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II

Philosophieren ist nach Sokrates ein Sich-Kümmern um den Tod, – aus dem Schatten, den Vergänglichkeit über das Leben wirft, wächst auch der Yoga. Das ist der Sinn der Legende von jenem indischen Prinzen, dem Zeichendeuter bei seiner Geburt am Leibe ablasen, ihm sei bestimmt, ein weltbeherrschender König oder ein weltüberwindender Buddha zu werden. Sein Vater wollte alle Boten der Vergänglichkeit ihm fernhalten, daß er in der Welt bleibe und König sei, und nicht in die Einsamkeit ginge, um ein Yogin zu werden. Er schloß ihn ein in einen Park und stellte alle Freuden um ihn, daß sein Blick nicht die leidvollen Züge im Antlitz des Lebens träfe. Ein kühler Palast für des Sommers Glut, ein warmer für den Winter, ein dritter für die Regenzeit wandeln dem Prinzen den mahnenden Vergang der Jahreszeiten zum Spiele wechselnden Behagens, wohlbewachte Tore verriegeln sein Idyll mit Frauen und Blumen, Lautenspiel und Freuden gegen die fürchterliche Wirklichkeit des Lebens.

Aber der künftige Buddha langt über die Mauern seines Paradieses, als verlange ihn nach der nahrhaften Bitternis des Wirklichen; auf drei Ausfahrten ins Leben der Menschen begegnet er dem Greise, dem Siechen und dem Toten auf der Bahre, – dreimal spricht die Vergänglichkeit ihn an. Zum Vierten begegnet er einem Yogin als Sinnbild ihrer Überwindung. Und als er diese Erscheinung und ihre Worte in sich bewegend heimkehrt, trifft ihn Vergänglichkeit mit ihrem feinsten, schärfsten Pfeile, ihm kommt die Botschaft entgegen: ein Sohn ist dir geboren! – Da fliegt ein halbdunkles Wort von seinen Lippen, »Rāhulam jātam, bandhanam jātam« – ein kleiner Rāhu ist geboren, eine Fessel ist geboren«. – Ein bitterer Witz, ein Wortspiel, das Klang und Sinn der Botschaft verwandelt. Rāhu ist ein Dämon, der am Himmel dem Monde nachjagt und ihn zu verschlingen droht, wenn der Mond sich verfinstert; der Mond aber ist Sinnbild und Quell aller vegetativen Lebenskräfte, er ist das Gefäß des Göttertrankes »Todlos«, vor allem aber ist »Mond« ein zärtliches Wort für »Sohn«, als Inbegriff der Augenfreude und Erquickung. Wie der Mond den Göttern den Trank ihrer Todlosigkeit schenkt, spendet der Anblick des Sohnes dem Vater die tröstende Gewißheit, nach dem Tode fortzuleben: mit seinen Ahnenopfern speist der Sohn die Toten des Geschlechts im Jenseits, daß sie nicht ins Bodenlose stürzen. Darum ist ein anders Wort für Sohn »Freude« – nandana –, er ist die höchste Freude seines Vaters und des ganzen Geschlechts; mit Bangen erwartet, erlöst er seine lebenden und abgeschiedenen Vorväter von dem Alp, ohne fernere Totenopfer ins Nichts vergehen zu müssen. – »Ein kleiner Mond ist geboren, Freude ist geboren«, das muß der Ruf gewesen sein, der ins Ohr des Prinzen schlug, aber er verkehrte seine Zeichen spielend in den Gegensinn: nicht einer, der ihm Leben schenkte über den Tod hinaus, aber einer, der ihm das Leben nähme und die eigene Vergänglichkeit anzeige, schien ihm verkündigt; keiner, der ihm eine »Freude« (nandana) sei, aber eine Fessel (bandhana), die ihn durch Liebe und Bedürftigkeit an Haus und Welt bände. Denn der Sohn ist der lieblichste und unerbittlichste Bote der Vergangenheit, er offenbart sie dem Vater, indem er als sein wiedergeborenes Ich erscheint, als sein zweites Selbst, berufen, ihn zu überleben und den Lebensraum von ihm zu erben. Auch ohne daß er bestimmt ist, den Vater zu erschlagen, ist Ödipus sinnbildlich Tod und Todbringer des Laios, wie das Korn, das aus der Ähre fällt um zu keimen, die noch ragende in ihrem Anspruch fortzutragen Lügen straft, indem es aus ihr fällt. Das ist der Sinn vom Mythos des Vaters Kronos, der seine Kinder fraß, sobald sie ans Licht traten; er begriff, daß ihr bloßes Dasein für ihn Tod meine, daß neben ihrem Leben sein Weiterleben nur eine Gnadenfrist besage. Ihr Ans-Licht-Treten sprach über ihn das Todesurteil der Vergänglichkeit und löschte ihn schon aus vor dem Medusenantlitz der Natur, die von ihm nehmen muß, was sie den Kindern geben wird.

So wird der künftige Buddha von allen Boten der Vergänglichkeit heimgesucht, von ihnen gemahnt beschreitet er den Weg zu der »Erleuchtung« in Yoga, die ihn über sie hinaustragen soll. Darum spricht er, als er die Frucht seiner Erleuchtung den Wesen aller Welten darreichen will, »Aufgetan ist denen des Todlosen Tor, die Ohren haben, – mögen sie Glauben schenken!« – Unter seinen frühsten Jüngern ragt ein Freundespaar hervor, der eine mit Wunderkräften begabt, der andere mit Erkenntnis, als sie auszogen, den wahren Lehrer zu finden, gaben sie einander das Versprechen, »wer von uns beiden zuerst das Todlose erlangt, soll es dem anderen künden«.

Dieses Todlose kann nicht die Frucht des Zeitgebundenen sein. Alles Gewordene muß zerwerden, so auch die Frucht, die es hervorbringen kann; »alles Entstandene ist gebrechlich«, alles Gestalthafte vergeht, – kein Opfer, keine Tat wirkt das Wunder der Wandlung, den Bann der Endlichkeit zu sprengen. Das bezeichnet die Grenze von Ritualwerk und Moral: sie sind endlich und vermögen nur Endliches zu wirken.

Die Griechen hielten dem Antlitz der Vergänglichkeit den goldenen Schild des Ruhms entgegen, des »Ruhmes, der nie erlischt«, den Archill um den Preis langen Lebens wählte: die Unsterblichkeit des großen Namens; die Christen überwanden den Schrecken des Todes durch den Glauben an einen Auferstandenen, der seine Gläubigen zu ewigem Leben erweckt, – der indische Mensch weiß sich ganz Kreatur, dem allgemeinsten Lose preisgegeben. Gebannt in unfreiwilliges Teilhaben am Lebensflusse, der sich in ihm und rings um ihn zu Gestalten ballt und sie zerrinnen läßt ohne Ende, lebt er seine Vergänglichkeit, sie jagt ihn, – wie entrinnt er ihr? wo fände er das Todlose, das nicht geworden ist und nicht zerwird?

Dieses Unvergängliche erscheint in der Vergänglichkeit selbst, ihr Spiel in allem Gestaltentausch ist das ewig Währende. In und hinter aller Gestalt, die aufblüht und zerfällt, und ein reiner Vorgang ist, ob Baum oder Leib, kein Bestand, ob kurzlebig oder langwährend, – in alledem west ein Bestehendes, das alles Greifbare an sich hervortreibt und, selbst ungreifbar, sich in ihm anzeigt. Gemessen an ihm ist alles Greifbare ein Schein, denn es verfliegt wie eine Wolke, war nicht da und wird nicht sein, es ist flüchtig wie eine Gebärde, unwiderbringlich wie ein Eindruck, schon zerbröckelnd, sei es gleich wie für die Ewigkeit gebaut.

Die Begriffe »real« und »irreal« gewinnen fürs indische Denken Farbe und Gehalt an den Vorstellungen des Unvergänglichen und Vergänglichen. Weil alles Greifbare in der Welt vergänglich ist, wie ein Eindruck, eine Empfindung, ein Gefühl, ist es nur Schein (Māyā), – die Welt in jedem Augenblick eine wechselnde Gebärde des Göttlichen, ihr Schicksalswandel über Äonen der spielende rasende Tanz seiner Kraft, die von sich selber trunken ist, – aber das todlos Unvergängliche kann in seinem Wesen nie Erscheinung werden. Was immer erscheint und greifbar wird, ist Schein des Unvergänglichen. So steckt das Todlose als sein inneres Jenseits in allem Vergänglichen drin, – aber wer erfaßt es? Yoga ist der Weg über die Schwelle dieses Jenseits in uns.

Seine Lehren geben die Technik dieses Weges, hinabzusteigen durch die greifbaren Schichten der Person, das Reich der Sinne und des Denkens, das ihren Gehalt zur Einheit des persönlichen Bewußtseins bringt, einwärts durch die Sphäre, die umfassender ist als das bewußte Ich, durch Schichten rein innerer Erfahrung und Vergegenwärtigung bis in eine Tiefe, die alles das verschlingt, wie sie es trägt.

Yoga ringt um das Problem aller Philosophie: was bin ich? wo fange ich an, wo ende ich und worin gründe ich? wo sind die Grenzen des Ichs: ist die Person das übergreifende Ding, wie das Bewußtsein gern wähnt, oder ist sie nur die helle Blüte an einem dunklen Baum, eine gestaltige Welle auf einem dunklen tieferen Wasser, ein Oberflächengebilde, herausgewölbt aus einem Anderen, das sich ihr entzieht, sie aber in ihrer Vergänglichkeit gewähren läßt? Es gilt dieses Andere in uns zu erfassen, um die Ordnung der Abhängigkeit von ihm zu begreifen und zu meistern, – denn es geht darum, souverän zu werden im Hause unseres Leibes, unserer Welt. Wir sind es nicht, denn das hieße, nach Belieben aus unserer Ganzheit schöpfen, – wann können wir das? Wir haben uns nicht ganz, wir haben nur, was jeweils uns bewußt wird, – ein Fließendes, Entgleitendes, – die Nacht verschluckt es, der Tag verstreut es. Wie wenig haben wir von dem, was alles in uns liegt, als einen Besitz, über den wir willentlich verfügen können, – oder wie wenig davon hat uns? zuweilen langt es nach uns oben aus seiner Tiefe als ein Erleuchtetsein, als eine Fülle, – dann läßt es uns wieder gleichmütig wie ein Ungenügendes aus der Hand fallen.

Ob wir es beherrschen wollen oder ihm dienen, um von ihm beherrscht zu sein, von ihm erfüllt zu sein, wie der Soldat von der Idee, – wie wenig können wir es beschwören, es zwingen, daß es immer sich uns zuneigt, uns bereit ist, statt oft zu schlafen und viel taub zu sein.

Yoga ist diese Kunst des Zwingens, er lehrt die Technik zum großen Abenteuer der Niederfahrt in unsere Ganzheit, in der das Ich »zerschmilzt, wie Salz im Wasser«.

Unsere Ganzheit ist an ihrem greifbaren Teil der Leib, mit allem, was er an Vorgängen und Instanzen in sich schließt. Wir leben in ihm wie in einem verwunschenen Schloß, das der beklemmenden Phantasie Kubins oder Kafkas entstammen könnte. Wir sind zwar die Herren, – aber was gehorcht uns? wir sitzen in der Kammer unseres Bewußtseins, durch ihre Fenster gewahren wir draußen die Welt, durch ihre Tür kommt das Innere des Schlosses an uns heran. Wir geben Befehle und werden bedient, aber oft von fremden Gesichtern und auf eine befremdende wirre Weise. Man bringt uns, was wir nicht wünschen, und was wir verlangen, erhalten wir oft nicht, oder spät und ungelegen. Das Haus ist verwunschen, wir kennen uns nicht aus in seiner verschlungenen Weitläufigkeit. Oft scheint es, die dienenden Geister sind gegen uns verschworen, sind ausgeflogen oder feiern Feste für sich. Vor Aufständen sind wir nicht sicher. Es spukt, Geräusche dringen durch die Wand, – poltern Geister? sind Gäste nebenan, die wir nicht baten? ist's das Gesinde mit Flüstern und Streit? wie leben eigentlich diese Leute, und wie viele sind es?

