung im Rahmen des Regimes eine entsprechende Vertretung bereits besitze.
Diese beiden Fehler brachten die Aktion Neustädter zum Scheitern. Dr. Schuschnigg machte aber die Zusage, für das Bundesgebiet die Bildung eines Komités aus sieben Mitgliedern zu billigen, dessen Aufgabe es sein sollte, für die Befriedung und die Heranziehung nationaler Kräfte zur Mitarbeit an der V.F. zu wirken. Für jedes Bundesland wurde ein weiteres Subkommité gebildet.
In das Wiener »Siebener Komité« wurden folgende Persönlichkeiten berufen:
In diesem Kommité hatten, wie man sieht, die Nationalsozialisten die Mehrheit. Wenn man Menghin als Vertreter der katholischen Nationalen gelten liess und Lengauer und Berghammer zu den Anhängern des früheren Heimatschutzes nationaler Observanz zählte, so blieben vier ausgesprochene Nationalsozialisten, die naturgemäss die Oberhand behielten. Das »Siebener Kommité« richtete sich in der Teinfaltstrasse in Wien ein weitläufiges Büro ein, das in der Folge zur Zentrale der illegalen Partei wurde. Die Geschäftsführung übernahm Ing. Tavs, Hauptmann Leopold amtierte hier. Die Herren hatten das Gefühl, dass sie nun in der Gestalt des Kommités die ideale Tarnungsform für ihre illegale Arbeit gefunden hätten.
Im Februar 1937 schied Minister Neustädter aus der Regierung. Ich bin davon überzeugt, dass er den ehrlichen Glauben hatte, eine Lösung der inneren Krise gefunden zu haben. Die Nationalsozialisten haben sich ihm gegenüber ebensowenig an das gehalten, was sie versprochen hatten, wie irgendjemand anderem gegenüber. Er war allerdings kein Nationalsozialist. Er war ein Fanatiker der ständischen Idee. Die meisten Gesetze über die ständische Organisation gingen auf ihn zurück. In der Politik war er allzuleicht geneigt, theoretischen Erwägungen nachzugehen, ohne sich der praktischen Hemmungen und Schwierigkeiten sachlicher und personeller Art bewusst zu werden, die seinen Hypothesen entgegenstanden. Die Nationalsozialisten haben ihm die Bemühungen, die er für die innere Befriedung aufwendete, nicht gedankt. Nach seinem Ausscheiden aus der Regierung war kein Wort des Bedauerns oder Protestes in der deutschen Presse zu lesen. Seither lebte er zurückgezogen in der Nähe von Wien. In den letzten Tagen des Februar 1938 schrieb er mir einen Brief, in dem er zum Ausdruck brachte, dass ihm die Entwicklung nun doch Recht gebe. Er täuschte sich. Die Nationalsozialisten machten ihn dafür verantwortlich, dass die Putschisten vom 25. Juli kein freies Geleit erhalten hatten. Im März 1938 starb er eines gewaltsamen Todes.
Das Büro in der Teinfaltstrasse wurde indessen zu einem richtigen illegalen Parteibüro ausgestaltet. Hier amtierte Leopold, die Büroleitung lag in den Händen des Ing. Tavs. Die Tätigkeit des »Siebener Komités« als Befriedungsinstanz war zu einer Farce geworden.
Wir drängten den Bundeskanzler nach dem Rücktritt des Ministers Neustädter, das Komite auszuheben. Die Amtswalterschaft der V.F. konnte die zuwartende Haltung der Regierung nicht verstehen. Allein der Bundeskanzler wollte noch zuwarten.
Ich hatte vom Standpunkt der V.F. das »Siebener Komité« nie anerkannt und hatte mich auch immer beharrlich geweigert, die Mitglieder des Ausschusses in dieser Funktion zu empfangen. Anlass zu dieser Haltung bot die offenbare illegale Tätigkeit des Büros.
Im Frühjahr 1937 war der deutsche Reichsaussenminister zu einem offiziellen Besuch nach Wien gekommen. Aus diesem Anlass mobilisierte die Illegale eine grosse Demonstration, an der sich, da sie in Wien allein zu wenig Anhänger besass, in grosser Zahl auch Nationalsozialisten aus den Bundesländern beteiligten. Diese Demonstrationen wurden als Begrüssung des deutschen Gastes ausgegeben, hatten aber keinen anderen Sinn, als Tumult zu erzeugen und die Regierung dem deutschen Gast gegenüber in eine unangenehme Lage zu bringen. Die Begrüssung Neurath's gestaltete sich denn auch entsprechend turbulent. Als Antwort auf diese Störung mobilisierten wir die Anhänger der V.F. anlässlich der Abreise Neurath's und füllten die Strassen der Stadt mit unseren Frontanhängern. So hatte Neurath bei seiner Abreise Gelegenheit, eine gewaltige vaterländische Demonstration zu sehen, nachdem er bei seiner Ankunft von jugendlichen Nationalsozialisten begrüsst worden war.
Ausser einer Delegation, die unter der Führung des Staatssekretärs Weizäcker in Wien weilte, um wirtschaftliche und kulturelle Verhandlungen zu führen, machte in diesem Jahr auch der damalige Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht einen Besuch in Wien. Ich hatte Gelegenheit, ihm meine Gedanken über die innere Befriedung mitzuteilen, die seine volle Zustimmung fanden. Schacht sagte mir, er habe nie der Partei angehört und mische sich nicht in die Parteipolitik ein. Er habe die Aufgabe, alles das zu tun, was vernünftig sei und das deutsche Staatsschiff sichere. Die Parteipolitik sei eine Angelegenheit für unvernünftige Leute. Er riet mir, mich einmal direkt mit den deutschen Parteigrössen zu besprechen. Die Zwischenträgerei, die sich breit gemacht habe, führe zu nichts.
Anlässlich einer gesellschaftlichen Gelegenheit kam er dann wieder auf diesen Gedanken zurück und sagte: »Wissen Sie, in Deutschland gibt es vier vernünftige Leute. Das bin ich, das ist Graf Schwerin, Marschall Blomberg und Herr von Papen!«
Der Gesandte eines benachbarten Staates, der diese Aeusserung, die tags darauf die Runde durch Wien machte, hörte, verabschiedete sich eiligst, um seiner Regierung diese sensationelle Inventur der deutschen Vernunft zu depeschieren.
Der Bundeskanzler war sich darüber im Klaren, dass er in kurzer Zeit gezwungen sein werde, die Institution des »Siebener Komités« aufzulösen und suchte nach einer geeigneten Persönlichkeit, die er mit der Führung der Befriedungsreferate in der V.F. betrauen konnte. Immer häufiger war der Name Dr. Seyss-Inquart aufgetaucht, von dem man auf Grund seines Rufes annehmen konnte, dass er die Aufgabe, die hier gestellt war, in befriedigender Form lösen würde. Die erste Aussprache zwischen Dr. v. Schuschnigg und Seyss fand in meiner Gegenwart in der Wohnung des Bundeskanzlers statt. Nach einem ausführlichen und angeregten Gespräch über Musik, die Symphonien Anton Bruckners, kam man auf die Fragen der Weltanschauung, der Politik. Seyss entwickelte seine Auffassungen über den modernen Staat, über die künftige Gestaltung der deutschen Politik und über Oesterreich. Er hatte sich offenbar auf dieses Gespräch vorbereitet, denn seine Formulierungen machten den Eindruck eines nicht im Augenblick geborenen, sondern gegliederten und durchdachten Plans.
Am Anfang und am Ende seines politischen Weltbilds, führte Seyss aus, stehe der Reichsgedanke. Die Idee, alle Deutschen in einem Volksreich zu vereinigen, über dessen Form es verfrüht sei, zu diskutieren. Es stehe aber für ihn fest, dass Oesterreich in diesem Reich eine ausserordentlich wichtige Rolle zu spielen berufen sei. Aus seinen Reden war zu entnehmen, dass er an eine föderative Gestaltung des Reiches dachte, für das er die Schaffung einer monarchischen Spitze für wünschenswert hielt. Für Oesterreich lehnte er jede Gleichschaltungspolitik ab. Der Gedanke eines selbständigen Oesterreich gehörte für ihn nach seinen Ausführungen zu den selbstverständlichen Dingen.
Er sei, wenn er mit der Aufgabe der Heranführung nationaler Kreise an die V.F. betraut werde, gegen jede Tarnung illegaler Arbeit, sondern für ehrliche Mitarbeit, Mitgestaltung, Mitverantwortung.
Dieses Gespräch hinterliess bei Dr. von Schuschnigg einen sehr günstigen Eindruck. Der Kanzler berief Dr. Seyss in den Staatsrat und bezeichnete ihn im Sinne des Punktes 96 des Gedächtnisprotokolls vom 11. Juli als seinen Vertrauensmann für die Angelegenheiten der Befriedung der nationalen Kreise. Die Führung der Referate wollte Seyss erst einige Monate später übernehmen. Vorerst wurde deshalb der Innsbrucker Schriftsteller Dr. Walter Pembaur mit der Leitung betraut.
Die Herren aus der Teinfaltstrasse sahen in Dr. Seyss naturgemäss eine unerwünschte Konkurrenz. Es gab immer wieder Spannungen zwischen beiden Gruppen – gegenseitige Anzeigen an die Sicherheitsbehörden. Seyss wünschte, dass dem Hauptmann Leopold jede Ausreiseerlaubnis entzogen werde, Leopold Hess der Behörde auf Umwegen Anzeigen gegen Anhänger des Dr. Seyss zukommen.
Eine ernste Krise trat nach der Zusammenkunft des Bundeskanzlers mit Mussolini in Venedig ein. Nach längeren Vorbereitungen war diese Entrevue endlich zustandegekommen. Der Kanzler wurde von Mussolini herzlich empfangen. Die Besprechungen bewegten sich in den Linien der römischen Protokolle. Dr. Schuschnigg entwickelte Mussolini seine Gedanken über die innere Befriedung, die den italienischen Regierungschef beruhigten. Das Comuniqué brachte die Uebereinstimmung der beiderseitigen Standpunkte zum Ausdruck. Es war kein Anlass zu irgendwelchen Sensationen gegeben. Der Bundeskanzler reiste zufrieden von Venedig ab.
Aber diese letzte Zusammenkunft zwischen dem österreichischen Bundeskanzler und Mussolini brachte doch zwei Zwischenfälle, die viel beachtet wurden und jedenfalls wichtiger waren, als die Aussprache der beiden Staatsmänner.
In Venedig war etliche Tage vor der Ankunft Dr. v. Schuschnigg's ein deutscher Dampfer der Organisation »Kraft durch Freude« eingelaufen und lag vor der Riva degli Schiavoni vor Anker. Während der Anwesenheit Schuschniggs machte Mussolini diesem Dampfer einen Besuch. In einer Ansprache, die bei dieser Gelegenheit gehalten wurde, wies der Kapitän des Schiffes darauf hin, dass Mussolini in diesem Augenblick zum ersten Mal symbolisch deutschen Boden betreten habe.
Dieser Besuch zwischen den Aussprachen mit dem österreichischen Bundeskanzler war sicherlich von langer Hand vorbereitet und hatte seinen besonderen Sinn. Er sollte die doppelte Verbundenheit Mussolinis mit Deutschland und Oesterreich zeigen.
Einige Tage vor der Abreise des Bundeskanzler waren wir auf vertraulichem Wege davon in Kenntnis gesetzt worden, dass die Führung der österreichischen Illegale an den Grafen Ciano ein Memorandum geschickt hatte, in dem die italienische Regierung darum ersucht wurde, Schuschnigg nahezulegen, er möge mehrere Nationalsozialisten in die Regierung aufnehmen. Graf Ciano übergab dieses Memorandum dem Staatssekretär Dr. Schmidt.
Diese Aktion warf auf die Leopold-Gruppe der österreichischen Nationalsozialisten ein sonderbares Licht. Man wandte sich, um innerpolitische Ziele zu erreichen, an eine ausländische Regierung.
Der Fall wäre mit der Uebergabe des Memorandums an die österreichische Delegation zu erledigen gewesen, wenn nicht ...
Dr. Schuschnigg reiste am späten Nachmittag von Venedig ab. Während er sich noch auf italienischem Boden befand, erschien im »Giornale d'Italia« ein Artikel des italienischen Journalisten Virginio Gayda, dem zu entnehmen war, dass die Aufnahme mehrerer Nationalsozialisten in die österreichische Regierung Inhalt der Gespräche in Venedig gewesen sei. Der Artikel wurde von der offiziellen Nachrichtenagentur Stefani verbreitet. Virginio Gayda gilt als ein Journalist, dessen sich das italienische Aussenamt zur Publikation offiziöser Artikel bedient. Gayda hatte seinerzeit nach dem Juliputsch in seinem Blatt besonders aggressive Artikel gegen den Nationalsozialismus und für die österreichische Unabhängigkeit geschrieben.
So erhielt denn die Veröffentlichung im »Giornale d'Italia«, die im Widerspruch zum offiziellen Comuniqué stand, einen sensationellen Charakter.
Ich reiste dem Bundeskanzler in der Nacht entgegen, um ihn zu informieren. Weder er, noch Schmidt, noch auch der italienische Gesandte Salata hatten ein Ahnung von der Publikation, die die europäische Meinung über die venezianischen Gespräche völlig veränderte und den Bundeskanzler in eine überaus unangenehme Lage brachte.
Die italienische Regierung antwortete auf unsere Anfrage mit der Versicherung, dass die Veröffentlichung Gayda's eine unverantwortliche Privatmeinung darstelle, und dass sie von dieser Publikation nichts gewusst habe. Sie erklärte sich bereit, Gayda zu desavouieren. Das Dementi erschien, aber die politische Wirkung dieser journalistischen Extratour blieb eine ausserordentlich schlechte.
Man ist leicht verleitet zu glauben, dass der Besuch Mussolinis auf dem deutschen Schiff und die Aktion Gaydas auf der gleichen Linie lagen und von der gleichen Absicht geleitet waren. Diese Absicht konnte dahingehen, mit den Oesterreichern ein höfliches Gespräch zu führen und den offiziellen Standpunkt der römischen Protokolle zu betonen – nach aussen hin aber den Anschein zu erwecken als nehme die italienische Regierung in der österreichisch-deutschen Auseinandersetzung eine völlig neutrale Haltung ein. Ob es der blosse Zufall fügte, ob der Zufall begünstigt wurde oder ob die Italiener hier eine Absicht leitete, kann ich nicht entscheiden. Ich glaube indes, dass die Wahrheit in der Mitte liegt.
Eine Gesellschaft österreichischer Industrieller folgte in den letzten Monaten des Jahres 1937 einer Einladung ihrer deutschen Kollegen. In Berlin wurde die Gesellschaft von Göring empfangen und mit einer Ansprache begrüsst.
Der damalige Generaloberst erschien in einem phantastischen Kostüm, ledernen Hosen und einem Wolljumper, der ihm bis ans Knie reichte. Er sagte den Oesterreichern seine Meinung. Dieser Staat, aus dem sie kämen, habe keine echte Selbständigkeit, er stütze sich auf fremde Bajonette, die in dem Augenblick, in dem man sie brauche, nicht da sein würden.
Diese Rede löste naturgemäss grosse Aufregungen aus. Es kam zu einer diplomatischen Anfrage und einer Entschuldigung Görings. Aber das Gesagte war nun einmal gesagt.
Ende November 1937 rief mich der Bundeskanzler in sein Büro im Parlament. Ich traf dort Staatssekretär Dr. Schmidt und den Staatssekretär für das Sicherheitswesen, Dr. Skubl. Dr. v. Schuschnigg erklärte uns, er habe sichere Beweise dafür in Händen, dass die Nationalsozialisten für die nächste Zeit einen Anschlag planten. Er beauftragte Dr. Skubl, alle Vorsorge für die Sicherung der öffentlichen Gebäude zu treffen und legte mir nahe, einen Alarmplan für die Anhänger der V.F. bereitzuhalten. Weiter teilte er uns mit, dass es nicht ausgeschlossen sei, dass ein Attentat gegen seine Person, den Bürgermeister von Wien oder gegen mich versucht werde.
Das Material, das dem Bundeskanzler in die Hand gespielt wurde, enthielt noch andere Pläne, von denen noch zu reden sein wird.
Der Bundeskanzler entschloss sich nun, zu handeln und gab den Auftrag, die Teinfaltstrasse auszuheben und zu sperren.
Anlässlich der Hausdurchsuchung in den Räumen des »Siebener Komités« wurde neben sehr umfangreichem belastendem Material der sogenannte »Tavsplan« gefunden, von dem später viel die Rede gewesen ist.
In der Schreibtischlade des Ing. Tavs, der Mitglied und Geschäftsführer des Komités gewesen war, fand man ein Schriftstück, dessen Inhalt dem Sinn nach folgendes besagte:
1.) Die europäische Gesamtlage zeigt, dass die Zeit für eine Aktion in Oesterreich gekommen ist. Der Konflikt im fernen Osten beschäftigt England, das die Abessinienkrise noch nicht überwunden hat, ebenso wie der spanische Konflikt, der eine Bedrohung Gibraltars darstellt. Frankreich ist durch die sozialen Konflikte innerhalb des Landes, die missliche Wirtschaftslage und die ungewisse Situation in Spanien handlungsunfähig. Die Tschechoslovakei ist durch das ungeheure Anwachsen der Henleinpartei, die dadurch hervorgerufene Aufmunterung der slovakischen und ungarischen Bevölkerung und die geschwächte Lage Frankreichs in einer überaus schwierigen Situation. Jugoslavien fürchtet die Restauration der Habsburger in Oesterreich, die den alten Konflikt zwischen Kroaten, Slovenen und Serben wieder zum Aufleben brächte und ist bereit, jede Lösung zu begrüssen, die die Habsburgerfrage endgültig liquidiert. Italien endlich ist durch Abessinien und den Spanienkonflikt derart geschwächt und auf die Bündnisfreundschaft Deutschlands angewiesen, dass es keiner Aktion ernstlichen Widerstand entgegensetzen wird, die nicht seine direkten Lebensinteressen berührt. Man nimmt an, dass eine verstärkte Garantie der Brennergrenze genügen werde, um die Neutralität Mussolinis zu garantieren.
2.) In diesem Augenblick muss eine Aktion in Oesterreich unternommen werden.
Verlauf:
a. Im Lande entstehen aus irgendeinem Anlass, über den noch berichtet wird, Unruhen nationalsozialistischer Parteigänger. Diese Unruhen sollen die Regierung zwingen, die Executive im ganzen Lande scharf einzusetzen.
b. Die deutsche Regierung richtet an die österreichische Regierung nach vorheriger Information des Achsenpartners, ein Ultimatum, in dem die Aufnahme der Nationalsozialisten in die Regierung und die Zurückziehung der Executive bei sonstigem Einmarsch der deutschen Armee verlangt wird.
c. Kommt die österreichische Regierung diesem Ultimatum nach, so ist der volle gleichberechtigte Einbau der illegalen Partei in alle Stellen des Staates, der V.F. und der berufsständischen Organisationen durchzusetzen.
d. Es ist anzunehmen, dass die Regierung nicht mehr in der Lage ist, die Unruhen im Lande niederzuschlagen.
e. in diesem Falle zieht die deutsche Armee in Oesterreich ein, um die Ruhe wieder herzustellen.
Nach einem der Detailpläne, die uns bekannt geworden waren, bestand die Absicht, als Anlass für den Fall 2a durch Nationalsozialisten, die als Anhänger der V.F. verkleidet gewesen wären, einen Ueberfall auf die deutsche Gesandtschaft in Wien zu verüben.
Nach dem umfangreichen Schriftenmaterial, das der Polizei in die Hände fiel, war der Beweis für die ständige und direkte Verbindung zwischen Ing. Tavs und hohen Partei- und Staatsstellen im Reich erbracht. Unter anderem konnte die Verbindung des Ing. Tavs mit dem Stellvertreter Hitlers, Rudolf Hess, nachgewiesen werden.
Trotz dieser Vorfälle, die eine ständige Verletzung des Vertrages vom 11. Juli darstellten, nahm Dr. Schuschnigg seine Zusage, den Nationalen für die Mitarbeit und Mitverantwortung Raum zu schaffen, nicht zurück. Die Besprechungen mit Dr. Seyss, der sich von allen Bestrebungen Leopolds distanzierte, wurden fortgesetzt. Bevor diese aber zu einem Ergebnis führten, kam die Einladung nach Berchtesgaden.
Man glaubt vielfach, der Besuch des Bundeskanzlers Dr. Kurt von Schuschnigg in Berchtesgaden sei der Anfang vom Ende des dritten Oesterreich gewesen. Mit dem gleichen Recht könnte man die Unterzeichnung des Abkommens vom 11. Juli 1936 als den Anfang der Agonie bezeichnen oder aber, wenn man lediglich die aussenpolitischen Voraussetzungen in Betracht zieht, den Eintritt Italiens in den abessinischen Krieg.
In Stresa hatte Mussolini den englischen Vertretern, Premierminister Macdonald und Aussenminister John Simon, gegenüber von seinen afrikanischen Plänen gesprochen und die Meinung erhalten, die Westmächte würden einer italienischen Expansion in Afrika keine ernsten Schwierigkeiten entgegensetzen.
Die weitere Entwicklung zeigte nun, dass er sich getäuscht hatte und zwang ihn, neue Konzepte für seine Aussenpolitik zu suchen. Auf der Suche nach einer starken Freundschaft fand er nur Deutschland, für dessen innerpolitisches Regime in den Kreisen der jungen Fascisten Sympathie bestand, Deutschland, das vielleicht einmal wieder eine starke kontinentale Potenz wurde und mit dem ihn ausserdem die Politik des Revisionismus verband.
Die ideologische Front der Achse Rom – Berlin war nicht naturnotwendig vorhanden. Sie entstand erst durch die Isolierung Italiens im Gefolge des abessinischen Krieges. Eine andere Haltung der Westmächte hätte Italien von einem so engen Bündnis mit Deutschland abgehalten und die aussenpolitische Isolierung Deutschlands verlängert. Es wäre zu anderen Konstellationen auf dem Kontinent gekommen, wahrscheinlich wäre der Weiterbestand Europas gesichert gewesen und eine einvernehmliche Korrektur der Friedensverträge durch die vier Grossmächte möglich geworden. Auch die Haltung der Mächte Spanien gegenüber wäre in der späteren Folge eine wesentlich andere geworden.
Einer deutsch-italienischen Freundschaft stand Oesterreich im Wege. In dem Augenblick, in dem sich Mussolini für die deutsche Freundschaft entschied, musste so oder so das Hindernis aus dem Wege geräumt werden. Auf beiden Seiten hielt man ein Kompromiss für möglich. Deutschland zeigte sich bereit, die Unabhängigkeit Oesterreichs zu garantieren, Italien wollte sich bei der österreichischen Regierung dafür einsetzen, dass den nationalen Kreisen die Möglichkeit zu gleichberechtigter Mitarbeit geboten werde.
Aus dieser Situation heraus entstand der Plan zur »Normalisierung der österreichisch-deutschen Beziehungen«, der am 11. Juli 1936 abgeschlossen wurde. Die Schwächung der kontinentalen Position Italiens liess das deutsche Gewicht immer mehr anwachsen. Aus Erwägungen wurden Wünsche, aus Wünschen Forderungen, aus Forderungen Drohungen und aus Drohungen endlich Taten, gegen die sich niemand zur Wehr setzen konnte.
Im Herbst des Jahres 1937 fand eine Zusammenkunft zwischen dem österreichischen Staatssekretär für die auswärtigen Angelegenheiten, Dr. Guido Schmidt, und dem damaligen Reichsaussenminister Baron Neurath statt. War Neurath anlässlich seines Wiener Besuches noch optimistisch gewesen, so hatte sich bis zu diesem Zusammentreffen seine Haltung radikal geändert. Er zeigte sich Dr. Schmidt gegenüber sehr verdrossen und pessimistisch.
Im Herbst des Jahres 1937 folgte Dr. Schmidt einer Einladung des preussischen Ministerpräsidenten Hermann Göring. Zwischen den beiden Politikern hatte sich im Laufe mehrfacher Begegnungen ein gutes persönliches Verhältnis herausgebildet. So brachte Schmidt denn eines Tages auf die Schorfheide eine Einladung der österreichischen Regierung auf eine Gemsjagd mit. Göring, leidenschaftlicher Weidmann, sagte zu. Das war im Oktober 1937. Die Nachricht von dem bevorstehenden Jagdbesuch, der freilich auch Gelegenheit zu ausführlichen politischen Aussprachen gegeben hätte, wurde in den österreichischen Zeitungen veröffentlicht. Diese Ankündigung reizte die Führung der illegalen Partei und nicht minder Herrn von Papen. Die Parteileute hielten diesen Besuch Görings bei der Regierung, die sie mit allen Mitteln bekämpften, für einen Verrat. Sie setzten alle Hebel in Bewegung, um den Ministerpräsidenten von seinem Vorhaben abzubringen. Hitler selbst wurde durch Briefe und Boten angegangen, er möge doch diesen Besuch untersagen. Herr von Papen nahm mit Recht an, dass Göring anlässlich seines Besuches Verbesserungen des zwischenstaatlichen Verhältnisses und einen Fortschritt der inneren Befriedung erreichen würde. Erfolge, die er durch seine Tätigkeit nicht zustande gebracht hatte. Er glaubte, dass dieser Besuch seiner Stellung und seinem Rufe als Vermittler schaden könnte. Deshalb bemühte er sich nun seinerseits auf dem Wege über das Aussenamt die angekündigte Reise Görings zu verhindern.
Während seines Besuches in der Schorfheide hatte Dr. Schmidt auch Gelegenheit, sich als Jäger zu betätigen. Die Reviere Görings gehören zu den besten und gepflegtesten in Europa. Das Wild wird in vorbildlicher Art gehegt. Jedes Stück hat seinen Namen. Man bestimmt vor dem Besuch eines Jagdfreundes nach dem Namen, welches Stück erlegt werden soll. Dr. Schmidt hatte Weidmannsheil, er schoss keinen Bock, aber einen kapitalen Hirschen, der den Namen Hermann trug.
Die Bemühungen der Partei und der deutschen Gesandtschaft hatten Erfolg. Göring schrieb bald nach der Ankündigung seines Besuches eine Absage. Er tat das in der Form, dass er an den Besuch Bedingungen knüpfte, die ihrem Inhalt nach dem Ultimatum ähnelten, das Hitler in Berchtesgaden vorlegte. Diese Bedingungen wurden abgelehnt und damit fiel auch der Besuch aus.
Seit dem Herbst hörten wir von verlässlichen Persönlichkeiten anderer Staaten, die Gelegenheit gehabt hatten, mit führenden Männern des Reiches zu sprechen, immer wieder, dass in Berlin konkrete Pläne zur Eroberung Oesterreichs bestehen. Diese Aeusserungen gingen teils auf Hitler selbst, teils auf Göring, aber auch auf Neurath zurück. Im November 1937 schrieb einer der massgebendsten Männer Englands an Dr. Guido Schmidt einen Brief, in dem er vor den Berliner Plänen warnte. In dem gleichen Mass, in dem sich die Schwächung der italienischen Position zeigte, verstärkte sich der deutsche Druck auf Oesterreich. Die starke Inanspruchnahme des neuen italienischen Imperiums durch die Unterstützung Francos in Spanien hatte einen neuen Angriffswillen des Reiches in Oesterreich zur Folge.
Wenn auf die Schwächung Italiens durch den Abessinienkonflikt der 11. Juli 1936 notwendig folgen musste, so mit der gleichen Notwendigkeit das Ultimatum von Berchtesgaden auf das Engagement Italiens in Spanien.
Freilich drängte noch ein anderer Grund die massgebenden Persönlichkeiten Deutschlands, die österreichische Frage nunmehr zu bereinigen. Der Ausgleich zwischen Italien und England stand vor der Tür. Dieser Ausgleich mochte eine neuerliche Stärkung des südlichen Achsenpartners zur Folge haben. Nach einer Bereinigung der Beziehungen mit England wäre mit Mussolini über die österreichische Frage viel schwerer zu reden gewesen als vorher. Also entschloss sich Hitler, mit Gewalt einzugreifen und eine Situation auszunützen, die vielleicht nie mehr wiederkehrte.
Das Verhältnis zwischen der deutschen Wehrmacht und der nationalsozialistischen Partei hatte sich im Verlauf des Jahres 1937 verschlechtert. Schon vor dem Besuch Mussolinis in Deutschland und auch während desselben, hatten sich kleine Reibungen bemerkbar gemacht. Generaloberst Fritsch beharrte als Exponent der konservativen Offizierskreise und oberster Chef des Heeres absolut darauf, dass die Armee der Einflusssphäre der Partei entzogen bleibe. Der Führer einer ausländischen Militärmission bei den Manövern, die anlässlich des Mussolinibesuches veranstaltet wurden, erzählte, dass Fritsch Mussolini gegenüber in Anwesenheit Hitlers und Görings geäussert habe, er und niemand anderer sei der oberste Chef der Wehrmacht, und er mache um Missverständnisse auszuschliessen darauf aufmerksam, dass selbstverständlich auch die Luftwaffe im Ernstfall ihm unterstehe. Ich bin nicht in der Lage, alle Gründe für die Differenzen anzugeben, die zwischen der Partei und dem Offizierskorps der Wehrmacht bestanden und bestehen. Es war uns lediglich bekannt, dass die massgebenden Kreise der deutschen Wehrmacht eine bewaffnete Intervention in Oesterreich ablehnten. Die Auseinandersetzungen, die sich im Zusammenhang mit der Heirat des Generalfeldmarschalls Blomberg ergaben, boten den äusseren Anlass zur Austragung tiefgehender Differenzen.
Marschall Blomberg war in weiten Kreisen des deutschen Offizierskorps nicht beliebt; man hatte für ihn zwei Scherznamen, durch die er sehr gut charakterisiert wird. Man nannte ihn den »Gummilöwen« und auch, nach einem rührenden Parteifilm, in dem ein Knabe die Hauptrolle spielt, »Hitlerjunge Quex«.
Das Offizierskorps, als dessen Sprecher Generaloberst Fritsch auftrat, verlangte die Beseitigung Blombergs und nahm seine Heirat mit einem Mädchen bescheidener Herkunft zum Anlass für diese Forderung. Man sagte, es gehe nicht an, dass der Marschall ein Mädchen heirate, das zu ehelichen einem Subalternoffizier wahrscheinlich untersagt worden wäre. Konservativer Geist stand hier sozialistischen Auffassungen gegenüber; das trat umsomehr in Erscheinung, als Hitler und Göring Blombergs Trauzeugen gewesen waren.
Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen tauchten auf beiden Seiten alte Wünsche, alte Gegensätze und alte Forderungen auf; Deutschland stand am Anfang einer ungeheuren inneren Krise, die sich in der Wirtschaft, in der Arbeiterschaft verbreiten konnte, wenn man nicht rasch zugriff. In diesen krisenhaften Tagen weilte auch der deutsche Gesandte in Wien, Franz von Papen, in Berlin und benützte die Gelegenheit, um auch seinerseits bei den allgemeinen Diskussionen und Intriguen mitzuwirken. Die Gestapo hielt in diesen Tagen alle Persönlichkeiten, die in die Auseinandersetzungen hineingezogen waren, unter genauer Kontrolle. Dem Umstand, dass er sich in den Tagen der Reichswehrkrise mit alten konservativen Freunden in Berlin besprach, hatte er es zu verdanken, dass er anlässlich der Regierungsumbildung in so brüsker Form von seinem Wiener Posten abberufen wurde.
Die Reichswehrkrise endete mit einem Kompromiss. Blomberg wurde fallen gelassen und Fritsch verschwand für den Augenblick in der Versenkung. Eine Anzahl von aktiven deutschen Generalen aber flüchtete ins Ausland. Der deutsche Kronprinz reiste in der Nacht ohne Pass und Reisegepäck nach Italien.
Diese beiden Tatsachen wurden von deutscher Seite dementiert. Meine Information stützt sich aber auf amtliche Quellen. Die Reise des deutschen Kronprinzen ohne Pass und Gepäck wurde durch die österreichische Grenzpolizei dem Sicherheitsdirektor in Innsbruck und von diesem dem Bundeskanzleramt in Wien gemeldet. Die Flucht der deutschen Generale wurde uns auf diplomatischem Wege mitgeteilt. Ausserdem machte sich der Regierungschef eines befreundeten Staates anfangs März 1938 einem Diplomaten gegenüber erbötig, die Namen dieser Generale zu nennen.
In der Nacht zum 5. Feber 1938 erhielt Herr von Papen in Wien einen telephonischen Anruf aus Berlin. Ein untergeordneter Beamter des Aussenamtes teilte ihm mit, dass er abberufen sei und seinen Wiener Posten innerhalb von 24 Stunden zu verlassen habe.