Yoga wird eine Lampe genannt. Mit ihr in der Hand durchschreitet der Yogin furchtlos die Gänge und Gewölbe seines Leibes, der seine Welt ist. Er durchwandert diese rätselreiche Stadt mit den neun Toren, wie der Inder den Leib mit seinen neun Pforten nennt, – durchwandert sie wie Harun al Raschid das nächtliche Bagdad, dessen Geheimnisse sein Herrscher nicht kennt. Wie kann er das? Kraft seines Atems, denn der ist überall im Leibe rege.

Die indische Medizin hat von der Rolle des Atems im Haushalt des Leibes eine andere Vorstellung als wir, sie ist so umfassend wie einfach; Yoga bewahrt davon ein Bild mit besonderen Zügen, altertümlicher und phantasievoller – die Überlieferung seiner Eingeweihten hat es mit erstarrender Treue als ihr Geheimnis durch die Zeiten getragen.

Die indische Physiologie ist ausgeprägt »pneumatisch«. Draußen in der Welt ist der Wind der Allesbeweger, er regt die Blätter, beugt die Saat, wirbelt den Staub und kräuselt die Welle. So ist er in der kleinen Welt des Leibes als Atem (prāna) gleichfalls der Allesbeweger. Was wir als Hauch der Kehle gewahren, ist nur der »oberste Atem«, dessen Ein und Aus das Leben verbürgt. Der göttliche Lebenswind in uns hat viele Gestalten und Funktionen. Er schiebt die Nahrung durch den Leib, er treibt das Blut in den Adern, er facht das Bauchfeuer an, das die Speisen verkocht, er verteilt aus der Mitte den nährenden Saft und die Wärme an alle Glieder, er bewirkt alle Austausche im Leibe und seine Ausscheidungen. Stirbt einer, an einer Wunde verblutend, so endet sein Leben nicht nur an Blutverlust, sondern weil zugleich die bewegende Lebenskraft des Atems dem Riß entfährt. Innere Atemkraft wirkt alle Bewegung, sie innerviert die Muskeln, löst aber auch alle unwillkürliche Bewegung aus: das Zucken der Lider, Schlucken und Gähnen, Niesen und Speien. Aufwärts strömend ins Haupt bewirkt ein Atem Denken und Sprechen. In allen Kanälen des Leibes fährt Atemwind einher, – und es sind 350 000; in einem eiförmigen Knotengeflecht der Nabelhöhle entspringen 72 000, und 101 münden ins Herz, den Sitz des Lebensatems. Der größere Teil dieser Kanäle entspricht unseren Nerven, aber die Kraft in ihnen ist Wind. Gemessen am Allüberall des Windes im Leibe spielt die Lunge keine Rolle als sein besonderes Gefäß. Der Yoga kennt sie gar nicht. Nach seinem Leibesschema (Abb. 8) laufen von beiden Nasenöffnungen zwei Kanäle durch den Leib auf beiden Seiten hinab bis zur unteren Öffnung der Wirbelsäule. Das Rückgrat durchzieht als Mittelachse innen die kleine Welt unseres Leibes, wie der mittlere Weltberg Sumeru, auf dessen Himmelsgipfel die Götter wohnen, aus den Tiefen der Unterwelt den indischen Makrokosmos als Achse durchragt.

Sonne und Mond ziehen ihre Kreisbahn um den Weltberg, so schlingen die beiden Hauptwege des Atems ihren Gang um das Rückgrat; sie sind die Bahnen für ein Sonnenhaftes und ein Mondhaftes in der kleinen Welt des Leibes. Mit jedem Atemzug, den der Yogin abwechselnd durch den rechten und den linken Nasenkanal tut, vollzieht sich innen ein Sonnen- und Mondumlauf, wechselt Tag mit Nacht. Indem der Yogin sich auf diesen Vorgang sammelt, hebt er den Zeitrhythmus, den der Gang der Gestirne außen ihm aufzwingt, auf. Für die kleine Welt seines Leibes wird er wie der Weltgeist, dem unsere Tage und Nächte nur wie Atemzüge seines Weltentages sind. Zeit, diese unerbittlichste Wirklichkeit mit ihrem Jetzt und Einst, mit dem unausweichlichen Bann des Gegenwärtigen und der Unwiederbringlichkeit des Vorüber, wird hier in einem anderen Sinn erfahren: als das Wesenlose reiner Anschauung, als der bloß subjektive Rahmen des Erfahrens, der einzig für unser Alltagsbewußtsein Grenzen zieht.

Die beiden großen Atembahnen vereinen sich am unteren Ende des Rückgrats mit dem Kanal des Rückenmarks, der als zentrale Bahn des Lebensodems den Leib durchzieht. Alle drei durchströmen lebensspendend den Kontinent des Leibes wie die drei heiligen großen Flüsse Indiens Gangā, Yamunā und Sarasvatī mit allen Rinnsalen, die in sie münden, den Körper Indiens durchrieseln. Im Zentrum zwischen den Brauen begegnen sie sich aufs neue. Den Strom des Atems in die Mittelbahn des Rückgrats zu lenken und dort mit seinem Spiel zu wirken, ist ein wesentliches Ziel des Yoga, wenn er als »Hathayoga« mit Zwang (hatha) arbeitet.

Freilich ist der Leib in seiner alltäglichen Verfassung dazu wenig geeignet. Das Netz seiner Kanäle ist verklebt, er ist schlaff und ungeschickt zu den Spannungen und Bewegungen, die er in sich üben soll. Es gilt, ihn rein und geschmeidig zu machen, in allen Teilen willig, den Atem aufzunehmen, zu stauen und zu leiten, wohin der Yogin will. Äußerlich vorbereitende Übungen sind Reinigung von Mund, Nase und Rachen, von Luft- und Speiseröhre mit Luft- und Wasserbädern, mit Zeugstreifen und Pflanzenstengeln, die zeitweilig hinuntergeschlungen werden, Magen- und Darmwaschungen mit Luft und Wasser, aber das eigentliche Element, das reinigt, ist der Atem selbst. Rhythmisch eingesogen im Wechsel von rechts und links, lange festgehalten und in bestimmtem Zeitmaß ausgestoßen, erhitzt er den Leib und verzehrt alle Schlacken in ihm. Asketische Lebensweise, insbesondere Diät, die schwere und scharfe Kost zugunsten maßvoller, milder und leichter Nahrung ausschließt, befördert den notwendigen Umbau des Organismus. Von den drei Aggregatformen, die der lebendige Weltstoff in all seinen Gebilden aufweist, in den Nährstoffen außen wie im Physischen und Psychischen innen: lichte Klarheit, feurige Bewegtheit und dumpfe Schwere, – gilt es dem ersten der drei zur Vorherrschaft im Leibe zu verhelfen.

Eine besondere Gymnastik begleitet diese Atemübungen. Sie besteht nicht in Bewegungen, sondern im Vollzug teils ausgewogener, teils schwierig verschlungener Körperhaltungen im Sitzen und Hocken, Sich-Strecken und Balancieren. Schiva, der große Yogin unter den Göttern, der Urlehrer des Yoga, soll vierundachtzigmal hunderttausend solcher Haltungen innehaben, soviele als es Arten lebender Wesen gibt, – von diesen sind einige dreißig im Besitz der Menschen. Ihr göttlicher Quell gibt ihnen die Würde, wie in der indischen Liebeslehre die vielen Haltungen der Zärtlichkeit und Hingabe – verwandt nach Komplikationen und subtiler Unterscheidung – ihre Weihe davon haben, daß der überweltliche Schiva sie in endlosem Liebesspiel mit seiner Gattin, seiner weltentfaltenden, weltwirkenden Gotteskraft, offenbart hat.

Im Yoga dienen die Sitzhaltungen (āsana) dieser Stellungsgymnastik, Muskeln und Glieder zu völliger Willfährigkeit in Spannung und Entspannung durchzukneten; sie machen schlank und geschmeidig, sollen jung erhalten und vielen Erkrankungen, besonders der Atemwege und Eingeweide, vorbeugen. Sie sind Indiens hygienische Stellungsgymnastik, die, wenn nicht »Todlosigkeit«, doch langes Leben und Gesundheit verleihen soll. Ein guter Teil von ihnen reicht mit seinen Anforderungen an Geschicklichkeit und Ausdauer ins Akrobatische, ja Schlangenmenschenhafte.

Manche von ihnen ahmen (wie einige Haltungen der Liebeslehre) Tierhaltungen nach (Frosch, Heuschrecke, Schlange u. a.) und erfordern besondere Geschmeidigkeit; es mag aber auch eine altertümliche Form der Selbstverzauberung in diesen Haltungen liegen, da manche von ihnen Tieren angehören, die ursprünglich Erscheinungsformen von Göttern waren, dann zu ihren Wappenzeichen wurden und ihnen als Reittier dienen, so Stier und Pfau, Schiva und seinem Sohne, dem Kriegsgott eigen, und der Sonnenvogel Garuda, der Vischnu trägt und sein Gefährte im Kampfe ist. Wahrscheinlich ist das vor allem bei der Haltung des sitzenden Löwen mit heraushängender Zunge, die keinen gymnastischen Wert hat, vielmehr reine Mimik ist; sie ahmt eine mythische Erscheinungsform Vischnus nach (wie vielleicht auch die Fisch- und Schildkrötenstellung): halb als Mann, halb als Löwe gestaltet überwältigte Vischnu in mythischem Kampfe den weltbeherrschenden Dämon Goldgewand, der die Götter ihrer Macht beraubt hatte; die sakrale Kunst stellt ihn dar, wie er mit heraushängender Zunge sitzend seine Pranken in den Leib des erschlagenen Feindes wühlt (Abb. 10). Solche Übungen, durch Mimik angenommener Haltungen sich in ein Göttliches zu verzaubern, gehören zum altertümlichsten Erbe des Hathayoga. Ihnen verwandt sind Haltungen der Hände, die zum Yoga täglicher Andachtsübungen im tantrischen Kulte gehören. Die Tantra's lehren eine Unzahl von Figuren oder Prägungen (mudrā) für die Hände: bestimmte Fingerhaltungen symbolisieren göttliche Kräfte, ihre »Prägungen« werden einzelnen Gliedern und Teilen des Leibes aufgedrückt (nyāsa), indes gleichzeitig eine symbolische Silbe geflüstert oder innerlich vorgestellt wird, die das Wesen der betreffenden göttlichen Kraft im Reiche des Schalles ausdrückt und ihre Gegenwart im Bewußtsein des Andächtigen erweckt. Mit solchen »Prägungen«, dem Leibe rings aufgelegt, beschwört der Gläubige alle Gottwesenheiten, die rings in seinen Gliedern und Organen als ihre Kräfte wirksam sind; mit ihrer Beschwörung verzaubert er sich aus seinem menschlichen Alltagsstand in ein Beieinander göttlicher Mächte und wird sich in seinem menschlichen Leibe seiner verborgen vielfältigen Gottnatur bewußt.

Der Wert der gymnastisch-akrobatischen Übungen liegt außer in ihrer hygienischen und verzaubernden Wirkung darin, daß sie es dem Adepten ermöglichen, seinem Leibe höchste Geschicklichkeit und Ausdauer für eine Reihe klassischer Sitzhaltungen zu geben, die der eigentlichen Atemregelung und Sammlung auf innere Vorgänge dienen. Durch Bilder der Buddha's und anderer sitzender indischer Heiliger sind sie zu weltweiten Sinnbildern des Yoga geworden. Sie sollen den Leib fest zusammenfassen, daß er stabil »wie ein Topf« den Atem in sich aufzunehmen und festzuhalten vermag, sollen alle Ermüdungs- und Druckgefühle, die dabei zu einer Änderung der Stellung Anlaß geben könnten, fernhalten, auf daß man sich ohne jede Ablenkung durch unfreiwillige Körpergefühle den Yogaübungen hingeben kann. Zu den Sitzhaltungen kommen »Prägungen« des Leibes: Muskelkontraktionen und Verlagerungen, die den innen gespeicherten Atem durch Druck und Bewegung willkürlich leiten sollen. Ein Hauptziel ist, die Luft aus den beiden Hauptwegen und aus dem Unterleib in den Mittelkanal des Rückgrats zu pressen, in die Suschumnā, die »Ader des vollkommnen Glücks«. Die »Leuchte des Hathayoga« kennt zehn solcher Prägungen, alle »machen Alter und Tod zunichte« in dem doppelten Sinne, daß sie vollkommene Gesundheit und Langlebigkeit verleihen, anderseits das Tor zum inneren Jenseits entriegeln und den Adepten in den Besitz des »Todlosen« setzen, das in ihm verborgen ist.

Dieses »Todlose« wird auf vielfache Art erfahren. Es kann z. B. als Göttertrank »Todlos« im Kosmos des Leibes geschmeckt werden. Zuhöchst im Haupte, wo im Weltleib der Jaina's die milchweiß todlose Region der ewig Erlösten liegt, schwebt im kleinen Weltleibe des Adepten der Mond, das Gefäß der Lebensmilch, des Göttertrankes. Der Mond trieft den Lebenssaft herab, der den Leib erhält; aber unten im Bauche brennt das Sonnenfeuer, todbringende, tropische Glut. Sie verschlingt ständig, was vom Monde herabströmt, darum ist der Leib alterndem Verdorren unterworfen. Der Yogin lernt seine Zunge verlängern, indem er an ihr reckt und mit kleinen Schnitten die Zungenwurzel mählich um ein gutes Stück vom Unterkiefer löst, bis er sie rücklings in die Rachenhöhle schlingen kann. Er legt sie an den Gaumen und schmeckt dort den Saft, der vom Lebensmonde herabträuft. Immerwährend den Gaumen »küssend« erfährt die Zunge einen Geschmack, der alle möglichen Geschmacksarten in sich vereint als ein Jenseits aller Unterschiede, in denen die Erscheinungswelt des Geschmacks spielt. In dieser schillernd übergegensätzlichen Empfindungsfülle oszillierend kostet die Zunge den Saft »Todlos«. – Eine andere »Prägung«, das Zusammenziehen der Kehle, soll verhindern, daß der Lebenssaft hinunterrinnt ins Bereich des Feuers, das ihn verzehrt.

Ein anderer Zweck der »Prägung«, in der die Zunge nach hinten geschlungen wird, ist, den Luftkanal zu sperren und damit das Ausströmen des tief eingesogenen Atems zu verhindern. Ein Zustand des Unbewußtseins tritt ein, in dem Welt und Ich schwinden: sie sind nicht mehr. Ein Zustand vergleichbar dem traumlosen Schlafe ist willentlich hergestellt: alles als Gestalt individuell Umrissene, alles als Vorgang vergänglich Verfließende löst sich auf, zerschmilzt in seinem Gegensatze: einem Ungreifbaren, Gestalt- und Vorganglosen. Alles Dasein ist Bewußtsein, – »und die Welt, die ungeheure, lebt von deinem Atemzug« (Hermann Hesse): dieser Tatbestand wird hier im Abbau des Bewußtseins durch Atemdrosselung erfahren. Das ist der physiologische Sprung ins innere Jenseits, ins Sein hinter der Individuation, ins Sein schlechthin. Welt und Ich sind durch ihn abgebaut, der Mensch erfährt durch seinen gewollten Vollzug die Souveränität, sich über beide in das hinabschwingen zu können, was sie in jedem Traume innen, jedem Erwachen außen hervortreibt.

Das indische Denken über das Wesen des Wirklichen nimmt seinen Ausgang immer wieder aus dem Verwundern, wie Wachwelt und Traumwelt gestaltig greifbar aus einem Tieferen, Dunklen, das gestaltlos ungreifbar ist, aufsteigen und im tiefen Schlafe wieder in ihm zergehen: in ihm ist das überindividuale, schicksallose, zeit- und raumenthobene göttliche Sein unmittelbar gegeben. Jedes tiefe Einschlafen ist ein kleiner Weltuntergang, jeder Erdentag des Wachseins ein kleiner Weltentag des Kosmos unseres Leibes. Er mißt nach indischer Rechnung 21 600 Atemzüge. So mißt die Periode der großen Welt draußen nach Tag und Jahren, die Atemzüge des großen Weltwesens sind. Als seine Atemzüge bilden sie den Großen Weltentag, an dessen Ende das Weltwesen immer wieder in den erquickenden Schlummer einer Weltnacht verfällt und sich selbst ungreifbar wird, bis es zu einem neuen Weltalter erwacht. Weltalter aber reihen sich aneinander als Lebenstage des Weltwesens, unterbrochen von diesen »mittleren Untergängen« der Weltnächte, bis in großen Perioden der Weltleib zur Auflösung reif geworden ist und sich in einem Großen Weltuntergange zerlöst, aus dem er über eine Große Nacht als ein völlig neuer wieder aufersteht. In diesen Rhythmus kleiner, mittlerer und großer Untergänge ist der Mensch mit der Welt seines kleinen Leibes hineingestellt als in ein oberflächenhaftes Scheinspiel in der Ebene des Geschehens oder des Bewußtseins, – eines menschlich kleinen oder kosmisch göttlichen Bewußtseins, – Hathayoga aber lehrt ihn, die Māyā dieses Rhythmus beliebig zu durchstoßen, um nach Gefallen zu sein, was unter diesen Rhythmen und ihrem Gestaltenspiel, unangefochten und jenseits von ihm, im Menschen wie im All verborgen west.

Der Atemlehre des Hathayoga liegt eine eigentümliche Vorstellung von Atem zugrunde: der Atem der Kehle ist nicht eine gewisse Menge Luft, die Zug um Zug von innen gegen andere von außen eingetauscht wird, er ist vielmehr eine Art unsichtbares Organ, er schnellt wie eine Zunge aus Mund und Nase hervor und schlingt sich wie ein elastisches Band, das innen befestigt ist, wieder in den Leib zurück. Der Umfang, in dem er jeweils dem Leibe entschnellt, hängt vom Grade der Anstrengung und Arbeitsleistung des Menschen ab. Das ist eine altertümlich simple Deutung des Befundes stärkerer Atmung bei physischer Kraftleistung und Zuständen der Erregung. Tief atmen schafft die Bereitschaft besonderer physischer und psychischer Kraft, vollkommene Ausatmung anderseits ist der Tod. Daraus ergibt sich der Schluß: wer es dahin brächte, den Atem innen nach Belieben festhalten zu können, der brauchte nicht zu sterben. Hier liegt die ganz altertümliche Denk- und Vorstellungsgeschichte des Hathayoga, die seine Praktiken erst verständlich macht: wo Atem ist, ist Leben. Das Gleiche gilt vom Samen. Daher lehrt der Hathayoga seltsame, mißverständliche Übungen, beiläufig im Traditionsgut mitgeschleppt, die dem Menschen die Souveränität auch über den unwillkürlichsten Vorgang erotischer Erregung schenken sollen. Wer gewillt ist, die Lebenskraft, die Leben zeugt, unter keinen Umständen dank besonderer »Prägungen« und Lenkung des Atems herzugeben, – der brauchte nicht zu sterben. Eine abseitige Praktik, in der eine uralte Intuition großartig naiv aufblitzt; sie hat ihren Platz in der asketischen Yogalehre finden können, weil auch sie lehrt, wie der Mensch todlos werden könne, und weil der Inder allem Physischen und Physiologischen mit Ehrfurcht gegenübersteht als der Offenbarung göttlicher Kräfte, deren Wesen keinen Wertgegensatz zwischen Fleisch und Geist zuläßt. Es geht darum, nicht zeugen zu müssen, das Geschlecht in sich und dem anderen nicht durch den Vorgang der Zeugung erkennen zu müssen, – das heißt also: zurückzuspringen vor die Szene unter dem Baume der Erkenntnis in den reinen Zustand des Paradieses und der Todlosigkeit. Denn die Frucht der Erkenntnis meint ja Zeugung, das Wort »erkennen« bedeutet im Alten Testament »zeugen«, und so ist die Frucht vom Baume der Erkenntnis, die den paradiesischen Zustand endet, die Frucht des Todes, – das Gegenstück zur Frucht vom Baume des Lebens. In dieser merkwürdigen Yogaübung flammt der urwüchsig alte Wille auf, unsterblich zu sein, wie der erste Mensch im paradiesischen Stande, der Wille, zu erfahren, daß man dem Zwange der Natur, zu zeugen, auch wo er unwiderstehlich scheint, enthoben ist: frei von dem Banne, unfreiwillig teilzuhaben am Lebensflusse, der durch die Kreaturen strömt, jenseits des Doppelgesichts entstehenden und vergehenden Lebens, an dem Zeugenmüssen und Sterbenmüssen das helle und das dunkle Antlitz sind, die dasselbe meinen.

Der Hathayoga kennt viele Wege, dem todlos Seienden in und hinter allem vergehend sich Geschehenden innezuwerden, und öffnet sich zu anderen Yogalehren, die auf ihm als Technik aufbauen. Daher nennt er sich die »Stiege«, die aus physiologischer Übung zu höheren Verfahren führt, wie eine Stiege aus dem Erdgeschoß zum Oberstock läuft. Sammlung auf den Atem ist ein Weg, ins Jenseits innen zu gelangen. Die Sinne einwärtsziehend, wie die Schildkröte ihre Glieder unter dem Schilde versammelt, das Bewußtsein von allen Vorstellungen freihaltend, gibt sich der Yogin einer inneren Erfahrung hin: er lauscht dem Rhythmus seines Atems, und dieser Rhythmus singt und tönt. Zuerst ist es wie das Läuten feiner Schellen, die man an den Knöcheln trägt, daß sie den Takt klingeln, wenn man zu Ehren der Götter tanzt; dann tönt es wie eine Handglocke, die man zu Anfang der Andacht rührt, um alle unheiligen Kräfte aus dem Raume zu scheuchen; dann dröhnt es wie Vischnus Muschelhorn im Kampf mit den Dämonen, – und was anderes ist unser Lebensfunke innen, als das höchste Göttliche im Kampf gegen die Dämonen des Ichs: Lust, Zorn, Verblendung. Dann klingt es wie Lautespielen auf den Nervensträngen, den Kanälen des Lebensodems: die weltwirkende Lebenskraft, uns innen, rührt an dieses Saitenspiel; dann ist es, als ob sie unsern Geist und unsern Lebensodem wie Zimbeln aneinanderschlüge, im Tanze das höchste jenseitige Wesen, ihren Gemahl, verehrend. Es schallt wie die Rohrflöte, mit deren Weise Krischna, der menschgewordene Allgott Vischnu, als Hirt auf Erden Hirtinnen, Herden und Vögel entzückte: das Rückgrat ist wie ein großer Baum, unter dem sie lagern, unsere Sinne sind die Frauen, die »Ader höchster Lust« (Suschumnā) ist die Flöte, durch die sein Atem in Wohllaut streicht, Geist und Atem sind die beiden Hände, die sie greifen, sechs lotosgleiche Zentren, die am Rückgrat übereinander aufgestockt liegen (Abb. 8), haben je eine geringelte Schlange (kundalī) in sich, – das ist ihre Lebenskraft, – es sind sechs Schlangenköniginnen, die zum beschwörenden Ton der Flöte tanzen, und ein Schlangenkönig, ihr Gemahl, hebt seinen Kopf im höchsten Lotos, indes sein Ende im untersten ist, und tanzt mit ihnen. Dann tönt es wie eine Kriegspauke im Kampfe unseres Lebensfunkens gegen die Leidenschaften des Ich, es schallt wie die Handtrommel, die Schiva im Tanze rührt: der überweltlich Jenseitige tanzt innen als Lenker unserer Leibes weit; – es dröhnt wie Donner einer Wolke, die mitten am Horizonte, in der Mitte unserer Brauen steht, und Blitze eines höheren Lichtes schießen aus ihr, indes ihre Regengüsse den Brand löschen, mit dem wir an Welt und Individuation, Schicksal, Geburt und Tod inbrünstig zu hängen gewohnt waren.