Das Leben des ehemaligen deutschen Reichskanzlers Franz von Papen ist reich an Abenteuern und Ueberraschungen. Er spielte bisher im Verlauf der deutschen Revolution die unklarste und undankbarste Rolle. Er, der in seinen früheren Jahren in Amerika und im nahen Osten für den deutschen Nachrichtendienst gearbeitet hatte und im Verlauf dieser Tätigkeit bemerkenswerte Abenteuer erlebte, trat nach dem Weltkrieg, an dem er auch als Offizier teilgenommen hatte, plötzlich als Abgeordneter der katholischen Partei Deutschlands, der Zentrumspartei, neuerlich auf die Bühne der Geschichte. Seine Beziehungen zu den preussisch-konservativen Kreisen auf der einen Seite und der Einfluss, den er auf der anderen Seite auf dem Wege über die katholischen Gewerkschaften nach links hinüber ausüben konnte, machten ihn zu einer interessanten Mittels- und Vermittlungsperson, die es auch verstand, die Macht, die sich aus diesen Eigenschaften ergab, entsprechend auszunützen. Dazu kam das grosse Vertrauen, das ihm der greise Reichspräsident, Feldmarschall Hindenburg, entgegenbrachte. So war es denn nicht verwunderlich, dass er nach Brüning auf den Posten eines deutschen Reichskanzlers berufen wurde. Er vermochte auf diesem Posten nicht, die innerdeutschen Probleme zu meistern, schloss während der Kanzlerschaft des Generals Schleicher Frieden mit den Nationalsozialisten und vermittelte die Berufung Hitlers auf den Reichskanzlerposten, zu der Hindenburg nur schwer zu bewegen war.
In die Regierung Hitler trat Franz von Papen als Vizekanzler ein und behielt diesen Posten bis zum 25. Juli 1934. Nach der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuss durch österreichische Nationalsozialisten entsandte ihn Hitler als »Botschafter in besonderer Mission« nach Wien.
Vorher hatte Herr von Papen allerdings noch aufregende Stunden in Berlin erlebt. Während der nationalsozialistischen Aktion gegen die Führung der S. A., der neben Hauptmann Röhm und anderen S. A.-Führern auch General Schleicher und viele Unbekannte zum Opfer fielen, deren Namen man nie gehört hat, wurde auch gegen den aktiven Vizekanzler des deutschen Reiches, Franz von Papen, eine Aktion durchgeführt. Sein Haus wurde von S.S.-Leuten und Gestapo besetzt gehalten, und zwei seiner persönlichen Sekretäre erschossen. Einer davon war der bekannte Schriftsteller Edgar Jung, dessen Hauptwerk »Die Herrschaft der Minderwertigen« seinerzeit grosses Aufsehen erregt hat.
Weniger als vier Wochen nach dieser für sein Leben ausserordentlich bedrohlichen »Aktion« reiste der bisherige Vizekanzler in einem ausserordentlich wichtigen Sonderauftrag Hitlers nach Wien.
Die ersten zwei Jahre der Wiener Tätigkeit Papens waren für ihn weder erfreulich noch erfolgreich. Die Wiener Gesellschaft sowohl, als auch das diplomatische Korps hielten sich von einem Verkehr mit dem deutschen Sonderbotschafter sehr zurück. Einer seiner Sekretäre, Herr von Tschirschky, der schon in Berlin bei der geheimen Staatspolizei nicht sehr beliebt gewesen war, flüchtete ins Ausland. Die nationalsozialistischen Parteikreise Oesterreichs verfolgten Papens Tätigkeit mit Misstrauen und machten in Berlin immer wieder Anzeigen gegen ihn. In der Gesandtschaft selbst sass ein Botschaftsrat von Stein, ein enrangierter Nationalsozialist, der es früher nicht immer gewesen war, der nun seinen Chef beobachtete und mit den Berliner Parteistellen in direktem Verkehr stand.
Erst seit dem 11. Juli 1936 eroberte sich Herr von Papen in Wien eine gewisse Position. Er bemühte sich, mit allen österreichischen Kreisen in Fühlung zu treten und machte erfolgreiche deutsche Propaganda. Sein Verhältnis zu den Nationalsozialisten hatte sich allerdings noch immer nicht gebessert. Der Führer der illegalen Nationalsozialisten Oesterreichs, der ehemalige Hauptmann Leopold, hegte gegen ihn das grösste Misstrauen.
Auf den, nach dem Ausscheiden des Fürsten Starhemberg aus der Regierung, als Gesandten nach Rom berufenen Aussenminister Egon Baron Berger-Waldenegg war am 11. Juli 1936 der bisherige Kabinettsvizedirektor Dr. Guido Schmidt ins Aussenamt gefolgt, der im Sinne der neuen österreichischen Aussenpolitik zu einer engen Zusammenarbeit mit Herrn von Papen gelangte.
Wenn die Beziehungen zwischen Oesterreich und Deutschland auch ausserordentlich schwierig waren, so blieb doch auf österreichischer Seite der gute Wille vorhanden, schrittweise zu einem besseren Verhältnis zu gelangen. Gerade in den letzten Wochen hatte es den Anschein, als stehe man vor einer weiteren Befriedung im Innern und einer Verbesserung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Umso überraschender kam für die österreichischen Regierungskreise und für Papen selbst die plötzliche Abberufung von seinem Wiener Posten.
Am Vormittag des 5. Feber erschien er im Aussenamt, um dem Staatssekretär Dr. Schmidt seine Abberufung mitzuteilen. Schmidt erzählte mir am selben Tag, dass Papen den Eindruck eines Greises gemacht habe. Er äusserte sich über seine Abberufung, was begreiflich ist, nicht sehr höflich. Die Form der Abberufung, der telephonische Anruf durch einen kleinen Beamten, kränkte ihn sehr. Ueber die Gründe äusserte er sich nur andeutungsweise.
Herr von Papen reiste pünktlich, wie es angeordnet worden war, ab und fuhr nach Berchtesgaden. Eingeweihte Kreise hatten vermutet, dass es ihm nicht gelingen werde, bei Hitler vorzukommen. Man täuschte sich, Hitler empfing ihn und bedachte ihn mit einem neuen, sensationellen Auftrag. Zwei Tage nach seiner Abreise erschien Papen, völlig gewandelt und wieder sehr heiter in Wien.
Schon im Dezember des Jahres 1937 hatte der deutsche Gesandte den Vorschlag zu einer persönlichen Aussprache zwischen Schuschnigg und Hitler gemacht. Der Bundeskanzler und der Staatssekretär für die auswärtigen Angelegenheiten erzählten mir damals davon. Dieser Besuch kam nicht zustande, weil die Vorbedingungen, die in Wien angedeutet worden waren, keine Aussicht auf Erfüllung in Berlin hatten.
Es scheint, dass Papen bei seiner Aussprache mit Hitler darauf hingewiesen hat, dass nun die Möglichkeit einer Unterredung mit dem österreichischen Bundeskanzler bestehe. Es ist kein Zweifel, dass er den Versuch machte, seine Abberufung von Wien knapp vor der Erreichung eines entscheidenden Zieles als eine Gefahr für das Reich hinzustellen. Hitler, der knapp nach der Reichswehrkrise einen aussenpolitischen Erfolg dringend brauchte, liess sich überzeugen und übertrug Papen das Mandat, die Aussprache mit Schuschnigg vorzubereiten. Der Plan für die gewaltsame Eroberung Oesterreichs hatte damals in Deutschland bereits bestanden. Hitler hatte sich auch bereits dafür entschieden »zu handeln«. Die Methode, die Papen nun in Berchtesgaden vorschlug, schien den Vorzug verminderter Gefahr für das Reich bei gleichen Erfolgschancen in sich zu tragen. Papen war der Meinung, dass Schuschnigg sich bei einer persönlichen Aussprache dazu bereit finden würde, Bedingungen zu akzeptieren, die die Gewähr dafür boten, dass Oesterreich ganz automatisch ins Reich und in den Nationalsozialismus hineinwüchse.
Ich wage es nicht zu behaupten, dass eine massgebende Persönlichkeit Oesterreichs diese Auffassung des deutschen Gesandten erzeugt oder bestärkt hat. Herr von Papen wollte seine politische Karriere mit allen Mitteln verteidigen. Für ihn handelte es sich um den Versuch einer politischen Lebensrettung. Ob ihm in Oesterreich dabei jemand die Hand geboten hat, weiss ich nicht.
Papen hatte dem österreichischen Aussenminister und auch dem Bundeskanzler gegenüber immer wieder erklärt, die Idee des Besuches in Berchtesgaden stamme von ihm selbst. Es stellte sich aber im weiteren Verlauf der Ereignisse heraus, dass die Durchführung des Plans von Berchtesgaden zumindest eine Gemeinschaftsarbeit gewesen ist, an der die Gruppe österreichischer Nationalsozialisten um Dr. Seyss-Inquart ebenso beteiligt war, wie der deutsche Gesandte.
In Berlin gab es im Reichswirtschaftsministerium eine Abteilung (oder Gruppe) 5, deren Aufgabe es war, die Aktivierung der deutschen Bodenschätze im Rahmen des Vierjahrplanes zu unterstützen. Mit der Leitung dieser Abteilung war nach dem Ausscheiden des Ministers Schacht ein gewisser Herr Keppler, höherer S.S.-Führer mit dem Titel eines Staatssekretärs, betraut worden. Dieser Herr Keppler ist ein alter Kämpfer der Partei und Träger des goldenen Parteiabzeichens, der höchsten Auszeichnung, die in Deutschland verliehen wird. Er war in früheren Jahren selbständiger Industrieller, hatte eine kleine Fabrik irgendwo in Deutschland besessen und wurde vom Führer seinerzeit zu seinem »Wirtschaftsberater« ernannt. Im gleichen Masse, in dem die nationalsozialistische Partei und der Staat in Deutschland eins wurden, nahmen die Aufgaben des Wirtschaftsberaters ab. Seine Abteilung im Reichswirtschaftsministerium, die Abteilung 5, wurde das fünfte Rad am Wagen genannt. Und so ähnlich war es auch. Niemand aber hat es gern, wenn sein Einfluss abnimmt und seine Chancen, eine politische Rolle zu spielen, allmählich verschwinden. Deshalb begab sich Herr Keppler auf die Suche nach einer Beschäftigung, die ihm neue Möglichkeiten und neuen Einfluss bieten konnte. Es traf sich, dass Ministerpräsident Göring in innerparteilichen Auseinandersetzungen in Oesterreich gegen Hauptmann Leopold Stellung nahm. Keppler hatte Fühlung mit österreichischen Parteigenossen, die an der »Absägung« Leopolds interessiert waren. Nun versuchte er seine Fäden zu knüpfen. Die Auseinandersetzung Leopold kontra Keppler wurde zu einer Auseinandersetzung und Kraftprobe zwischen S.S., zu der Keppler bedeutende Beziehungen besass, und S.A., zu deren Führung Leopold in Beziehungen stand. Keppler war Mitglied der deutschen Delegation, die unter der Führung des Staatssekretärs Weizäcker im Herbst 1937 in Wien weilte. Er wurde und blieb der Führer und zugleich der Berliner »Gesandte« derjenigen Gruppe österreichischer Nationalsozialisten, die den Sturz Leopolds vorbereitete und als deren Haupt man Dr. Arthur Seyss-Inquart vermuten musste.
Dieser Staatssekretär Keppler arbeitete mit seinen Wiener Freunden einen Plan aus, der, im Gegensatz zum sogenannten »Tavs-Plan«, die »friedliche Durchdringung« Oesterreichs mit dem Nationalsozialismus zum Ziel hatte. Der »Keppler-Plan« war die Grundlage der Besprechungen von Berchtesgaden, mehr noch, der »Kepplerplan« war nichts anderes als das erste Ultimatum.
Die Argumente, die Herr von Papen in Wien für die Annahme der Einladung Hitlers an Schuschnigg vorbrachte, wiesen darauf hin, dass die Situation für Oesterreich ausserordentlich günstig sei. Hitler befinde sich, so sagte Papen, nach der »Reichswehrkrise« in einer schwierigen innerpolitischen Lage. Er brauche einen aussenpolitischen Erfolg. Es könne dies ein Erfolg sein, der für Oesterreich ausserordentliche Vorteile biete. Hitler werde sich bereit finden, die illegale Partei in Oesterreich zu liquidieren, wenn ihm der österreichische Bundeskanzler einige Zugeständnisse mache, zu denen er ohnedies bereit sei und die andererseits Hitler als einen deutschen Erfolg in der Welt auswerten könne. Nach seiner, Papens, Meinung sei Hitler jetzt bereit, mit Oesterreich endgültig Frieden zu machen und das unter Bedingungen, wie sie vorher und nachher wahrscheinlich nicht von ihm zu erreichen sein würden.
Unmittelbar nach seiner Aussprache mit dem deutschen Gesandten rief mich der Bundeskanzler zu sich und erzählte mir kurz von dieser Unterredung. Er sei, so sagte er, noch nicht entschlossen, die Einladung anzunehmen. Wir verabredeten ein gemeinsames Abendessen, zu dem auch Dr. Guido Schmidt erscheinen sollte.
Ueber die Ereignisse war strengstes Stillschweigen vereinbart worden. Ausser dem Bundeskanzler und Dr. Schmidt war ich das einzige Kabinettsmitglied, das informiert war. Herr von Papen hatte versichert, dass auch von deutscher Seite strengstes Stillschweigen eingehalten werden sollte. Tatsächlich hörten wir in den kommenden Tagen bis zur Publikation nichts von einer Indiskretion von Mitgliedern der deutschen Gesandtschaft, mit der, wenn dort etwas bekannt war, sicher gerechnet werden konnte.
Der Bundeskanzler und ich – von Dr. Schmidt kann ich es nicht mit Bestimmtheit sagen –, waren der Meinung, dass in Oesterreich ausser den genannten Persönlichkeiten niemand etwas wusste. Wir täuschten uns, denn im Büro des damaligen Staatsrates Dr. Seyss-Inquart sassen die Mitautoren des Kepplerplanes, der dem Bundeskanzler in Berchtesgaden als Ultimatum präsentiert werden sollte. Dieser Kreis junger Nationalsozialisten war über die Einladung genau informiert und wusste mehr als wir alle zusammen. Bevor der Bundeskanzler abreiste, verliess ein Herr dieses Kreises, der spätere Staatssekretär Dr. Kajetan Mühlmann, Wien, um nach Berchtesgaden zu reisen und dort dem deutschen Reichskanzler für Auskünfte zur Verfügung zu stehen.
Ich holte den Bundeskanzler gegen 11 Uhr abends in seinem Büro am Ballhausplatz ab und fuhr mit ihm ins Grandhotel. Dr. Schmidt traf zugleich mit uns ein. Dr. Schuschnigg teilte nun nähere Einzelheiten mit. Es war vereinbart worden, dass die Beziehungen zwischen Oesterreich und Deutschland nach der Besprechung in Berchtesgaden keinesfalls schlechter sein sollten als vorher. Weiter war ein Minimalcommunique besprochen, das noch vor dem Besuch festgelegt wurde und in dem von Seiten des Bundeskanzlers drei Hauptpunkte besonders betont wurden: 1.) Die neuerliche ausdrückliche Anerkennung der österreichischen Unabhängigkeit durch den deutschen Reichskanzler, 2.) der Umstand, dass sich die Besprechungen im Rahmen des Abkommens vom 11. Juli 1936 bewegen und 3.) der Wille der beiden Gesprächspartner, zu einem endgültigen, dauerhaften Frieden zwischen den beiden deutschen Staaten zu gelangen.
Von diesen wesentlichen Vorbedingungen, die Schuschnigg vor der Annahme der Einladung nach Berchtesgaden stellte, ist nachher nicht mehr die Rede gewesen.
Während des Abendessens übergab der Bundeskanzler, Dr. Schmidt den Entwurf für das erwähnte Communique. Er hatte es mit der Hand auf einen kleinen Zettel geschrieben. Dr. Schmidt erhielt den Auftrag, diesen Text am nächsten Morgen mit Herrn von Papen zu vereinbaren.
Dr. Schuschnigg hatte, wiewohl er seine prinzipielle Zustimmung bereits erklärt hatte, an der geplanten Aussprache keine Freude. Er entwickelte uns die Gedanken, die er dabei hatte und meinte, dass er es bei diesen Besprechungen wahrscheinlich niemandem recht tun werde.
Die absoluten Gegner jeder Vereinbarung mit Deutschland würden ihm den Vorwurf des Verrates des integralen österreichischen Programms machen, die nationalen Kreise würden mit allem, was immer er ihnen zugestehe, unzufrieden sein. Ich erinnere mich genau daran, dass der Kanzler insbesondere auch der Meinung Ausdruck gab, dass die kirchlichen Kreise gegen jede Vereinbarung Stellung nehmen würden.
Ich erhielt den Auftrag, am nächsten Morgen, ohne des bevorstehenden Besuchs Erwähnung zu tun, mit Staatsrat Dr. Seyss-Inquart die Grundlagen für eine Mitarbeit der nationalen Kreise in der vaterländischen Front zu vereinbaren. Wir waren der Meinung, dass es möglich sein würde, mit einer fertigen Vereinbarung nach Berchtesgaden zu reisen.
Am nächsten Tag fand der grosse Ball der vaterländischen Front statt. Wir hatten vielfältige Vorbereitungen getroffen, mussten aber auch damit rechnen, dass die Nationalsozialisten den Versuch machen würden, das Fest zu stören. Solche Störungen gingen gewöhnlich nicht von der obersten Leitung der Illegale aus. Es handelte sich um kleine Gruppen von Leuten, meistens Studenten, die ins Politische transponierte Bierulke für nationale Verdienste hielten. Wir glaubten nicht daran, dass ernsthafte Anschläge erfolgen könnten, hatten aber durch unsere Konfidenten die Nachricht erhalten, dass man den Versuch machen werde, Stinkbomben zu werfen oder einen Kurzschluss in der Lichtleitung zu erzeugen. Mit solchen an sich harmlosen Anschlägen war aber die Gefahr einer Panik verbunden; deshalb wendeten wir den Sicherheitsvorkehrungen besondere Aufmerksamkeit zu. Am Vormittag dieses Tages erhielt ich von einer Vertrauensperson, die der Illegale angehörte, die Nachricht, dass eine Gruppe von Wiener Nationalsozialisten die Absicht habe, gegen mich ein Attentat durchzuführen. Ich erhielt solche Nachrichten zu wiederholten Malen und wusste, dass man ab und zu Mitteilungen dieser Art lancierte, um den Betreffenden einzuschüchtern oder ihn von einer bestimmten Aktion, die er vorhatte, abzuhalten. Ich war deshalb nicht sehr besorgt, wiewohl diesmal die Nachricht von einer Stelle kam, von der ich annehmen konnte, dass sie mir nur absolut verbürgte Informationen zukommen liess.
Ich berichte diese Einzelheiten, um die Atmosphäre zu schildern, die damals über Wien lag. Man hatte es im Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus mit vielen Gruppen und Grüppchen zu tun, die ohne einander und oft auch gegeneinander Krieg führten. Der Versicherung eines einzelnen Nationalsozialisten oder eines einzelnen Konfidenten konnte man nie Glauben schenken, weil diese Leute immer nur Nachrichten aus einem einzelnen Feldlager brachten. Zugleich mit dem Kampf gegen das österreichische Regime führten die Nationalsozialisten Intriguen gegen eigene Gruppen, Kämpfe untereinander, bei denen sie sich sehr oft der staatlichen Gewalt gegen ihre innerparteilichen Gegner bedienten. Es verging keine Woche, in der nicht bei irgend einer Stelle unseres Regimes eine Anzeige eines Nationalsozialisten gegen einen seiner Parteigenossen wegen illegaler Betätigung einlief.
Der Ball der vaterländischen Front wurde zu einem schönen Fest. Alles, was in Wien Rang und Namen hatte, war erschienen. Die Regierung, das diplomatische Korps, mit Ausnahme des deutschen und des russischen Gesandten, die Führer der Wirtschaft, die hohe Bürokratie, das Offizierskorps, aber auch tausende unserer kleinen treuen Anhänger aus allen Wiener Bezirken und aus den Bundesländern waren gekommen und füllten die Säle der Hofburg.
Der Bundeskanzler war an diesem Abend zum ersten Mal in der Uniform des Sturmkorps der vaterländischen Front erschienen. Wir sassen eine Weile in einer Ecke zusammen und sprachen von der Fahrt, die der Kanzler am Abend des nächsten Tages antreten sollte. Niemand aus der angeregten Menge, die da tanzte und sich unterhielt, ahnte etwas davon, dass der übernächste Tag die politische Stimmung radikal ändern, ja den Auftakt zur Vernichtung des Landes bringen würde.
Der grosse Ball der Front war so eine von keiner bitteren Vorahnung getrübte Abschiedsfeier. Vier Wochen später schlossen sich hinter den Männern, deren Weltanschauung in einer unbändigen Liebe zum Vaterland gipfelte, die Tore der Gefängnisse, der Konzentrationslager, der Landesgrenzen, der Friedhöfe.
Am Nachmittag des 11. Februar teilte der Bundeskanzler in meinem Büro Dr. Seyss-Inquart seine Absicht, zu Hitler zu reisen, mit. Seyss war bereits informiert. Das bestätigte meine Vermutung, dass die Vorbereitungen für die Zusammenkunft am Obersalzberg nicht von Herrn von Papen allein getroffen worden waren, sondern gemeinsam mit Herrn Keppler und dem Kreis junger Nationalsozialisten, der Dr. Seyss als »Führer« benützte.
Ich besprach nun, auf Grund eines Briefwechsels, der zwischen Dr. Seyss und mir stattgefunden hatte, die Grundlage der Mitarbeit der nationalen Kreise in der vaterländischen Front.
Vorbedingung für jede Mitarbeit sollte das loyale Bekenntnis zum Staat, seiner Verfassung und der V.F. als der alleinigen Organisation zur politischen Willensbildung sein. Das schloss selbstverständlich das Bekenntnis zur Unabhängigkeit des Staates ebenso in sich, wie die Absage an jede illegale Organisation.
Der Beitritt zur V.F. sollte einzeln erfolgen, nicht etwa in Gruppen, wie denn auch eine Sektionierung der Gesamtorganisation nach politischen oder weltanschaulichen Gesichtspunkten vermieden werden sollte. Die volkspolitischen Referate sollten deshalb auch nur bei den Landesführungen bestehen. Eine Untergliederung bis in die Bezirke oder Ortsgruppen wollten wir vermeiden.
Die Mitarbeit der Nationalen, die bisher abseits gestanden hatten, sollte in der Weise erfolgen, dass Mitglieder der V.F. nationaler Herkunft in den Gebietsorganisationen zu Amtswaltern bestellt worden wären. Die Aufgabe dieser Amtswalter hätte sich durch nichts von den Aufgabenbereichen der normalen alten Mitarbeiter unterschieden. Das heisst, ihre Aufgabe hätte nicht etwa bloss darin bestanden, nationale Frontmitglieder zu betreuen, sondern alle Mitglieder. Dr. Seyss sagte mir unzählige Male, dass er ein Feind der Habicht-Politik sei, die auf eine Gleichschaltung Oesterreichs hinauslief. Er betonte immer wieder, dass er es ehrlich meine, und dass er niemals ein Werkzeug der illegalen Bestrebungen sein würde. Er sagte: »Ich bin kein trojanischer Pferdeführer«; und meinte damit, dass er es ablehne, etwa Nationalsozialisten zu dem Zweck in die V.F. zu bringen, um dann einen Kampf innerhalb der Organisation führen zu können.
Für die nationalen Vereine sagten wir Erleichterungen zu, freilich unter der Bedingung, dass sich die Mitglieder dieser Vereine jeder politischen Tätigkeit enthielten; die Gewähr dafür wollte Dr. Seyss selbst übernehmen. Es handelte sich in der Hauptsache um den »Deutschen Schulverein Südmark« und den »Deutschen Turnerbund 1919«, von dem wir allerdings wussten, dass er bisher eine Sammelstätte illegaler Wehrformationen war. In die Turn- und Sportfront sollte als Stellvertreter des obersten Sportführers der Welser Notar Dr. Franz Hueber, der bereits einmal als Heimwehrmann Justizminister gewesen war, ein Schwager Görings, ernannt werden.
Hier sei eingefügt, dass Dr. Hueber in der Woche vor dem deutschen Einmarsch in Oesterreich, dem Führer der Turn- und Sportfront, Fürsten Starhemberg, in der Schweiz einen Besuch machte, um mit ihm die Details seiner Mitarbeit zu besprechen.
In den Werken der V.F. sollten geeignete Persönlichkeiten der nationalen Kreise zur Mitarbeit berufen werden. Eine Ausnahme wurde von mir lediglich für das österreichische Jungvolk gefordert. Dort hielt ich die Hinzunahme einer nationalen Führerschaft für ausserordentlich gefährlich.
Auf dem Gebiet der Presse wollte Dr. Seyss die Möglichkeit haben, die nationalen Blätter mit Artikeln und Nachrichten zu versorgen, in denen seine Politik der loyalen Mitarbeit betont werden sollte. Blätter, die nach seinen Intentionen schrieben, sollten einen besonderen Schutz geniessen.
Die Listen der Mandatare in den Gemeinde- und Landtagen, sowie in den Körperschaften des Hauses der Bundesgesetzgebung, sollten einer Durchsicht unterzogen werden, um festzustellen, ob die Möglichkeit des Austausches der einen oder anderen Persönlichkeit bestehe.
Für alle Mitarbeiter galt die strikte Bedingung, dass sie eine klare und loyale Gesinnung und die sachliche und moralische Eignung für ihr Amt besitzen müssten.
Im Verlaufe dieser Verhandlung zeigte sich Dr. Seyss ausserordentlich nachgiebig. Er sagte mir, sein Entwurf sei lediglich ein Rohmaterial, aus dem nun in der einvernehmlichen Aussprache das fertige Gebilde herausgearbeitet werden müsse. Wir fanden auch für alle in Frage stehenden Punkte eine Formulierung, mit Ausnahme des einen, in dem Dr. Seyss ausgesprochen haben wollte, dass das Bekenntnis zur nationalsozialistischen Weltanschauung mit dem Bekenntnis zu den Grundsätzen der vaterländischen Front vereinbar sei. Diese Frage der Vereinbarkeit wollte Dr. Schuschnigg selbst lösen.
Ich ging mit Dr. Schmidt, auf Dr. Schuschnigg wartend, auf dem Bahnsteig auf und ab. Schmidt schien ausserordentlich unsicher zu sein. Er fragte mich: »Wie wird es gehen?« Ich sagte ihm, er habe die Aufgabe, einen klaren Erfolg mitzubringen. Er zuckte mit den Schultern: »Dafür kann ich mich nicht verbürgen!«
In einer Abendzeitung war die Nachricht lanciert worden, der Bundeskanzler begebe sich nach Tirol. Einige Tage vorher war die Meldung erschienen, der tschechoslowakische Ministerpräsident, Dr. Milan Hodza, halte sich in Kitzbühel auf. Wir wollten die Presse irreführen und in einigen Blättern die Vermutung provozieren, Dr. Schuschnigg sei zu einer Aussprache mit Dr. Hodza nach Kitzbühel gereist. Tatsächlich fielen einige Blätter dieser Finte zum Opfer.
Am Vormittag des nächsten Tages fand eine Sitzung der »volkspolitischen Referenten« der vaterländischen Front statt. Sie stellten ein Forderungsprogramm auf, das über die mit Dr. Seyss getroffenen Vereinbarungen weit hinausging. Ich kam gegen Mittag in die Versammlung, um mitzuteilen, dass sich der Bundeskanzler zur Stunde bei Hitler auf dem Obersalzberg befinde. Die Nachricht wurde mit grösstem Erstaunen aufgenommen, die Herren gingen erregt auseinander.
Der Kanzler hatte mir gesagt, er rechne damit, dass er um 18 Uhr nach Salzburg zurückkehren werde.
Von seiner Begleitung waren der Direktor der amtlichen Nachrichtenstelle, Hofrat Weber, und der persönliche Sekretär, Ministerialrat Baron Fröhlichsthal, in Salzburg geblieben. Hofrat Weber sollte nach der Rückkehr Schuschniggs die Pressekommentare ausarbeiten und nach Wien durchtelephonieren. Baron Fröhlichsthal sollte für den Fall einer persönlichen Behinderung, die der Kanzler nicht ausschloss, besondere Massnahmen veranlassen.
In Wien war die Nachricht vom Besuch Schuschniggs bei Hitler in den ersten Stunden nach Mittag durchgesickert. Ausländische Sender brachten die Meldung mit allen Anzeichen der grossen Sensation. Ein Wiener Abendblatt veröffentlichte gegen drei Uhr eine kurze Notiz. Am Nachmittag versammelte der Chef des Bundespressedienstes die führenden Journalisten Wiens, um ihnen Informationen zu erteilen. Er beschränkte sich darauf, die Tatsache des Besuches bekanntzugeben, der auf Einladung des deutschen Reichskanzlers erfolgt sei. Er erklärte, dass diese Zusammenkunft der Sehnsucht nach Herstellung eines dauernden Friedens zwischen den beiden deutschen Staaten entspringe und kündigte für den frühen Abend einen offiziellen Kommentar an.
Für den Fall, dass bis 18 Uhr keine Nachricht einlangen sollte, hatte Baron Fröhlichsthal den Auftrag, die Salzburger Garnison zu alarmieren.
Gegen zwölf Uhr war eine Meldung eingetroffen, die besagte, dass die Verhandlungen fortgesetzt werden. Von dieser Stunde an kam keine Nachricht mehr.
In Salzburg sass Baron Fröhlichsthal mit der Uhr in der Hand. Der Divisionsgeneral ging erregt in seinem Amtszimmer auf und ab. Es ging gegen 18 Uhr. Keine Nachricht. Das bedeutete, dass eine unvorhergesehene Entwicklung eingetreten sein musste. Schuschnigg wusste, dass in den nächsten Minuten sein Land und damit Europa, – die Welt, in Alarmzustand versetzt werde, wenn er keine Nachricht gäbe. Er gab keine Nachricht, also konnte er es nicht. Was war geschehen? Baron Fröhlichsthal erlebte die furchtbarsten Minuten seines Lebens. Die Militärs treffen die letzten Vorbereitungen. Was wird geschehen? Wir alle sind aufs äusserste gespannt. Nichts in der Welt ist von Wichtigkeit, – nur das Eine: Was ist in Berchtesgaden geschehen? Wird eine Nachricht kommen? Oder Krieg – Umsturz – Revolution?
Ich stehe am Fenster meines Büros, Am Hof, in Wien. Im Vorraum sitzen meine Mitarbeiter und Freunde. Wir wissen, worum es geht. Draussen rattern und klingeln die Telephone. Ein Sekretär gibt die stereotype Antwort auf alle gleichen Fragen: »Nein, noch nichts, – wir hoffen, ja – rufen Sie wieder an.«
Da endlich, 18 Uhr – die Entscheidung scheint gefallen zu sein, eine Meldung aus Salzburg. Der Kanzler hat anrufen lassen, – die Verhandlungen gehen weiter.
Aber dann wieder nichts.
Wieder vergehen Stunden. Niemand in Oesterreich weiss, was sich bisher ereignet hat.
Ich hatte die Polizeidirektion in Salzburg gebeten, mir sofort Nachricht zu geben, wenn der Wagen des Kanzlers die Grenze passierte. Unsere Telephonzentralen waren blockiert. In allen Teilen des Landes wollte man Nachrichten haben, Details wissen. An die Unterorganisationen der vaterländischen Front hatte ich bereits in den ersten Nachmittagsstunden eine Meldung durchgegeben, die aber lediglich die Tatsache des Besuches ohne weitere Angaben verzeichnete. Ich hatte für den frühen Abend weitere Mitteilungen angekündigt. Aber es wurde spät und später.
Im Dom zu St. Stephan war am Vormittag dieses Tages die Papstkrönungsfeier in traditioneller Weise abgehalten worden. Es war dies die letzte Feierlichkeit, der eine österreichische Regierung mit dem Bundespräsidenten und dem diplomatischen Korps beiwohnten. Kardinal Innitzer zog, gefolgt vom Domkapitel und zahlreichen Klerikern, feierlich ein und stimmte das »Te Deum« an. Bevor er hinausschritt, verneigte er sich vor den Anwesenden. Niemand ahnte, dass diese Verneigung ein Abschied war. Der Abschied des Kardinals von der österreichischen Regierung, sein Abschied von der österreichischen Idee. Von demselben Altar aus, den der Kardinal nun verliess, hatte er seinerzeit die Leiche des ermordeten Kanzlers Dollfuss eingesegnet und sich von ihm mit herzbewegenden Worten, die in ein Gelöbnis der Treue ausklangen, verabschiedet. Ein Geistlicher aus der Umgebung des Kardinals rief mich am späteren Abend an. Er war besorgt und wollte eine Nachricht. Ich liess mir von Viertelstunde zu Viertelstunde Verbindung mit Salzburg geben. Aber auch dort war kein Bescheid eingetroffen.