Alle diese Töne gilt es zu hören und in ihrer Bedeutung zu fassen. Sie sind alle Bestandteile, einzelne Klänge des großen Urlauts OM, mit dem das allem innere Jenseits sich im Reiche des Schalls offenbart. Ein Bewußtsein, das sich ganz auf diesen Ton fixieren kann, »zerschmilzt« in ihm und erreicht sein Jenseits: »wenn das Bewußtsein des Yogin sich ganz diesem Ton hingibt, vergißt es alles Außen und kommt samt dem Tone zur Ruhe. Wer sich diesem Yoga in Übung ergibt, überwindet die Sphäre des vielfältig qualitativ Entfalteten (die Sphäre des greifbar entfalteten Ich- und Weltleibes), er läßt alle Aktivität hinter sich und zerschmilzt im reinen Äther des qualitätfrei-unentfalteten Geistigen.« Er vergeht innerlich wie eine Wolke in der Ätherbläue des Firmaments.

Eine andere Übung ist, dem Gesange des Atems innen zu lauschen. Rhythmisch im Ein- und Ausströmen tönt er »ham – sa, ham – sa« oder im Aus und Ein »sa – 'ham, sa – 'ham«. Mit »ham – sa« sagt er seinen Namen an, denn »hamsa« heißt der »Wildschwan« (es ist sprachlich unser »Ganser«), und der Lebensatem ist ein Wildschwan, der unablässig in uns auf und nieder fliegt, wenn man ihn nicht durch Stillstand des Atems zur Ruhe bringt. Er ist die greifbare Offenbarung unseres Lebensfunkens, an dem unsere gegenwärtige Individuation wie alle früheren hängt; – aber sein Laut sagt zugleich sein Geheimnis: »sa 'ham, sa 'ham«, denn »'ham« oder »aham« bedeutet »ich« und »sa« ist »er«, – »ich bin er«: Ich, der Diesseitige, bin Er, der Jenseitige; Ich, die Individuation, bin das Überindividuale, das sich zu ihrem Schein verlarvt; Ich, das Kreatürliche, bin in Wahrheit das todlos Göttliche.

Von Sonnenauf- bis -untergang atmet der Mensch 21 600mal, so oft bewegt sich der Schwan durch alle Lotoszentren im Käfig des Leibes; als Lebensprinzip wohnt er im achtblättrigen Herzlotos, und je nach dem Lotosblatt, auf dem er gerade weilt, bestimmt sich die Richtung unseres Empfindens als Lust oder Zorn, Ermattung, Hunger und anderes. Weilt er aber in der Mitte des Lotos, dann verlangt es uns über die Welt und alles, was uns in ihr mit Neigung oder Widerstreben hierhin und dorthin wendet, hinaus. Sein Ton »ham – sa« »sa – ham« ist der »ungesprochene Flüsterspruch« (ajapā – mantra), der ohne unser Zutun ständig an der Schwelle unseres inneren Jenseits erklingt; ihn zum Schweigen zu bringen und in seinem Schweigen zu zerschmelzen, heißt dem brahman innewerden, unserem überindividualen todlos göttlichen Wesen das sich in uns zur individualen Lebenskraft (jīva) verlarvt. »Wer das Oberkönigtum (die Allmacht) im Yoga sich wünscht, der soll sich nur in Sammlung (samādhi) auf diesen Ton vereinfältigen, alles Denken fahren lassend, mit angespanntem Sinne, denn der Ton wirkt wie eine Schlinge oder Falle auf die Gazelle ›Gemüt‹ und wird auf der Jagd gebraucht nach der Gazelle ›Gemüt‹, sie zu erlegen.« Vom Ton des Atems wird das schlangengleich unstäte Bewußtsein hypnotisiert wie eine Schlange vom beschwörenden Flötenton, und wie es mit ihm zusammen schwingt, löst es sich mit ihm zusammen auf, »wie Feuer mit dem Holz, auf dem es brennt, sich selbst verzehrt hat, wenn es das Holz aufgezehrt hat«. Dieses technische Prinzip liegt vielen Yogaübungen zugrunde: unser Gemüt ist den Eindrücken von außen, den Regungen von innen offen, in diesem Banne unfreiwilligen Teilhabens an innen und außen ist es »verstreut«, nach vielen Seiten hin unwillkürlich hingegeben an Dinge und Stimmungen, die ihr Wesen ihm aufprägen. Aber Sammlung oder Vereinfaltung (samādhi) sammelt das Gemüt »in eine Spitze« und hält mit ihr etwas fest, das fixiert wird. Sie hält das Gemüt am Fixierten fest und bewahrt diese Fixierung beider ineinander so lange, bis das Gegenüber von Fixiertem und Fixierendem in eins verschmilzt. Das ist »Ineinssetzung« (samādhi) oder »Zerschmelzen« (laya).

Im Tantra-Yoga täglichen Kults kann dieser Vorgang sich an einem innerlich visualisierten Gottesbild vollziehen; der Eingeweihte wird in diesem Akt zur Gottheit, die er aus seiner eigenen ungreifbaren Substanz innen aufgebaut hat, sein andächtiges Gemüt schmilzt in die Gottheit hinein und sie zerschmilzt in dem gestaltlos reinen Sein der inneren Tiefe, aus der ihre Gestalt sich aufgebaut hat. An Stelle solch einer Gottesgestalt steht hier der Ton des Atems, die Manifestation der Lebenskraft (jīva): der Ton hat das Bewußtsein in sich aufgenommen und schwindet mit ihm zusammen ins Unbewußtsein hin: damit kehrt der jīva in seine wahre, verborgene Natur des brahman, des überindividualen todlos Göttlichen heim.

Ein Mythos erzählt, was der Schwan als der Atem des Allgottes singt, – es ist dasselbe Lied, das auch im Menschen erklingt. An jedem Weltabend nimmt der Gott die Welt, die er entfaltet hat, mit ihrer welkgewordenen Gestaltenfülle wieder in sich zurück, dann trägt er sie schlummernd innen in seinem Leibe; wie ein Traum der äußeren Welt in uns spielt, so spielt dann die Welt im Innern des Gottes weiter mit idealer Vollkommenheit. Und über ihrem Ablauf als Traum Gottes klingt das Lied des unvergänglichen Gottes, harft der Atem des Schlummernden: »viele Gestalten nehme ich an und schwimme im großen Weltmeer, wenn Mond und Sonne vergangen sind, langsam dahin« – das ist der Zustand der Weltnacht, in der die Welt wieder zu den Urwassern des Unbewußtseins, dem gestaltlosen Leibe des Weltwesens zerschmolzen ist, – »ich bin der Herr und bin Schwan. Ich brachte die Welt aus mir hervor und weile im kreisenden Vergehen der Zeit.«

Auch unsere tieferen Träume kennen diesen Schwan als Sinnbild, er ist wohl die höchste Form des Seelenvogels. Für Indien ist er der Ausdruck des metaphysisch-transzendenten Aspekts der Seele, einer letzten Größe, die tiefer liegt als alles Gestaltige in uns, tiefer noch als die gestaltenträchtige und zeichengebende Schicht des Unbewußten. Er bezeichnet den ichüberlegenen, weltüberhobenen Teil unseres Wesens, der bei unserem scheinbaren Verflochtensein in den bannenden Wirbel des Daseins unanrührbar, unverflochten bleibt. Über den Spiegel der Lebenswasser hin zieht der Schwan seinen Pfad, er tunkt den Hals in ihre Tiefe, aber er ist nicht an sie gebunden, denn er ist beschwingt. Er hebt sich aus der unteren Flut auf ins kristallene Himmelsmeer und rudert in ihm noch freier, sich gemäßer als in den schwereren Wassern. Er wandert, wohin er will. Der heimatlose Wildschwan, der seine Bahn spurlos über Fernen des Raumes zieht, und hier einfällt auf einen See und dort in eine Bucht, ist Indien das Zeichen des fesselfreien tiefsten Prinzips in uns, das sich spielend hier und dort und immer wieder für den Aufenthalt eines Lebens an Verleihungen hergibt. Warum ergreift es immer wieder, Leda in der Begegnung mit dem Schwan zu sehen, als sei in diesem Bilde mehr gegeben, als im Abenteuer Europas mit dem Stier, – mehr als eine tiefe amouröse Stunde und die Grazie eines großen Gottes, der um die Träume eines jungen Weibes weiß? ist Leda nicht wie Psyche selbst: heimgesucht und hingegeben dem göttlich Tieferen in ihr, das nur bei ihr zu Gast ist, – ein Überindividuales, Unhaltbares, Unberührbares, das sie versehrt und auflöst? – In Indien ist der Schwan das Zeichen Brahmās, sein Reittier und sein Sinnbild in der Reihe der Tiere. Der heimatlose Asket, der nirgend mehr auf Erden zu Haus, frei schweift und alles Gestaltige in sich in den ungreifbaren Ätherraum des brahman aufzulösen trachtet, aus dem es sich wie Gewölk verdichtet hat, heißt ein »Schwan« und »höchster Schwan« (hamsa, paramahamsa).

Immer tönt in uns der Atem, die Stimme des Lebensfunkens »ich bin Er«, aber nur der Yogin hört sie und versteht sie. Im Mythos ringt einmal Krischna, der menschgewordene Allgott als Hirtenknabe mit einem Schlangendämon; zum Entsetzen der Hirtenfrauen scheint er im Wasser vom Dämon überwältigt, von den Windungen der Schlange umstrickt und gelähmt, vor ihrem Gifthauch ohnmächtig geworden. Da ruft ihm sein Halbbruder Rāma, wie er ein menschgewordenes Stück Vischnu, vom Ufer her zu, »göttlicher Herr der Götter, was entfaltest du dieses menschliche Wesen an dir? weißt du nicht um dein eigenes anderes Wesen: du bist der Nabel der Welt, Schaffer, Wegraffer und Hüter aller Welten, du bist alle Welt! menschliches Wesen hast du gezeigt, Knabenspiele hast du gezeigt, darum bezwinge jetzt den Dämon!« So wird Krischna sich selbst in Erinnerung gebracht, ein Lächeln spaltet den Kelch seiner Lippen, klatschend schlägt er auf die Windungen, die ihn fesseln, spielend löst er seinen Leib aus ihnen, beugt das Haupt der Schlange unter seinen Fuß und hebt an, stampfend darauf zu tanzen, bis der Schlangendämon um Gnade bittet. Im Sinnbild der beiden gottmenschlichen Brüder, Stücke ein und desselben Göttlichen, in der Selbstverlorenheit des menschlichen Götterknaben an seine menschliche Rolle, an die Windungen der Schlange und ans Grab der Wasser, und in der Unangefochtenheit und Klarheit seines brüderlichen zweiten Ich stellt sich das Doppelgesicht unseres und allen Wesens dar: daß wir jīva und brahman in einem sind, kreaturgebannt und preisgegeben, zugleich aber todlos frei. Ein altes indisches Gleichnis spricht von zwei Vögeln, die an einem Baume sitzen: der eine frißt die süße Beere, der andere schaut gelassen zu; – sie sind ein und derselbe Vogel unter zwei Aspekten, Yoga aber ist der Weg, ihre Einheit zu erfahren und die Weltverlorenheit des Vogels, den seine Natur zwingt die süße Beere zu naschen, als eine Haltung an uns zu begreifen, die uns nicht berührt. So sind auch die beiden Vögel des alten Symbols im Laufe seiner Geschichte zu einem verschmolzen: Jean Paul spricht einmal von dem »zweiköpfigen Adler der Fabel, der mit dem einen niedergebückten Kopfe verzehrt, indes er mit dem anderen umherblickt und wacht«.

Es gibt auch optische Wege, dem inneren Jenseits inne zu werden. Der Yogin sammelt sich auf ein Zentrum zwischen den Augenbrauen, einen zweiblättrigen Lotos; hier erschaut er zunächst den reinen Ätherweltraum des Herzens. Wie seine Sammlung sich vertieft, lösen fünf ätherische Räume vor seinem inneren Blick einander ab: es sind in ihrem feinsten Aggregatzustande die fünf Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther, aus denen ungreifbar fein und stofflich dicht alles in der Welt sich bildet. Der erste dieser Ätherräume, der irdische, ist wie ein dunkler Wald bei Nacht, der folgende des Wassers, in das die gestaltige Welt immer wieder zergeht, glüht wie Weltuntergangsfeuer; der nächste, feurige, schimmert in vielerlei Licht, der vierte luftige strahlt wie tausend Sonnen, und der letzte des ungreifbaren Äthers ist aller benennbaren Eigenschaften bar. In ihnen brechen lautere Wellen eines höheren Lichtes auf, wie reine Wogen des Milchmeers der Lebensessenz und des milchigen Trankes Todlos, sie schimmern wie Blitze, wie Glühwürmchen und selbstleuchtende Edelsteine in der Nacht. Unter Myriaden Strahlen geht die Sonne der Erkenntnis auf, vor ihr weicht das innere Dunkel der Welt- und Ichbefangenheit. Der Schwan, der da spricht »ich bin Er« und immer im Gegenüber von jīva und brahman lebt, gewinnt die Kraft, im Lichte dieser Sonne sich frei zu bewegen, er fliegt innen von Lotos zu Lotos, die drei großen Lebensströme des Leibes, zur Rechten und Linken und im Rückgrat, strömen frei und kreisen in sich. Alle Tätigkeit der Sinne hört auf, und das Denken (manas), das wie der Mond (candramas) ist, geht unter im Meer der Seligkeit. Ein liebendes Vogelpaar, das nach indischer Anschauung allnächtlich Trennung voneinander leiden muß und sich sehnt, am Morgen sich wiederzufinden, begegnet sich in diesem Sonnenaufgang, endlich wieder vereint: es ist das mittelbare Wissen um die Einheit von jīva und brahman, wie das Wort der Lehre es vermittelt, und das unmittelbare Wissen der Erfahrung, daß es wirklich so ist. Beide werden eins, ein Wissen um Alles, eine unbeschreibliche Erfahrung ist da, – alle Dunkelheit löst sich in Licht.

Jetzt ist der Yogin »selbst-sich-erleuchtendes Licht«, seine Sonne der Erkenntnis ist das rein schauende Auge zu seiner ganzen Welt innen und außen. Ihr Licht, nicht zu beschreiben, ist den Weltzugewandten tiefstes Dunkel, es ist Erscheinung des brahman; in ihm verschwindet das Ich wie der Schein einer Lampe im hellen Tageslichte. Ein Zustand, in dem man wie reinster Himmelsäther ist, ungreifbar, farblos, gestaltlos, jenseits aller sagbaren Eigenschaft. Man ist wie im Tiefschlaf, jenseits von gestalterfüllter Wach- und Traumwelt, in einem höchsten Glück, in Worte nicht zu fassen. Das ist höchste Vereinfaltung (samādhi), mit der Hathayoga sich zum königlichen Yoga (Rājayoga) erhebt, zum Ziele des Vedānta, dem »vierten Zustand« des brahman, jenseits der drei alltäglichen: Wachsein, Traumschlaf, Tiefschlaf.

Vielgliedrig und vielsagend wie keine zweite unter den Yogaübungen ist, was sich das »Bewegen der Lebenskraft« (schakti-cālana) nennt. Hier findet die Technik der Atem-Regelung, seine Konzentration und Leitung ihre stufenreichste Aufgabe. Die im Leibe wie in einem Topfe aufgespeicherte motorische Lebenskraft des prāna wird einem Gewaltakt dienstbar gemacht. Sie soll aus den beiden Kanälen, die von der Nasenwurzel her als Hauptwege des prāna abwärts den Leib durchlaufen und sich am unteren Munde des Rückgrats begegnen, durch einen angespannten Druck, der alle Leibestore schließt und alle innen kreisende Windkraft vereinigt, in den Kanal des Rückgrats von unten hinaufgepreßt werden. Der Atem soll den Eingang zur innersten Ader des Rückgrats auftun und die Schlange der Lebenskraft wecken, die dort im tiefsten Lotoszentrum des Leibes – im Mūlādhāra, d. i. »Wurzel-Halt« – schlummert. Sein Druck kann sie erwecken, daß sie im Rückgrat aufwärts steigt, wie eine Quecksilbersäule im Thermometer. Als vegetativ-animalische Urkraft trägt diese Schlange den Mikrokosmos unseres Leibes, er ruht mit dem Rückgrat als Achse auf ihr: so trägt die Weltschlange Schescha, das Sinnbild der kosmogonischen Urwasser in der Tiefe, den Makrokosmos auf ihrem Haupte, indem sie seine Achse stützt, den Weltberg, der die Welt vertikal durchzieht, aus dem tiefsten Grunde der Unterwelt unsere Erdsphäre zentral durchragend bis in die Götterhimmel an den Rand der Überwelt. Die Schlange verkörpert die weit- und leibentfaltende Lebenskraft, sie ist Gestalt der weltwirkenden Gotteskraft (schakti). Zu dreieinhalb Ringen (kundala) geschlungen hält die »Geringelte« – Kundalirī – das männliche Symbol der zeugenden Gotteskraft, das Lingam, als ihr weiblicher Aspekt im Mūlādhāra umschlungen.

Sie schläft, – die vegetativ-animalische Lebenskraft ist tiefes Sich-Selbst-Innesein, das sich in keiner Wachheit des Bewußtseins gegenständlich wird. Aber sie soll erwachen und aufsteigen zu einem höchsten Lotoszentrum im Zenit der Hirnschale den Weg rückwärts gehen, den sie abwärts stieg, als sie den Leib aus erstem embryonalem Zellendasein entfaltete. Die indische Embryologie lehrt, daß der befruchtete Keim im Mutterschoße sich vom Kopfe her entfalte: im Laufe des ersten Monats bildet sich als erstes der Kopf aus, im zweiten Monat Schultern und Arme, im dritten tiefer unten die Magengegend, dann im vierten Rücken und Gesäß, im fünften schließlich die Füße. So steigt die Lebenskraft, den Leib aufwölbend und gestaltend, aus dem Gegenpole des Gestaltlosen niederwärts und nimmt ihren Sitz am Grunde der ausgebildeten Gestalt, in der Zone der Entleerung und des Geschlechts. Der Lotos Mūlādhāra, in dem sie schläft, trägt das Zeichen der Erde, und die Zone der Entleerung birgt das Erdhafte: den Kot. Als animalische Lebenskraft aber sitzt die Schlange an der Zone des Geschlechts.

Bei uns lehrt die Embryologie: wenn das befruchtete Ei sich furcht, differenziert es sich zunächst in diese unterste Zone der Entleerung und in die höchste des Kopfes, dies ist die erste Polarität embryonaler Entfaltung, die sich aus dem undifferenzierten Beisammensein befruchtender Vereinigung erhebt. Der Weg, den der Yogin der Kundalinī aufzwingt, daß die Entfaltende aus ihrem vegetativen Schlummer am Grunde des Leibes aufsteige und in ihren Gegenpol des Unentfalteten zuhöchst eingehe, führt also gewissermaßen zurück in jene embryonale Präexistenz, in das früheste Stadium der Kosmogonie unseres Leibes, ehe unser Mikrokosmos die innige Verschmolzenheit polarer Zonen auseinandertrieb.

Der Druck versammelter Atemkräfte weckt die Schlange und zwingt sie aufwärts im innersten Kanal der Wirbelsäule. Fünf Lotosblumen mit wechselnder Blattzahl sind übereinander an ihrem Wege aufgestockt, sie durchquert alle und erreicht die höchste, die tausendblättrig die Hirnschale umkleidet. Die Stationen dieses Weges, diese sechs Lotoszentren, stellen von oben nach unten gelesen den Gang der Weltentstehung dar. Er schreitet über fünf Stufen: am Anfang west der göttlich lebendige Weltstoff als unentfaltet und gestaltlos. Wenn er, zeitlos pendelnd zwischen Einschmelzung und Entfaltung der Welt, aus diesem Zwischenzustande des In-sich-selbst-Verschmolzenseins zu spielender Selbstentfaltung und Verstofflichung anhebt, ist sein erster Schritt die Selbstverwandlung in das stofflich zarte Element des Raums. Ungreifbar fein, ätherisch ist es der Träger des Schalls. Aus ihm verdichtet sich ein Teil zu Luft, die greifbar ist in der Berührung des Windes; ein Teil der Luft ballt sich zu Feuer, aus dem sichtbaren Feuer verdichtet sich Wasser, der Träger des Geschmacks; aus den greifbaren Wassern aber steigt das kompakte Element Erde, das zu den Sinneseigenschaften aller früheren den Geruch besitzt. Aus der Mischung dieser aller entsteht die sinnlich wahrnehmbare Gestaltenwelt.

Die fünf unteren Lotosblumen des Mikrokosmos sind Zentren der fünf Elemente und ihre Aufreihung am Wege vom Hals zum Schoß entspricht den Entfaltungsschritten des lebendigen Weltstoffs in seiner Selbstverwandlung zu wachsender Dichte, Schwere und Differenziertheit. Zwischen der erdhaften Urschlange, die im Erdlotos unten schlummert, und dem Hirnschalenlotos oben spannt sich der Leib als ein ständig werdender Kosmos. Der Heimgang der Kundalinī aufwärts rafft diese entfaltende Welt in den Schoß des Unentfalteten zurück. Dann löst sich die vielfache stoffliche Realität in unstoffliche Potentialität auf, das Gestalthafte, das sich stofflich differenzierte, kehrt heim zum Stande undifferenzierter reiner Kraft.

Welt und Ich sind nicht ein schlichter Bestand, aber sie geschehen sich in jedem Augenblick; diesen ewigen Vorgang, ständiges Verwandlungsspiel, packt der Yogin wo es ihm einzig zur Hand ist, in der Kosmogonie seines Mikrokosmos, in sich selbst, – und führt die Kraft, die ihn zur Leiblichkeit entfaltet, heim in ihren leiblosen Ursprung. Der Mikrokosmos fließt zurück in seinen Quell, – mit ihm die Welt, die ihn umgab, denn sie ist nur an ihm gegeben: das Sichtbare als Spiegelung im Teich des Auges, das Meer des Hörbaren als Rauschen in der Muschel unsres Ohrs.