Endlich, um Mitternacht, kam die Meldung, der Kanzler habe die Grenze passiert. Er fuhr direkt zur salzburgischen Landesregierung im Chiemseehof. Von dort aus rief er mich kurze Zeit nachher an. Ich trachtete, irgend eine Nachricht von ihm zu erhalten. Er beschränkte sich darauf zu sagen, dass er morgens in Wien ankommen und mir alles erzählen werde. Ich bat ihn, mir wenigstens zu sagen, ob es gut oder schlecht gegangen sei. Er antwortete, dass er am Telephon überhaupt nichts sagen könne. Ich sollte nur morgens auf dem Bahnhof sein.
Dieses Telephongespräch liess keinen Zweifel darüber, dass die Aussprache völlig anders verlaufen war, als wir es erwartet hatten. Ich äusserte diese Meinung auch im vertrauten Kreis meiner Mitarbeiter.
Für einen Pressekommentar war es nun zu spät. Die Zeitungen waren bereits in den Druckereien. So blieb es dabei, dass den österreichischen Zeitungslesern am Sonntagmorgen lediglich die Nachricht vom Besuch in Berchtesgaden ohne weitere Erklärungen mitgeteilt werden musste.
Wir besprachen uns noch in der Nacht mit dem Chef des Bundespressedienstes, Oberst Walter Adam. Ich hatte bei meiner Auffassung der Lage immer noch die Vorstellung, dass die ursprüngliche Vereinbarung zu Recht bestehe, nach der das Verhältnis zwischen den beiden Staaten nach der Aussprache keinesfalls schlechter sein sollte als vorher. Darin aber sollte ich mich, wie in so vielem anderen, gründlich getäuscht haben.
Der Sonderzug aus Salzburg traf gegen acht Uhr früh ein. Zum Empfang des Bundeskanzlers hatten sich nur zwei oder drei Persönlichkeiten eingefunden. Auf Herrn von Papen wartete sein Sekretär Baron Ketteler, der dann in den Tagen des Umsturzes auf rätselhafte Weise verschwand. Anfang Mai wurde seine Leiche bei Hainburg, nahe der tschechischen Grenze, aus der Donau gezogen.
Als der Zug stand, verliess niemand den Waggon. Ich stieg ein und traf im Korridor Baron Fröhlichsthal, der mir sagte, der Kanzler sei noch in seinem Abteil. Ich öffnete eine Tür, es war das Abteil des Herrn von Papen. Er begrüsste mich freundlich, schien aber doch nicht in besonders rosiger Stimmung zu sein. Aus ein paar Worten entnahm ich, dass ein Abkommen getroffen worden sei, von dem er hoffte, dass es die Lösung der ganzen Frage bringen werde. Nun kam Dr. Schmidt. Ich sah, dass die Stimmung unserer Herren selbst unter dem pessimistischen Mass lag, mit dem ich gerechnet hatte. Endlich erschien Dr. Schuschnigg. Man verabschiedete sich schnell von Papen und verliess den Zug. Der Kanzler lud Dr. Schmidt und mich ein, mit ihm zu frühstücken.
Im Speisezimmer war es kalt. Niemand hatte Hunger. Während wir in den Tassen herumrührten, erzählten die Herren, was sich in Berchtesgaden begeben hatte.
Minister Glaise-Horstenau hatte einmal zu Dr. Schuschnigg gesagt, Hitler sei kein Politiker, er sei ein Prophet. Er wollte damit sagen, dass sich Hitler viel mehr als Führer einer weltanschaulichen Bewegung, als Religionsgründer fühle, denn als Politiker in der gebräuchlichen Bedeutung des Wortes. Dr. Schuschnigg leitete seinen Bericht damit ein, dass er sagte: »Jetzt weiss ich endlich, was sich Glaise unter einem Propheten vorstellt!«
Hitler machte auf Schuschnigg den Eindruck eines Menschen aus einer anderen Welt. Er hätte mit einem Inder aus nicht grösserer geistiger Entfernung gesprochen, als mit dem »Führer des deutschen Volkes und Reiches«. Schuschnigg ist ein Mensch, der den Versuch unternimmt, aus traditioneller Verpflichtung und gegenwärtiger Aufgabe die Mitte zu wählen; er ist ein Mensch, der seine Entschlüsse zögernd fasst und zum Handeln gedrängt, immer noch sein Gewissen befragt. Er versucht es unter allen Umständen, den jeweils mittleren Weg zu gehen – freilich ohne jemals auch nur einen Strich von seiner weltanschaulichen Linie abzugehen. Hitler ist ein Mensch, der auf dem Boden seines Programms stehend, intuitiv handelt. Er ist von seiner Sendung überzeugt. Er glaubt fest daran, dass ihn die Vorsehung dem deutschen Volk geschickt hat, um es zu befreien und um es zu Grösse und Macht zu führen. Er glaubt an die Grundsätze seiner Partei wie an religiöse Dogmen. Er ist davon überzeugt, dass es keine Macht der Welt gibt, die ihn daran hindern könnte, das Werk, das er sich vorgenommen hat, zu vollenden. Er bekennt sich klar zum Grundsatz, dass die Mittel von sekundärer, der Zweck von primärer Bedeutung seien. Er ist von einem unbändigen Willen besessen, »Geschichte zu machen«.
Schuschnigg hat ein Weltbild, Hitler hat ein Bild nach dem er die Welt taxiert und zu gestalten versucht.
Auf dem Weg von Berchtesgaden auf den Obersalzberg machte Papen, der im Auto des Kanzlers fuhr, so nebenher die Mitteilung, dass noch anderer Besuch im Hause Hitlers anwesend sei.
»Sie werden ja nichts dagegen haben«, wendete er sich an Schuschnigg, »es sind da zufällig auch noch einige Herren von der Wehrmacht oben, der General Keitel, Reichenau und ein Fliegergeneral«.
Schuschnigg und Schmidt sahen sich an.
Zufällig?
Nach einer formal höflichen Begrüssung setzten die Besprechungen ein. Hitler überschüttete Schuschnigg mit Vorwürfen. Er sagte ihm, dass das österreichische Regime in seinen Augen ein Gewaltregime sei, das keine Legitimation besitze. Schuschnigg habe kein Recht mit einer Hand voll Leuten ein Volk zu vergewaltigen. Er bezeichnete die Mörder des Kanzlers Dollfuss, die nach dem 25. Juli 1934 hingerichtet worden waren, als Märtyrer. Die österreichische Politik stütze sich auf fremde Bajonette. Aber die Zeit sei nun vorüber, in der sich das deutsche Reich, das unter nationalsozialistischer Führung für das gesamte Volk verantwortlich sei, lebe es in welchem Staate immer, das bieten lassen wolle. Die Stunde der Befreiung für das österreichische Volk sei nun gekommen. Er habe sich entschlossen, die österreichische Frage so oder so zu lösen. Ursprünglich sei es seine Absicht gewesen, am 26. Feber in Oesterreich einzumarschieren. Man habe ihm nun aber einen Plan unterbreitet, mit dem er einverstanden sei. Entweder unterzeichne Schuschnigg den Vertrag, den er ihm vorlege oder er werde seine Konsequenzen ziehen.
In Berchtesgaden waren von deutscher Seite ausser Herrn von Papen und dem neuen Reichsaussenminister von Ribbentrop, die Generale Keitel und Reichenau, sowie ein General der Luftwaffe anwesend. Ausserdem war der österreichische Nationalsozialist, von dem ich erzählt habe, zugegen. Die österreichische Delegation bekam ihn nicht zu Gesicht, aber Hitler empfing ihn in einer Verhandlungspause, um seine Meinung zu hören.
Schuschnigg legte seinen Standpunkt klar und hart dar. Er verwahrte sich gegen die Angriffe, die Hitler gegen sein Regime machte. Gegen das Regime, mit dem derselbe Hitler schliesslich am 11. Juli 1936 einen Vertrag geschlossen hatte und dem gegenüber er sich verpflichtet hatte, jede Einmischung in die inneren Verhältnisse zu unterlassen. Die Ermordung Dr. Dollfuss' sei eindeutig ein Mord gewesen, die Beamten, die sich für die illegale Partei betätigten, hätten ihren Diensteid gebrochen. Er fragte Hitler, wie er mit solchen Beamten verfahren würde, wie er gegen Soldaten und Polizisten vorgehen würde, die sich der Geheimbündelei oder des Hochverrates schuldig machen würden. Er übergab Hitler eine Liste von Fällen, die eine unleugbare Einmischung deutscher Persönlichkeiten und Parteistellen in die inneren österreichischen Verhältnisse darstellten. An solchen »Fällen« fehlte es nicht. Aus den Hunderten von Beispielen, die sich anführen Hessen, seien aus der letzten Zeit einige wenige erwähnt.
Der Oberbürgermeister von Passau wurde auf österreichischem Gebiet aufgehalten. In seinem Auto befanden sich tausende von illegalen Flugschriften. Im bayrischen Bahnhof von Salzburg befand sich in den Amtsräumen der deutschen Zollwache ein ungeheures Lager von Druckschriften aller Art, die zur nationalsozialistischen Propaganda in Oesterreich verwendet wurden. Die illegale Parteiführung, die sich in den Räumen des »Siebener Komites« in der Teinfaltstrasse etabliert hatte, war in ständiger Verbindung mit Partei und Amtsstellen des deutschen Reiches. Die Ueberweisung von Geldmitteln an die Illegale hatte nach dem 11. Juli 1936 keine Unterbrechung erfahren, sondern war bis in die letzte Zeit fortgesetzt worden.
Hitler, Hess, Göring, Göbbels und andere Persönlichkeiten des deutschen Regimes hatten ständig Verbindung mit Stellen der illegalen Partei in Oesterreich. In hunderten von Fällen konnte nachgewiesen werden, dass österreichische Nationalsozialisten von diesen Persönlichkeiten empfangen worden und in ihrem Kampf gegen die österreichische Regierung bestärkt worden waren.
Es lagen Dutzende von Zeugenaussagen vor, in denen bestätigt wurde, dass Hitler, Hess, Göring, Göbbels, Himmler und andere Funktionäre des III. Reichs österreichischen Illegalen gesagt hatten, es käme die Stunde, in denen das Reich ihnen zu Hilfe kommen werde. Die österreichische Legion war nie aufgelöst worden. Diese militärische Organisation österreichischer Emigranten wurde geschult und bewaffnet. Die Geschichte der österreichisch-deutschen Beziehungen seit dem 11. Juli ist eine Geschichte fortgesetzter deutscher Einmischungen in innerösterreichische Verhältnisse.
Schuschnigg bot Hitler Beweismaterial über all diese Fälle an und resümierte: »Unser Kampf ist von Anfang an nichts als eine Defensive gewesen. Die innere Befriedung in Oesterreich wäre längst erreicht, wenn dieses Werk des Friedens nicht ununterbrochen von aussen her gestört worden wäre.«
Hitler geriet in Zorn. Er sagte, die österreichische Politik richte sich ausschliesslich gegen das Reich, gegen ihn und seine Pläne. In Oesterreich sei sogar ein Attentatsplan gegen seine Person angezettelt worden, der von einer legitimistischen Gruppe ausgehe und an dem der Redakteur einer in Wien erscheinenden Zeitschrift führend beteiligt sei. Ein Attentatsplan gegen ihn, der sein ganzes Leben und Trachten darauf eingestellt habe, das deutsche Volk, zu dem auch die Oesterreicher gehören, wieder zu Macht und Grösse zu führen! Er machte Schuschnigg den Vorwurf, dass er verschiedenen deutschen Emigranten aus Deutschland in Oesterreich die Möglichkeit gebe, gegen das Reich und den Nationalsozialismus zu arbeiten. Seine besondere Erregung richtete sich gegen den bekannten Jesuitenpater Friedrich Muckermann, der damals in Wien Vorträge hielt, die einen ungeheuren Zulauf hatten.
Schuschnigg wies darauf hin, dass er bereit sei, Frieden zu schliessen. Seine ganze Politik sei auf diesen Frieden abgestellt, aber es könne nur ein ehrenhafter Friede sein. Er für seinen Teil habe nicht den Ehrgeiz, der grösste Deutsche sein zu wollen, aber er möchte gern der beste Deutsche sein.
Die Abwehrpläne des österreichischen Generalstabs für den Fall eines deutschen Einmarsches, die durch Verrat in die Hände des deutschen Reichskanzlers gekommen waren, bildeten den Ausgangspunkt neuerlicher Angriffe Hitlers. Schuschnigg verwies darauf, dass diese Pläne, deren Richtigkeit garnicht bestritten werden solle, doch nur der Verteidigung des Landes dienen sollten, nicht einem Angriff gegen das deutsche Reich. Er verstehe also die Erregung Hitlers nicht. Die Strassensperren, die an der deutschen Grenze angelegt worden waren, um mehr handelte es sich nicht, wurden genau so wie an der deutschen auch an den anderen Grenzen des Landes angelegt.
Hitler meinte, diese Pläne bewiesen, von welchem Geist die österreichische Regierung getragen sei. Schuschnigg antwortete, der Geist der österreichischen Regierung äussere sich eben in der Verteidigung. Den Willen, zu einem Frieden mit dem deutschen Reich zu kommen, habe schon Dollfuss zu wiederholten Malen geäussert. Daran habe sich nichts geändert. Dieser Geist des Friedenswillens sei es ja, der ihn hierher nach Berchtesgaden gebracht habe.
In den ersten Stunden der Besprechungen blieb nichts ungesagt. Die Reden und Gegenreden aber waren nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Hitler besass ein Argument, gegen das Schuschnigg nicht aufkommen konnte. Dieses Argument war die Gewalt.
Der Aussprache lag der »Kepplerplan« zu Grunde. Die Forderungen, die Hitler auf Grund dieses Elaborats aufstellte, betrafen in der Hauptsache folgende Punkte:
Das erste Forderungsprogramm wurde im Verlauf der Beratungen abgeändert und in einzelnen Teilen gemildert. Die Detailverhandlungen wurden sowohl von Hitler und Schuschnigg als auch zwischen Schmidt und Ribbentrop geführt. Als die Verhandlungen einmal stockten, bat Hitler den österreichischen Bundeskanzler, sein Zimmer zu verlassen und rief nach seinen Generalen.
Im Verlaufe der sehr mühsamen Besprechungen wurden auf deutscher Seite u. a. folgende Forderungen fallen gelassen:
Ueber folgende Punkte wurden die Verhandlungen in positivem Sinne geführt:
Diese Bestimmungen wurden nun schriftlich niedergelegt. Für die österreichische Seite bestand das Positivum lediglich in der Feststellung:
a) dass sich die Oesterreicher nationalsozialistischer Weltanschauung an die bestehenden Gesetze, die das politische Leben regelten, zu halten hätten. Das konnte man bei gutem Willen als eine Absage an die Illegale deuten, wiewohl es schwer denkbar war, wie man den Anhängern der nationalsozialistischen Weltanschauung im Rahmen der vaterländischen Front freie Betätigung einräumen konnte. Eine solche gleichberechtigte Betätigung hätte die Vereinbarkeit der nationalsozialistischen Weltanschauung mit den Grundsätzen der vaterländischen Front und der Verfassung von 1934 zur Voraussetzung gehabt. Ich selber habe nie begriffen, welcher Unterschied zwischen dem nationalsozialistischen Parteiprogramm und der nationalsozialistischen Weltanschauung besteht. Das Parteiprogramm konnte unter gar keinen Umständen mit den Grundsätzen der vaterländischen Front vereinbar sein. Die Weltanschauung war es, insbesondere nach dem Urteil führender katholischer Politiker, auch nicht. Für eine Zusammenarbeit in der vaterländischen Front wäre ein überaus grosses Verständnis und eine noch grössere und unbedingte Versöhnungsbereitschaft auf beiden Seiten notwendig gewesen. Von beidem war – wenn man von einzelnen führenden Persönlichkeiten absieht – wenig vorhanden. In einem Interview, das der Bundeskanzler einem englischen Journalisten gewährt hatte, erklärte er: »Vom Nationalsozialismus trennt uns ein Abgrund!« Das war auch die allgemeine Meinung der Anhänger der vaterländischen Front. Eine Politik der einverständlichen Zusammenarbeit zwischen Nationalsozialisten und Oesterreichern hätte ausser grossem Verständnis auch eine personelle Umgestaltung in den meisten Bereichen des öffentlichen Lebens zur Voraussetzung gehabt. Die »Mannschaften des Bürgerkriegs« hätten in die Reserve gelegt werden müssen, um einer neuen Belegschaft von nicht minderer Ueberzeugungstreue, aber klarem Versöhnungswillen Platz zu machen. Die Annahme dieses Punktes musste, so wie die Verhältnisse lagen, bestenfalls in der weiteren Entwicklung zum Dualismus, zum Zweiparteiensystem und zur völligen Preisgabe des Dollfussprinzips führen.
b) Als wirkliches Positivum konnte die Zusage gewertet werden, dass die illegale nationalsozialistische Partei in allen ihren Gliederungen aufgelöst werde. In dem Papier von Berchtesgaden war ausdrücklich festgelegt worden, dass in Hinkunft alle Verbindungen von staatlichen oder Parteistellen aus Deutschland nach Oesterreich ohne Ausnahme über die Person des neuen Ministers Dr. Seyss zu leiten seien. Anderseits sollte ausschliesslich Dr. Seyss befugt sein, in allen Angelegenheiten, die die Nationalsozialisten im Innern betrafen, mit dem Bundeskanzler zu verhandeln. (Punkt II, 3 des Uebereinkommens.) Diese Bestimmung sicherte die Eingleisigkeit für alle Fragen, die den nationalen Teil der Bevölkerung betrafen.
Dieses Uebereinkommen war nach der Schilderung Dr. Schuschniggs und Dr. Schmidts unter Zwang zustandegekommen. Nach den gegebenen Umständen bezeichneten die beiden Herren das Berchtesgadener Papier als eine glatte Erpressung, die angenommen worden war, um einen deutschen Einmarsch in Oesterreich zu verhindern.
Hitler hat in Berchtesgaden erklärt, er habe die Absicht gehabt, am 26. Feber in Oesterreich einzumarschieren. Er habe sich von diesem Gedanken abbringen lassen und wolle nun in der Form des Abkommens diesen letzten »gütlichen« Versuch unternehmen. Er betonte Schuschnigg gegenüber, dass es das erste Mal in seinem Leben sei, dass er einen fest gefassten Entschluss abändere.
Hitler wollte von Schuschnigg die sofortige bindende Zusage zur getroffenen Vereinbarung. Schuschnigg stellte sich auf den Standpunkt, dass er auf Grund der Verfassung die Zustimmung des Bundespräsidenten brauche, weil er wohl die Demission seines Kabinetts geben, nicht aber eine neue Regierung bestellen könne.
Erst nach langer Verhandlung zeigte sich Hitler bereit, zwei Tage zuzuwarten. Nach diesen zwei Tagen wollte er sich nicht mehr an das Abkommen gebunden erachten. Was das bedeutete, war leicht zu erraten. Es handelte sich offenbar um die Verwirklichung der Grundgedanken des sogenannten »Tavs-Plans«, der die Erzeugung innerer Unruhen als Voraussetzung für eine militärische Intervention zum Ziel hatte. Ueber den Ablauf solcher Ereignisse waren Dr. Schuschnigg und Dr. Schmidt nicht im Unklaren gelassen worden.
Das Abkommen von Berchtesgaden wurde so, das muss der historischen Wahrheit zuliebe festgestellt werden, unter Drohung mit Gewalt abgeschlossen.
Schuschnigg hat in seiner Rede vor dem österreichischen Bundestag den Tag von Berchtesgaden einen harten Tag genannt. Die Entscheidung, vor die der verantwortliche Leiter der österreichischen Politik gestellt war, betraf nicht nur die innerpolitische Gestaltung seines Vaterlandes, sie betraf die Existenz dieses Landes überhaupt, sie betraf darüber hinaus, wie die Geschichte lehrt und noch lehren wird, die künftige Gestaltung des mitteleuropäischen Raums, die Frage, ob der Kontinent in Hinkunft in ideologische Fronten geteilt werden würde, sie betraf die Frage, welches Volk, welches Prinzip und welcher Herr in den künftigen Monaten und Jahren den Anspruch auf den politischen Primat in Europa stellen sollte.
Schuschniggs politisches Hauptprinzip war die Erhaltung der Unabhängigkeit Oesterreichs. Er war geneigt, der Erkenntnis Rechnung zu tragen, dass Oesterreich ein deutscher Staat ist. Deshalb wollte er alle Bedingungen akzeptieren, die ihm tragbar schienen, um auch von der Seite Deutschlands die Anerkennung und die Garantie der österreichischen Unabhängigkeit zu erhalten. Die Situation in Europa war damals so, dass es über die nationale Raison hinaus auch gar keinen anderen Staat mehr gab, dessen Garantie die österreichische Unabhängigkeit hätte sichern können.
Die Garantie der österreichischen Unabhängigkeit durch das deutsche Reich, das wusste Dr. Schuschnigg, war nichts anderes als eine Selbstbeschränkung Hitlers, als ein Verzicht des Nationalsozialismus auf die sofortige Erreichung eines bestimmten Zieles.
Die Aufgabe Schuschniggs bestand deshalb darin, den Reichskanzler zur Erkenntnis zu bringen, dass ein solcher Verzicht letzten Endes dem Reich zum Vorteil gereichen könnte. Hitler hatte die Ziele seiner Politik offen dargelegt. Er wollte die Einverleibung der deutschen Minderheiten in das Reich. Er wollte die Zerschlagung und Aufteilung der Tschechoslowakei. Der Angriff auf die Tschechoslowakei war nur möglich, wenn in einem solchen Fall die Haltung Oesterreichs klar war, so klar, wie die Haltung Polens, Ungarns und Italiens. Die österreichische Unabhängigkeit war für Deutschland nur akzeptabel, wenn die Nationalsozialisten an der Herrschaft in diesem Lande genügend beteiligt waren. Gelang das nicht, so war die Anektierung Oesterreichs notwendig.
Schuschnigg war sich über diese Ziele Hitlers im klaren. Er kannte auch die Einstellung der westlichen Staaten, – die zögernde und überaus vorsichtige Haltung Englands, die durch innere Zerwürfnisse geschwächte Position Frankreichs, den Willen Italiens, die deutschen Ambitionen gegen die Tschechoslowakei zu unterstützen. Schuschnigg wusste, dass er allein stand; denn Italien und Ungarn hatten sich mit den deutschen Plänen der C.S.R. gegenüber abgefunden – unterstützten sie. Er hatte so einen ausserordentlich schwierigen, wenn auch nicht hoffnungslosen Standpunkt.
Schuschnigg schätzte die Kräfte des österreichischen Widerstandes hoch ein. Er glaubte daran, dass es möglich sein werde, die unbedingten Oesterreicher in einer Organisation zu vereinigen und in ihrem Widerstandswillen zu bestärken, bis eine neue Weltlage die Möglichkeit bot, einen vernünftigen Weg der Mitte zu gehen. Er wollte eine neue europäische Situation abwarten, um der österreichischen Unabhängigkeit eine machtpolitisch-dogmatische Festigkeit zu geben. Eine noch weitere Annäherung an Deutschland schien ihm im Hinblick darauf kein Fehler zu sein. In dieser Politik wurde er von seinen aussenpolitischen Ratgebern bestärkt.
Schuschnigg sah im deutschen Zustand vom Feber 1938 durchaus keine Endsituation. Er war der Meinung, dass sich die inneren Verhältnisse des Reichs im Laufe der nächsten Jahre so ändern könnten, dass eine Annäherung der beiden Standpunkte, ohne Preisgabe der österreichischen Selbständigkeit, möglich würde. Diese Veränderungen im deutschen Reich brauchten durchaus nicht gegen den Nationalsozialismus gerichtet zu sein. Sie konnten eine Normalisierung des nationalsozialistischen Revolutionszustandes auf einer ruhigen Basis darstellen. Ein solcher Zustand, der auch von vielen konservativen Stellen des deutschen Reichs erwartet wurde, hätte die einverständliche Regelung nicht nur der innerösterreichischen, sondern auch der südosteuropäischen Fragen in einem gesamtdeutschen Sinn möglich gemacht. Oesterreich hätte bei einer solchen Entwicklung eine auch für das deutsche Reich überaus nützliche Rolle spielen können.
Schuschnigg wollte über eine ausserordentlich schwierige Zeit hinweg. Er wusste, dass das unter den gegebenen Umständen Konzessionen kostete. Aber er wollte sich die Wege in die Zukunft in keiner Weise verbauen lassen.
An einer nicht zu fernen Entwicklungsstufe sah der österreichische Bundeskanzler die Möglichkeit zur Verwirklichung seiner Reichsgedanken, in denen auch der monarchistische Gedanke eine wesentliche Rolle spielte, ebenso wie die Ueberzeugung, dass er letzten Endes das Rezept finden würde, die Rechte der kleinen Nationen im mitteleuropäischen Raum zu sichern und ihnen Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen.
Er unterschätzte bei dieser Ueberlegung den deutschen Willen zum Machtstaat. Er verkannte den Begriff der Nation, wie er vom Nationalsozialismus geprägt wird. Es gibt nicht »Deutsche«, sondern nur das deutsche Volk, »die Volksgemeinschaft«. Es gibt keine Interessen, keine Bedürfnisse einzelner Deutscher, sondern nur ein Gesamtinteresse des deutschen Volkes. Das deutsche Volk aber wird repräsentiert durch die nationalsozialistische Partei. Das Interesse des deutschen Volkes ist das Interesse der nationalsozialistischen Partei. Was das Interesse der nationalsozialistischen Partei zu sein hat, bestimmt der Führer dieser Partei. (Hier drängt sich einem die russische Parallele auf: Das russische Interesse ist das Interesse der russischen Arbeiter und Bauern. Die russischen Arbeiter und Bauern werden repräsentiert durch die kommunistische Partei. Das Interesse des Proletariats ist das Interesse der Partei. Was das Interesse der Partei ist, bestimmt Stalin.) Schuschnigg verstand unter Volkspolitik den Ausgleich zwischen den Interessen der einzelnen Gruppen, aus denen sich das Volk zusammensetzt. Das sind Parteien, das sind Stände, das sind Stämme, das sind Länder. Dieser Ausgleich der Interessen wäre so zu suchen, dass unter Berücksichtigung der äusseren Lage die Vorwärts- und Aufwärtsentwicklung der Gesamtheit des Volkes oder besser der Gesamtheit der Staatsbürger gefördert würde.
Der Nationalsozialismus sieht das Volk, die Volksgemeinschaft aus einem ganz anderen Gesichtswinkel. Für ihn heisst Volkspolitik, das anordnen, was man als Führer für die Volksgemeinschaft für richtig und förderlich hält. Die Volksgemeinschaft ist in sich nicht differenziert. Es gibt keine Sonderaufgaben und keine Sonderbegabung, sondern nur gleiche Aufgaben. Das hat Hitler in einer Rede nach der Eroberung Oesterreichs klar ausgesprochen. In Berchtesgaden kam Hitler während der Mahlzeit auf dieses Thema zu sprechen. Er sagte, die Kraft des Gemeinsamen sei im deutschen Volk heute so stark, das sich jeder einzelne gerne für die Volksgemeinschaft opfere. Dieser Gemeinschaftsgeist und dieser Verzicht auf die Einzelexistenz sei so gross, dass er die alten Bindungen, wie sie etwa in der Familie vorhanden seien, leicht überwinde.
Er erzählte als Beispiel ein Erlebnis, das er gehabt habe, als er die Angehörigen der deutschen Matrosen sah, die einem Bombenanschlag in Spanien zum Opfer gefallen waren. Die Mütter hätten den Schmerz über den Verlust ihrer Söhne, im Bewusstsein, dass sie im Dienst der Volksgemeinschaft gefallen sind, leicht überwunden. Die Schwestern, die im »Bund deutscher Mädchen« stehen, hätten stärker als die Trauer, den Stolz empfunden, dass ihre Brüder ihr Leben als Opfer für die Volksgemeinschaft dargebracht haben. Nur die Bräute seien von wildem Schmerz geschüttelt worden. Hier sei eben der natürliche Trieb der Liebe im Augenblick stärker. Aber auch sie hätten sich in der Kraft des Gemeinsamen wiedergefunden.
Alles ist, nach der Auffassung des Nationalsozialismus, dem unterzuordnen, was die Gemeinschaft verlangt, was der Gemeinschaft dient. Der Führer aber hat vom Volk die Legitimation, Zielrichtung, Aufgabe und Weg anzuordnen. Seine Legitimation ist umfassend. Er kennt keine Verfassung. (Formaliter ist heute noch die Verfassung der vielgeschmähten Weimarer Republik in Kraft.) Er ist, wie er nach dem 30. Juni 1934 vor dem Reichstag selbst erklärte, in bedrohsamen Augenblicken auch oberster Richter und Herr über Leben und Tod. Er ist im Stande, illegal Geschehenes nach der Tat durch sein Wort zu legalisieren.
Diese völlige Umwandlung des Begriffes »Volk« hatte Dr. Schuschnigg nicht in seiner ganzen Bedeutsamkeit zur Kenntnis genommen. Er dachte sich das Volk so, wie man es sich im deutschen Raum seit eh und je vorgestellt hatte. Er hatte das geistige Reich der Deutschen vor Augen. Er sah nicht, dass die Identifizierung der beiden Begriffe Volk und Staat, von denen er wusste, dass sie nicht gleichzusetzen sind, dem Nationalsozialismus bereits gelungen war. Allerdings durch eine völlige Abwandlung des Inhalts der beiden Begriffe, – wenn man will, durch eine Vergewaltigung.
Das sogenannte Abkommen von Berchtesgaden erhielt erst zwei Tage später Rechtskraft. Der österreichische Bundeskanzler verpflichtete sich lediglich für seine Person. Er erklärte sich bereit, dem Bundespräsidenten so über die deutschen Vorschläge zu berichten, dass mit einer Zustimmung auch seinerseits gerechnet werden konnte.
Der Grund, der Dr. Schuschnigg dazu veranlasste, die Berchtesgadener Forderungen für seine Person zu akzeptieren, lag einerseits in der Ueberzeugung, dass die deutsche Garantie unter den gegebenen Verhältnissen eine unerlässliche Grundlage der Sicherung des österreichischen Staatswesens sei. Das umsomehr, als die innerpolitische Entwicklung und der italienische Ratschlag nach einem Ausgleich drängten. Andrerseits war er sich darüber im Klaren, dass eine gewaltsame Auseinandersetzung im besten Fall zu einem grossen Krieg geführt hätte, in dem Oesterreich der Kriegsschauplatz gewesen wäre. Hitler selbst stellte an Schuschnigg die Frage: »Wollen Sie, dass aus Oesterreich ein zweites Spanien wird?«
Auch über die Gefahr und die Möglichkeit eines europäischen Krieges sprach Hitler in Berchtesgaden ausführlich zu Schuschnigg. Er umriss die aussenpolitische Lage des Reiches und charakterisierte die europäischen Staaten.
Das englische Imperium hält Hitler für einen tönernen Koloss. Die Dominions würden in einem Kriegsfall in Europa nicht auf Seiten des Imperiums stehen. In den einzelnen Teilen dieses Reiches habe sich ein nicht zu unterschätzender Wille zur Selbständigkeit entwickelt, der insbesondere in dem Augenblick in Erscheinung treten würde, in dem man an die Dominions die Forderung stellen würde, für eine Sache in einen Krieg einzutreten, die das englische Imperium nicht direkt und sie selbst überhaupt nicht berühre. Er hielt den Zerfall des englischen Weltreichs für möglich – im Falle schwerer kriegerischer Erschütterungen sogar für wahrscheinlich.
Frankreich sei, so meinte Hitler, infolge seiner inneren Verwirrung und Zerklüftung, ohnmächtig. Die Rolle Frankreichs in der europäischen Politik sei, wenn nicht ausgespielt, so doch wesentlich reduziert.
An der Freundschaft mit Italien wolle er unbedingt festhalten. Darüber hinaus sei Mussolini auf die Freundschaft mit Deutschland angewiesen.
Er könne in der geschwächten Lage, in der er sich nach dem abessinischen Krieg und der spanischen Auseinandersetzung befinde, auf die Freundschaft des starken deutschen Reiches auf keinen Fall verzichten. Den Kampfwert der italienischen Armee schätzte er ausserordentlich gering ein. In einem Konfliktsfall, so sagte er, würden 100.000 deutsche Soldaten genügen, um die italienische Armee über den Haufen zu werfen. Welchen Eindruck diese Aeusserung später auf den italienischen Regierungschef machte, werde ich noch erzählen.
Das Résumé dieser aussenpolitischen Rundschau gipfelte in der Feststellung, dass Deutschland stark und seine Position gesichert sei. Das Reich brauche nicht mehr untätig zuzusehen, wenn irgendwo in der Welt deutschen Volksangehörigen irgend ein Leid geschehe.
Das Mittagessen nahmen die Oesterreicher als Gäste Hitlers ein. Die Tischgespräche waren höflicher Art. Hitler erzählte, in Hamburg sollte ein Tunnel gebaut werden. Daneben bestehe auch die Möglichkeit eines Brückenbaues, der allerdings erheblich teurer sei. Er werde aber die Brücke bauen lassen, damit Deutschland eine längere Brücke habe als die Amerikaner, die derzeit die grösste Brücke der Welt besässen. Ebenfalls in Hamburg werde er eine grössere Zahl von Wolkenkratzern bauen lassen, damit die Amerikaner, wenn sie nach Europa kommen, sehen, dass das deutsche Volk auch so viel könne, wie sie.
Hitler ist davon überzeugt, dass er dem deutschen Volk von der Vorsehung gesendet ist. Das ging aus seinen Reden klar hervor.
»Ich bin den steilsten Weg gegangen«, sagte er, »den je ein Deutscher zurückgelegt hat.«
Nach seiner Meinung ist das deutsche Volk das tüchtigste und stärkste der Welt.
Die Gespräche entbehrten, wie Dr. Schmidt erzählte, auch nicht persönlicher Höflichkeit. Hitler erzählte, dass demnächst ein neues Kriegsschiff vom Stapel gelassen werde, das den Namen des österreichischen Admirals Tegetthoff erhalten sollte. (Tegetthoff ist in die Ruhmesgeschichte der österreichischen Armee eingegangen, weil er 1866 die Italiener bei Lissa im adriatischen Meer vernichtend geschlagen hatte.) Zu diesem Stapellauf wollte Hitler neben Admiral Horthy auch Bundeskanzler Schuschnigg einladen. Er besprach das eine und andere Detail der Feierlichkeit.
Es ist richtig, dass Hitler im Verlauf des Berchtesgadener Gesprächs auch die Möglichkeit einer Volksabstimmung erwähnte. Er stellte sich ein solches Plebiszit aber so vor, dass die Wahl zwischen Schuschnigg oder Hitler zu treffen gewesen wäre. Hätte, so ist nachträglich zu fragen, das deutsche Reich eine Wahlniederlage seines Staatsoberhauptes, hätte der Nationalsozialismus eine Wahlniederlage seines Führers ertragen? Welche Mittel hätte das deutsche Reich, hätte der Nationalsozialismus anwenden müssen, um auch nur die entfernte Möglichkeit einer solchen Niederlage auszuschalten?
Das sind Details. Die Besprechungen in Berchtesgaden waren in ihrer Summe nichts anderes als die Bekanntgabe und Endformulierung der Bedingungen, unter denen Hitler bereit war, nicht in Oesterreich einzumarschieren. Die Entscheidung sollte am gleichen Tag fallen. Schuschniggs Erfolg bestand darin, dass er die Bedingungen erleichterte und den Termin um einige Tage hinausschob. Um dieses Ziel zu erreichen, verhandelte man stundenlang. Um dieses Ziel bemühte sich auch Staatssekretär Dr. Schmidt, der im neuen deutschen Reichsaussenminister einen durchaus verständigen und vernünftigen Verhandlungspartner gefunden hatte.
Ich war nach der Lektüre des Vertragspapiers naturgemäss sehr konsterniert. Die Vereinbarungen gingen weit über das hinaus, was ich mit Dr. Seyss vereinbart hatte. Die Ernennung des Dr. Seyss zum Sicherheitsminister musste eine schwere Erschütterung der Stimmung in den Kreisen der vaterländischen Front mit sich bringen.
Wer die österreichische Gendarmerie und Polizei kannte, musste wissen, dass die Bestellung des nationalsozialistischen Vertrauensmannes zum Sicherheitsminister die Gemüter auch der treuen Beamtenschaft ausserordentlich verwirren musste. Die Polizei und die Gendarmerie waren seit vier Jahren im schwersten innerpolitischen Kampf gestanden und hatten die Hauptlast der Auseinandersetzungen zu tragen gehabt. Wir wussten, dass in der Wiener Polizei und in der Gendarmerie nationalsozialistische Zellen bestanden. Trotzdem war der Gesamtapparat bei geradliniger Führung absolut verlässlich. Er war im Februar 1938 sicherlich verlässlicher als im Juli 1934. Die abgekämpfte Exekutive in diesem Augenblick, in dem es aller Welt klar war, dass der ganze Staat unter dem schwersten deutschen Druck stand, einem Nationalsozialisten als oberstem Chef zu unterstellen, bedeutete eine Katastrophe. Die vaterländische Bevölkerung musste, ob mit Recht oder mit Unrecht, das Gefühl haben, dass die Polizei nicht mehr auf ihrer Seite stehe.
Ich machte Dr. Schuschnigg auf diese Gefahr aufmerksam. Die übrigen Punkte des Uebereinkommens schienen mir im Vergleich zu diesem einen Punkt von geringerer Bedeutung zu sein. Ich hatte schon lange vorher gesagt, dass eine Berufung des Dr. Seyss in die Regierung richtig gewesen wäre. Statt Minister Glaise-Horstenau, der lediglich Interventionen verfasste und als Briefkasten fungierte, in den die Regierung die Briefe steckte, die sie an die Nationalen gelangen lassen wollte und umgekehrt, einen verantwortlichen Nationalen im Kabinett zu haben, dessen eigenes Wort band und der über eine eigene Gefolgschaft verfügte, die unter allen Umständen zu ihm hielt, auch wenn er den plausiblen nationalen Weg aus Staatsraison verlassen musste, (was unvermeidlich war), schien mir unter den gegebenen Verhältnissen immer noch richtig zu sein. Diesem Vertrauensmann der nationalen Kreise aber das Sicherheitsministerium anzuvertrauen, hielt ich für einen schweren Fehler, weil das unsere Gefolgschaft einschüchtern und die Nationalsozialisten zu Aktionen ermutigen musste, die die Gefahr des Bürgerkrieges zu einer permanenten machten.
Der Bundeskanzler antwortete mir, er wisse genau, um was es sich handle, aber hier gelte es nun lediglich, anzunehmen oder abzulehnen. Im Falle der Annahme müsse auch dieser Punkt akzeptiert werden. Im Falle der Ablehnung sei er genau so wie alle anderen Punkte illusorisch.
Es wurde besprochen, dass der Bundeskanzler am Nachmittag, gemeinsam mit Dr. Schmidt, den Bundespräsidenten besuchen sollte. Ich erhielt den Auftrag, Dr. Seyss zu mir zu bitten, um das Programm für die weitere Arbeit festzulegen. Der Bundeskanzler nahm an, dass Dr. Seyss vom Inhalt des Abkommens noch keine Kenntnis habe.
Ich ging mit Dr. Schmidt durch den regnerischen Sonntagmorgen zu seiner Wohnung in der Prinz-Eugen-Strasse. Die Passanten erkannten uns, grüssten, blieben stehen, sahen uns nach. Es mag keiner unter ihnen gewesen sein, der nicht bange oder gespannt gerne die Frage gestellt hätte: »Was ist in Berchtesgaden geschehen?«
Dr. Seyss war erst gegen Mittag zu erreichen. Ich lud ihn ein, mit mir zu essen. In kurzen Andeutungen erzählte ich ihm den Sinn des Berchtesgadener Gesprächs, ohne auf einzelne Abmachungen einzugehen, mehr stimmungsmässig als real. Ich hatte den sicheren Eindruck, dass er vom Ausgang der Aussprache und dem Inhalt des Abkommens noch keine Kenntnis hatte. Dr. Seyss versuchte nun, mir Hitlers Haltung psychologisch zu erklären. Er meinte, der Reichskanzler habe nun endlich einmal Gelegenheit gehabt, alles das, was sich in ihm seit Jahren aufgestaut hatte, von der Seele zu reden. Jetzt, nach diesem Gewitter, sei die Atmosphäre gereinigt. Jetzt könne eine vernünftige Arbeit beginnen. Die Drohungen nahm er als Drohungen, die sicherlich nicht realisiert würden. Er glaubte nach seinen Informationen an die Verständigungsbereitschaft Hitlers, die so weit gehe, dass dem österreichischen Standpunkt genügend Rechnung getragen werden könne. Das Gespräch, dem in seinem letzten Teil auch Dr. Schmidt beiwohnte, zeigte die Bereitschaft des Dr. Seyss zu loyaler Mitarbeit. Es war nie davon die Rede, dass sich Dr. Seyss etwa nicht auf den Boden der österreichischen Selbständigkeit stellte. Auch jetzt wiederholte er das, was er mir und vielen anderen zu wiederholten Malen gesagt hatte: Er verurteile die »Gau-8«-Politik, womit gemeint war, dass er eine Gleichschaltung Oesterreichs ablehne.
Die Besprechung mit dem Bundespräsidenten gestaltete sich sehr schwierig. Miklas weigerte sich, sein Einverständnis zu geben. Er stellte fest, dass das Ultimatum mit der Würde Oesterreichs als souveräner Staat nicht vereinbar sei. Nach langen Auseinandersetzungen zwischen ihm, Schuschnigg und Schmidt, änderte er seinen Standpunkt ab. Er schlug vor, das Ultimatum zwar anzunehmen, aber zugleich die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass die österreichische Regierung unter der Drohung der Gewalt gezwungen worden sei, das Vertragsinstrument zu unterzeichnen. Dieser Vorschlag war schwer zu verwirklichen, weil er gewisse Inkonsequenzen in sich trug. Eine Publikation der Umstände, unter denen in Berchtesgaden verhandelt worden war, musste naturgemäss den Zorn Hitlers erst recht reizen. Bevor er sich endgültig entschied, berief der Bundespräsident zu seiner Beratung einige Herren zu sich, zu denen er besonderes Vertrauen hatte. Es waren dies der ehemalige Bundeskanzler und Autor der Verfassung von 1934, Dr. Otto Ender, der Bürgermeister von Wien, Richard Schmitz, der Reichsbauernführer und Landeshauptmann von Niederösterreich, Joseph Reither, der Präsident des Bundes der Gewerbetreibenden, Ing. Julius Raab und der Präsident der Arbeiterkammer, Josef Staud.
Auch der Bundeskanzler berief diese Persönlichkeiten zu sich, um sich mit ihnen zu beraten. Er wollte das Einverständnis aller ständischen Gruppen einholen, bevor er sich selbst dazu entschloss, die Kanzlerschaft weiter zu behalten. Die Annahme des Ultimatums von Berchtesgaden erfolgte so nach ausdrücklicher Zustimmung durch den Bundespräsidenten und die Hauptrepräsentanten der ständischen Gruppen.
Dr. Schmidt erzählte mir am nächsten Tag folgendes: Als Dr. Schuschnigg seinerzeit, nach dem tragischen Tod seiner Frau in seine Wiener Wohnung zurückgekehrt war, die sich damals im Landesverteidigungsministerium befand, sass er, menschlich zutiefst erschüttert und zerwühlt auf einem Stuhl, über dem ein Bild hing. Während des Gesprächs betrachtete Dr. Schmidt das Bild genauer. Es stellte die Landschaft bei Linz dar, in der sich die Tragödie abgespielt hatte.
Als der Bundespräsident den Bundeskanzler und Dr. Schmidt nach ihrer Rückkehr aus Berchtesgaden in seiner Wohnung in der Hainburgerstrasse empfing, sass der Bundeskanzler, während er seinen Bericht erstattete, unter einem Bild, dessen Schildchen berichtete »Landschaft bei Berchtesgaden«.
Dr. Schuschnigg erklärte seine Auffassung über die Lage nach Berchtesgaden seinen Mitarbeitern gegenüber so: Entweder werde das Abkommen angenommen, dann sei er bereit, die Kanzlerschaft weiterzubehalten und dafür zu sorgen, dass der Weg seiner Politik ein österreichischer Weg bleibe, auch wenn sich das Verhältnis zu Deutschland verbessere, und der akute Kriegszustand gegen den Nationalsozialismus nicht mehr in Erscheinung trete. Die zweite Möglichkeit liege darin, den Vertrag abzulehnen. Unter dieser Voraussetzung würde er vorher seine Demission geben, um einer anderen Regierung Platz zu machen, die die Aufgabe zu übernehmen hätte, einen bedingungslosen Abwehrkampf zu führen. Er selbst hielt sich an das Wort, das er in Berchtesgaden verpfändet hatte, gebunden. Er hielt es darüber hinaus auch für richtig, die deutschen Forderungen zu erfüllen, um dadurch einem offenen Kampf des Reiches gegen Oesterreich auszuweichen. Für den Fall, dass trotz seiner Nachgiebigkeit und trotz getreuer Erfüllung der Vertragspunkte das deutsche Reich einen Angriff auf Oesterreich unternehme, glaubte er von der Seite Italiens sowohl als auch von der Seite der Weststaaten starke moralische, gegebenen Falles auch effektive Hilfe zu erhalten.
Einem Generalangriff des deutschen Reiches, der auf mehreren Linien zugleich zu erwarten war: Aufstand im Innern, hemmungslose Propaganda durch die deutsche Presse, den deutschen Rundfunk und ins Inland gebrachte Druckschriften, Einmarsch der deutschen Wehrmacht oder Einmarsch der österreichischen Legion, hielt er bei aller hohen Einschätzung der Widerstandskräfte im Innern, das Land in der damaligen europäischen Situation für nicht gewachsen.
Mir fiel die schwierige Aufgabe zu, den Funktionären der vaterländischen Front die Situation zu erklären. Ich sollte dafür sorgen, dass die Stimmung und die Zuversicht nicht verloren gehen. Ich stützte mich in den Mitteilungen, die ich an die verschiedenen Amtsstellen ausgab, auf diejenigen Punkte des Berchtesgadener Papiers, die positiv zu deuten waren:
Diese Kommentare klangen naturgemäss nicht so überzeugend, wie es die aufgescheuchte Stimmung unserer Anhänger erfordert hätte. Die negativen Seiten des Berchtesgadener Papiers sollten noch nicht bekanntgegeben werden. Dadurch wurde allen Gerüchten freier Lauf gelassen.
Die publizistische Auswertung der Situation nach Berchtesgaden war für den Bundespressedienst eine schwere Aufgabe. Dazu kam, dass die Bevölkerung über die tatsächliche Lage im Unklaren gelassen wurde. Die Massnahmen, die ausgemacht worden waren, wurden der Oeffentlichkeit tropfenweise eingegeben. Die Unsicherheit stieg dadurch zusehends. Als nach vielen Tagen in einem Communiqué bekanntgegeben wurde, dass nun alle Massnahmen, die mit Berchtesgaden in Zusammenhang stehen, veröffentlicht seien, glaubte das kein Mensch mehr. Dazu kam, dass die ausländische Presse ziemlich gut informiert war und trotz aller Verbote doch in die Hände des Publikums kam.
Der Amtswalter der vaterländischen Front bemächtigte sich eine tiefe Niedergeschlagenheit, die bis zur Reichstagsrede Hitlers noch grösser wurde. Von dieser Depression waren nicht nur untere Stellen erfasst, sondern auch höhere Funktionäre, insbesondere einzelne Landesführer.
Im ganzen Bundesgebiet begannen nun Demonstrationen nationalsozialistischer Anhänger. Das steigerte die Begehrlichkeit der »volkspolitischen Referenten«, die ihrerseits Angst hatten, in einen vollkommenen Gegensatz zu den illegalen Parteigrössen zu kommen. Die Illegale aber befand sich nach Berchtesgaden in einer sonderbaren Verfassung.
Der erste Eindruck, den die Berchtesgadener Zusammenkunft auf die illegale Partei machte, war ein niederschmetternder. Man hörte die Meinung, dass Hitler die österreichischen Nationalsozialisten verraten habe. Ein führender österreichischer Nationalsozialist sagte mir sehr missmutig: das, was hier geschehen sei, sei eine echte »Hitlerlösung«. Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass Hitler für das Gefühl der radikalen Parteigenossen zu nachgiebig sei.
Freilich war, insbesondere in den Kreisen der alten Parteigarde, auch das gläubige Vertrauen vorhanden, mit dem die echten Nationalsozialisten kritiklos und gefolgschaftsbereit jede Handlung ihres Führers hinnehmen. Alles, was er tut, sind Handlungen eines Gottesgesandten, eines »weltlichen Erlösers«, wie ihn eine österreichische Zeitung nach dem Umsturz bezeichnet hat.
Schuschnigg hatte in Berchtesgaden den Versuch unternommen, Hitler dazu zu bringen, ihm den auf Oesterreich Bezug nehmenden Passus seiner Reichstagsrede bekanntzugeben. Hitler beschränkte sich auf die Feststellung, dass er für den Fall der Unterzeichnung des Abkommens »freundlich« sprechen werde.
Wir erwarteten die Reichstagsrede mit grosser Spannung. Zum ersten Mal wurde eine Rede Hitlers im vollen Umfang durch den österreichischen Rundfunk verbreitet. Es war auch die Erlaubnis gegeben worden, die Uebertragung gemeinschaftlich anzuhören. Nach Schluss der Rede bildeten sich überall im ganzen Bundesgebiet, von diesen Gemeinschaftsübertragungen ausgehend, Umzüge. In vielen Fällen wurden Rufe »Heil Hitler – Heil Schuschnigg« laut. Im Allgemeinen war die Stimmung nach dieser Rede so, dass sie in unseren Kreisen einen neuerlichen Stimmungseinbruch herbeiführte und die Nationalsozialisten, die in den ersten Tagen sehr unsicher und kopflos gewesen waren, neuerlich aufrichtete.
Hitler liess sich in seiner Rede vor dem deutschen Reichstag alle Möglichkeiten offen. Der Dank, den er dem österreichischen Bundeskanzler vor aller Weltöffentlichkeit abstattete, und die Feststellung, dass es sich in Berchtesgaden um Vereinbarungen gehandelt habe, die als eine Erweiterung des Abkommens vom 11. Juli 1936 aufzufassen seien, konnte den Schluss offen lassen, dass es Hitler mit diesem Abkommen ernst sei, und dass er den Willen habe, die Unabhängigkeit Oesterreichs zu respektieren. Freilich war das, was er sagte, weniger als das, was wir uns unter einer freundlichen Rede vorstellten. Freundlich konnten diese Wendungen nur in einem relativen Sinn sein, wenn man sie mit den Ausführungen verglich, die der deutsche Reichskanzler dem damaligen englischen Aussenminister Eden widmete.
Der wesentliche Passus seiner Rede war nun allerdings der, in dem Hitler von den zehn Millionen Deutscher sprach, die an den Grenzen des Reiches leben und wegen ihres Bekenntnisses zum Deutschtum den grössten Unterdrückungen ausgesetzt seien.
Dieser Passus wandte sich offensichtlich trotz des getroffenen Uebereinkommens, auch gegen Oesterreich, richtete sich freilich auch gegen die Tschechoslowakei, gegen Polen, gegen Ungarn, gegen Dänemark, gegen Belgien, Rumänien – und gegen Italien.
Diese zehn Millionen Deutscher ausserhalb der Grenzen des damaligen deutschen Reiches bedeuteten ein umfassendes Mitteleuropaprogramm des Führers des deutschen Staates. Diese Wendung zeigte, dass Oesterreich nur ein Anfang sein sollte, ein Glied in der grossen Kette, dass das deutsche Reich nun daran gehen werde, unter der Parole der Befreiung seiner Volksgenossen in fremden Staaten ein neues aussenpolitisches Programm abzuwickeln, das zu einer Umgestaltung Europas führen musste.
Es ist begreiflich, dass diese Ankündigung die Nationalsozialisten Oesterreichs siegesgewiss machte, denn sie wussten, dass es nur durch einen gewaltsamen Eingriff des deutschen Reiches möglich sein würde, die österreichischen Verhältnisse in ihrem Sinne umzugestalten. Sie selbst waren ziffernmässig viel zu schwach, um je die Aussicht zu haben, auf irgend einem selbständigen Weg in Oesterreich zur Macht zu kommen.
Es ist weiterhin begreiflich, dass diese Rede unsere Anhänger deprimierte. Sie sahen, dass, wenn auch wahrscheinlich ohne ursächlichen Zusammenhang, der englische Aussenminister unmittelbar nach der Rede des deutschen Reichskanzlers zurücktrat, sie sahen die krisenhafte Situation in Frankreich und erstaunten über das Schweigen Italiens. Sie wussten, dass Oesterreich einem deutschen Gewaltakt nicht gewachsen war. Wie konnte sich die Situation entwickeln? Die österreichische Regierung schwieg.
Der Bundeskanzler zögerte, die Massnahmen rasch durchzuführen, die in Berchtesgaden vereinbart worden waren. Nach meiner Ueberzeugung hätte man unmittelbar nach Berchtesgaden die neue Machtverteilung durchführen müssen. Es hätte keine Rolle gespielt, wenn man den Nationalsozialisten in den Ländern und Gemeinden eine Anzahl von Mandaten rasch übergeben hätte. Das hätte die Sachlage geklärt und die neue Situation in allen Instanzen für jedermann klar in Erscheinung treten lassen.
Die Regierungsumbildung wurde hinausgeschoben. Die Rede des Bundeskanzlers im Bundestag lag zeitlich weit von der Rede Hitlers im Reichstag, noch weiter von Berchtesgaden.
Die Intervalle, die angefüllt waren mit Demonstrationen, mit der Bekanntgabe von Einzelmassnahmen, zermürbten den Widerstandsgeist unserer Anhänger, die durch einen fünfjährigen Kampf, in dessen Verlauf sich zwei Bürgerkriege ereignet hatten, erschöpft waren, noch weiter.
Der Bundeskanzler mag seine guten Gründe für das Hinausziehen der Aktionen (Regierungsumbildung, Klärung des neuen Verhältnisses im Innern und Rede im Bundestag), gehabt haben. Ich nehme an, dass diese Gründe aussenpolitischer Natur waren und sich auf Zusagen fremder Mächte stützten, die ein Hinauszögern der österreichischen Frage für notwendig hielten, um inzwischen ihrerseits verschiedene Aktionen, die in Schwebe waren, zu Ende zu führen.
Endlich entschloss sich Dr. Schuschnigg, die Regierungsumbildung durchzuführen und vor die Oeffentlichkeit zu treten.
Die Rede des Bundeskanzlers im Bundestag war in ihrer Wirkung ungeheuer. Sie riss die Stimmung des ganzen Landes noch einmal hoch, zeigte noch einmal die Kräfte, die hinter der Regierung standen und war ein verheissungsvoller Auftakt.
Die Nationalsozialisten haben die Behauptung aufgestellt, Schuschnigg hätte das Uebereinkommen von Berchtesgaden gebrochen. Die Wahrheit lautet anders. Das Uebereinkommen von Berchtesgaden ist vom deutschen Reichskanzler und Führer der nationalsozialistischen Partei, Adolf Hitler, gebrochen worden.
Wenige Tage nach der Rückkehr des Bundeskanzlers wurde der ehemalige Hauptmann des Bundesheeres, Klausner, mit je einer Persönlichkeit aus allen Bundesländern nach Berchtesgaden berufen. Obwohl eindeutig vereinbart worden war, dass die illegalen Organisationen aufzulösen seien, ernannte Hitler den Hauptmann Klausner an Stelle des abgetretenen Hauptmanns Leopold zum Landesleiter der illegalen Partei in Oesterreich und gab ihm für jedes Bundesland einen Gauleiter zur Seite. Diese Massnahme Hitlers steht in einem absoluten Widerspruch zum Wortlaut und Sinn des Papiers von Berchtesgaden. In die neue Landesleitung wurde Herr Odilo Globotschnigg als Stabsleiter für die Organisation und Dr. Friedrich Rainer als politischer Stabsleiter berufen. Die Person des Dr. Seyss-Inquart, der nach den Vereinbarungen von Berchtesgaden als alleinige Verbindungsperson zwischen staatlichen und Parteistellen hätte fungieren müssen, wurde übergangen. Seyss äusserte mir gegenüber grosses Missvergnügen über diese Brüskierung seiner Person.
Die neuernannten Gauleiter versammelten sich wenige Tage später zu einer Sitzung in Wien, in der sie den Beschluss fassten, die bisherigen Parteiformationen in legale Formationen zu überführen. Dieser Beschluss der Parteiführung wurde dem Sicherheitsminister Dr. Seyss durch ein Schreiben des Dr. Friedrich Rainer mitgeteilt. Ich habe diesen Brief gelesen. Dr. Seyss übergab ihn mir zur Lektüre anlässlich der letzten Konferenz der Sicherheitsdirektoren, die unter seinem Vorsitz stattfand, und zu der ich als Generalsekretär der vaterländischen Front traditionsgemäss eingeladen worden war. In diesem Brief wurden wieder neuerliche Bedingungen genannt.
Man machte die Auflösung der illegalen Formationen von der vorherigen Uebergabe von Mandaten in die Gemeinde- und Landtage, die berufsständischen Körperschaften, die vorberatenden Organe der Bundesgesetzgebung und von weitgehenden Zugeständnissen auf dem Gebiete des Vereins- und Pressewesens, sowie der Amtswalterstellen in der V.F. und ihren Werken abhängig.
Ich machte Dr. Seyss darauf aufmerksam, dass es unmöglich sei, nun wiederum vor neue Bedingungen gestellt zu werden, dass es sich ja bei der Auflösung der Illegale um nichts anderes handelte, als um die Erfüllung der in Berchtesgaden klar vereinbarten Dinge.
Dieser Brief, den der nunmehrige Gauleiter von Salzburg und damalige politische Stabschef der neuen Landesleitung, Dr. Friedrich Rainer, im Auftrag der neuen Landesleitung an Dr. Seyss schrieb, stellt zwei Tatsachen fest:
Es zeigte sich übrigens, dass diese neue Landesleitung nicht im Stande war sich durchzusetzen.
Die Ernennung der neuen Landesleitung bedeutete den Sieg der jungen S.S.-Führer, die sich der Person des Dr. Seyss als Zwischenführer bedient hatten, über den Hauptmann Leopold. Globotschnigg, Rainer, Kaltenbrunner, Mühlmann waren S.S.-Funktionäre, während der Kreis um Hauptmann Leopold in der Hauptsache der S.A. angehörte. Was hier geschah, war ebenso eine Aktion gegen Oesterreich wie eine Aktion der S.S. gegen die S.A.
Dr. Seyss war in diesem Spiel, obwohl er persönlich geachtet wurde, nicht mehr als eine Schachfigur. Das Gesetz des Handelns lag bei seinen Mitarbeitern, die nun die neue Parteileitung in der Hand hatten, deren Chef, Klausner, aber von ihnen geradeso geleitet wurde wie Dr. Seyss. Es besteht kein Zweifel darüber, dass diese Gruppe von Personen ein Doppelspiel trieb. Sie liess den Minister im Kabinett und bestärkte ihn, seine Politik der Loyalität weiterzutreiben, – zugleich aber machte sie mit der Partei die radikale Politik, um die innere Befriedung, die der Kanzler anstrebte, unmöglich zu machen. Sie übernahm dabei kein grosses Risiko. Die Exekutive der Staatsgewalt lag ja in den Händen ihres Freundes Seyss.
Die Gefahr, in der sich Dr. Seyss mit seiner Politik befand, sah ein gründlicher Kenner der nationalsozialistischen Methoden, der Botschafter Franz von Papen, ganz klar. Am 9. März machte er, der ja seinen Wiener Posten verlassen sollte, mir einen Abschiedsbesuch. Bei dieser Gelegenheit sprach er die Hoffnung aus, dass es nun gelingen werde, zur inneren Ruhe in Oesterreich zu kommen. Ich sagte ihm, ich sähe für Minister Seyss grosse Schwierigkeiten voraus. Das bestätigte mir Herr von Papen eifrig und sagte: »Seyss muss sich eine Sonderpolizei gegen die Partei schaffen, sonst wird er mit ihr nicht fertig werden. Göring hat das ebenso gemacht.«
In Oesterreich wusste es jedes Kind, dass sich eine Verlagerung der innerpolitischen Kräfteverteilung vorbereitete. Es war deshalb selbstverständlich, dass sehr viele Menschen den Versuch unternahmen, in Hinblick auf geänderte Verhältnisse eine gewisse Vorleistung zu erbringen. Zu diesen Leuten gehörten namentlich auch die volkspolitischen Referenten, die bisher keine Führerrolle in der Partei gespielt hatten. Sie glaubten, dass es nun für sie möglich sein werde, sich an die Spitze der ganzen nationalen Opposition zu stellen. Sie wussten es noch nicht, dass sie in den Augen der Partei nichts anderes als Werkzeuge waren, die man im Augenblick benutzte, um sie im nächsten Augenblick beiseite zu werfen.
Unter der Patronanz der volkspolitischen Referenten wurden nun in den einzelnen Ländern Aufmärsche veranstaltet, die die Masse der Anhänger des Nationalsozialismus zeigen sollten. Es kam tatsächlich in einigen Städten zu grossen Kundgebungen, wie in Salzburg, in Graz, in Linz und in Innsbruck.
Die Anhänger der vaterländischen Front wollten bei diesem allgemeinen Bedürfnis nach Kundgebungen nicht zurückstehen. Deshalb wurden auch durch die Front Kundgebungen in den gleichen Orten veranstaltet, die gleichviel und mehr Menschen auf die Strasse brachten als die Nationalen. Es entstand ein wilder Demonstrationswettbewerb, der die Unruhe, die allenthalben vorhanden war, noch mehr steigerte. In einzelnen Orten hatten die Kundgebungen der vaterländischen Front mehr Teilnehmer, als wir es für die Verhältnisse der dortigen Gegend vermutet hätten. Das war insbesondere in Villach, in Kärnten und in Salzburg der Fall. In einigen Orten fanden die pro- und contra-Demonstrationen zugleich statt. Die Polizei musste sich bemühen, die feindlichen Gruppen auseinanderzuhalten. Besonders in Leoben war die Lage bedrohlich, weil zur Zeit der nationalen Kundgebung plötzlich ein gewaltiger Zug vaterländischer Arbeiter aus der benachbarten Industriestadt Donawitz erschien. Für einige Zeit schien es unvermeidlich zu sein, dass es zu Zusammenstössen käme. Schliesslich gelang es der Polizei aber doch, sich so zwischen den Gruppen zu postieren, dass sie nicht zueinandergelangen konnten.
Es besteht kein Zweifel darüber, dass die Aktionen der Nationalsozialisten von reichsdeutscher Seite unterstützt wurden. Die einzelnen Aufmärsche erforderten bedeutende Geldmittel, die nur aus Deutschland gekommen sein konnten. Aber nicht nur materielle Unterstützung kam aus dem Reich. Die Haltung der deutschen Presse und des Nachrichtendienstes im Rundfunk war so, dass diejenigen, die sich gegen die Politik der Regierung richteten, der Meinung sein mussten, dass sie im Sinne Hitlers handelten. Bei der grossen Kundgebung der Nationalen in Salzburg waren mehr als tausend Personen aus dem bayrischen Grenzgebiet gekommen.
Die volkspolitischen Referenten überschritten fast überall ihre Kompetenzen. Sie gebärdeten sich bald als legale Stellen der illegalen Partei. Die nationalsozialistische Führung sah in diesen Referaten nichts anderes als eine neue Möglichkeit zur Tarnung. Wenn Hitler den Vertrag von Berchtesgaden ehrlichen Sinnes geschlossen hat, dann ist die Geschichte von Berchtesgaden bis zum 11. März nichts anderes als eine einzige Desavouierung des Führers durch seine Gefolgschaft.
Dr. Seyss bemühte sich, im Zuge dieser Entwicklung seine Position zu wahren und zu befestigen, ohne links oder rechts anzustossen. Er hielt an die Nationalsozialisten in Linz, so wie vorher in Graz, eine Rede, in der er die Bedingungen klarlegte, die an die Zusammenarbeit mit der Regierung gebunden waren. Ich hatte diese Linzer Rede, die auch im Rundfunk übertragen wurde, vorher gelesen. Sie war aus der damaligen Situation heraus betrachtet für die Nationalsozialisten ebenso schwer zu verdauen, wie für die Anhänger der vaterländischen Front. Anlässlich dieser Rede traten zum ersten Mal Funktionäre der illegalen Partei zu einer Veranstaltung zusammen, in der ein Mitglied der Regierung offizielle Mitteilungen, die die Billigung des Bundeskanzlers gefunden hatten, machte. In der Eröffnungsrede, die der volkspolitische Referent von Oberösterreich, Ing. Breitenthaler, hielt, kam ein Passus vor, der ebenso rührend, wie bezeichnend war. Ing. Breitenthaler erzählte, dass er in den ersten Jahren nach dem Krieg gemeinsam mit Adolf Hitler eine Versammlungsreise durch Oberösterreich unternommen habe. Bei dieser Gelegenheit habe ihm Adolf Hitler ein Zitat aus irgend einem berühmten Buch als Leitsatz gegeben. Es ist mir entfallen, um welches Zitat es sich handelte. Und nun sagte der Redner: »Es ergriff mich tief, dass der Führer, der nicht das Glück gehabt hat, eine so gute Bildung genossen zu haben wie ich, in der Literatur doch so bewandert war.« Nach dieser Wendung, die in der öffentlichen Rundfunkübertragung übrigens nicht gesendet worden ist, riss das Uebertragungskabel.