Die Kosmogonie der sichtbaren tastbaren Welt, wie Indien sie schaut, ist ein zunehmender Verdichtungsprozeß: immer ballt sich ein dichteres Element aus einem fluideren; dieser Vorgang wird den Wandlungen der Atmosphäre verglichen: wie ihr Unsichtbares, ihr Nichtsein fürs Auge, sich zu Dunst verdichtet, Dunst zu Nebelstreifen, der Streifen Wolke wird und Wolken Niederschlag gebären, aus dessen Saft handhafte Gestalt sich aufbaut, so quillt die gestaltige Welt immer greifbarer aus dem Schoß des Unentfalteten. Auf dieses Spiel passen von fern Goethes transparente Verse, mit denen er Howards Wolkenlehre feierte, jenes Hinab und Hinauf, Gestaltung und Entstaltung: nachdem sich

»niederwärts, durch Erdgewalt
herabgezogen, was sich hoch geballt«,

schwimmt die geballte Haufenwolke wieder zum Stratus auseinander, die Streifenwolke flockt zum Zirrus auf, die Flocke löst sich wieder in die Atmosphäre:

»so fließt zuletzt, was unten leicht entstand,
dem Vater oben still in Schoß und Hand.«

Das Lotosschema des menschlichen Leibes ist das kosmogonisch gestufte Abbild des Weltgebäudes. Der Leib bildet die Welt des Entfalteten, die Hirnschale aber birgt den Gegenpol des Unentfalteten, der tausendblättrige Lotos befindet sich, so heißt es, »außerhalb des brahman-Ei's«, also außerhalb des entfalteten Kosmos, d. i. des Leibes. Zu ihm gelangt nur, wer über alle Zonen sich differenzierender Gestaltigkeit hinauszusteigen vermag in die Ruhe gestaltlos undifferenzierten Seins. Diese Vorstellung ist in Indien uralt. Die Veden kennen es freilich nicht, aber die Vorstellung der Jaina's vom Weltleib als Leib der Weltfrau meint dasselbe. Dort ist das Weltgebäude ein menschlicher Leib, dem Yogin ist sein Körper ein Kosmos und ist gestaltet wie jener Leib der Weltfrau. Sie trägt in ihrer Leibesmitte, in Höhe ihres Schoßes, die kreisförmige Erdscheibe, eben dort liegt im Yogaschema der Erdlotos Mūlādhāra. Auch wird die Erdscheibe selbst in der mythischen Kosmographie der Inder als Lotosblume angesehen – inmitten ihres Blütenbodens liegt der indische Kontinent – und sie wird die »Göttin Lotos« genannt. Die Erde aber ist die Heimat der Schlangen, der Herrscher chthonischer Lebenskraft, wie der Himmel der Ursprung ihres Feindes, des göttlichen Sonnenvogels ist, der mit seinen Strahlen den Lebenssaft der Erde, die Schlangen der Flüsse und Bäche verzehrt. Darum lebt die Schlange Kundalinī im Erdlotos. Oberhalb der Erdfläche in Rumpf und Hals des Weltleibes erschaut der Jaina immer leichtere, reinere Götterwelten; so liegen im Schema des Kundalinī-Yoga die göttlichen Elemente als Sphären in den vier höheren Lotoszentren immer leichter und lichter übereinander, Feuer überm Wasser und Luft über beiden, zuhöchst aber der Äther. Der Jaina-Yogin, der sich selbst erlöst, steigt schwerelos durch alle diese Schichten der Schwere und Trübe aufwärts zur Stätte der Erlösten am Innengewölbe der Hirnschale des kosmischen Wesens, – er nimmt also den Weg der Kundalinī aus der Zone des Schoßes in den Zenit, wo der Kundalinī-Yogin den tausendblättrigen Lotos weiß. Die göttliche Urmutter aller Welt, die nach der Lehre der Jaina's alle Wesen und Sphären als ihr Leben in ihrem Leibe trägt, ist ein Schwestersymbol der Kundalinī selbst. Sie ist eine Weltmutter, die ewig schwanger geht mit der Welt; aber wie ein reifes Kind, vollentfaltet webt der Kosmos in ihr und füllt sie ganz, sie trägt ihn, indem sie sich trägt, – aber auch Kundalinī, dem Kosmos des Leibes inne, trägt ihn mit allen seinen Sphären, die sie auf ihrem Gange abwärts entfaltet hat, – trägt ihn als Schlange der Tiefe auf ihrem Haupte, indem sie das Rückgrat, die Achse des Leibes, den Weltberg des Mikrokosmos, auf dem Haupte balanciert, wie die Weltschlange der Tiefe in der indischen Kosmologie die Welt auf ihrem Haupte schwebend hält.

Die Weltfrau und Kundalinī sind der makrokosmische und mikrokosmische Aspekt derselben Größe: der schakti, die göttlich alle Gestalt webt und trägt. Im Bilde der Weltfrau ist sie von außen umrissen als Leib, der alle stoffliche Lebensfülle der Welt entfaltet in sich beschließt, im Bilde der Schlange ist sie als alle Gestalt innen durchwirkende Lebenskraft gefaßt.

Erfahrungen gewaltsamer Atemkunst zum Ziele des Unbewußtseins haben dieses Schema mit archaischer Bildkraft ausgeformt. Der Yogin soll es nicht lernen, um an ihm als Bild sich im Besitze einer besonderen Erleuchtung zu wähnen, es bietet ihm eine Anleitung, die inneren Erfahrungen seines Übens sich zu deuten, und eine figürliche Wegkarte fürs Weiterschreiten im Prozeß des Abbaus. Dieser Plan des Leibes will nicht gewußt und nur betrachtet, er will durchlaufen und aufgerollt sein, sonst bleibt er eine Einbildung ohne Wirkung.

Wirkende Einbildungen aber, die als Übungen den Adepten verwandeln, gehören zum Bestande der Tantra's, denen Hathayoga nahesteht. So lehren die Tantra's die Gottheit im Lotos des eigenen Herzens schauen und innen kultisch verehren, aber dabei geht es nicht bloß um eine innere Vision der Gottheit, vielmehr gilt es ihr Bild aus dem gestaltlosen Inneren aufzubauen und ihre Gestalt nach vollzogener Verehrung wieder einzuschmelzen in die gestaltlose Substanz der eigenen Tiefe. Daran gewinnt sich die Erfahrung der eigenen verborgenen Gotthaftigkeit: der Gläubige zaubert in täglichem innerem Kult die Gottheit aus sich selbst hervor und läßt sie wieder im eigenen Dunkel verschwinden. So lernt er sich als das Göttliche wissen. Solch ein Prozeß ist der Weg zu einer anderen Wirklichkeit als der alltags erfahrenen, sein Gehalt aber ist wirklich im eigentlichen Sinne des Wortes, denn er wirkt Verwandlung dessen, der ihn sich ein-bildet. Als gewollte, freiwillig erzwungene Einbildungen sind solche Vorgänge in ihrer Wirkung ungewollten Einbildungen oder Zwangsvorstellungen verwandt. Ein Kind z. B. bildet sich ein, die Pferde auf der Straße müßten ihm etwas antun; infolge dieser Zwangsvorstellung ist es nicht auf die Straße zu bringen; seine Einbildung zwingt ihm eine Wirklichkeit auf, die es ganz beherrscht und ihm die allgemeine Alltagswelt verwandelt. Aber solche Einbildungen, die den Menschen vergewaltigen und beherrschen, bilden das Wirkliche weithin; von Gemeinschaft und Sitte geheiligt, wirken sie die an Bedeutungen reiche Seite der Welt, in der wir leben, ja für die wir leiden und sterben können. Die Wirklichkeit, der wir emotional erliegen, ist gefärbt, ja wesentlich gewirkt mit geheiligten Zwangsvorstellungen unserer Gemeinschaft, die uns die Welt als ein in sich bestimmtes Ganzes schenken.

Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet ist Hathayoga eine Technik, mit der sich ihr Adept willentlich Einbildungen einzwingt, die sein Ich und die Welt in ein Aufhebbares verwandeln. Er bricht den Zwang der Vorstellung von Welt und Ich, den die Gemeinschaft – nicht nur die menschliche, aber die Gemeinschaft der Natur – vielfältig ihm auferlegt, durch den Zwang seiner inneren Technik, die ihre wirkende Kraft aus dem Jenseits beider, dem Ziele ihres bildhaften Weges schöpft. Sein Adept lebt in der Welt und spielt in Anpassung an ihren Lauf das Weltkind; aber das ist nur Schale, wie der Eingeweihte tantrischen Kultes sein Menschsein als Schale weiß, aus der er in täglicher Andacht sein geheimes Wesen als göttlichen Kern hervorzaubern kann: sein Jenseits aus dem alltäglichen Diesseits.

Solch ein Zurückschreiten in uns selbst über Welt und Ich hinaus gibt sich freilich auch ohne Zwang, die Natur schenkt es uns im traumlosen Schlafe jeder Nacht, aber er sagt nichts über Ich und Welt im Verhältnis zu ihrem Jenseits. Sie schenkt es auch in der Entrückung liebender Umschlingung: Welt und Person versinken, Ich und Du sind ein Jenseits beider, – Indien lehrt in dieser Vereinung von Weib und Mann das Verschmelzen des Weltleibes mit dem Weltgrunde, die Auflösung des gestaltig Entfalteten im Gestaltlosen erfahren. Eine andere Entrückung über Welt und Ich liegt im Gebet, im Versinken oder Aufschwung zu Gott. Solche Wege hinter uns zurück, über uns hinaus, sind uns notwendig: ohne sie werden wir krank. So hält Natur Krankheit bereit als ein anderes Mittel, uns vom Ich und seiner Welt zu lösen. Wer sich in beide zu sehr verfing und, ihrer Oberfläche hingegeben, Stimmen seiner Tiefe überhört, den wirft etwas aufs Krankenbett, und was ihn verstrickte, wird gewaltsam abgestellt. Jetzt muß er ganz Kreatur sein, an die Belange von Ich und Welt zu denken ist ihm verboten, und wenn er sich erholt, liegen sie wie durch einen Golf von ihm getrennt am Ufer des Vorgestern. Aber Krankheit bleibt meist ein unzulänglicher Versuch ohne Folgen, uns vom Banne des Ich und der Welt zu lösen; ein wenig durch sie verwandelt und uns enthoben, bleiben wir es selten lange.

Mit der Krise der Gläubigkeit im 18. Jahrhundert sind alte Wege, die Religion weist, über uns selbst hinauszutreten, um das Leben in Welt und Ich zu ertragen, vielen nicht mehr offen. Ihr Notstand sucht Auswege: das ästhetische Erlebnis, die Entrückung in der Kontemplation großer Kunst, zuerst von Schopenhauer gepriesen, der auflösende, fortschwemmende Sturz titanischer, sehnsüchtiger Musik seit Beethoven, die Einheit erotischer und musikalischer Erlösungskräfte im »Tristan« – das wurde Ersatz im 19. Jahrhundert. Entrückungen auf Augenblicke, nur zu erhoffen, nicht zu erzwingen; das Jenseits in uns tut sich nicht auf, nur weil wir klopfen und seiner bedürfen. – Es wird geleugnet, und an Stelle des Ganges in die Tiefe tritt das seitliche Hinausdrängen aus dem Ich. Darin liegt die Faszination des Gemeinschaftserlebnisses: hinaus über das Ich durch Aufgehen in der Aura symbolischer Personen und Zeichen, in der verschmelzenden Atmosphäre, die das Ich auslöscht. Ein Vereinfachtes an Gehalt, ein Elementares an Formel wird verlangt als das einzig wirklich Verbindende; der Drang der Bewegung zeigt das Dringliche des Notstandes, zeigt, welche kreaturhaft dämonischen Kräfte aus der Tiefe innen nach dem Ich des Individualismus langen, das, in barer Bewußtheit als in seiner Würde abgeschnürt, danach verlangt, seine Schale zu sprengen.

Diesen explosiven pathetischen Vorgängen ist eins gemein: sie verlarven ihre Absicht und den vitalen Gewinn, um den es ihnen geht, – hier in Enthusiasmus für die Kunst, dort in Opferbereitschaft für politische und soziale Ideale, die sich außen verwirklichen sollen. Es scheint ihnen die Unschuld versagt, sich zu dem Notstand zu bekennen, aus dem ihnen die eruptiven Kräfte schießen, und das gute Gewissen, bei Namen zu nennen, worum es im Grunde geht. Yoga bedeutet dagegen – neben anderem – einen methodischen Versuch in aller Unschuld, die Kräfte, die aus dem Ich in sein inneres Jenseits verlangen, und jene anderen, die von ihm abgeschnürt in Explosion nach oben drängen müssen, durch den Kanal einer Technik miteinander zu verbinden, auf daß der Mensch aus seiner Ganzheit lebe, – nicht um in einer dämonischen Sphäre verschlungen zu werden oder in einer halluzinierten zu zerstieben, sondern um aus dem inneren Jenseits in täglichem Umgang mit ihm ein höheres Gleichgewicht zu ziehen, in dem sich Welt und Ich, wie das Schicksal sie gibt, in grenzenloser Gelassenheit bestehen lassen.