Auf die Linzer Rede des Ministers Dr. Seyss antwortete ich im Auftrag des Bundeskanzlers in einer Radiorede. Ich hatte einen noch schwereren Stand als Dr. Seyss, denn ich war gezwungen, die Zugeständnisse, die den Nationalsozialisten gemacht worden waren, unseren Anhängern plausibel zu machen. Ich nehme an, dass auch meine Rede auf beiden Seiten alles eher als Begeisterung ausgelöst hat.
Das Ausland verfolgte die innenpolitischen Verhältnisse mit gewaltiger Spannung. Die Blätter der Weltpresse waren mit Berichten über Oesterreich angefüllt, in denen Falsches und Richtiges, Wichtiges und völlig Belangloses stand. Die deutsche Presse und der deutsche Rundfunk schrieben trotz des bestehenden Presseabkommens in der gehässigsten Form über Oesterreich.
Mussolini hörte sowohl die Linzer Rede des Dr. Seyss als auch meine Ausführungen im Wiener Radio vom Anfang bis zum Ende an und sagte einem Vertrauensmann, er sei davon überzeugt, dass der Weg, der hier gegangen werde, der richtige sei.
Die Stimmung in der ehemals sozialdemokratischen Arbeiterschaft war in diesen Tagen begreiflicherweise erregt. Für sie stellte sich die Entwicklung so dar, dass nun den Nationalsozialisten durch die Regierung Zugeständnisse gemacht wurden, die der Arbeiterschaft nicht gegeben wurden. Die Arbeiterschaft konnte darauf hinweisen, dass ihre Haltung seit dem Feber 1934 loyal gewesen war. Es ist bestimmt richtig, wenn behauptet wird, dass auch die Sozialdemokraten in den Jahren seit dem Zusammenbruch ihrer Partei keine begeisterten Anhänger und Vorkämpfer des neuen Staates geworden seien. Es ist aber auch ebenso richtig zu sagen, dass die Arbeiterschaft sich bemühte, die neuen Gedankengänge zu begreifen, dass sie doch langsam herankam, um mitzuarbeiten. Gerade im Gewerkschaftsbund hatten die ehemaligen Sozialdemokraten die Erfahrung gemacht, dass es bei ruhiger Mitarbeit möglich war, massgebende Posten zu erhalten. Die Führerschaft, die aus den ehemaligen christlichen Gewerkschaften stammte, hatte noch das Uebergewicht, aber so wichtige Positionen, wie etwa die Stelle eines Chefs der Metallarbeitergewerkschaft, der grössten Gewerkschaft des Landes, wurde, wie mehrere andere massgebliche Stellen, von ehemaligen Sozialdemokraten bekleidet.
Noch fehlten der Arbeiterschaft aber die kulturellen Organisationen, die sie im Feber des Jahres 1934 verloren hatten. Die Arbeiterschaft war der Meinung, dass es ihr nun gelingen könnte, diese Organisationen zurückzugewinnen.
Die nationalsozialistische Propaganda hat die österreichische Arbeiterschaft kurzerhand als Bolschewiken bezeichnet. Jede Aktion zugunsten der Arbeiterschaft wurde der Regierung als ein Hinneigen zu Volksfrontbestrebungen angekreidet. Dabei handelte es sich, weiss Gott, nicht um Bolschewiken, sondern um eine Arbeiterschaft, die eine ausgezeichnete politische Schulung mitgemacht hatte und nun daranging, unter den neuen Verhältnissen und im Rahmen der Grundsätze des neuen Staates eine Stellung zu erobern, die ihr durchaus zukam.
Die Kreise der Arbeiterschaft, mit der wir durch die soziale Arbeitsgemeinschaft (S.A.G.) in Verbindung standen, wurden zahlenmässig immer grösser. In unsere Territorialorganisation rückten immer mehr Arbeiter als Amtswalter ein. In den zahlreichen Sprechabenden und Schulungskursen waren die Vertrauensleute der Arbeiterschaft mit den Grundsätzen des neuen Ständestaates immer mehr vertraut gemacht worden. Sie begriffen, dass der Klassenkampf nicht das geeignete Mittel war, um sich in Oesterreich zu behaupten und durchzusetzen. Sie wussten, dass nur eine enge Volksgemeinschaft die Interessen aller wahren konnte. Die überwiegende Mehrheit der österreichischen Arbeiterschaft aber war antinationalsozialistisch. Man geht nicht fehl, wenn man annimmt, dass wenigstens 80% der österreichischen Arbeiter gegen den Nationalsozialismus waren. Dieser Umstand brachte es mit sich, dass die vaterländische Front im Falle eines Plebiszits auf die Stimmen der Arbeiterschaft rechnen konnte.
In den letzten Tagen wurden Versuche unternommen, in der allgemeinen Erregung einzelne Führer der früheren Partei wieder zur Geltung zu bringen. Diese Versuche gingen von kleinen Gruppen aus, von mechanisch denkenden Politikern und von Interessenten. Die Arbeiterschaft stand in ihrer breiten Masse nicht hinter ihnen. Die Jahre seit dem Zusammenbruch der alten Partei hatten neue Menschen, neue Führer, die das Vertrauen ihrer Kollegen besassen, heranwachsen lassen. Diesen Führern einen erweiterten Wirkungskreis zu bieten, darin bestand die Aufgabe, nicht aber darin, alte Parteifunktionäre zurückzurufen, die halb vergessen waren oder sich selbst geflissentlich von aller Politik zurückhielten. Dass freilich alle ehemaligen sozialdemokratischen Parteiführer bereit gewesen wären, für die Regierung und für das Plebiszit zu sprechen, ist bei ihrer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus selbstverständlich.
Die Vertrauensmänner der Betriebsstellenorganisation der Wiener Vaterländischen Front wurden eingeladen, die Stellungnahme der Frontführung anzuhören. Im grossen Saal des Wiener Konzerthauses versammelten sich mehr als zweitausend Amtswalter aus der Arbeiterschaft. In dieser Versammlung sprach zuerst eine Frau, die über die Stellung der Frau in der gegenwärtigen sozialen Situation sprach. Dann erläuterte Bürgermeister Schmitz seinen Standpunkt, und zum Schluss sprach ich selbst zur damaligen Lage.
Ich versuchte der Versammlung klarzumachen, dass die Tage, die wir damals durchlebten, von grundsätzlicher Entscheidung nicht nur für die Existenz des österreichischen Staates, sondern auch für die Freiheit der österreichischen Arbeiterschaft waren. Ich verwies darauf, dass wir uns im Lauf der letzten Jahre, insbesondere in den letzten Monaten, nahegekommen waren. Ich betonte den sozialen Charakter der Ständeverfassung und das Recht der Arbeiterschaft, an den Einrichtungen des Staates und der Front in vollem Masse Anteil zu nehmen. Ich verwies auf die Erfolge unseres Regimes, auf die kulturellen Einrichtungen, die den Arbeitern in eigene Verwaltung gegeben wurden und noch gegeben werden sollten. Der Wille zur Abwehr von Angriffen gegen die Selbständigkeit unseres Landes, schloss ich, einigt uns alle, er macht uns unzertrennlich. Ich habe kaum jemals solche Begeisterungsstürme erlebt wie in dieser Vertrauensmännerversammlung. Man kann Versammlungsregie führen und durch Gruppen Begeisterung erzeugen, wo sie ohne Anregung nicht vorhanden wäre. Das aber, was die Arbeiter in dieser Versammlung an Begeisterung und Zustimmung zum Ausdruck brachten, war ein elementarer Ausbruch.
Die gleiche Stimmung wie in der Arbeiterschaft herrschte auch in den katholischen Kreisen und Organisationen. Eine politische Welle war in Bewegung gekommen. Sie richtete sich gegen den Nationalsozialismus, mit dem man nur äusserst widerwillig Frieden schliessen wollte.
Nach der Besetzung Oesterreichs ist von reichsdeutscher Seite die Behauptung aufgestellt worden, die deutsche Armee sei in Oesterreich eingedrungen, um einen Bürgerkrieg zu verhüten.
Diese Behauptung ist eine Lüge. Allerdings war die Stimmung der Bevölkerung gegen die nationalsozialistische Minderheit im Lande, die mit Hilfe des deutschen Reiches die Macht zu erobern versuchte, ausserordentlich erbittert. Trotzdem kam es infolge der grossen Disziplin der vaterländisch Gesinnten zu keinen Zusammenstössen, obwohl die da und dort auftretenden Nazitrupps alles darauf anlegten, Schlägereien zu provozieren.
Sicher war Hitler über die wahre Stimmung im Lande sehr gut informiert, sonst wäre er auf einem mit Rosen umwundenen Auto in Oesterreich eingefahren, statt in Begleitung von Armeen, Bombenfliegern und Kriegsmaterial.
Die steirischen Nationalsozialisten hatten den Beschluss gefasst, die »Wiener Lösung« eines Ausgleichs zwischen dem Nationalsozialismus und dem Regime unmöglich zu machen. Sie waren davon überzeugt, dass es gelingen würde, einen Aufstand zu provozieren, in dessen Verlauf die Regierung gezwungen werden sollte, auf nationalsozialistische Demonstranten schiessen zu lassen. Das, so nahm man mit Sicherheit an, werde die deutsche Intervention auslösen, die man sich in der Form eines Einmarschs der österreichischen Legion und der deutschen Wehrmacht vorstellte.
Wir hatten die Mitteilung erhalten, dass in den illegalen militärischen Verbänden der Steiermark junge Leute namhaft gemacht wurden, die bereit waren, sich unter Lebensgefahr an die Spitze eines Aufstandes zu stellen.
Es ist anzunehmen, dass die steirischen Nationalsozialisten von massgebenden deutschen Stellen die Zusicherung einer Intervention für den von ihnen proponierten Fall besessen haben. Der preussische Ministerpräsident Göring hatte wenige Wochen vorher den »volkspolitischen Referenten der Steiermark«, Professor Dadieu, bei sich empfangen.
Diese Tatsache ist kein Beweis dafür, dass etwa Ministerpräsident Göring die vermutete Zusicherung gegeben hätte, sie schliesst sie aber auch durchaus nicht aus.
Die Steiermark war immer ein politisch erregtes Land. In der Steiermark hatte der radikalste der österreichischen Sozialdemokraten, Koloman Wallisch, gewirkt, aus der Steiermark war Anton Rintelen gekommen, in der Steiermark hatte der Heimatschutz eine seiner stärksten Kraftzentren, der steirische Gau war auch einer der revolutionärsten und ungebärdigsten in der illegalen nationalsozialistischen Partei.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass gerade dort wieder ein Zentrum ungeregelten Aufstandes entstand. Der Steirer will immer einen »Wirbel« haben, er will »putschieren«, er will Krawall und liebt die Aufregung. Die Steirer aller Richtungen sind auch immer sehr stolz darauf, dass es bei ihnen aufgeregter zugeht als anderswo, wenn sie sich auch dann im gegebenen Augenblick vor ihrem eigenen Schneid fürchten. Im Winter 1918-19 fanden sie, nachdem bereits alle Vorbereitungen getroffen worden waren, im letzten Augenblick nicht den Mut, den südlichen Teil ihres Landes gegen die eindringenden Jugoslaven zu verteidigen, wie es die Kärntner in ihrer Heimat getan hatten. Anlässlich der Spannungen, die zwischen den Heimwehren und den Sozialdemokraten bestanden, schreckten sie vor St. Lorentzen im letzten Augenblick davor zurück, eine grosse Auseinandersetzung zu wagen, obwohl sich beide Parteien bereits zum Kampf formiert hatten.
Das, was die steirischen Nationalsozialisten nun vorhatten, war nichts anderes, als die Ablehnung des in Berchtesgaden besprochenen Weges und der Versuch, allen zum Trotz den Tavs-Plan durchzuführen. Diesmal sollte es ihnen, wenn auch nicht direkt, gelingen, eine politische Kampfaktion bis zum Ende zu führen.
Für den Sonntag nach der Hitlerrede hatte der volkspolitische Referent in der Steiermark im Einvernehmen mit der illegalen Partei eine grosse Kundgebung für die Nationalen aus dem ganzen Lande ausgeschrieben. Indessen hatte die Regierung aber über Auftrag des neuen Sicherheitsministers, Dr. Seyss, ein Versammlungs- und Kundgebungsverbot erlassen, um die Ruhe im Lande wiederherzustellen. Die Vorbereitungen für den Grazer Aufmarsch wurden jedoch trotz des Verbotes nicht eingestellt. Im Gegenteil. Man versuchte im ganzen Lande Fahrzeuge zu mieten und Transportmittel aller Art bereitzustellen, um Anhänger aus allen Landesteilen in die Hauptstadt zu bringen.
Der Sicherheitsminister Dr. Seyss kam dadurch in eine ausserordentlich schwierige Lage. Er musste entweder den geplanten Aufmarsch durch seinen Einfluss auf die Nationalsozialisten verhindern oder aber die Exekutive gegen die Demonstranten einsetzen, wenn nicht mit dem Prestige der Staatsgewalt auch sein persönliches Prestige verloren gehen sollte. Im Laufe des Freitags wurde die Situation bedrohlich. Der Aufmarsch war nicht abgesagt worden, die Kräfte aber, die der Exekutive in der Steiermark zur Verfügung standen, waren nicht stark genug, um Unruhen in einem Ausmass, wie sie zu erwarten waren, sofort zu liquidieren.
Am Abend des Freitags traf sich der Bundeskanzler in meinem Büro mit Minister Dr. Seyss und Staatssekretär Dr. Skubl. Der Bundeskanzler verlangte von Dr. Seyss nochmals in eindeutigem Ton die Veranlassung von Massnahmen, die Unruhen verhindern würden. Dr. Seyss erklärte, dass er noch einen letzten Versuch unternehmen wolle, um die steirischen Nationalen zur Vernunft zu bringen.
Misslinge der, so sei er bereit, als Chef der öffentlichen Sicherheit Tumulte, die in der Steiermark entstehen, niederzuschlagen. Er bäte den Bundeskanzler aber schon jetzt, ihn nach Durchführung dieser Aufgabe seines Amtes zu entheben.
Dr. Schuschnigg erwiderte ihm, dass es ihm gleichgültig sei, auf welche Weise die Störungen beseitigt würden, es handle sich ihm darum, dass die Ruhe aufrechterhalten und die Autorität der Regierung gewahrt bleibe. Er, der Bundeskanzler, gebe auf jeden Fall in seiner Eigenschaft als Landesverteidigungsminister den Auftrag, motorisierte Truppen der Wiener Garnison nach Graz zu senden. Dieser Auftrag wurde sofort durchgeführt. Im Laufe des Sonntags trafen die Wiener Truppen in Graz ein. Weiters wurde eine Alarmkompagnie der Wiener Polizei in Autos nach der Steiermark entsendet.
Dr. Seyss versuchte nun nochmals seine Autorität bei den Steirern durchzusetzen. Er rief die massgebenden Leute ans Telephon und machte ihnen begreiflich, dass von ihrem Verständnis das Gelingen seiner Gesamtaktion, die die Billigung des deutschen Reichskanzlers hatte, abhing. Nach einem langen Gespräch teilte er uns mit, dass es ihm gelungen sei, die Steirer zu zähmen, und dass er nun annehme, dass der Sonntag in Ruhe verlaufen werde. Der Sonntag verlief tatsächlich in Ruhe.
Dieses steirische Intermezzo hatte auf die Gesamtentwicklung wesentlichen Einfluss. Sowohl wir als auch Dr. Seyss hatten die Erfahrung gemacht, dass Kräfte der illegalen Partei ohne und sogar gegen Dr. Seyss zu operieren bereit waren. Es hatte den Anschein, als stehe hinter dem Keppler-Plan, der nun angenommen worden war, auch noch der alte Tavs-Plan in Kraft, als seien in Berlin für die österreichischen Nationalsozialisten verschiedenartige Direktiven ausgegeben worden. Einen Vertrag zu unterzeichnen und zugleich Aufstände zu provozieren, um damit zu erweisen, dass eine Einigung garnicht möglich wäre, weil der Bürgerkrieg ausgebrochen sei, das wäre natürlich eine Methode zur Eroberung Oesterreichs gewesen, die den Vorzug gehabt hätte, der Welt zu beweisen, dass man dem österreichischen Staat vorher alle Möglichkeiten des Friedens geboten habe.
Ich bin davon überzeugt, dass es einen einheitlichen Plan für die Eroberung Oesterreichs nicht gegeben hat. Es gab viele Pläne, die – ebenso wie im Juli 1934 – im März 1938 nebeneinander zur Ausführung kamen. Die nationalsozialistische Partei hat die Eigentümlichkeit, dass in ihr trotz des Gesetzes der strengen Disziplin viele Instanzen nebeneinander und gegeneinander wirken. So kommt es denn auch im März 1938 nicht nur zum Kampf um die Macht in Oesterreich, sondern zugleich auch zum erbitterten Kampf verschiedener Parteigruppen um die Macht innerhalb der Bewegung, zum Kampf verschiedener nationalsozialistischer Persönlichkeiten um einen Erfolg. Um die Zustimmung Hitlers ist es keinem dieser vielen Bonzen und Bönzlein bange. Diese Zustimmung glaubt jeder in der Tasche zu haben. Jedem ist versichert worden, dass der Führer hinter ihm stehe. Kein nationalsozialistischer Führer vertraut dem anderen. Jeder ist trotz der Legitimation, die er anscheinend besitzt, unsicher.
Diese Verhältnisse in der nationalsozialistischen Partei muss man in Betracht ziehen, wenn man die Ereignisse der Märztage richtig verstehen will.
Aus dieser Unklarheit ergab sich als natürliche Folge die Unsicherheit des nationalsozialistischen Vertrauensmannes Dr. Seyss, die sich wiederum in der Haltung der Exekutive, deren Chef er war, auswirken musste.
Dr. Seyss hatte anlässlich der steirischen Aufstandsversuche die Erfahrung gemacht, dass neben seinem nationalsozialistischen Führerkreis, der ihm, wie er glaubte, ergeben war, was übrigens nicht durchaus stimmte, auch noch andere Kräfte vorhanden waren, die ihre eigenen Verbindungen nach dem Reich hatten und die bestrebt waren, ihm seine Führerschaft streitig zu machen, die bestrebt waren, jeden Erfolg seiner Politik zu verhindern.
In den folgenden Stunden stand Seyss vor der Ueberlegung, ob er auf dem Boden der Regierung stehend, mit den Kräften der Regierung seine Widersacher in der Partei beseitigen sollte, um das Abkommen von Berchtesgaden loyal durchzuführen, oder ob er mit der Partei gegen die Regierung und gegen das Projekt, an dem er wesentlich beteiligt war, Politik machen sollte.
Minister Dr. Seyss reiste an einem der nächsten Tage nach Graz und wurde dort begeistert empfangen. In Graz fiel seine Entscheidung. Er sagte mir nach seiner Rückkehr, er zweifle daran, ob es möglich sein werde, seinen Plan gegen die Partei zu verwirklichen. Dr. Seyss hatte sich dafür entschieden, eine abwartende Haltung einzunehmen und sich die Möglichkeiten auf beiden Seiten offen zu lassen. Er hatte für seine Person begriffen, dass ein von Hitler gezeichneter Vertrag noch lange nicht genügt, um die Parteistellen von eigenen Aktionen abzuhalten. Er hatte begriffen, dass im nationalsozialistischen Olymp neben Zeus noch mancher andere Gott wohnt, oder aber, dass dieser Zeus das Haupt des Janus trägt.
Das volkspolitische Referat in der Steiermark befand sich bald völlig in den Händen der illegalen Partei. Ich verlangte die Enthebung seines Leiters, des Professor Dadieu. Seyss war damit einverstanden, wollte diese Enthebung aber auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Der Bundeskanzler stimmte ihm bei.
Von diesem Zeitpunkt an war bis zu den letzten Stunden die Haltung des Sicherheitsministers im wesentlichen passiv. Er wartete ab. Diese abwartende Haltung bekundete sich auch deutlich in seiner Amtsführung. Die Polizei griff gegen nationalsozialistische Demonstranten kaum mehr ein. Der Wille zur Einhaltung des Abkommens von Berchtesgaden lag nur mehr auf der Seite des Bundeskanzlers.
Hitler hatte eine Woche nach der Zusammenkunft von Berchtesgaden gesprochen. In dieser Woche war die österreichische Regierung im Inneren untätig geblieben. Die aussenpolitische Aktivität, die sie entfaltete, blieb geheim und – wie es sich später erweisen sollte – völlig erfolglos. Schuschnigg zögerte, vor der Rede des deutschen Reichskanzlers ein Wort zu sagen oder eine Tat zu setzen. Er mag wohl der Meinung gewesen sein, dass ihm die Rede des deutschen Reichskanzlers, die, was Oesterreich betraf, »freundlich« gehalten sein solle, eine günstigere Situation für seine innerpolitischen Massnahmen bieten würde. In diesen Tagen versuchte der tschechische Ministerpräsident Dr. Milan Hodza, mit dem Schuschnigg bereits vorher mehrfach zusammengetroffen war, mit ihm Fühlung aufzunehmen. Dr. Hodza hatte einen Besuch in Pressburg festgelegt und wollte sich mit dem österreichischen Bundeskanzler im geheimen in der Nähe von Wien treffen. (Pressburg liegt an der österreichischen Grenze und ist eine Autostunde von Wien entfernt.) Schuschnigg lehnte diese Zusammenkunft ab, weil er nicht in den Verdacht kommen wollte, mit den Tschechen eine Vereinbarung zu suchen, die sich gegen das Abkommen von Berchtesgaden gerichtet hätte.
Die Stimmung im Lande verschlechterte sich indessen zusehends. Es war eine Woche, in der alle Gerüchte freien Lauf hatten. Die Unsicherheit aller Bevölkerungskreise wuchs an. Wir hatten Mühe, vom frühen Morgen bis zum späten Abend unsere Anhänger zu beruhigen, Gerüchte zu widerlegen, von Demonstrationen abzuhalten. Dazu kam die unsichere Haltung der Polizei.
Nach der Rede Hitlers waren die nationalsozialistischen Kreise, derer sich ebenfalls eine grosse Unruhe bemächtigt hatte, wieder aufgerichtet. Schuschnigg wartete nun wieder mehrere Tage bevor er vor die Oeffentlichkeit trat. Der Kanzler erklärte mir auf vielfaches Drängen, dass er wichtige Gründe habe, seine Rede hinauszuschieben. Auch die Regierungsumbildung brachte keine Beruhigung unserer Anhängerschaft.
In aller Augen erschien die Ernennung des Dr. Seyss-Inquart zum Sicherheitsminister als das wesentliche Symptom der Kabinettsumbildung. Dass das neue Kabinett zugleich eine Verstärkung des vaterländischen Kurses zeigte, wurde nicht oder kaum zur Kenntnis genommen. Und doch waren wichtige Neubesetzungen vorgenommen worden. Ein ehemals sozialdemokratischer Gewerkschaftsfunktionär wurde zum Staatssekretär zur Wahrnehmung der Interessen der Arbeiter und Angestellten ernannt, der bisherige Staatssekretär Hans Rott, der dieses Amt seit mehr als einem Jahr bekleidet hatte und der die Sympathie und das Vertrauen der Arbeiter besass, wurde Minister. Ins Handelsministerium zog der Präsident des Gewerbebundes Ing. Raab ein, ins Justizministerium der berühmte Universitätsprofessor Adamovich, die Industrie erhielt einen Vertreter aus ihren Reihen als Staatssekretär im Handelsministerium. Der bisherige Staatssekretär Dr. Guido Schmidt wurde zum Aussenminister ernannt, ich selbst zum Minister und Stellvertreter des Bundeskanzlers in seiner Eigenschaft als Führer der V.F. Das Amt des Vicekanzlers, des Sozialministers, des Unterricht-, Finanz- und Ackerbauministers blieben unverändert.
Minister Glaise-Horstenau, der dem neuen Kabinett als Minister ohne Portefeuille angehören sollte, bemühte sich noch in letzter Stunde, irgend ein Referat zu erhaschen. Glaise war ein williges Werkzeug der deutschen Gesandtschaft ohne viel eigene Initiative. Er spielte ausserordentlich gerne eine Rolle. Deshalb veranlasste er auch noch am Tage der Regierungsumbildung Herrn v. Papen, den Bundeskanzler anzurufen und um ein Amt für ihn zu bitten. Schuschnigg lehnte diese Intervention brüsk ab. Er erinnerte daran, dass Ministerpräsident Göring, Dr. Schmidt gegenüber, Herrn Glaise einen Weihnachtsmann genannt hatte und fragte Papen, wie sich das nun zusammenreime, dass er für diesen Weihnachtsmann ein Referat verlange.
Diese Episode zeigt, dass alle deutsche Stellen immer wieder den Versuch machten, Dinge zu verlangen, die über das, was in Berchtesgaden zugestanden worden war, hinausgingen.
Zwei Tage vor der Bundestagsversammlung begann der Kanzler an seiner Rede zu arbeiten. Er stellte sie erst am Tage selbst fertig und berief den Aussenminister Dr. Schmidt, den Bürgermeister von Wien und mich in sein Büro, um uns die wesentlichsten Stellen vorzulesen. Er sagte mir, dass er das Gefühl habe, dass dies die schlechteste Rede sei, die er je gehalten habe. Die Wirkung seiner Rede vor dem Bundestag aber war weitaus die stärkste, die er je erreicht hat.
Ich fuhr gemeinsam mit dem Kanzler ins Parlament. Bei seinem Eintritt in den Sitzungssaal wurde er begeistert, wie niemals zuvor, begrüsst. Unter den Diplomaten, unter denen man auch den Herrn von Papen sah, sass der ehemalige italienische Gesandte in Wien, der kurz vorher abberufene Senator Francesco Salata.
Im Verlaufe seiner Rede wurde Schuschnigg immer wieder von Begeisterungsstürmen unterbrochen. Er prägte das Wort vom deutschen Frieden, der nun für immer bestehen bleiben sollte. Vier harte Jahre, sagte er, haben nun mit einem harten Tag in Berchtesgaden geendet. Er beschwor die Erinnerung an diese vier Jahre herauf und erinnerte an seinen grossen Vorgänger Engelbert Dollfuss, dessen Büste unter dem Rednerpult aufgestellt war. Aus dieser Erinnerung entwickelte er seinen Grundsatz: »Bis hierher und nicht weiter.« Damit sollte gesagt sein, dass mit den Konzessionen, die in Berchtesgaden gegeben worden, das endgültige Mass dessen erreicht sei, was zu konzedieren war. Er verwies auf die wirtschaftlichen und organisatorischen Erfolge seines Regimes, erläuterte das, was für die nächste Zeit geplant war und schloss damit, dass das selbständige Land allen Frieden und Arbeit bieten wollte, die mit die Hand ans Werk legen wollten. Schliesslich betonte er, dass er es nicht zulassen werde, dass am Dollfussprinzip des freien, unabhängigen, christlichen und deutschen, ständisch gegliederten und autoritär geführten Oesterreich gerüttelt werde. Er schloss mit dem Ruf: »Rot-weiss-rot bis in den Tod!«
Nach der Rede erschienen alle Regierungsmitglieder beim Kanzler, um ihm zu gratulieren. Ich erinnere mich daran, dass einer dieser Gratulanten auch der Minister Glaise-Horstenau war.
Auf der Strasse setzten sich die Ovationen für den Kanzler fort. Als er aus dem Parlament heraustrat, erhob sich ein ungeheurer Jubel. Wir gingen zu Fuss durch die begeisterte Menge bis zum Heldendenkmal. Auf der ganzen Wegstrecke drängten sich die Menschen an den Kanzler heran, um ihm die Hand zu geben, um ihm eine Parole zuzurufen, die ihn in seiner Haltung bestärken sollte, um ihn wenigstens zu berühren. Manchmal wurde das Gedränge so dicht, dass es uns nur mit grösster Mühe gelang, weiterzukommen.
Wir bestiegen das äussere Burgtor, um von oben den vorbeigehenden Menschenstrom zu beobachten. Von der Höhe aus bot sich ein wunderbarer Blick auf die nächtliche Ringstrasse, die dicht mit Menschen gefüllt war, deren Rufen und Singen leicht gedämpft in die Höhe heraufdrang.
Vom Burgtor aus gingen wir über die Augustinerstrasse bis zu einem Hotel in der Nähe der Oper, um hier das Nachtmahl zu nehmen. Ich berichte diese Einzelheiten deshalb, weil von nationalsozialistischer Seite immer wieder erzählt worden ist, dass sich die österreichische Regierung einem verzweifelten und hasserfüllten Volk gegenüber befunden habe. An der Kundgebung des Abends, an dem die Rede im Bundestag gehalten wurde, haben mehr als hunderttausend Menschen in der inneren Stadt von Wien teilgenommen. In welchem autoritären Staate wäre es dem Regierungschef möglich gewesen, ohne Polizeibedeckung mitten durch solche Massen zu gehen?
Die Wirkung der Rede Schuschniggs war eine ungeheure. Die Stimmung, die vorher verzagt, unsicher und ängstlich gewesen war, gestaltete sich nun auf einmal zuversichtlich, stark, sicher. Das war aber nun durchaus nicht etwa auf Wien allein beschränkt. Die gleiche Umkehr war in den Bundesländern zu beobachten. Von überall trafen begeisterte Telegramme und Meldungen ein, aus denen zu entnehmen war, dass die Stimmung vollkommen umgeschlagen und die vaterländische Bevölkerung bereit war, ihren neuen Staat, den sie unter so unsäglichen Opfern erkämpft hatte, auch zu verteidigen.
Hatte die Rede des deutschen Reichskanzlers die Nationalsozialisten in Oesterreich mit neuer Zuversicht erfüllt, so warf Schuschniggs Rede diese Sicherheit wieder vollkommen um. Die Kampfbereitschaft der vaterländischen Kreise, die sich nun überall bemerkbar machte, und das Gefühl der Stärke, das sich überall wieder durchzusetzen begann, deprimierte die Anhänger des Nationalsozialismus. Die Parteikreise fürchteten, dass nun aus ihrem eigenen Lager die Ruhebedürftigen und Versöhnungsbereiten in die Front der inneren Befriedung einschwenken würden.
Man begriff, dass der Kanzler nun daranging, eine ganz breite Abwehrfront gegen die Begehrlichkeit des Nationalsozialismus zu errichten, in der alle Schichten der Bevölkerung Platz haben sollten. Sie fürchteten diese »Front des Volkes«, wie sie Schuschnigg genannt hatte, und nannten das, was hier entstand »Volksfront«.
Die Rede Schuschniggs war im deutschen Rundfunk übertragen worden und hatte auch im Reich die grösste Aufmerksamkeit gefunden. Innerhalb einer Woche hatten zwei deutsche Politiker zum deutschen Volk gesprochen. Zwei Welten hatten sich vor der deutschen Oeffentlichkeit offenbart. War das eine Gefahr für die innerpolitische Lage im Reich?
Aus Deutschland kamen dem österreichischen Kanzler Glückwunsch- und Zustimmungsschreiben in grosser Zahl aus allen Bevölkerungskreisen zu.
Ein biederer Bayer, der die Rede mit angehört hatte, sagte zu seinen Freunden: »Ich glaube fast, die haben uns den falschen Oesterreicher herausgeschickt«, womit er auf die österreichische Herkunft Hitlers anspielte.
Der unzweifelhafte Erfolg der Rede Schuschniggs wurde leider nicht ausgenützt. Es vergingen Tage und Tage der Untätigkeit, die angefüllt waren mit kleinlichen Streitigkeiten über Grussformen und Abzeichen, über die Erlaubnis und das Verbot von Kundgebungen. Wahrscheinlich hätte das Schicksal Oesterreichs einen anderen Verlauf genommen, wenn der Kanzler schon in seiner Bundestagsrede das Plebiszit verkündet hätte. So aber wurde das letzte grosse Aufflackern des österreichischen Freiheitswillens durch kleinliche Tagesstreitigkeiten zerstört.
Schuschnigg hatte einen bestimmten Grund, der ihn dazu veranlasste zuzuwarten. Er hoffte auf einen Sukkurs von aussen, er hoffte auf die Loyalität seiner Vertragspartner, er glaubte, dass es heutzutage noch genügt, die überwiegende Mehrheit des Volkes hinter sich zu haben, um zu regieren. Das war sein Irrtum. Nicht die Meinung und der Wille des Volkes entscheiden, sondern die Gewalt und ihre Anwendung.
Seit dem Jahre 1934 war die Frage eines Plebiszits in Oesterreich immer wieder diskutiert worden. Gerade die Anhänger des Nationalsozialismus verlangten ja immer wieder eine Volksabstimmung.
Welche Gründe hatte die österreichische Regierung, eine solche Wahl oder eine solche Abstimmung nicht zuzulassen?
Das Jahr 1934 hatte durch die Februaraufstände das Land in ungeheure Aufregung versetzt. Der Juli des gleichen Jahres brachte, bevor sich diese Erregung auch nur leicht beruhigt hatte, den Putschversuch der S.S.-Standarte 89 in Wien, in dessen Verlauf der Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuss ermordet wurde, und im Anschluss daran einen nationalsozialistischen Aufstandsversuch in den Alpenländern, der insbesondere in Steiermark, Oberösterreich und Kärnten bedrohliche Ausmasse angenommen hatte.