Es wäre zu wenig von diesem Schema und seinen Symbolen gesagt, wenn es seine Wirklichkeit nur daran haben sollte, daß es im Yogin, der es sich erfolgreich ein-bildet, wirksam ist. Die Tiefenpsychologie unserer Tage (C. G. Jungs Analytische Psychologie) hat in der westlichen Person Schichten aufgehellt, in denen völlig Ähnliches, ja fast Gleiches zu Haus ist. Der Symbolschatz unserer Träume, aber auch Leitfiguren und Sinnbilder, die den wachen Menschen unwillkürlich überfallen können und ihn bannen, so unverständlich sie ihm bleiben mögen, entspringen derselben Tiefe des zeitlos Unbewußten, das den Rohstoff der großartig stilisierten Schemata Indiens ausgeworfen hat, um seine Menschen an ihnen zu leiten. In der analytischen Psychologie werden die Menschen angehalten, zeichnerisch festzuhalten, was an rätselhaften, aber sie faszinierenden Bildern in ihnen aufsteigt, und es ergibt sich, daß in den Gebilden, die so entstehen, eine Symbolwahl waltet, die bis ins Einzelne von Motiv, Form und Farbe einer hintergründigen Ordnung entspringt. Sie ist bestimmt vom Gehalte der Wirklichkeit, die den Menschen in seinem Kulturkreis umgibt, und ist doch nur die Variante eines allgemeinsten menschlichen Gutes an Formen und Symbolen, das in immer anderer Abwandlung, in spezifischer Stilisierung und Verwendung den Bestand aller Mythen, Riten und Religionen ausmacht. In dieser ursprünglichen Verwandtschaft liegt ein aktueller Antrieb der modernsten Psychologie Europas, sich mit allem Ältesten und Fernsten versunkener Kulturen, verdämmernder Archipele zu befassen.

Freilich, die analytische Psychologie des Unbewußten, die diese fast zeitlose Schicht im gegenwärtigen Menschen heraufbringt, ist noch fern von jener klassischen Durchbildung ihres Symbolschatzes, wie indische Lehren sie besitzen; sie ist eben in den Anfängen, das Material aufzufangen und zu sammeln. Die Visualisierungen, die hier in Zeichnungen festgehalten werden, sind frei wachsende Gebilde; in einem Notstand der Person, der sie zum Arzt geführt hat, ergreift das Unbewußte mit den verdrängten, vernachlässigten Schichten der Person die Führung aus dem Wirrsal, in dem das Bewußtsein nicht mehr weiter weiß, und spricht durch solche Zeichen wie durch Traumbilder.

Sie sind ein Abbild des Notstandes selbst, sie spiegeln die beklommene Situation, andrerseits aber sind sie schon ein Ansatz, schon ein Versuch der Selbstheilung der Gesamtperson von ihrem Unbewußten her. In ihnen gibt das Unbewußte Laut; sie sind seine Chiffreschrift. In diese wildwachsende Flora eines Krankheits- und Heilungsprozesses greift der Arzt nicht gärtnernd ein, er läßt sie wachsen, beobachtet ihre Blüten und begreift an ihrem Knospen und Vergehen, an ihrem Wechsel den Gang der Krise in unbewußten Krankheits- und Wachstumsstadien. Aber er pflanzt nicht die Keime solcher Bildvorstellungen in den Patienten, daß sie ihm als Wegzeichen und Brücken eines vorgezeichneten Heil- und Verwandlungsweges dienen. Eben das scheint in Indien der Fall mit solchen Schemata, die man sich ein-bilden soll, um über sie und über sich hinauszuschreiten.

Ihr Material muß entstanden sein wie jene Visualisierungen des Unbewußten bei uns: frei aufschießend aus inneren Prozessen und das Bewußtsein als bedeutsam bannend. Aus diesem Ursprung erklärt sich die Faszination, die sie unmittelbar auch auf uns zu üben vermögen, ohne daß wir irgend etwas von ihrem speziellen Sinn verstehen, – sie rühren in unterirdischer Verfaserung an ein Wurzelgeflecht in uns, das uns mit ihnen verbindet. Aber solche spontanen Ausbrüche des Unbewußten sind in den indischen Schemata in ein anderes Stadium ihres Daseins getreten, ihr Aggregatzustand hat sich gewandelt und hat Zusätze erfahren. In vielen indischen Bildvorlagen für Yogaübungen ist das bildhaft Symbolische im einzelnen mit Silbenzeichen, z. T. in alphabetischer Folge oder als Anruf göttlicher Kräfte, ringsum besetzt, figürliches Beiwerk an ihnen wird aus der theologischen Überlieferung rational deutbar, je mehr diese sich aufschließt. Und dann erweist es sich als allegorisch. Was anfangs rein symbolisches Rohmaterial ursprünglicher Visualisierungen aus dem Unbewußten gewesen sein muß, ist durch einen mählichen Gang der Deutung in ein allegorisches Schema verkehrt worden. Das Symbolische an ihm ist mit seiner eigenen Deutung übermalt und mit ihr verschmolzen worden, ist durch sie stilisiert. Denn diese Schemata dienen ja in Indien einem anderen Zweck, als bei uns die Zeichnungen der analytischen Praxis; an ihnen soll ja nicht ein ungeklärter Notstand der Person aus Zeichen des Unbewußten abgelesen werden, vielmehr einem Menschen, der zum Verwandlungsgange im Yoga bereit und reif ist, wird ein Weg gewiesen, kraft seines Unbewußten über den Notstand naiven Daseins und seines unfreiwilligen Teilhabens an Welt und Ich hinauszuschreiten.

Das ursprüngliche Material wurde im Rahmen des indischen Weltbildes, seiner Zeichen- und Wissenswelt gedeutet und zum gültigen Vorbilde eines bewährten Weges redigiert. Aus der besonderen, vulkanisch oder dämonisch begnadeten Substanz einzelner stieg der Rohstoff solcher Schemata Stück um Stück über die Zeiten auf, – ein Leitstern in der Nacht einer vielen gemeinsamen Lebensnot, – und wies den Weg begnadender Verwandlung. Wer als Schüler zu einem solchen Lehrer kam, der im Besitz des Weges war, und den Weg von ihm lernen wollte, auf dem der Lehrer über sich selbst hinausgeschritten war zur Souveränität über Welt und Ich, der stand vor der Aufgabe, dieselben inneren Erfahrungen und Gesichte folgerichtig in sich hervorzubringen; sie waren die einzig bekannten Wegsteine des dunklen schweren Weges voller Gefahren, irrezugehen. So wurden die spontanen Erzeugnisse des Unbewußten im Meister und in anderen, die dessen Meister gewesen waren, zu willentlich angestrebten Wegetappen des Schülers. Aus den Ausbrüchen des einen wurden die Exerzitien des anderen; was bei den Frühen – uns unbegreifbar – aus dem Innersten brach, ward bei den späteren Adepten – in der Tradition uns greifbar – zu Einprägungen, die ins Innere eingedrückt seinen bildsamen Stoff nach dem Vorbild gestalten sollten.

Dieser Herkunft entspricht es, daß in der Überlieferung vielerlei Schemata laufen, die in Einzelheiten voneinander abweichen, auch wenn sie das Gleiche wollen; ihr Rohstoff mußte, wie bei uns, so mannigfaltig sein wie geheimnisvoll einhellig in sich; seine Deutung ward einhellig und schuf große Typen, sie konnte die Mannigfaltigkeit im einzelnen wohl stilisieren, aber nicht auslöschen.

Zur Stilisierung des Stoffes boten rationale Analogien die Hand, etwa für die Ordnung der Lotoszentren: der Lotos der Erde liegt am Orte des Kotes, des erdnahen Stoffs, der Wasserlotos steht in Höhe der Blase, der Feuerlotos darüber im Zentrum der Leibeswärme, der Luftlotos bei den Atmungsorganen, der Lotos des Raumäthers zuhöchst. So liegen auch die Elemente im Weltleib geschichtet: über der Erde die wäßrige Wolkenschicht, darüber die Feuersphäre der Gestirne, Luft und Äther findet archaisches Denken zuhöchst, sie hüllen wie Häute das Weltei ein. – Die beiden Kanäle des Atems, durch die beiden Nasenöffnungen nahegelegt, haben ihr Ebenbild in der indischen Embryologie: nach der Liebeslehre (die sich in vielem mit dem Hathayoga berührt, z. B. in der ausführlichen Lehre der Haltungen, āsana) hat der Leib der Frau zwei verschiedene Kanäle, in denen die Empfängnis eines Knaben oder Mädchens erfolgt.

Die Lotoszentren sind um und um mit den Figuren und Silbenzeichen besetzt, die ihr vielfältiges Wesen ausdrücken. Der Lotos Mūlādhāra (»Ursprungs-Behälter« oder »Wurzel-Halt«) trägt im Innern ein goldgelbes Viereck: die Erde, deren Elemente er darstellt, denn nach ältester Vorstellung ist die Erde keine runde Scheibe, sondern den vier Richtungen des Raumes entsprechend quadratisch geformt. Ein Elefant trägt sie, er wird im Lotos visualisiert als Götterelefant: weißfarbig mit sechs Rüsseln. Entsprechend der quadratischen Erdform ist der dunkelrote Erdlotos vierblättrig und trägt vier Silben, die ihr Wesen beschwören, es sind die vier vorletzten Zeichen des indischen Alphabets. In seiner Mitte steht ein rotes Dreieck mit der Spitze nach unten, das Symbol des Weiblichen, Empfangenden. Im ausklingenden m der Erdsilbe »lam«, das als Punkt (als »Tropfen«) geschrieben wird, thront Brahmā mit vier Köpfen und Armen als ein Kind, der »Lotos seines Gesichts ist Seligkeit«, neben ihm seine Gattin (schakti) mit vier Strahlenarmen, »rotäugig, wie viele Sonnen leuchtend«, und »immer trägt sie« – als Schoß des Lebens – »den Glanz des reinen Unbewußten (schuddha-buddhi)«. Im roten Dreieck aber, dem Symbol des Schoßes, wohnt der Liebesgott, der Herr aller Jīva's und lächelt die samsāra-gebundenen Wesen an. Und darin steht das Lingam, das männliche Symbol, goldfarben wie der indische Mensch und die indische Erde; die Schlange Kundalinī hält es mit dreieinhalb Windungen zärtlich umschlungen und deckt schlummernd seine Öffnung. Sie ist die weltbetörende, allesbetörende Gotteskraft, wie sie die Öffnung des brahman-Tors zum Aufstieg in die Transzendenz mit ihrem Kuß verschließt, sie schimmert wie die Girlande eines Blitzes und windet sich wie die Spirale einer Muschel. Leis und süß summt sie wie ein Bienenschwarm Worte zarter Dichtung in immer zarteren Kadenzen, sie trägt alles Leben im Rhythmus des Ein- und Ausatmens und der ganze Weltkreis leuchtet von ihrem Glanze. Sie heißt die allerhöchste Herrin und herrscht sieghaft als der Aufgang ewiger Erkenntnis.