In der Zeit zwischen dem Februar und Juli war die neue Verfassung proklamiert worden, die die Grundlage einer neuen Ordnung werden sollte. Die Nationalsozialisten entfalteten in dieser Zeit über Anordnung ihres aus dem Reich entsendeten Landesinspekteurs, eines gewissen Theo Habicht, eine Terrorpolitik, wie sie in Oesterreich bisher noch nie erlebt worden war. Man schonte weder Menschenleben noch Volks- und Privatvermögen.
In dieser Situation hätte jede Wahl und jede Volksbefragung neue gewaltige Unruhe ausgelöst. Es bestand die Gefahr, dass der Bürgerkrieg in Permanenz ausbräche und dieser Unruheherd Oesterreich neuerlich zum Ausgangspunkt eines europäischen Krieges werde. Diese Befürchtungen waren es, die immer wieder den Plan einer Volksabstimmung verwerfen liessen, wiewohl Kreise der vaterländischen Front, insbesondere jene, die aus den demokratisch orientierten Parteien gekommen waren, selbst oft Plebiszitpläne an die Regierung und an die Führung der vaterländischen Front heranbrachten.
Bundeskanzler Dr. Schuschnigg hatte die Durchführung einer Volksabstimmung ebenso in sein Programm aufgenommen wie sein Vorgänger Dr. Dollfuss. Schuschnigg kam immer wieder auf diesen Plan zurück. Ich erinnere mich, im Juli 1936 und im Frühling 1937, im gleichen Jahre nochmals, anlässlich der Aufstellung eines grosszügigen Arbeitsbeschaffungsprogrammes, den Plan zu einer Volksabstimmung mit ihm ausführlich erörtert zu haben. Gewisse Kreise der vaterländischen Front sahen in der Durchführung einer Volksabstimmung sogar eine Art von politischem Allheilmittel.
Darüber, dass die in der vaterländischen Front zusammengeschlossenen Kreise und Gruppen über eine einwandfreie Mehrheit im Lande verfügten, bestand bis zum letzten Tag kein Zweifel. Auch die Nationalsozialisten selbst waren sich darüber im klaren, dass sie eine Minderheit im Staate darstellten. Zu dieser Minderheit wäre allerdings im Falle einer Volksbefragung die ungeheure Propagandakraft des Dritten Reiches gestossen. Der Einsatz aller Propagandamittel des deutschen Reiches auf dem Boden von Oesterreich hätte trotz des vorhandenen Stimmenverhältnisses einen ungleichen Kampf ergeben.
Man muss bedenken, dass allein der Einsatz der technischen Propagandabehelfe auch beim Fehlen jedes anderen Arguments eine ungeheuerliche moralische Wirkung ausgeübt hätte. Hitler hat einmal gesagt: »Ohne Motor, Fliegerei und Lautsprecher hätten wir Deutschland nie erobert«. Wurden nun diese deutschen Motore, diese deutsche Fliegerei und der ganze deutsche Rundfunk für einen Wahlkampf in Oesterreich auf der einen Seite eingesetzt, so blieb der anderen, bei dem gegebenen Kräfteverhältnis kaum eine Möglichkeit, sich annähernd gleich stark bemerkbar zu machen. Wir hatten die Erfahrung gemacht, dass die finanziellen Hilfsquellen der deutschen Propaganda ausserordentlich gross waren. Es ist bei einem erbittert geführten Wahlkampf keine Kunst, mit solchen Mitteln den eigenen Anhänger zu bestärken und den Gegner einzuschüchtern.
Die heutige Machtstellung des dritten Reiches im inneren und nach aussen hin, ist weitgehend durch die Ausnützung eines bisher noch nicht dagewesenen Propagandaapparates und der grosszügigen Verwendung der modernsten technischen Errungenschaften für diese Propaganda entstanden. Die Reklame wirkt durch das Quantum, nicht durch die Qualität. Der Quantität der deutschen Propaganda hatten wir nichts oder so gut wie nichts entgegenzustellen.
Aufgabe jeder Reklame ist es zu überzeugen. Die moderne politische Propaganda hat noch ein weiteres Ziel, den Gegner einzuschüchtern, ja sogar in Angst zu versetzen. In Angst wird der versetzt, der sich schwächer fühlt, sich einer übergrossen Uebermacht gegenüber sieht. In dieser Situation befand man sich in Oesterreich.
Diese beiden Bedenken: eine neuerliche, tiefgehende Beunruhigung des Volkes zu vermeiden und sich nicht in einen ungleichen Kampf einzulassen, liessen die Projekte zu einem Plebiszit immer wieder in den Hintergrund treten. Dem Nationalsozialismus waren diese österreichischen Gedankengänge wohlbekannt. Immer wieder wurde im Ausland die Behauptung aufgestellt, die Mehrheit des österreichischen Volkes bekenne sich zum Nationalsozialismus. Als sprechender Beweis für diese Behauptung wurde die zögernde Haltung der österreichischen Regierung einem Plebiszit gegenüber angeführt. Wie das Stimmenverhältnis wirklich war, – darüber war sich auch kein vernünftiger Nationalsozialist im unklaren.
Anlässlich der ersten Landesführertagung der vaterländischen Front nach der Begegnung von Berchtesgaden wurde von mehreren Persönlichkeiten dem Bundeskanzler die Durchführung einer Volksabstimmung nahegelegt. Einzelne Landesführer waren der Meinung, dass die Stimmungseinbusse, die wir erlitten hatten und noch weiter zu erwarten hätten, nur durch eine Volksabstimmung zu paralysieren sei. Der Bundeskanzler nahm vorerst eine abwartende Haltung ein. Er versprach den Herren, die den Antrag stellten, sich die Angelegenheit zu überlegen. Ich erhielt von ihm den Auftrag, die Voraussetzungen für ein Plebiszit zu prüfen und konkrete Vorschläge zu erstatten. Im weiteren Verlauf wurde dann einer kleinen Anzahl von Personen, die über eine grosse politische Praxis verfügten, der Auftrag gegeben, alle Vorbereitungen zu treffen, um gegebenen Falles eine Volksabstimmung rasch durchführen zu können.
Zwei Tage später versammelte sich dieser kleine Kreis an einem neutralen Ort, um die Beratungen aufzunehmen. Es war naturgemäss vereinbart worden, dass über die Arbeiten strengstes Stillschweigen zu bewahren sei.
Drei Herren, die massgebende Stellen bekleideten, sprachen sich für die Durchführung der Abstimmung aus. Sie verwiesen darauf, dass das Ergebnis einer Volksbefragung im gegebenen Augenblick einen starken und klaren Erfolg für die Regierung bringen müsse. Weiters glaubten sie, dass dieses Abstimmungsergebnis eine wesentliche Verstärkung der aussenpolitischen Lage Oesterreichs herbeiführen werde. Endlich sei es für unsere Anhänger – in der neuen Lage nach Berchtesgaden – geradezu ein Bedürfnis, sich selbst den Nachweis der Stärke zu bringen.
Ich selbst wiederholte die Argumente, die gegen das Plebiszit sprachen und die ich bereits dem Bundeskanzler ausführlich dargelegt hatte. Ich verwies insbesondere auf den Umstand, dass die Führung des Nationalsozialismus eine solche Abstimmung, wenn auch zu Unrecht, so doch de facto, als eine Kampfansage auffassen werde. Die Nationalsozialisten waren sich darüber im klaren, dass eine Abstimmung, die nicht unter der Drohung nationalsozialistischer Formationen und deutscher Gewehre und ohne die deutschen Wahlpraktiken in Oesterreich veranstaltet würde, zu ihren Ungunsten ausgehen werde. Die gegebene aussenpolitische Situation war nun aber so, dass wir auf eine Unterstützung irgend eines anderen Staates im Falle eines Angriffes nicht zu rechnen hatten. Hitler hatte in Berchtesgaden keinen Zweifel darüber gelassen, dass er bereit sei, mit allen Mitteln den Oesterreichern seinen Willen aufzuzwingen.
Ich wiederholte meinen Standpunkt, der dahinging, auf Grund des Protokolls von Berchtesgaden, denjenigen Leuten, die sich um die volkspolitischen Referate sammelten, eine entsprechende Anzahl von Mandaten zu geben und zugleich unsere eigenen Anhänger fester als bisher in neuen Organisationsformen in der vaterländischen Front zusammenzufassen. Es war mir klar, dass durch eine solche Massnahme eine Teilung der Macht herbeigeführt würde, was in der weiteren Entwicklung, trotz der einheitlichen Organisation der vaterländischen Front, zu einer Art Zweiparteiensystem führen musste. Aber war nicht die Volksabstimmung ihrerseits die radikale Eröffnung des Zweiparteiensystems? Die anwesenden Herren wussten, dass die Entscheidung nur durch den Bundeskanzler gefällt werden konnte.
Einer der anwesenden Herren hatte die Rechtsbasis für eine Volksbefragung ausgearbeitet und einen Entwurf für die Bestimmungen gemacht, die im Falle der Durchführung des Plebiszits zu erlassen wären.
Die österreichische Verfassung vom 1. Mai 1934 sieht eine Volksabstimmung im Artikel 65 vor. Dieser Artikel lautet:
a) eine vom Bundestag abgelehnte Vorlage über ein Gesetz im materiellen Sinne einer Volksabstimmung zu unterziehen;
b) die Entscheidung des Bundesvolkes anzurufen, ob dem Entwurf eines bestimmten Bundesgesetzes zugestimmt werde;
c) eine bestimmte Frage der Bundesgesetzgebung dem Bundesvolke zur grundsätzlichen Entscheidung vorzulegen.
Die Frage, die dem Volke in unserem Falle gestellt werden sollte, trifft auf keinen Punkt des angeführten Verfassungsartikels zu. Diese Frage sollte das Gesamtprogramm der Regierung, die Richtlinien der österreichischen Politik zum Inhalt haben. Es handelte sich also weder um eine vom Bundestag abgelehnte Vorlage über ein Gesetz, noch um den Entwurf eines Bundesgesetzes oder eine bestimmte Frage der Bundesgesetzgebung. Der Fall einer Abstimmung, in der das Bundesvolk über die Richtlinien der Politik mitentscheiden sollte, ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Allerdings sagt der Artikel 93 der Verfassung: »Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik.« Es ist nirgends ausgesprochen, dass der Bundeskanzler das Bundesvolk um seine Zustimmung zu diesen Richtlinien nicht befragen dürfte. Auf Grund dieses Artikels 93 konnte der Bundeskanzler ohne Zweifel anordnen, dass das Volk um seine Meinung über die Richtlinien der Politik befragt werde. Hierzu brauchte es keines Gesetzes, lediglich einer Verordnung des Bundeskanzlers, in der auch die verschiedenen Bedingungen für die Durchführung dieser Befragung angeordnet wurden.
Von der Seite der Nationalsozialisten ist die Verfassungsmässigkeit der vom Bundeskanzler Schuschnigg für den 13. März 1938 angeordneten Volksbefragung bestritten worden. Unsere Darstellung legt den Fall klar. Es handelte sich nicht um die Anordnung einer Volksabstimmung im Sinne des Artikels 65 der Bundesverfassung, weil in diesem Artikel eine Fragestellung, wie die im März geplante, nicht vorgesehen war, sondern um eine Volksbefragung, die der Bundeskanzler ohne Zweifel auf Grund der ihm durch den Artikel 93 gegebenen Vollmacht im Verordnungswege durchführen lassen konnte. Diese Meinung wurde von den hervorragendsten Fachleuten auf dem Gebiet der Verfassungskunde bestätigt. In dem Ultimatum, das der damalige Sicherheitsminister Dr. Seyss-Inquart über Auftrag anderer Stellen dem Bundeskanzler am Vormittag des 11. März überreichen liess, war die Verfassungsmässigkeit der angeordneten Volksbefragung geleugnet worden. Der hier geschilderte Tatbestand zeigt, dass der Sicherheitsminister in einer irrigen Auffassung befangen war.
Die Frage der Stimmberechtigung wurde im Sinne des Artikels 65 geregelt. Es war erwogen worden, dass auch im Falle der Volksbefragung über die Richtlinien der Politik nur diejenigen Personen stimmberechtigt sein sollten, die auch im Falle einer von der Verfassung vorgesehenen Volksabstimmung stimmberechtigt waren. Das betrifft besonders die Altersgrenze, die das vollendete 24. Lebensjahr verlangte. Weitere Ausnahmen von der Stimmberechtigung wurden in gleichem Masse gemacht, wie sie bei den letzten Wahlen in Anwendung gewesen waren.
Eine technische Schwierigkeit besonderer Art bestand darin, dass für den Fall einer sehr kurzfristigen Anberaumung der Volksbefragung die Aufstellung von Listen der Wahlberechtigten kaum mehr zu bewältigen war. Durch das Fehlen von Listen bestand die Gefahr, dass einzelne Stimmberechtigte ihre Stimme mehrmals abgeben konnten. Von nationalsozialistischer Seite ist dieser Umstand als die Vorbereitung eines besonders raffiniert ausgedachten Wahlschwindels hingestellt worden. In Wahrheit wäre das Fehlen eines Vermerks über die ausgeübte Stimmenabgabe nicht dem Regime, sondern den Gegnern des Regimes zu Gute gekommen, denn es besteht wohl kein Zweifel darüber, dass sie den Versuch unternommen hätten, die Urnen der Regierung mit so vielen Nein-Stimmen anzufüllen, als es nur irgend möglich gewesen wäre.
Bei der Ausschreibung der Volksbefragung wurde auf diese Gefahr Rücksicht genommen. So sollten in den einzelnen Wahllokalen Listen geführt werden, in die jeder Abstimmende verzeichnet worden wäre. Weiters wären die Ausweispapiere der Abstimmenden, mit denen sie sich zu legitimieren hatten, mit einem Stempel versehen worden, der den Nachweis der bereits erfolgten Stimmenabgabe erbracht hätte.
Ich rechnete damit, dass der Bundeskanzler auf die Durchführung der Abstimmung verzichten werde, da ich annahm, dass ich ihn mit meinen Argumenten, die gegen die Abstimmung sprachen, überzeugt hätte. Ich war sehr erstaunt, einige Tage später von ihm zu hören, dass er sich nun doch für die Durchführung der Volksbefragung in der Art, wie ich sie eben schilderte, entschlossen habe. Auch Dr. Schmidt, der das besondere Vertrauen des Kanzlers hatte, sagte mir am Montag oder Dienstag, dass er die Durchführung der Abstimmung für richtig halte. Wir hatten bei unserer ersten Besprechung für die schlagartige Durchführung der Volksbefragung einen Termin von wenigstens acht bis zehn Tagen vorgesehen. Der Bundeskanzler aber wollte noch schneller handeln, um einem Gegner nicht die Zeit zu lassen, den Gegenschlag zu führen. Er bestimmte für die Vorarbeiten die Zeit von drei Tagen. In drei Tagen sollten sich technische Vorbereitung, Bekanntmachung und Propaganda so ausgewirkt haben, dass ein klares Bild der Meinung des österreichischen Volkes zu Tage treten konnte. Taktisch war die Ansetzung einer so kurzen Frist vollkommen richtig. In drei Tagen konnte auch die zauberhafte nationalsozialistische Propaganda keine entscheidende Aktion durchführen. In drei Tagen kam das zur Wahlurne, was entschlossen war, seinen wirklichen Willen und seine wirkliche Ueberzeugung zu bekunden, ohne durch Reklame oder Angst zu der einen oder anderen Meinung getrieben worden zu sein.
Eine demokratische Wahl müsste, wenn sie darauf angelegt ist, den wahren Volkswillen zu zeigen und das Entscheidungsrecht des Einzelnen zu respektieren, ohne oder nur mit einem Mindestmass von Propaganda durchgeführt werden. Das allerdings verlangte eine klare und stabile Herrschaft über die einzelnen Parteien, Stände oder Gruppen. Künftige Volksbefragungen werden, sollten sie einmal wieder einen anderen Sinn, als den der Demonstration erhalten, diesen Grundsatz nicht entbehren können.
Der Bundeskanzler teilte mir seine Absicht, den 13. März als Abstimmungstermin festzusetzen, am Sonntag den 6. März mit. Er gab mir den Auftrag, Vorbereitungen zu treffen, trug mir aber auf, niemanden über den bestehenden Plan zu informieren. Das Gelingen der ganzen Aktion war weitgehend davon abhängig, dass absolutes Stillschweigen bewahrt wurde. Ich erbat mir lediglich die Vollmacht, drei bis vier Herren meines Büros und zwei weitere Persönlichkeiten, die für die Vorbereitungsarbeiten notwendig waren, gegen das Gelöbnis absoluter Verschwiegenheit informieren zu dürfen, um mit ihnen die Grundlinien der notwendigen Arbeiten besprechen zu können. Diese ersten Vorbesprechungen fanden am gleichen Sonntag in meinem Büro statt. Für den Montag waren die Landesführer zu einer dringenden Sitzung nach Wien berufen worden. Der Bundeskanzler wollte bei dieser Gelegenheit eine Reihe von wichtigen Umbesetzungen vornehmen. Diejenigen Landesführer, die nicht zugleich auch den Posten eines Landeshauptmannes bekleideten, sollten von ihren Posten abberufen werden und die Landeshauptleute an ihre Stelle treten. Ausnahmen wurden lediglich in der Steiermark und in Vorarlberg gemacht.
Der Bundeskanzler informierte die Landesführer einzeln über seine Pläne und holte bei dieser Gelegenheit auch ihre Meinung ein. Nach meiner Erinnerung fanden die Landesführer ohne Ausnahme das Projekt richtig.
Die Regierungen der befreundeten Staaten wurden vertraulich informiert.
Am Mittwoch den 9. März reiste Dr. Schuschnigg nach Innsbruck, um vor den dortigen Amtswaltern der vaterländischen Front seine Absicht, ein Plebiszit durchzuführen, bekanntzugeben. Er war der Meinung, dass er als Tiroler gerade in Innsbruck, der Stadt, in der er viele Jahre gewirkt hatte, den richtigen Ton für die wichtige Rede finden würde. Der Bundeskanzler kehrte an den Ausgangspunkt seiner politischen Karriere zurück, um den entscheidenden politischen Schlag seines Lebens zu führen.
Der Plan war geheim geblieben. Wohl gab es dort und da Gerüchte, dass der Bundeskanzler eine Volksabstimmung plane, besonders findige Köpfe brachten sogar die Reise des Kanzlers nach Innsbruck mit diesen Kombinationen in Zusammenhang – der Termin aber war nicht bekanntgeworden. Allerdings war der Kreis der Eingeweihten ein relativ kleiner gewesen. Ich nehme an, dass nicht einmal die Mitglieder der Regierung, mit Ausnahme des Aussenministers, vor dem Dienstag informiert wurden.
Am Dienstag abend bat der Bundeskanzler den Sicherheitsminister Dr. Seyss-Inquart zu sich in das Haus der vaterländischen Front. Er teilte ihm in einem Gespräch unter vier Augen seinen Plan mit, allerdings ohne ihm den Termin, den er am nächsten Tag verkünden wollte, zu sagen. Nach dieser Aussprache kam Dr. Seyss zu mir, um von mir Näheres zu hören. Ich konnte ihm nicht mehr mitteilen, als dass ich mit der Durchführung von Vorarbeiten betraut worden sei. Schon bei dieser Gelegenheit sagte mir Dr. Seyss, er sei davon überzeugt, dass die Front eine klare Mehrheit erzielen werde. Vor seiner Abreise nach Innsbruck gab mir Dr. Schuschnigg den Auftrag, Dr. Seyss am nächsten Morgen den genauen Termin bekanntzugeben.
Die Innsbrucker Rede wurde natürlich durch den österreichischen Rundfunk übertragen. Im Studio der Ravag fand sich am Abend eine kleine Anzahl von Freunden ein, um die Uebertragung zu hören und nötigen Falles rasch nach der ersten Sendung auch noch einige Aufklärungen bekanntgeben zu können. In der Stadt hatten sich wieder wie in all den letzten Tagen Gruppen von Demonstranten angesammelt, die, verschiedene Parolen rufend, die Stadt durchzogen. Die Polizei griff nach wie vor nur sehr zögernd ein und erzeugte durch dieses Verhalten weitere Unruhe. Die Demonstranten gegen die Regierung wurden durch diese zögernde Haltung der Sicherheitsexekutive zu weiterem Lärm ermutigt, die Demonstranten für die Regierung hatten das Gefühl, dass die Polizei nicht auf ihrer Seite stehe und nahmen deshalb eine feindselige Haltung gegen die Polizei ein. Das ging nun seit vielen Tagen in den nächtlichen Strassen der Stadt auf und ab, mit viel Lärm und vielen Drohungen, allerdings ohne ernstliche Zusammenstösse. Man beobachtete oft Gruppen, die sich auf den Strassen gegenüberstanden, sich Kampfparolen zuriefen, stundenlang, ohne dass es einem der Demonstranten eingefallen wäre, auf seine Gegner einzudringen.
Die Rede des Bundeskanzlers machte grossen Eindruck. Aus seinen Worten sprach der ganze Ernst, mit dem er die Situation betrachtete. Er wollte nach der Rede im Bundestag seine Anhänger zum zweiten Mal zu absoluter Festigkeit aufreissen und wollte ihnen diesmal zugleich mit noch eindringlicheren Worten die Gefahr zeigen, in der sich das Vaterland befand. Als der Kanzler ausrief »Am Sonntag wird abgestimmt!« erhob sich ein unbeschreiblicher Jubel, der in den Gesang des Andreas-Hofer-Liedes, des alten Tiroler Freiheitsliedes, ausklang. Auch uns, die wir im Studio der Ravag zuhörten, beeindruckte die Rede ausserordentlich stark. Freilich waren die Worte, die die Innsbrucker Versammlung von Begeisterung getragen, sang, unheilschwer. Im Andreas-Hofer-Lied heisst es:
Zu Mantua in Banden der treue Hofer war,
In Mantua zum Tode führt ihn der Feinde Schar,
Es blutete der Brüder Herz,
Ganz Deutschland, ach, in Schmach und Schmerz
Mit ihm das Land Tirol, mit ihm das Land Tirol.
Am Vormittag des 9. März hatte ich auftragsgemäss dem Sicherheitsminister Dr. Seyss-Inquart mitgeteilt, dass die Volksbefragung am kommenden Sonntag stattfinden solle. Ich besprach mit ihm ausführlich die Möglichkeiten, die diese Abstimmung im Sinne der Befriedung des Inneren haben könne. Für die Anhänger des Nationalsozialismus ergaben sich drei Möglichkeiten. Sie konnten erstens die von der Regierung gestellte Frage mit Ja beantworten. Das wäre durchaus im Sinne des Uebereinkommens von Berchtesgaden gelegen gewesen. Die Fragestellung des Plebiszits lautete: »Bist du für ein freies, unabhängiges, deutsches, christliches und autoritär geführtes Oesterreich?« Diese Fragestellung entsprach dem Programm der vaterländischen Front, in die sich die Nationalsozialisten im Sinne des Berchtesgadener Protokolls einordnen sollten. Die Bejahung der Frage hätte den Nationalsozialisten die Möglichkeit gegeben, auf Grund des offenen Bekenntnisses, das sie ablegten, ihre Forderungen rasch durchzusetzen. Der Bundeskanzler war durchaus bereit, noch vor der Abstimmung – ohne Rücksicht auf ihren Ausgang – Zusicherungen zu geben, die den politischen Lebensraum, den die Nationalsozialisten selbst und mit Unterstützung des deutschen Reiches verlangten, garantiert hätten. Das hat er dem Vertrauensmann der Nationalen, Dr. Seyss-Inquart, direkt mitgeteilt und durch mich sagen lassen.
Die zweite Möglichkeit für die Nationalsozialisten bestand darin, sich der Stimme zu enthalten. Das hätte ihnen die Möglichkeit gegeben, alle Wahlenthaltungen, deren es ja bei jeder Volksbefragung einen grösseren oder kleineren Prozentsatz gibt, auf ihr Konto zu buchen und ihre Stärke wirksam zu zeigen. Wenn auch keine Listen vorhanden waren, die die Zahl der Stimmberechtigten vor der Volksbefragung genau angaben, so war doch auf Grund der letzten Volkszählung, der letzten Wahlen zum Nationalrat und anderer statistischer Behelfe die Zahl der Wahlberechtigten so genau festzustellen, dass die mögliche Differenz den Satz von zehn Prozent bei weitem nicht erreicht hätte. Wenn die Nationalsozialisten diese zahlenmässige Anhängerschaft besassen, von der sie immer wieder sprachen, so hätte diese zweite Methode die Möglichkeit gebracht, vor aller Welt die Stärke der nationalen Opposition zu erweisen. Auch das wäre eine Methode gewesen, die zur Erreichung des gesteckten Zieles geführt hätte.
Drittens endlich hätten die Nationalsozialisten die Möglichkeit gehabt, gegen die ausgegebene Parole zu stimmen. Auch das hätte ihre tatsächliche Stärke klar erwiesen.
Nach der ersten Ueberlegung schien Dr. Seyss für die erste Möglichkeit eingenommen zu sein. Er fragte sich nur, ob er im Stande sein werde, die Kräfte der Partei, in deren Schlepptau er immer mehr gekommen war und die sich gegen die positive Haltung entscheiden mochten, zu binden. Die wahrscheinliche Haltung der nationalen Opposition, glaubte Dr. Seyss damals, werde sich in der Stimmenthaltung dokumentieren. In diesem ersten Gespräch, nach der Bekanntgabe des Termins, wiederholte mir der Sicherheitsminister das, was er mir bereits am Vortag gesagt hatte: er glaubte, dass die Regierung mit einer stattlichen Mehrheit aus dem Abstimmungskampf gehen werde. Er fragte mich, wie ich die Chancen einschätze. Ich wiederholte das, was ich auf Grund der Einzelerhebungen im ganzen Bundesgebiet, die wir periodisch machten, festgestellt hatte. Ohne jede Beeinflussung müssten von hundert Stimmberechtigten zwischen 68 und 75 für den Bundeskanzler stimmen.
Dr. Seyss erklärte mir, dass diese Schätzung mit seiner eigenen Meinung übereinstimme.
Die Vorbereitungsarbeiten waren am Mittwochabend im wesentlichen beendet. Für jede Stunde, die zwischen dem Morgen des Donnerstag und der Nacht vom Sonntag den 13. auf Montag den 14. lag, waren für jede einzelne Instanz genaue Arbeitspläne ausgearbeitet. Es war Vorsorge getroffen, dass noch im Laufe des Donnerstag der Wahlaufruf, den der Bundeskanzler selbst verfasst hatte, in einer genügenden Anzahl von Stimmzetteln und Flugschriften, die die Parolen kurz erläuterten, bis in die entlegensten Gemeinden gelangte. Wenn man bedenkt, dass es in den Alpenländern Gemeinden gibt, die von der nächsten Bahnstation viele Stunden weit entfernt liegen, dass es Eisenbahnstationen gibt, die von Wien aus erst in zehn und mehr Stunden zu erreichen sind, wird man die organisatorische Leistung, die hier vollbracht worden ist, richtig einschätzen können. Das aufgestellte Programm wurde genau erfüllt. Eine Gebirgsgemeinde in Tirol hat am Sonntag, den 13. März die Volksbefragung durchgeführt. Das Ergebnis lautete 95 % für Schuschnigg. Die Bevölkerung hatte von den tragischen Ereignissen, die sich inzwischen abgespielt hatten, keine Kenntnis bekommen.
In Wien setzten wir naturgemäss mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung standen, ein. Die Stimmung in der Bevölkerung war ausserordentlich erregt. In den Kreisen unserer Anhänger aber war man sehr siegesgewiss.
Für die Abstimmung sollten im Rundfunk die Vertreter aller Länder, aller Stände, aller Verbände und sonstigen Gruppen sprechen. Die Führungen all dieser Organisationen erklärten sich auch gerne bereit, durch Aufrufe ihren Mitgliedern nahezulegen, für Schuschnigg zu stimmen. Man muss bedenken, dass in Oesterreich das Vereinswesen durchaus nicht etwa gleichgeschaltet war. Trotz des autoritären Kurses genossen alle Verbände, soferne sie sich nicht staatsfeindlicher Propaganda oder Betätigung schuldig machten, volle Vereinsfreiheit. Das Bekenntnis zur Abstimmungsparole war ein spontanes, durchaus nicht etwa erzwungenes. Der evangelische Oberkirchenrat übermittelte uns zum Beispiel eine Erklärung, in der er für die Wahlparole Stellung nahm. Die Haltung des Kardinals Innitzer und der katholischen Kreise war naturgemäss eine positive. Der Kardinal hatte ja nach der Rede des Kanzlers im Bundestag völlig spontan eine Erklärung abgegeben, in der er in den Worten höchster Begeisterung von den Ausführungen des Kanzlers im Bundestag sprach und in der von einem »Alpdruck« die Rede war, der durch diese Rede von ihm genommen worden sei.
Wir erwarteten die Abstimmung mit Spannung, erregt, aber mit vollster Zuversicht. Es mochte ruhig so sein, dass in einzelnen Gemeinden, etwa in der Steiermark, die Nationalsozialisten zu einer Mehrheit kamen. Das konnte aber das Gesamtergebnis, das wir zu erwarten hatten, nicht stören.
Am Donnerstag hatte der Bundeskanzler eine eingehende Aussprache mit dem Sicherheitsminister Dr. Seyss, in der ihm dieser die Schwierigkeiten auseinanderlegte, auf die er bei seinen Gefolgsleuten, die ihm ständig das Gefolge verweigerten, gestossen war. Der Bundeskanzler machte ihm Zusicherungen, um ihn davon zu überzeugen, dass er nicht die Absicht habe, die Nationalsozialisten durch ein gutes Wahlergebnis um die Zusagen zu prellen, die ihnen vor und durch Berchtesgaden gemacht worden waren. Dr. Seyss liess sich überzeugen und erklärte sich schliesslich bereit, am Freitagabend im Rundfunk zu sprechen, um die Nationalsozialisten Oesterreichs aufzufordern, für die Parole der Regierung zu stimmen. Er war der Meinung, dass durch diese Rede zwar nicht alle Nationalsozialisten davon zu überzeugen wären, dass es für sie richtig sei, für die Regierung zu stimmen, dass er aber Störungen der Wahl durch Demonstrationen dadurch verhindern werde.
Die Tatsache, dass sich Dr. Seyss-Inquart dem Bundeskanzler gegenüber bereit erklärt hat, für das Plebiszit im Rundfunk zu sprechen, und zwar am Freitag den 11. März, haben mir der Bundeskanzler selbst und der Aussenminister Dr. Guido Schmidt, dem es der Kanzler mitgeteilt hatte, berichtet.
Auf der Seite der Nationalsozialisten hatte die Nachricht von der in so kurzer Zeit stattfindenden Abstimmung ausserordentlich starke Wirkung. Die revolutionären Gruppen verlangten nun mit aller Kraft den offenen Aufstand und die deutsche Intervention, die gemässigten Kreise fürchteten das Wahlergebnis, das den eigenen Anhängern das wahre Zahlenverhältnis der innerpolitischen Kräfteverteilung zeigen musste. Für die Wahlparole zu stimmen, schien ihnen ein Verrat an der eigenen Idee zu sein. Man hatte den Anhängern schon zu viel versprochen, man hatte sich im vertrauten Kreis augenzwinkernd zugeflüstert, dass der Führer dem und jenem, der ihn in den letzten Tagen besucht habe, im Vertrauen gesagt habe, dass er seine österreichischen Parteigenossen befreien werde – so oder so. Man hatte einander eingeredet, dass das ganze Land nationalsozialistisch sei, und dass die Anhänger der Front nichts anderes seien als ein Häuflein bezahlter Subjekte, Postenkleber, um ihre Existenz besorgte öffentliche Beamte. Nun kam diese Abstimmung, die unter allen Umständen etwas anderes als dieses Bild zeigen musste, sehr ungelegen. Dazu kam der Richtungskampf in der eigenen Partei. Es ging nicht um den politischen Lebensraum für die Oesterreicher nationalsozialistischer Weltanschauung, um den in Berchtesgaden verhandelt worden war, sondern um den Erfolg der einen Gruppe von Nationalsozialisten gegen die andere. Es waren Mandate und Posten zu erwarten. Diese Mandate und Posten konnte die eine oder die andere nationalsozialistische Richtung bekommen. Darum ging der Kampf.
Man macht sich keinen Begriff davon, welche Rolle in der ganzen Entwicklung des Nationalsozialismus in Oesterreich dieser Konkurrenzkampf innerhalb der eigenen Partei, dieser Postenhunger, dieser Ehrgeiz und dieser Egoismus spielten, der auf dem Wege über die Politik das zu erreichen versuchte, was auf Grund der eigenen Leistungen, der eigenen Begabung, der eigenen Faulheit und der mangelnden moralischen Qualität nicht zu erreichen war. Die Anhäufung von Faulpelzen und Postenjägern, von Leuten, denen es am eigenen Lebensernst und eigenen Leistungswillen fehlte, die deshalb nicht die Erfolge hatten, die sie sich erträumten und die nun das Regime für ihre eigene Unzulänglichkeit verantwortlich machten, im Rahmen der österreichischen Partei, hat sich nach dem Umsturz in klarer Form gezeigt. Niemand kann es besser wissen als ich, der ich die österreichischen Nationalsozialisten im politischen Kampf gründlich kennen gelernt habe, dass die Gruppe aufrechter überzeugter Männer, die für ihre Weltanschauung mit Opfermut eintraten und die wirkliche und ehrenwerte Kämpfer für ihre Idee gewesen sind, im Gefüge der illegalen Partei gegen die andere Sorte politischer und menschlicher Unzulänglichkeit in der Minderheit war.
Zum Teil ist das darauf zurückzuführen, dass eine Partei, die lange in der Opposition steht, immer dazu verurteilt ist, das menschliche und politische Strandgut aufzunehmen, die Oppositionellen um jeden Preis, die Oppositionellen aus Not, die Oppositionellen aus Missgunst, die Oppositionellen aus Unfähigkeit, die Aussenseiter der Gesellschaft aus eigener Schuld. Die Schuld des Nationalsozialismus besteht aber darin, dass er diese Gruppen gehätschelt hat, dass er sie in führende Stellen aufrücken liess, dass er eine Menge von Intriganten für eine politische oder weltanschauliche Ueberzeugungsmasse hielt.
Nach Berchtesgaden hatte Hitler eine neue Landesleitung der illegalen Partei ernannt. Diese neue Landesleitung sollte Ordnung in den Intrigantenhaufen bringen. Vor so wichtige Entscheidungen gestellt, wie es das geplante Plebiszit war, gingen aber die Meinungen in der Partei mehr durcheinander als je vorher. Die vielgerühmte Disziplin war bei den kleinen Gefolgsleuten unten vorhanden. Mit dieser Disziplin brüsteten sich die einzelnen Führer. Sie selber aber glaubten, dass das Führerprinzip für sie selbst erschaffen worden sei und bei ihnen ende. Zwischen sich selbst und Hitler schien diesen Leuten die Hierarchie der Bewegung nicht in Ordnung zu sein.
Unter solchen Verhältnissen konnte der Aktivismus, den Schuschnigg nun zu entwickeln schien, für die Nationalsozialisten verheerend sein. Sie sahen eine Gefahr für ihre Bewegung – nicht etwa für ihren politischen Lebensraum, für ihre Partei und nicht etwa für ihre nationalen Rechte. Auch aus diesen Gründen ist Hitler in Oesterreich einmarschiert. Ob er es selber wusste, kann ich nicht feststellen. Dass es aber jeder bessere Parteifunktionär aus Gründen seiner Karriere für notwendig hielt, dass marschiert wurde, davon bin ich überzeugt.
Wären sonst die Drohungen und Erklärungen des Reichskommissars Bürkel erklärlich, die er in den Monaten April und Mai schon in aller Oeffentlichkeit abgeben musste und in denen er von seinen Parteigenossen als von Faulpelzen und Postenjägern sprach?
Der Bundeskanzler kam früh am Morgen aus Innsbruck wieder in Wien an. Noch in den Vormittagsstunden hatte ich eine lange Aussprache mit Minister Dr. Seyss in Gegenwart des Staatsrates Dr. Jury. Dr. Jury teilte mir sehr aufgeregt mit, er habe erfahren, dass in der Vorwärts-Druckerei der Auftrag gegeben worden sei, zwei Millionen Flugblätter mit der Parole »Freiheit« und dem Symbol der Sozialdemokratie, den drei Pfeilen, herzustellen. Die Blätter befänden sich bereits im Druck.
Ich wusste, dass es sich um Flugblätter der vaterländischen Front handelte, die ganz andere Texte trugen und sagte Dr. Seyss, er solle doch als Sicherheitsminister Nachschau halten lassen, was denn in den Druckereien hergestellt werde. Es stellte sich natürlich heraus, dass ich recht gehabt hatte. Dr. Jury erklärte weiter, die Nationalsozialisten seien durch die Anberaumung der Volksabstimmung in eine unmögliche Lage gekommen. Sie hätten das Gefühl, diese Abstimmung richte sich gegen sie. Ich erwiderte, dass die Abstimmung nicht gegen die Nationalsozialisten gerichtet sei, sondern lediglich eine Erneuerung des Bekenntnisses zum Programm der vaterländischen Front darstelle, in der ja nach Berchtesgaden auch die Oesterreicher nationalsozialistischer Weltanschauung mitarbeiten sollten. Ich sagte den Herren, ich sei davon überzeugt, dass sich ein Modus finden liesse, der es jedem Nationalsozialisten, der den Willen zu loyaler Mitarbeit besitzt, möglich machen werde, an der Abstimmung teilzunehmen. Dr. Jury blieb skeptisch. Er verwies auf die starke Teilnahme von Arbeitern an unseren Demonstrationen und sagte, bei einzelnen Aufmärschen sei beobachtet worden, dass die Arbeiter rote Fahnen mit sich geführt und mit geballter Faust gegrüsst hätten. Ich konnte diese Möglichkeit nicht ausschliessen, stellte aber fest, dass es sich hier um Einzelfälle gehandelt habe. Im übrigen seien die Arbeiter eben durch die nationalsozialistischen Demonstrationen, an denen zu 90% halbwüchsige Burschen beteiligt waren, gereizt worden. Nun dürfte man sich nicht über die Erregung dieser Kreise aufregen, die man selbst provoziert habe. Weiters erzählte Dr. Jury, dass Nachrichten vorlägen, aus denen hervorgehe, dass in Wien Arbeiter bewaffnet werden. Auch von diesem Gerücht war mir nichts bekannt. Ich verwies, wie schon vorher, auf die Möglichkeit, die der Sicherheitsminister habe, nachzuforschen, ob dieses Gerücht auf Wahrheit beruhe. Ich erkundigte mich übrigens später an massgebender Stelle, ob an dieser Meldung irgend ein wahres Wort sei und erhielt die Auskunft, dass es sich um eine freie Erfindung handle. Ich glaubte nun, die beiden Herren beruhigt zu haben und gab der Erwartung Ausdruck, dass es in der für den gleichen Tag vorgesehenen Aussprache zwischen dem Bundeskanzler und Dr. Seyss möglich sein werde, alle Missverständnisse aufzuklären und zu einem guten Ende zu kommen.
Ich habe Grund zur Annahme, dass die gleichen Gerüchte und »Meldungen«, die mir Dr. Jury erzählt hatte, auch nach Deutschland weitergegeben worden sind. Dem deutschen Reichskanzler wurden sie wahrscheinlich in noch viel schärferer Form erzählt als mir, dem man es als unmittelbar Beteiligten doch nicht zumutete, dass er Märchen glauben würde. Der Grund für diese Meldungen ist mir klar. Die Herren in der Landesleitung der illegalen Partei wollten Hitler in Zorn versetzen und ihn dazu zwingen, rasch zu handeln. Sie hatten Erfolg. Hitler fuhr nach Berlin und berief einen Kriegsrat ein.
Schon an diesem ersten Tag nach der Verkündigung des Plebiszits langten bei der vaterländischen Front Spenden in grosser Höhe ein. Der Bundeskanzler hatte einen Vertrauensmann mit der Verwaltung dieser Spendenaktion und der Führung der finanziellen Angelegenheiten, die mit dem Plebiszit in Zusammenhang standen, bestellt. Sein Büro glich einem Bienenhaus. Unaufhörlich kamen unaufgefordert Menschen, die Spenden in verschiedener Höhe überbrachten. Von Beträgen, die in die Hunderttausende gingen bis zu dem einen Schilling, den Hausgehilfinnen und Arbeitslose an unseren Kassen erlegten, war jede Summe vertreten. Ich möchte besonders betonen, dass es durchaus nicht nur etwa die Kreise der Wirtschaft und, innerhalb dieser, jüdische Kreise waren, die mithelfen und mitopfern wollten. An den Spenden, die uns zur Verfügung gestellt wurden, waren alle Bevölkerungsschichten beteiligt.
Gegen Mittag erreichte mich ein Brief des Ministers Dr. Seyss, der auf unsere Aussprache vom Mittwoch Bezug nahm und der auch vom Mittwoch datiert war.
Der Brief hatte folgenden Wortlaut:
Bundesminister Dr. Seyss-Inquart
Wien, am 9. März 1938.
Lieber Minister!
Du hast mir heute mitgeteilt, dass der Herr Bundeskanzler sich entschlossen habe, am 13. ds. eine Art Volksbefragung durchzuführen. Der Herr Bundeskanzler hat Dich beauftragt, mir seinen Entschluss mitzuteilen. Ich sehe mich daher bemüssigt, Dir meine Stellungnahme zu dieser Absicht bekanntzugeben, mit dem Ersuchen, den Herrn Bundeskanzler entsprechend zu informieren.
Die Befragung ist gestützt auf Art. 93 der Verfassung unter analoger Anwendung der Bestimmungen des Art. 65 ff. Gegenstand der Befragung ist im wesentlichen ein Bekenntnis zu Oesterreich auf den Grundlagen der Verfassung 1934. Hiezu bemerke ich, dass meines Erachtens eine mit dem Charakter einer Volksentscheidung ausgestattete Befragung gemäss Art. 93 überhaupt nicht angeordnet werden kann.
Die kundgegebene Verneinung der gestellten Frage selbst könnte überdies als Tatbestand des Hochverrates angesehen werden. Hiezu kommt, dass die Abstimmung über Grundlagen erfolgt, zu denen sich die politisch beachtbaren Kräfte und Gruppen dieses Landes ohnehin schon seit längerer Zeit bekannt haben.
Der Zweck dieser Abstimmung ist daher nicht so sehr in einer feierlichen Bekräftigung dieses Staates zu suchen, sondern er verfolgt politische Ziele aus der augenblicklichen Lage. Die offenbare und vordringliche Bedeutung dieser Abstimmung kann nur darin gesehen werden, dass der heutigen Regierung und dem heutigen Zustand das Vertrauen ausgesprochen werden soll. Die Verweigerung der Bejahung der gestellten Frage müsste daher nicht als staatsfeindliche, sondern nur als oppositionelle Einstellung auf dem Boden des heutigen Staates gewertet werden. Auf diesen Umstand habe ich bereits anlässlich meiner gestrigen Unterredung mit dem Herrn Bundeskanzler verwiesen, in der ich ganz allgemein ohne nähere Einzelheiten und insbesonders ohne Bekanntgabe eines Termines über die Absichten einer solchen Befragung orientiert wurde.
Im Sinne der mir gemäss Punkt II, 3, der Vereinbarung von Berchtesgaden obliegenden Verpflichtungen habe ich nunmehr die im Zusammenhang mit dieser Abstimmung auftauchenden Fragen geprüft. Die Lage ist nun so: auf Grund meiner im Einvernehmen mit dem Frontführer und Bundeskanzler am 5. ds. in Linz verkündeten Absichten erwarten nunmehr die Nationalsozialisten ihren Einbau in alle behördlichen und politischen Funktionsstellen des Staates und der Front. Es ist undenkbar, dass die Nationalsozialisten ihre oppositionelle Einstellung nicht zum Staat, sondern zu dem heutigen Zustand aufgeben, bevor dieser Einbau nicht im wesentlichen durchgeführt ist. Da sie nunmehr unvermutet und vorzeitig zu einer Abstimmung aufgerufen werden, die nur eine Bejahung zulässt, wenn der Abstimmende sich nicht dem Verdacht hochverräterischer Einstellung aussetzen soll, bin ich bemüssigt, im Sinne der mir obliegenden Verpflichtungen, aber auch im Hinblick auf die Verantwortungen, die mir als Innen- und Sicherheitsminister obliegen, die Beobachtung nachstehender Bedingungen für diese Abstimmung zu verlangen.
Der Wahlvorgang hat in allen Bundesländern nach einheitlichen Gesichtspunkten zu erfolgen, deren Wahrnehmung dem Innenminister obliegt. In die Sprengelkommissionen wird seitens der volkspolitischen Referate je ein Vertrauensmann entsandt. Die Abstimmung erfolgt geheim. Für diesen Zweck steht eine Zelle zur Verfügung. Der Stimmzettel wird in geschlossenen Kouverts übergeben. Die Abgabe eines leeren Kouverts oder eines Kouvertes mit leerem Zettel oder eines Zettels mit anderen als zusätzlichen Bemerkungen für eine bejahende oder verneinende Abstimmung, gelten als ungültige Stimmabgabe und werden als solche gezählt.
Sowohl in Detailergebnissen wie im Gesamtergebnis wird die Zahl der Wahlberechtigten, der Wahlbeteiligten, der Ja-, Nein-, und ungültigen Stimmen ausgewiesen. Den einzelnen Gruppen steht die Freiheit der Parolenausgabe in Versammlungen und durch Flugschriften zu. Es erfolgt nirgends ein geschlossener Wahlgang, am Wahltag selbst hat jede auf die Wahl bezügliche Kundgebung zu unterbleiben. Den Schutz des Wahlvorganges übernimmt lediglich die Exekutive.
Unter der Voraussetzung, dass der Wahlvorgang sich unter diesen Bedingungen abspielt, bin ich in der Lage, demselben im Sinne der mir gemäss II, 3, der Berchtesgadener Vereinbarung obliegenden Verpflichtung zuzustimmen und glaube auch als Sicherheitsminister nunmehr für einen ruhigen Verlauf die Gewähr übernehmen zu können.
Da es sich, wie bereits erwähnt, im vorliegenden Fall nicht um ein grundsätzliches Bekenntnis zum Staat, sondern um eine Stellungnahme zur Regierung und augenblicklichen Lage handelt, wird mit einer bejahenden Einstellung der Nationalsozialisten nur dann zu rechnen sein, wenn die Regierungszusammensetzung die Voraussetzung für eine solche positive Einstellung der Nationalsozialisten bietet.
Ich bitte Dich, von Vorstehendem Kenntnis zu nehmen und zeichne mit herzlichen Grüssen
Dr. Seyss-Inquart m.p.
Ich nahm an, dass Dr. Seyss dieses Schreiben nach ausführlicher Beratung mit seinen Freunden verfasst hatte und die Stellungnahme seiner Person und der Nationalsozialisten, mit denen er sich umgab, darstellte. Ich beeilte mich, diesen Brief dem Bundeskanzler zur Kenntnis zu bringen. In der Aussprache teilte mir Dr. Schuschnigg mit, dass er von Dr. Seyss ebenfalls ein Schreiben erhalten habe, datiert vom 10., in dem der Minister über den Inhalt des an mich gerichteten Schreibens hinausgehend eine stärkere Vertretung der »Oesterreicher nationalsozialistischer Weltanschauung« in der Bundesregierung auch unter Hinweis auf Forderungen des volkspolitischen Referenten in der Steiermark verlangte. In diesem Brief polemisierte Dr. Seyss gegen die Verfassungsmässigkeit des Plebiszits und verwies auf die technischen Bedingungen, die er in seinem Schreiben an mich gestellt hatte.
Der Kanzler stellte zu dem an mich gerichteten Brief des Dr. Seyss fest:
Dr. Schuschnigg schrieb an Dr. Seyss am 10. März folgenden Brief:
Der Bundeskanzler
Wien, den 10. März 1938.
Hwg. Herrn Bundesminister
Dr. Arthur Seyss-Inquart
Wien.
Sehr geehrter Herr Minister!
In Beantwortung Ihres geschätzten Schreibens vom 10. ds. erlaube ich mir, folgende Stellungnahme bekanntzugeben:
Die Abmachungen von Berchtesgaden waren in einer eindeutigen Weise umgrenzt, und es bestand, insbesonders auch nach unseren persönlichen Rücksprachen, kein Zweifel darüber, dass die Wiederzulassung von Parteien nicht in Frage kommen könne.
Jedenfalls hat sich heute deutlich decouvriert, wie die österreichischen Nationalsozialisten sich den deutschen Frieden vorstellen. Wenn ein Teil den Frieden nicht will, kann ihn leider der andere nicht erzwingen. Ich bin gerne bereit, Ihre Versicherung zu gemeinsamer Mitarbeit zur Kenntnis zu nehmen, muss Sie aber dringendst bitten, als Sicherheitsminister dafür Vorsorge zu treffen, dass dem Terror Einhalt geboten wird, weil ich sonst nicht in der Lage bin, die Gegenkräfte weiter niederzuhalten.
Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung und zeichne mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung
Schuschnigg e.h.
Die Lage hatte sich nun insoferne geklärt, als Dr. Seyss, nachdem die technischen Bedingungen, die er gestellt hatte, erfüllt waren, sich als Vertrauensmann des Berchtesgadener Abkommens mit der Volksbefragung einverstanden erklärte und bereit war, die Garantie für einen ruhigen Verlauf des Plebiszits zu übernehmen.
Ob die Nationalsozialisten nun mit »Ja« oder »Nein« stimmten oder sich der Wahl enthielten, war ohne Belang.
Dr. Seyss hat seine Briefe nicht ohne vorherige Beratung mit seinen Freunden verfasst. Wenn das aber so ist, dann ist auch der dokumentarische Beweis dafür erbracht, dass erst der Befehl Hitlers, der am Freitag früh in Wien eintraf, die aufrührerische Haltung der österreichischen Nationalsozialisten hervorrief.
Die deutschen Stellen haben im In- und Auslande nachdem Umsturz die offizielle Meldung verbreitet, dass die Vertrauensmänner der Nationalsozialisten über die Volksbefragung nicht informiert waren, gegen ihre Durchführung nach der Publikation protestiert hätten u. s. w. Die nationalsozialistischen Stellen wissen entweder nicht, dass Dr. Seyss mir den angeführten Brief geschrieben hat oder sie versuchen, diesen Tatbestand zu verdunkeln, weil er ihre These von der Eroberung Oesterreichs unmöglich macht.
Für den Abend des Donnerstag war überdies eine Aussprache zwischen dem Bundeskanzler und Dr. Seyss vereinbart.
Im Laufe dieses Tages ordnete der Bundeskanzler als Landesverteidigungsminister die Einberufung eines Jahrgangs der Reserve an. Von österreichischen Grenzstationen kam die Nachricht, dass man auf deutschem Boden in der Nähe der Grenze deutsche Truppenansammlungen bemerkt habe. Schon in den Tagen vorher hatten einzelne Teile der deutschen Wehrmacht Uebungen in der Nähe unserer Grenze durchgeführt. Nach den Nachrichten, die nun in den Vormittagsstunden des Donnerstag von unseren Vertrauensleuten in Bayern eintrafen, handelte es sich um grössere Zusammenziehungen auch im Räume von München und auf allen Linien, die an die österreichische Grenze führen.
Am frühen Nachmittag hatte ich eine Besprechung mit einem hohen Funktionär der sozialen Arbeitsgemeinschaft. Wir sprachen über Fragen der Plebiszitpropaganda in den Reihen der Arbeiterschaft, in der, wie er mir versicherte, eine wenn auch erregte so doch ausserordentlich zuversichtliche Stimmung herrsche. Nebenbei erzählte er mir eine bezeichnende Einzelheit. Bei unserem Vertrauensmann in einem Wiener Vorort hatten sich Vertreter von grösseren Gruppen junger Leute gemeldet, die angaben, dass sie in den letzten Tagen nationalsozialistische Demonstrationen in der inneren Stadt veranstaltet hätten. Für diese Tätigkeit hätten sie den Betrag von fünf Schilling pro Kopf erhalten. Die Beschäftigung sage ihnen aber nicht sehr zu. Um den Preis von vier Schilling seien sie nun bereit, für die Regierung und gegen die Nationalsozialisten zu demonstrieren.
Gegen Abend fand die vereinbarte Aussprache zwischen dem Bundeskanzler und Dr. Seyss statt, von der ich andern Ortes berichtet habe. Dr. Seyss erklärte sich im Verlauf dieser Aussprache bereit, den ruhigen Verlauf des Plebiszits zu gewährleisten und selbst am Freitag im Rundfunk für die Abstimmung zu sprechen.
Am Morgen des 11. März hatten wir alle das Gefühl, dass dieser Tag die Lösung der Spannungen bringen müsste. Ich fuhr in mein Büro und hörte die Referate des Präsidialchefs und der Dienstgruppenleiter. Einer meiner Vertrauensleute brachte mir die Meldung, dass Minister Glaise-Horstenau, der etliche Tage vorher nach Deutschland gereist war, um einen Vortrag zu halten, gestern bei Hitler gewesen sei. Der Reichskanzler sei in wütender Stimmung, und Glaise-Horstenau bringe nun ein Ultimatum mit.
Wenige Minuten später rief mich der Bundeskanzler zu sich auf den Ballhausplatz. Ich traf ihn in seinem Arbeitszimmer. Es war derselbe Raum, in dem Dollfuss ermordet wurde. Der Kanzler fragte mich, ob ich wisse, wo sich Minister Seyss-Inquart aufhalte. Er könne ihn nirgends erreichen. Durch meine Nachrichtenstelle stellte ich fest, dass Seyss auf dem Flugfeld Aspern gewesen war, um Minister Glaise-Horstenau abzuholen. Von dort war er in die Stadt zurückgekehrt. Er befand sich nun aber weder in seinem Büro noch in seiner Advokaturskanzlei. Aus den Räumen, in denen sich die illegale Landesleitung befand, in der Seitzergasse, wurde angegeben, dass er sich auch dort nicht aufhalte. Sein Wagen hatte allerdings kurz vorher in der Seitzergasse geparkt.
Ich legte dem Bundeskanzler folgende Berichte vor:
Der Bundeskanzler hat einzelne dieser Meldungen bereits durch die Staatspolizei erfahren. Er bestätigt mir, auf meine Frage, dass Dr. Seyss sich gestern bereit erklärt habe, für das Plebiszit im Rundfunk zu sprechen. Ich frage den Bundeskanzler, ob er die Sicherheitsvorkehrungen für ausreichend halte. Dr. Schuschnigg ist davon überzeugt. Er glaubt, dass die deutschen Truppenbewegungen nichts anderes sind als ein Einschüchterungsmanöver. Er hält es für ausgeschlossen, dass Hitler in der ausserordentlich klar für Oesterreich sprechenden Situation irgend etwas unternehmen könnte, das ihm internationale Schwierigkeiten bereiten müsste.
Um die Situation zu klären, beruft der Kanzler mehrere Mitglieder des Kabinetts und führende Persönlichkeiten zu sich. Es sind das: die Minister Pernter, Raab und Schmidt, die Staatssekretäre Skubl und Zehner, der Bürgermeister von Wien, Richard Schmitz, der Reichsbauernführer Reither, der Präsident der Bundesbahnen Stockinger und der Präsident des Gewerkschaftsbundes Staud.
Der Kanzler erläutert den Herren die gegenwärtige Lage.
Nach längerer Beratung mit den anwesenden Herren gelangt der Kanzler zum Entschluss, die technischen Bedingungen, die in dem Schreiben des Ministers Dr. Seyss-Inquart an mich genannt worden waren, zu erfüllen.
Der Kanzler ersucht die Herren, noch im Hause zu bleiben und will nun die Antwort an Dr. Seyss diktieren.
In diesem Augenblick tritt der Sekretär Dr. Schuschniggs, Baron Fröhlichsthal, ein und überbringt einen Brief des Dr. Seyss, der die Gesamtsituation grundlegend ändert.
Wir wollen hier festhalten, dass die Entwicklung bis zum Freitag den 11. März 12 Uhr mittags folgende markante Punkte zeigte:
In der Einleitung dieses Briefes wird darauf verwiesen, dass dieses Schreiben im Namen der nationalen Minister (Dr. Seyss und Dr. Glaise) und der nationalen Staatsräte (Dr. Jury, Dr. Fischböck u. s. w.) abgerichtet sei. Der Brief ist von Seyss und Glaise unterzeichnet. Er hat den Charakter eines Ultimatums. In der Einleitung wird die Verfassungsmässigkeit der Volksbefragung bestritten, jedoch die Durchführung einer Volksabstimmung, im Sinne des Artikels 65 der österreichischen Bundesverfassung, nach Ablauf von vier Wochen für möglich gehalten. Mit der technischen Durchführung soll der Innenminister Dr. Seyss-Inquart betraut werden. Die Zusammensetzung der Wahlkommissionen soll so erfolgen, dass in jeder einzelnen ein Vertreter der volkspolitischen Referate bzw. ein Vertrauensmann der Nationalsozialisten seinen Sitz hat. Die Möglichkeit der Wahlpropaganda soll allen Teilen, also auch den Nationalsozialisten zugestanden werden.
In einer Wendung wird auf die Bedingungen Bezug genommen, die bei der Saarabstimmung in Geltung waren. Das lässt die Vermutung offen, dass ein Sachkundiger dieser Abstimmung bei der Redaktion dieses Teiles mitgewirkt hat. Im wesentlichen wird also die Absage der vom Bundeskanzler ausgeschriebenen Volksbefragung verlangt und die Möglichkeit einer Volksabstimmung unter besonderen Bedingungen nach Ablauf von vier Wochen zur Erwägung gestellt. Für den Fall der Ablehnung der mit diesem Schreiben aufgestellten Forderungen, geben die beiden Minister und die sonstigen nationalen Funktionäre ihre Demission und lehnen jede Verantwortung für das weitere Geschehen ab.
Der Brief verlangt bis ein Uhr mittags eine Entscheidung. Der Bundeskanzler hat ihn nach zwölf Uhr mittags erhalten. Es bleibt ihm weniger als eine Stunde Zeit.
Die Herren, die über das erste Schreiben des Dr. Seyss beraten haben, sind noch anwesend. Der Inhalt des Briefes wird mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Er wird als neuerlicher Stellungswechsel des Dr. Seyss aufgefasst. Die Materie ist so umfangreich, dass eine schriftliche Beantwortung in der kurzen Zeit nicht möglich ist.
Die Annahme der technischen Bedingungen, die auf die Abstimmung Bezug haben, bereitet nach den vorausgegangenen Beratungen keine Schwierigkeiten. Eine Absage der Volksbefragung ist für Dr. Schuschnigg unmöglich. Er hat für diese Abstimmung die persönliche Verantwortung übernommen und hat im Bundestag deutlich erklärt, dass er weitere Forderungen von nationalsozialistischer Seite nicht annehmen werde.
Die weitere Entwicklung im Falle einer Ablehnung ist klar: die Nationalsozialisten Oesterreichs beginnen im ganzen Lande nach dem festgesetzten Plan mit Unruhen. Es muss innerhalb weniger Stunden zu schweren Zusammenstössen in vielen Teilen des Landes kommen. In diesem Fall muss die Bundesregierung alle verfügbaren Kräfte dazu verwenden, um die Aufstandsbewegung niederzuschlagen. Es kommt zu Blutopfern, – im besten Fall zu Inhaftierungen grossen Stils. Unter solchen Voraussetzungen ist damit zu rechnen, dass der Vorwand zur Kündigung des Abkommens von Berchtesgaden formell gegeben ist. Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht oder der »österreichischen Legion« ist unter diesen Umständen sicher zu rechnen.
Es muss nach Möglichkeiten gesucht werden, um diese Entwicklung abzuwehren. Die Meinungen der Persönlichkeiten, die der Bundeskanzler bei sich versammelt hat, sind geteilt. Es ist also vor allem notwendig, die gestellte Frist zu verlängern. Dr. Schuschnigg gibt inzwischen seine Meinung bekannt.
Inzwischen wird gemeldet, dass Dr. Seyss mit Glaise-Horstenau im Bundeskanzleramt eingetroffen ist. Der Bundeskanzler gibt dem Minister Schmidt und mir den Auftrag, mit den beiden Herren wegen einer Verlängerung des Termins Fühlung zu nehmen. Dr. Seyss erklärt uns, dass er bereits sein möglichstes getan habe, um den Termin hinauszuziehen. Er habe bereits die Verschiebung von zehn Uhr vormittags bis ein Uhr mittags mit Mühe durchgesetzt. Wir machen ihn auf die ungeheuren Folgen, die diese Handlungsweise und diese skandalöse Methode nach sich ziehen würden, aufmerksam. Nach längerer Debatte geht Dr. Seyss ans Telephon und erklärt uns, dass er die Verschiebung um eine weitere Stunde erreicht habe.
Ich sage nun Dr. Seyss, ich könnte mir nicht vorstellen, dass diese Taktik und diese Politik von ihm ausgehen, weil das in einem vollkommenen Widerspruch zu seiner bisherigen Haltung stünde. Er bestätigt mir meine Ansicht und sagt mir, er habe die Entwicklung nicht mehr in Händen, das Gewicht der Entscheidung liege bei der Partei.
Wir kehren in das Zimmer des Bundeskanzlers zurück. Dort ist inzwischen die Entscheidung gefallen. Der Bundeskanzler will sich in Uebereinstimmung mit den anwesenden Herren für den dritten Eventualfall, den er vorher formuliert hatte, entscheiden. Die Abstimmung soll am Sonntag den 13. stattfinden. Die technischen Bedingungen, die gestellt worden sind, werden erfüllt. Es handelt sich um die vorher zitierten Massnahmen, die Dr. Seyss und seine Freunde für notwendig erachten, um die Partei von ihren radikalen Plänen abzubringen und zu einer Mitwirkung zu veranlassen.
Dr. Schmidt und ich erhalten den Auftrag, dies den Ministern Seyss und Glaise mitzuteilen. Wir finden die beiden Herren im Ministerratsaal und teilen ihnen die Annahme der Bedingungen mit der vom Bundeskanzler gemachten Einschränkung mit.
Dr. Seyss erklärt uns, dass er diese Einschränkung nicht zur Kenntnis nehmen könne, er habe nur die Vollmacht, die ganze und bedingungslose Annahme der Bedingungen zu akzeptieren, die er in seinem Briefe angeführt hatte. Wir machen Dr. Seyss nochmals auf die unmögliche Situation aufmerksam, in der er sich befindet und verweisen auf die möglichen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, dass er sich als Mitglied der Regierung zum Sprecher der illegalen Partei, die ihre Weisungen wahrscheinlich aus dem Reiche habe, mache.
Wir kehren wieder zum Bundeskanzler zurück, um ihm den Standpunkt des Dr. Seyss mitzuteilen.
Dr. Schuschnigg nimmt die Mitteilung, die wir ihm machen, zur Kenntnis. Es bleibt nun nur noch die erste oder zweite Möglichkeit, die der Kanzler zu Anfang der Beratung genannt hatte.
Der Bundeskanzler begibt sich nun zum Bundespräsidenten, um ihm Bericht zu erstatten. Er kehrt zurück und bittet einige Herren, die sich noch in seinem Vorzimmer aufhalten, sich zum Bundespräsidenten zu begeben.
Ich bleibe mit dem Kanzler in seinem Arbeitszimmer allein. Wir gehen langsam und ruhig in seinem Zimmer auf und ab. Er setzt mir nochmals die Gründe für seine Haltung auseinander und legt mir nahe, unter allen Umständen in der Regierung zu bleiben, auch wenn er ausscheide. Ich antworte ihm darauf, dass das für mich unmöglich sei. Die neue Entwicklung läuft offenbar auf einer Linie, die in einem offenen Widerspruch zu meiner bisherigen politischen Haltung steht. Es werden sich, so meinte ich, wie immer die Entwicklung läuft, Aufgaben in grosser Zahl für mich ergeben. Der Bundeskanzler nimmt mich am Arm und sagt mir: »Ihr dürft nicht alle gehen, es geht doch um das Land!« Ich antworte ihm darauf, dass das Schicksal des Landes nicht mehr in den Büros, sondern auf den Barrikaden liegt.
Draussen surren noch unsere Propagandaflugzeuge und streuen Millionen von Flugblättern über die Stadt, in der es summt und braust, deren Strassen sich immer mehr mit Demonstranten beider Richtungen füllen. Ueber dem Land liegt eine Atmosphäre unerträglicher Spannung. Von Viertelstunde zu Viertelstunde werden durch den Rundfunk Wahlparolen durchgegeben. Die Vertreter aller Stände und Gruppen, die Vertreter der Religionsgemeinschaften und der Länder sprechen für die Volksbefragung. Unten, unter den Fenstern des Ballhauspalais bauen die Arbeiter das Haus der vaterländischen Front. Wir wollten die Dachgleiche am 1. Mai feiern. Auf der anderen Seite steht das Dollfussdenkmal vor der Vollendung. Am gleichen ersten Mai soll es eingeweiht werden.
Der Ballhausplatz ist vom Verkehr abgesperrt. Nur wenige Menschen gehen vorbei. Aber draussen in den Strassen der Stadt ist ein Ameisenhaufen in Bewegung geraten. Solche Demonstrationen haben wir in den letzten Tagen und Wochen oft genug erlebt. Das sind Neugierige, das sind Unruhige, die strassauf, strassab gehen. Sensationslüsterne und Leute, die irgend eine Gelegenheit suchen, um irgend etwas zu tun. Da draussen sind die Züge der Demonstranten, die ihre Parolen rufen, schreien. Nicht die losgelassene Volksseele sondern einfache Demonstranten, die ihrer Sache dienen wollen, dadurch, dass sie sich zeigen, dass sie in geballter Menge da sind.
Diese Demonstranten sind nicht einmal über das gewöhnliche Mass hinaus rauflustig. Zu körperlichen Misshandlungen kommt es selten. Es gibt keinen Todesfall.
Man hat – auch ohne Konkretes zu wissen – das Gefühl, dass etwas Umstürzendes, Ungeheures geschehen muss. Ein entflammtes Streichholz kann genügen, um die gewaltige Stichflamme des Geschehens zum Himmel auflodern zu lassen. Ein Schrei kann es sein, ein Schuss, ein Steinwurf. Die Menschen eilen in dieser wahnsinnigen Stimmung hin und her. Sie warten auf dieses Ereignis, warten auf dieses eine, das nun kommen wird und kommen muss, denn die Erregung ist nicht mehr zu ertragen.
Unzählige Telephongespräche vermitteln diese Stimmung in das Bundeskanzleramt. Hier herrscht mühsam aufrechterhaltene Ruhe. Aber über dem ganzen Gebäude steht die Atmosphäre, von der ich gesprochen habe, wie eine Säule hitzezitternder Luft.
Im Vorzimmer des Bundeskanzlers hat sich eine grosse Zahl Wartender angesammelt. Aus dem Kleiderständer ist ein Mantelberg geworden. Wer wird da noch jemals sein Kleidungsstück herausfinden? Die Menschen stehen herum. Die Telephone klingeln ununterbrochen. In einer Ecke sitzt ein führender Herr des Regimes mit einem Buch. Ich trete zu ihm, um zu sehen, was er liest. Es ist die Geschichte der Renaissance in Italien. Man hört alle Meinungen. Man hört die verschiedensten Pläne. Man will etwas tun. Man muss etwas tun.
Und die Zeit vergeht. Die von Dr. Seyss angegebene Zeit vergeht.
Dr. Seyss sagt, es sei aussichtslos anzurufen. Man könne hier keine Entscheidungen mehr fällen. Die Entscheidung liege anderswo.
Wo?
In Berlin.
Damit ist endlich das Wesentliche an den Ereignissen dieser Tage ausgesprochen. Hitler hat sich über das Uebereinkommen von Berchtesgaden, das er sich selbst erzwungen hatte, hinweggesetzt, er hat aus der Neubestellung der Landesleitung der illegalen Partei die Konsequenz gezogen und befiehlt nun dieser seiner Landesleitung, was sie zu tun hat. Hitler hat das Uebereinkommen vom 11. Juli 1934 gebrochen. Wo waren nun die Versicherungen der Nichteinmischung? Wo blieb nun sein gegebenes Wort, – wo das alles? Wozu hatte man das Theater von Berchtesgaden aufgeführt, wenn man die Absicht hatte, sich über das, was man sich erzwungen hatte, bei der nächsten Gelegenheit hinwegzusetzen?
Der Grund lässt sich leicht erraten. Man hatte die österreichische Regierung dazu zwingen wollen, ihrerseits dieses sonderbare Vertragsinstrument zu verletzen. Aus Notwehr zu verletzen. Nun galt es also, einen Vorwand zu schaffen.
In diesem Augenblick, in dem Dr. Seyss zugab, dass die Entscheidung in Berlin liegt, wurde das ganze österreichische Problem von massgebender Seite klar umrissen: es handelte sich nicht um politische Rechte österreichischer Nationalsozialisten, um deren Wohl sich Hitler annehmen zu müssen glaubte. Es handelte sich nicht um einen »Befreiungskampf« der österreichischen Nationalsozialisten, sondern um die Eroberung eines Landes durch die deutsche Militärmacht.
Wir legen es Dr. Seyss nahe, in Berlin anzurufen. Wir wollen Klarheit haben und die Wahrheit feststellen. Nach einiger Ueberlegung entschliesst sich Seyss. Er geht zum Telephon und ruft Göring in Berlin an.
Das Gespräch wird in der Zentrale mitgehört. Der Bericht, den mir der betreffende Herr, der an der Leitung war, nachher erstattete, stimmt mit den Mitteilungen, die Dr. Seyss mir machte, vollkommen überein.
Er kehrt sehr bleich und aufgeregt vom Telephon zurück. Dr. Schmidt und ich treffen ihn im Säulensaal. Er hat mit Göring gesprochen und ihm die Annahme der gestellten Bedingungen mit der Einschränkung bezüglich des Termins mitgeteilt. Göring ersucht ihn, einen Augenblick am Telephon zu bleiben. Er wolle mit dem Führer sprechen. Nach kurzer Zeit kommt der preussische Ministerpräsident zurück und diktiert Seyss die Antwort, die dieser auf einen Zettel aufschreibt. Er sagt ihm »Teilen Sie das Schuschnigg wörtlich mit!«
Auf dem Zettel heisst es: »Das Ultimatum gilt nach der erteilten Antwort für abgelehnt. Es ist nun der Rücktritt Schuschniggs zu verlangen. Mit der Bildung der neuen Regierung ist Dr. Seyss zu betrauen. Die Mehrheit des neuen Kabinetts muss aus Nationalsozialisten bestehen. Sollte diese neue Bedingung nicht akzeptiert werden, so beginnt um halb acht Uhr abend der Einmarsch der deutschen Armee nach Oesterreich. Sie haben innerhalb einer Stunde Bescheid zu geben. Sollten sie nach Ablauf einer Stunde nicht angerufen haben, so wird hier angenommen, dass sie behindert sind.«
Ich gebe den Text dieses neuen Ultimatums nicht wörtlich, aber völlig sinngetreu wieder. Dr. Seyss hat Dr. Schmidt und mir den erwähnten Zettel unmittelbar nach seinem Gespräch vorgelesen.
Dr. Seyss fragt uns, ob wir dem Bundeskanzler diese Nachricht überbringen wollen. Ich sage ihm, dass das seine persönliche Aufgabe sei. Auf eine Bemerkung meinerseits zuckt Dr. Seyss mit den Schultern und sagt: »Ich bin nichts als ein historisches Telephonfräulein. Ich habe nur die Nachricht zu überbringen und keinen Einfluss.«
Schon nach wenigen Minuten tritt er wieder aus dem Zimmer des Bundeskanzlers.
Der Bundespräsident weigert sich, Dr. Schuschnigg seines Amtes zu entheben und seine Demission zur Kenntnis zu nehmen. Er weigert sich weiter, den Minister Dr. Seyss zum Bundeskanzler zu ernennen.
Inzwischen hat das amtliche deutsche Nachrichtenbüro durch den deutschen Rundfunk eine Meldung durchgegeben, nach der die Gerüchte, die besagen, dass die deutsche Regierung in Wien ein Ultimatum habe überreichen lassen, vollkommen unrichtig seien. Es handle sich lediglich um innere Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und der nationalen Bevölkerung, in die sich die deutsche Reichsregierung nicht einmische, so lange sie dazu nicht von massgebender Stelle aufgefordert werde.
Der Bundespräsident verweist auf den Widerspruch, der zwischen dieser Nachricht und den tatsächlich überreichten Ultimaten besteht, und regt an, auf diplomatischem Weg in Berlin Aufklärung zu verlangen.
Dr. Schuschnigg kehrt nach der Weigerung des Bundespräsidenten, ihn zu entheben, in sein Büro zurück und beginnt Besprechungen mit Funktionären der Polizei und des Bundesheeres.
Er prüft die Möglichkeiten des bewaffneten Widerstandes. Der Staatssekretär für Landesverteidigung und der Staatssekretär für Sicherheit raten dem Kanzler zur Nachgiebigkeit. Der Widerstand österreichischer Truppen, die sich nicht wie die deutschen an der Grenze befinden, sondern im ganzen Bundesgebiet disloziert sind, wird ausserordentlich schwierig und wenig erfolgreich sein. Man muss damit rechnen, dass die Aufstandbewegung im Innern nicht nur die Exekutive, sondern auch Teile des Heeres festhalten wird, dass Brücken und Eisenbahnlinien gesprengt werden, die die Mobilität der dezentralisierten Kräfte weiter behindern. Für die Aufstellung freiwilliger Hilfstruppen ist es zu spät. Die Entscheidung wird, wenn das Reich seinen Angriff beginnt, in wenigen Stunden fallen. Die beiden Herren verlassen kreidebleich das Zimmer des Kanzlers.
Dr. Seyss ist durch das scharfe Tempo, das ihm durch Berlin vorgelegt wird, sehr bedrückt. Einer der führenden Nationalsozialisten, der auch heute eine massgebende Rolle in Oesterreich spielt, tritt auf mich zu und sagt mir: »Es ist furchtbar, man wird aus Oesterreich ein zweites Elsass machen!«
Indessen läuft die Stunde, die von Göring dem Dr. Seyss gegeben worden war, ab. Die Mitarbeiter des Dr. Seyss, die zugleich die führenden Referenten der illegalen Landesleitung sind, haben sich um Dr. Seyss versammelt. Auch sie sind ausserordentlich aufgeregt. Auf sie geht der Plan zurück, der nun Wirklichkeit wird, aber auch sie stehen jetzt unter ungeheurer Spannung, sind masslos aufgeregt. Globotschnigg geht ans Telefon und ruft neuerlich Göring an. Er will eine neue Fristverlängerung. Es gelingt ihm. Die Zeit, bis zu der Dr. Seyss zum Bundeskanzler ernannt sein muss, wird für halb sieben Uhr festgesetzt. Um halb acht Uhr abend wird mit dem Einmarsch begonnen.
Unterdessen prüft der Bundeskanzler mit seinen Freunden die Chancen des Widerstandes. Es sind die wichtigsten Gespräche des Tages, die er nun, ruhig an seinem Schreibtisch sitzend, führt. Es ist später erzählt worden, der Bundeskanzler sei allein in seinem Arbeitszimmer gewesen und hätte Radionachrichten angehört, um seine Nerven zu beruhigen. Dazu ist zu sagen, dass der Bundeskanzler an diesem Tage kaum einige Minuten allein war und dass in keinem Raum des Präsidiums des Kanzleramtes weder vorher, noch an diesem Tage ein Radioapparat vorhanden war. Nach eingehenden Gesprächen mit einer grösseren Anzahl von Herren, begibt sich der Kanzler neuerlich zum Bundespräsidenten.
Kurze Zeit später wird ein Vermittlungsvorschlag gemacht. Der Bundespräsident will unter dem Druck der deutschen Einmarschdrohung den Präsidenten des obersten Rechnungshofes und ehemaligen Bundeskanzler Dr. Otto Ender zum Bundeskanzler ernennen und in das Kabinett, neben Dr. Seyss-Inquart als Vicekanzler, eine grössere Anzahl von Nationalsozialisten berufen.
Auch dieser Vorschlag wird, wie zu erwarten war, abgelehnt, wiewohl Dr. Seyss selbst dafür wäre. Ich habe das Gefühl, dass er sich vor der Verantwortung, die er in einer historischen Stunde übernehmen soll, fürchtet.
Der Bundespräsident führt nun mit dem Bürgermeister Schmitz und Staatssekretär Dr. Skubl Besprechungen.
Von seinen Freunden dazu gedrängt, hat Dr. Seyss indessen begonnen, eine Kabinettsliste aufzustellen. Sie sieht noch ein wenig anders aus als das Kabinett, das wenige Stunden später der Oeffentlichkeit präsentiert wird. Für die auswärtigen Angelegenheiten hat Dr. Seyss den Minister Dr. Guido Schmidt eingesetzt. Ich nehme dem Dr. Seyss den Zettel aus der Hand und gebe ihn Dr. Schmidt, der neben mir steht. Dr. Schmidt erklärt, dass das für ihn unter gar keinen Umständen in Frage komme. Er sagt zu Seyss und den herumstehenden Nationalsozialisten: »Ihr müsst zur Kenntnis nehmen, dass es für mich so etwas wie den Begriff der Treue und Anständigkeit gibt. Ich bin den Weg mit Schuschnigg gegangen, ich werde auch mit ihm abtreten.«
Wir erhalten nun die Nachricht, dass ein deutsches Regierungsflugzeug mit zwei Insassen in Berlin mit der Richtung Wien gestartet sei. Wir stellen fest, dass diese beiden Insassen der Staatssekretär Keppler und sein Sekretär Dr. Vehsemayer sind.
Dr. Schuschnigg ruft Dr. Schmidt und mich in sein Arbeitszimmer und sagt uns, dass sein Entschluss zurückzutreten unabänderlich sei. Dieser Entschluss liegt in der Linie der Erwägungen, die er bereits nach seiner Rückkehr aus Berchtesgaden angestellt hatte. Die Verschiebung des Plebiszits, die nun unvermeidlich war, könne er wohl anordnen, die Konsequenzen aber, die sich daraus ergeben, müsse ein neues Kabinett ziehen. Er sehe nun, dass es unrichtig war, einen Vertrag zu schliessen. Er für seinen Teil halte sich an diesen Vertrag für gebunden. Das Land aber müsste nun aus der neuen Situation, in der dieser Vertrag nicht mehr existiert, die Schlussfolgerungen ziehen.
Der Bundespräsident ist inzwischen bei seiner Weigerung, Dr. Seyss zum Bundeskanzler zu ernennen, geblieben. Die Mitarbeiter des Dr. Seyss, Dr. Rainer, Globotschnigg und Dr. Mühlmann, fassen den Entschluss, den Bundespräsidenten aufzusuchen, um ihm ihren Standpunkt zu erklären und ihm die Lage, wie sie sich ihnen darstellt, zu schildern.
Nach 6 Uhr nachmittags liegt die Situation so:
Die Erwägung, vor die wir um diese Zeit gestellt sind, hat folgende Ansatzpunkte:
Es findet sich zwar die englische Regierung bereit, in Berlin eine Demarche zu unternehmen, es fehlt ihr aber die Möglichkeit einer Fühlungnahme mit der französischen Regierung, weil es im Augenblick in Paris keine Regierung gibt. Auch von anderen Staaten wird geraten, zuzuwarten und die Ereignisse nach Möglichkeit hinauszuzögern.
Sollen wir die Verantwortung übernehmen, tausende von Menschenleben in einem Bürgerkrieg zu opfern und zugleich tausende von Menschenleben in einem aussichtslosen Krieg gegen die deutsche Heeresmacht einzusetzen? In einem Krieg, dessen Ausgang ohne jede Hilfe von aussen völlig klar ist?
Das ist die Entscheidung, vor die Schuschnigg gestellt ist. Oesterreich ist unter dem Druck einer ungeheuren und bedenkenlosen Gewalt. Wo sind die Erklärungen der Westmächte, wo die römischen Protokolle, wo die deutsche Erklärung über die österreichische Unabhängigkeit?
An diesem Abend des 11. März 1938 beginnt Hitler eine neue Zeit. Er beendet die Epoche, die man Nachkriegszeit genannt hat. Er setzt den Schlusspunkt unter die Ereignisse, die seit 1914 Europa in Spannung gehalten haben. Er zieht die Konsequenz aus der Kriegsangst der europäischen Staaten und erobert ein Land im Frieden mit Heeresmacht, ohne dass ihn mehr als ein formeller Protest stört. Oder war es nur eine deutsche »Familienangelegenheit«? Es war mehr – es war viel mehr!
Das sind die Gedanken, die die führenden Männer des dritten Oesterreich am jüngsten Tag ihres Staates bewegen. Sie haben ihre Schlacht verloren, weil sie geglaubt haben, dass es unter deutschen Männern auch in Staatsgeschäften und in den Fragen des Schicksals der ganzen Nation ein Manneswort gibt, weil sie das, was nun geschieht, für unmöglich gehalten haben. Sie verwechseln immer noch das deutsche Volk mit dem Nationalsozialismus. Sie glaubten es nicht, dass es im ganzen deutschen Volk jemanden geben könnte, der ein grossdeutsches Reich auf Verrat und Lüge seinen eigenen Volksgenossen gegenüber begründen will.
Es muss betont werden, dass alle diese Erwägungen, die Möglichkeit eines Anschlusses Oesterreichs an das deutsche Reich noch nicht in Rechnung stellten. Man glaubte, dass es sich um die Erzwingung eines nationalsozialistischen Regimes in dem selbständigen Staate Oesterreich, etwa nach dem Muster von Danzig, handle.
Dieser Ueberzeugung war auch Minister Seyss, nachdem sich die Entscheidung bereits vollzogen hatte. Er fühlte sich, als ich ihn zuletzt sprach – es mag nach sieben Uhr gewesen sein – bereits als Bundeskanzler, obwohl sich der Bundespräsident nach wie vor weigerte, ihn zu ernennen. Er sagte mir, in zwei Hauptpunkten lasse er nicht mit sich handeln. Das eine sei die Selbständigkeit Oesterreichs und das zweite, die Möglichkeit für das konservativ-katholische Element, sein Eigenleben zu entfalten.
Ich hatte meine engsten Mitarbeiter kurz über die Lage aufgeklärt und stand auf der Hauptstiege, als Herr Keppler in Begleitung von Dr. Vehsemayer heraufkam. Keppler zog sich mit Seyss und Glaise und den Mitarbeitern des Dr. Seyss in einen Raum zurück, um die Instruktionen, die er mitgebracht hatte, zu erläutern und das neue Kabinett nach den Berliner Wünschen zu konstituieren.
Inzwischen hatte ich gemeinsam mit Dr. Schmidt die Möglichkeit, noch eine Aussprache mit Glaise zu pflegen, in der wir ihn fragten, ob er die Gewähr für die Sicherheit der Person Dr. Schuschniggs zu übernehmen bereit sei. Wir hielten es für richtig, dass sich der Kanzler ins Ausland begebe, weil er im Lande weder für seine Idee, noch für seine Mitarbeiter unter den gegebenen Umständen wirken konnte. Glaise sagte uns seine persönliche Garantie zu und versprach, dafür zu sorgen, dass der Kanzler unbehindert ins Ausland gelangen könne. Dr. Schuschnigg weigerte sich indessen, das Land zu verlassen. Er habe sein ganzes Können und Trachten für das Wohl dieses Landes eingesetzt. Oesterreich sei seine Heimat, niemand könne von ihm verlangen, dass er seine Heimat verlasse.
Ich hatte noch einen Mitarbeiter in ein Büro bestellt, das in einem anderen Stockwerk lag. Als ich dorthin ging, trat ein mir bekannter Nationalsozialist, der nicht aus Oesterreich stammte, auf mich zu und sagte mir, er erinnere sich daran, dass ich ihm einmal menschlich sehr geholfen habe. Nun sei es an ihm, sich zu revanchieren. Er rate mir, nicht an das zu glauben, was Dr. Seyss sage. Die Pläne Hitlers seien andere.
Dr. Schuschnigg hatte den Auftrag gegeben, alles vorzubereiten, damit er von seinem Büro aus eine Erklärung an das österreichische Volk abgeben könne. Er notierte sich kurz diese Abschiedsworte und ging ans Mikrophon.
»Der heutige Tag hat uns vor eine schwere und entscheidende Situation gestellt. Ich bin beauftragt, dem österreichischen Volk über die Ereignisse des Tages zu berichten.
Die deutsche Reichsregierung hat dem Herrn Bundespräsidenten ein gefristetes Ultimatum gestellt, nach welchem der Herr Bundespräsident einen ihm vorgeschlagenen Kandidaten zum Bundeskanzler zu ernennen und die Regierung nach den Vorschlägen der deutschen Reichsregierung zu bestellen hätte, widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen für diese Stunde in Aussicht genommen wurde. Ich stelle fest, vor der Welt, dass die Nachrichten, die in Oesterreich verbreitet wurden, dass Ströme von Blut geflossen seien, dass die Regierung nicht Herrin der Lage wäre und aus eigenem nicht hätte Ordnung machen können, von A bis Z erfunden sind.
Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volk mitzuteilen, dass wir der Gewalt weichen. Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in dieser ernsten Stunde nicht, deutsches Blut zu vergiessen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, für den Fall, dass der Einmarsch durchgeführt wird, ohne Widerstand sich zurückzuziehen und die Entscheidungen der nächsten Stunden abzuwarten. Der Herr Bundespräsident hat den General der Infanterie Schilhawsky, den Generaltruppeninspektor, mit der Führung der Wehrmacht betraut. Durch ihn werden weitere Weisungen an die Wehrmacht ergehen.
So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volk mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Oesterreich!«
Damit war auch für mich die Entscheidung gefallen. Ich teilte sowohl Dr. Seyss, als auch dem Minister Glaise und zwei weiteren Herren, die noch am selben Abend Mitglieder der neuen Regierung wurden, mit, dass ich nun ins Ausland abreise.
In mir war alles zusammengebrochen, ich war keines Gedankens mehr fähig. Ich fuhr in der nächsten Stunde aus Wien fort, ohne auch nur einen Koffer, ein Kleid oder irgend etwas mitzunehmen.
Aber was war das, was mich betraf, gegen das beispiellose Unglück, das nun über meine Freunde hereinbrach, das ich nicht abwehren konnte, weil mir jede Möglichkeit dazu fehlte? Es blieb mir nur noch das Erinnern, aus dem ich nun schöpfe, um das Ende des dritten Oesterreich der Wahrheit getreu aufzuzeichnen. Denn die Vergangenheit ist die Schwelle des Künftigen.
Schuschnigg verständigte durch sein Aussenamt die Regierungen von England, Frankreich, Italien und Ungarn von seiner Absicht, ein Plebiszit zu veranstalten.
Er fand überall freudige Zustimmung. Die englische wie die französische Regierung hatten ihm, nachdem er aus Berchtesgaden zurückgekommen war, den dringenden Rat gegeben, das Ultimatum anzunehmen. Man teilte ihm mit, dass es für den Augenblick notwendig sei, die Bedingungen Hitlers anzunehmen. Man wusste, dass die Ablehnung die Wahrscheinlichkeit eines europäischen Krieges in sich schloss. Diesen europäischen Krieg wollte man vermeiden. Man riet, – wiewohl die Form des Ultimatums bekannt war, – die Forderungen Hitlers zu akzeptieren.
In ein bis zwei Monaten, so lautete die Auskunft, werde die europäische Lage anders sein. Man legte der österreichischen Regierung nahe, alles zu tun, um jetzt einen Konflikt zu verhüten. Schuschnigg machte auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die für ihn im Innern entstehen mussten. Aber er war sich im klaren darüber, dass er jede Hoffnung auf eine spätere Hilfe selbst verhinderte, wenn er den Ratschlag nicht befolgte.
Nach Berchtesgaden erhielt ein österreichischer Diplomat den Auftrag, Mussolini über den Inhalt der Unterredung von Berchtesgaden zu informieren. Er übergab dem Duce ein Gedächtnisprotokoll über das Gespräch von Berchtesgaden. Dieses Dokument machte auf den italienischen Regierungschef den grössten Eindruck. Die Aussprache dauerte mehrere Stunden. Das Urteil Hitlers über die italienische Position, über die Qualität der italienischen Armee, zeigte den deutschen Bundesgenossen plötzlich von einer anderen Seite. In Berchtesgaden war nichts von der Verbundenheit der Ideologien, nichts von der Unverletzbarkeit der Achse gesagt. Im Gegenteil, hier war der deutsche Machtwille, war die Ausnutzung der Schwäche, unter dem das fascistische Imperium zu leiden hatte, klar ausgesprochen worden. Mussolini stand vor einer schwierigen Situation. Er konnte einen Konflikt mit dem deutschen Reich nicht riskieren, bevor er nicht den so lange angestrebten Kontrakt mit den Westmächten in der Tasche hatte. Er wusste, dass ihm die Eroberung Oesterreichs durch Deutschland eine weitere Schwächung bringen musste. Die italienische Position in Mitteleuropa, die mühsam und unter grossen Opfern in vielen Jahren aufgebaut worden war, drohte verloren zu gehen.
Mussolini wusste, dass man im Westen mit dieser Gefahr für Italien rechnete. Er wusste, dass der Druck Deutschlands auf Oesterreich ein Druck auf ihn war, der ihn dazu bringen sollte, in seinen Verhandlungen mit England und in weiterer Folge mit Frankreich nachgiebig zu sein. Aber Mussolini sah noch etwas anderes. Er sah die französische Position in Mitteleuropa, in weiterer Folge auch die Interessen Englands durch einen Einmarsch Hitlers bedroht. Eine wirksame Aktion gegen den Einmarsch Hitlers in Oesterreich war auch für England und Frankreich, die keine gemeinsame Grenze mit Oesterreich besitzen, fast nur mit Hilfe Italiens durchzuführen. Italien kam in die Lage, den Westmächten einen wichtigen Dienst zu leisten, indem es durch seine Kraft die Eroberung Oesterreichs durch Deutschland verhinderte. Dieser Dienst musste honoriert werden. Mussolini überlegte sich die Gegenrechnung, die er präsentieren wollte. Die Regelung der Verhältnisse im Mittelmeer, die Lösung der spanischen Frage, wirtschaftliche Wünsche, konnten bei dieser Gelegenheit in Erfüllung gehen. Je länger er zuwartete, desto deutlicher wurde den Staatsmännern in London und Paris die Gefahr. Mussolini wartete und riet der österreichischen Regierung, Zeit zu gewinnen.
In London und Paris beurteilte man die Situation mit beneidenswerter Ruhe. Man war davon überzeugt, dass der deutsche Druck auf Oesterreich die Italiener immer nervöser machen musste. Man glaubte fest daran, dass Mussolini jetzt geneigt sein würde, rasch die Bedingungen zu akzeptieren, die man ihm stellte. Man sah im drohenden Konflikt in Oesterreich die Möglichkeit, die Achse ohne eigene Kosten zu zerstören, Deutschland zu isolieren. Man war davon überzeugt, dass Mussolini die Eroberung Oesterreichs, die Isolierung Ungarns, die direkte Grenze zwischen Deutschland und Jugoslavien um jeden Preis verhindern würde. Für diesen Zweck musste er sich in London und damit zugleich in Paris sichern. Man zweifelte nicht daran, dass nun die Vereinbarungen London-Rom und Rom-Paris in ganz kurzer Zeit Wirklichkeit werden mussten. Man sah eine verblüffend einfache Lösung der europäischen Spannungen, einschliesslich des spanischen Konfliktes vor sich.
Deshalb riet man der österreichischen Regierung, Zeit zu gewinnen. Das Spiel stand auf des Messers Schneide. Alle Beteiligten rechneten mit den schlechteren Nerven des anderen. Aber in diesem Falle bewiesen alle Staatsmänner gute Nerven.
Die Ankündigung des Plebiszits durch Schuschnigg war ein Signal. Der österreichische Kanzler brachte damit der Welt zur Kenntnis, dass er nicht mehr warten konnte.
Durch die Ankündigung des Plebiszits wollte Schuschnigg die Haltung der Grossmächte klarstellen. Er wollte sie festlegen. Er wollte das Spiel der Mächte, dessen Objekt die Selbständigkeit des österreichischen Staates war, beenden. Er wusste von uns allen, die wir die unerträgliche Spannung der inneren Lage fühlten, dass es Zeit war, Schluss zu machen.
Aber der Schlag misslang. Noch immer warteten die Grossmächte darauf, dass einer die Nerven verlieren würde. Dass einer weich würde. Man wartete in London. Man wartete in Rom, man wartete in Paris.
Auf dem Ballhausplatz in Wien lag der Schlüssel zur Befriedung Europas. Die Gefahr einer Zerspaltung des Kontinents in ideologische Fronten konnte in Wien behoben werden. Aber niemand wollte als erster nach diesem Schlüssel greifen, weil er zuerst noch andere Fragen bereinigt sehen wollte.
Die Haltung der Engländer ist verständlich. Sie wollten eine Chance ausnützen. Die Haltung der Franzosen ist verständlich, sie sahen die Lösung der Frage in London und in Rom und glaubten die Entscheidung durch eine Regierungsumbildung hinauszögern zu können. Die Haltung der Italiener ist verständlich, sie konnten das Risiko einer Verteidigung Oesterreichs nicht mit dem Bruch der Achse bezahlen, wenn sie nicht vorher andere Sicherheiten hatten.
Die Haltung Hitlers ist verständlich, er nutzte seine Chance aus, weil niemand da war, der ihn daran verhindern konnte.
Alles ist verständlich. In Wien wartete man. In Wien verzweifelte man. In Wien sah man über die Gefahr für das eigene Land hinaus die falschen Fronten der Zukunft.
In London, in Paris, in Rom wusste man, was am Freitag vorging. Man zögerte noch, als Hitlers Armeen bereits marschierten. Man zögerte.
Wenn ein Schuss in Oesterreich gefallen wäre! Dann hätten die Grossmächte eingegriffen, dann wäre Oesterreich zu retten gewesen! Das ist die Meinung vieler, die jetzt sagen, nicht der Mörder, – der Ermordete ist schuldig.
Dieser Schuss war nur zu verantworten, wenn Hilfe zu erwarten stand.
Schuschnigg hatte am Abend des 11. März die tragische Gewissheit, dass Oesterreich von Europa aufgegeben war, dass niemand da war, der helfen wollte, der helfen konnte.
Dieser 11. März ist das entscheidende Datum der Geschichte der künftigen Jahrzehnte.
Denn am 11. März hat es sich gezeigt, dass Europa nicht mehr vorhanden ist. Am 11. März begann der ideologische Krieg.
Etwa um die gleiche Zeit, zu der ich das Bundeskanzleramt verliess, begann auch die Besetzung des Gebäudes durch nationalsozialistische Polizisten und S.S. Leute. Angehörige der Standarte 89, die im Juli 1934 den Anschlag verübt hatten und im Rahmen der Amnestie anlässlich des Abkommens vom 11. Juli auf freien Fuss gesetzt worden waren, erschienen wieder auf dem Ballhausplatz.
Staatssekretär Keppler entwickelte die Direktiven, die er von Berlin mitbekommen hatte. Das Kabinett wurde zusammengestellt, aber der Bundespräsident weigerte sich beharrlich, Dr. Seyss-Inquart zum Bundeskanzler zu ernennen.
Die Frist des Ultimatums war abgelaufen, die deutschen Truppen überschritten die Grenze.
Die offizielle deutsche Nachrichtenagentur meldete, dass Dr. Seyss in einem Telegramm um den Einmarsch der deutschen Truppen gebeten habe. Es ist, historisch betrachtet, vollkommen gleichgültig, ob dieses Telegramm abgesendet worden ist oder nicht. Dr. Seyss war unter gar keinen Umständen berechtigt, eine solche Depesche abzusenden, und zweitens bedurfte es keines Telegramms, um die deutschen Truppen in Bewegung zu setzen. Sie hatten ihre Marschdispositionen lange vorher erhalten.
Wozu die Fiktion dieser Depesche? Zu Unruhen war es in Oesterreich nicht gekommen.
Der Einmarsch war bereits am frühen Nachmittag für halb acht Uhr abends festgesetzt worden, also war das Telegramm nicht notwendig.
Nach eigener Aussage des Dr. Seyss ist seine Betrauung durch den Bundespräsidenten um Mitternacht erfolgt. Also war er nach der Gesamtdemission der Regierung Schuschnigg nichts anderes als ein Privatmann, dessen Depesche rechtlich und historisch ohne Belang ist.
Der erste hohe Funktionär, der nach Staatssekretär Keppler in Wien eintraf, war der Reichsführer der S.S. und der Chef der Gestapo, Himmler.
Um neun Uhr abends hatten die Nationalsozialisten das Bundeskanzleramt bereits besetzt. Der Bundespräsident befand sich in ihrer Gewalt. Unter diesen Umständen, die auch von nationalsozialistischen Führern zugegeben werden, ist von einem verfassungsmässigen Zustandekommen der Regierung Seyss nicht zu reden. Der Bundespräsident hat als Gefangener der Nationalsozialisten unter Druck gehandelt.
Historisch gesehen sind diese Einzelheiten von geringer Bedeutung. Sie müssen aber erwähnt sein, weil die Nationalsozialisten Wert darauf gelegt haben, der Besetzung Oesterreichs einen legalen Mantel umzuhängen und sich auf den Volkswillen zu berufen.
Es ist jedenfalls Tatsache, dass die deutschen Truppen in der Nacht vom 11. auf den 12. März die Grenze des Bundesstaates Oesterreich überschritten haben und deutsche Bombenflugzeuge über das Land donnerten, dass Oesterreich erobert worden ist – meiner Meinung nach sogar gegen Seyss-Inquart und seine »Regierung«.
Adolf Hitler hat in seiner Rede in Wien gesagt: »Ich erstatte heute vor der Geschichte die grösste Meldung meines Lebens. Oesterreich ist ins Reich heimgekehrt.«
Die Geschichte hat diese Meldung registriert. Ich habe als Zeuge des historischen Vorgangs die Pflicht, zu dieser Meldung nach bestem Wissen und Gewissen einige erläuternde Bemerkungen zu machen.