In gleicher Fülle sprechenden Beiwerks weben die übrigen Lotoszentren. Auf den sechsblättrigen Lotos des Wassers folgt der zehnblättrige des Feuers in der Nabelgegend, dem Zentrum der Leibeswärme. Inmitten seiner rauchfarbenen Blätter findet sich ein Dreieck mit emporgerichteter Spitze, Symbol des Männlichen, wie das abwärtsgekehrte das Weibliche bezeichnet, zugleich Symbol des Feuers, daneben der Ziegenbock, das Reit- und Wagentier des Feuergottes. Durch die Zentren der Elemente aufsteigend wächst die Zahl der Lotosblätter: im Ätherlotos oben beträgt sie sechzehn. Denn in ihm sind alle anderen Elemente, als aus ihm hervorgehend, virtuell enthalten, in jeder höheren Blätterzahl des höheren Lotos ist das jeweils daraus sich abspaltende nächste Element der Kosmogonie mitenthalten: im sechsblättrigen Wasserlotos der vierblättrige Erdlotos. Zugleich läuft von unten nach oben ein Gang von stärkster Farbigkeit zu immer gelösterer Helle: der Ätherlotos an der Kehle ist innen hellblau wie das Firmament, schneeweiß thront auf schneeweißen Elefanten Schiva, auf dem Schneegipfel des Himālaya in weltabgeschiedene Askese versunken, neben ihm seine Gattin, gleichfalls milchweiß wie der Trank »Todlos«. Im Blütenkelche schwebt der volle weiße Mond, der Schoß des Trankes »Todlos«, das Tor zur großen Loslösung für den in Yoga Geübten.

Das Lotoszentrum zwischen den Brauen (ājnā, »Anfang der Erkenntnis«) ist bereits jenseits der Sphäre der Entfaltung, die höchste Blätterfülle des Ätherlotos vereinfaltet sich hier zu zweien. Zweiblättrig enthält es die reine Polarität des Männlichen und Weiblichen in sich, ehe sie zum Spiele der Kosmogonie auseinandertritt. In seiner Entrücktheit ist es völlig milchweiß. Das Abklingen der Farben im Aufwärtsgange entspricht der mählichen Reinigung des kristallenen jīva in der Lehre der Jaina's: hat er sich von allem karman-Stoff, der ihn verfinsterte, geläutert, so steigt er in die milchweiße Zone der Entrücktheit auf, – an die Stelle des tausendblättrigen Lotos. Dieses Abklingen der Farben im Aufstieg der Kundalinī spiegelt visuell einen Prozeß der Loslösung und Entformung, indes die wachsende Blattzahl der durchlaufenen Zentren vom Erd- bis zum Ätherlotos einen Gang ständigen Zuwachses darstellt: eine Integration des Differenzierten in ein Höheres, darin es eingeschmolzen wird. Das sind die beiden Seiten, die, nur in scheinbarem Widerspruch zueinander, nach der Lehre der Yogasūtra's das Wesen des Weges ausmachen. Lingam- und Dreiecksymbol, an der allgemeinen Entfärbung teilnehmend, erscheinen im sechsten Zentrum oben zwischen den Brauen milchweiß, wie sie golden und rot im untersten standen, und wie sie rauchblau einander durchdringend im blutroten Lotos des Herzens erscheinen: innige Vereinigung zum Davidsstern, Männliches und Weibliches einander besitzend als Leben des Lebens, Herz im Herzen. Dieser Verwandlung des lebendig blutenden Lebens zur Milchweiße des Tranks der Todlosigkeit, zur Schneeregion der Askese entspricht der physiologische Befund des Yogin während der Kundalinī-Übung: die Leibeswärme weicht aus ihm schrittweis nach oben zurück, bis im Stadium zeitlicher Vollendung, wenn der tausendblättrige Lotos erreicht ist, nur mehr die Scheitelspitze etwas Wärme zeigt, indes der übrige Körper, wie im Tode, erkaltet ist, um mit dem mählichen Abstiege der Kundalinī mählich sich wieder zu erwärmen.

Der tausendblättrige Lotos zuhöchst, milchweiß dem farbenblühenden Leben und all seiner Differenzierung entrückt, aber sie in sich beschließend, wie das reine Licht den ganzen Regenbogen, trägt auf seinen zahllosen Blättern alle Silbenzeichen des indischen Alphabets in endloser Wiederkehr, indes sie auf allen Zentren unter ihm nur jeweils einmal auf einem ihrer Blätter figurieren. Er ist die vielfältige Integration alles aus seiner Transzendenz kosmogonisch zu Welt und Ich Differenzierten, – indem er nicht nur alles dort vereinzelt Verteilte als ganze Reihe in sich trägt, sondern diese Reihe unzählbar vielfach in sich beschließt: Symbol des Höchsten.

Dieser Weg über die Stufenleiter der auseinander entfalteten Elemente, wie er über ihre Einschmelzung schrittweis bis ins Jenseits aufgehobener Fülle aller Unterschiede führt, ist zugleich ein Abbild des natürlichen Sterbeprozesses, wie Indien ihn sieht. Das tibetische Totenbuch »Bardo Tödol« gibt die indische Lehre im Gewande des lamaistischen Tantrismus, wenn es vom Vorgang des Sterbens und den Erfahrungen handelt, die ihm in dem »Zwischenzustande« (bardo) folgen, zwischen dem Abscheiden aus dem Leibe und dem Eingehen in eine neue Individuation.

Hier wird die Folge der Empfindungen eines Sterbenden in der Agonie beschrieben: zuerst stellt sich ein furchtbares Druckgefühl ein, als ob der erdhafte Leib in Wasser ertränke, dann löst sich das Erdhafte (dem der Mūlādhāra-Lotos entspricht) im Wasser auf: es geht über in ein erstarrendes Kältegefühl. Jetzt ist der Lebensfunke des Sterbenden aus der untersten, der Erdzone seines Mikrokosmos zurückgestiegen und hinaufgelangt in die höhere Zone des Wassers, dem der Svādhischthāna-Lotos entspricht, der Gang der Wiedereinschmelzung der Leibeswelt, wie sie stufenweis entfaltet dasteht, hat begonnen. Jetzt ist der Sterbende ganz in der kalten Wasserzone. Aber das Kältegefühl dieser Sphäre, das ihn wachsend umfängt, schlägt auf seiner Höhe um in die Empfindung brennender Hitze; damit gelangt der Ablösungsgang des jīva aus dem Leibe von der Wasserzone in die Sphäre des Feuers, zum Manipūra-Lotos, dem Zentrum der Leibeswärme am Herzen. Diese furchtbare Glut geht über in das Gefühl, in tausend Atome zerstieben zu müssen; da langt der jīva aufsteigend beim vierten Lotos der Luftsphäre, beim Anāhata-cakra in Höhe des Herzens an.

Wenn dieses Gefühl verebbt, befindet er sich in der Äthersphäre, auf der Höhe des Vischnuddha-cakra in der Kehle. Wer dank Yoga ein bei Lebzeiten Erlöster ist, erhebt sich spontan über diese Sphäre; im Durchgang durch die beiden Lotoszentren der Transzendenz (den zweiblättrigen Lotos zwischen den Brauen – ājnā-cakra – und den »tausendblättrigen« der Scheitelhöhe) verläßt sein Lebensfunke den Kosmos des Leibes durch den »brahman-Spalt« in der Hirnschale (brahma-randhra = Fontanelle); der jīva des Unerlösten aber bleibt umfangen vom ätherischen Element und zieht in ihm aus Kehle und Mund des Sterbenden. Denn der unsichtbare, ungreifbare Äther ist das Element des Zwischenzustandes, der den jīva aufnimmt, bis er aus ihm in eine neue Verleibung gleitet.

So stellt der Aufstieg der Kundalinī durch die Lotoszentren des Leibes eine willentlich geübte Vorwegnahme des natürlichen Sterbens dar. Er schenkt dem Adepten noch im Fleische ein neues todloses Leben, zu dem er wiedergeboren wird, wenn die Schlange der lebenentfaltenden Kraft aus dem tausendblättrigen Lotos zuhöchst über die Schwelle, die Diesseits und Jenseits trennt, wieder ins Diesseits des Leibes zurückkehrt und stufenweise seinen Mikrokosmos neu entfaltet bis zum untersten Lotos hinab. Dann ist dem Adepten ein Bewußtsein geschenkt, das wieder ein Alltagsbewußtsein ist, zugleich aber verwandelt durch den Schritt über die Schwelle des Jenseits und wieder zurück, – völlig verwandelt durch das Wissen und die Kraft, diesen Gang ins Jenseits und zurück nach Belieben wiederholen zu können, ja schließlich die Schritte zur Entfaltung des Diesseits von Leib und umgebender Welt nur tun zu müssen, wann es beliebt. Der Adept genießt als schließliche Frucht seiner Übung des Kundalinī-Yoga das Bewußtsein, frei zu sein vom unfreiwilligen Gebanntsein an Mikrokosmos und Makrokosmos; wie das Göttliche – das er ja verborgen, nun aber offenbar sich ist – läßt er beide als Spiel der Selbstentfaltung und Differenzierung seines Wesens aus sich hervorgehen und nimmt sie in sich zurück, wie es ihm beliebt.

Begreift man als Sinn des Kundalinī-Ganges, daß er ein Weg der Überwindung des Todes und der Wiedergeburt zu neuem, todlosem Leben ist, so rückt er nahe an bekannte alte und zeitlose Dinge des Westens.

In der »Zauberflöte« treten zwei geharnischte Männer auf; sie öffnen den Einzuweihenden den Weg der Prüfung, auf dem sie in den Sonnenstaat gelangen sollen, der die Mächte der Nacht bekämpft, – die beiden singen:

»Der, welcher wandert diese Straße voll Beschwerden,
wird rein durch Feuer, Wasser, Luft und Erden;
Wenn er des Todes Schrecken überwinden kann,
schwingt er sich aus der Erde himmelan.
Erleuchtet wird er dann imstande sein,
sich den Mysterien der Isis ganz zu weihn.«

Das Wissen der Eingeweihten und Logenbrüder des 18. Jahrhunderts, das den geheimnisvollen Hintergrund in der »Zauberflöte« bildet, geht in letzter Linie unmittelbar auf den bekannten Schluß von Apulejus' Roman »Der goldene Esel« zurück. Apulejus' bedeutende Schilderung des Weges, den der Eingeweihte der Isis zu gehen hat, bietet nun eine genaue Entsprechung zum Aufstiegsweg der Kundalinī. Und diese spät-antike Isis, die alle großen Göttinnen und Mütter des Vorderen Orients und des Mittelmeerbeckens in sich aufgenommen hat als Aspekte und verschiedene Namen ihrer allumfassenden Weltmutterschaft, steht in ihrem weltgeschichtlichen Raume ganz so da, wie die höchste göttliche Kraft, die Schakti, Weltenentfalterin und Weltmutter, Kundalinī, Herrin des Lebensgeheimnisses in Indien, die sich in Gestalt und Namen aller indischen Göttinnen und Götter verehren läßt.

Was von dieser Isis bei Apulejus gesagt wird, gilt ebenso von Schakti-Kundalinī: »in den Händen der Isis läge überhaupt das Leben eines jeglichen Menschen« – so ist Kundalinī die Entfalterin und Erhalterin des Mikrokosmos unseres lebendigen Leibes, – »lägen die Schlüssel zum Reiche der Schatten« – so ist Kundalinī die Führerin über die Schwelle des Todes zum Jenseits des tausendblättrigen Lotos, – »in ihren Mysterien würde Hingebung in einen freiwillig gewählten Tod und Wiedererlangung des Lebens durch die Gnade der Götter gefeiert und vorgestellt, ... durch ihre Allmacht würden ihre Eingeweihten dann gleichsam wiedergeboren und zu einem neuen Leben zurückgeführt« – hier wie dort geht es um die Überwindung der Vergänglichkeit und des Todes und um eine Wiedergeburt durch einen Vorgang, der geheimnisvoll verwandelt.

Was man über diesen Vorgang bei Apulejus erfährt, entspricht dem Ablauf des Kundalinī-Prozesses: »ich ging bis zur Grenzscheide von Leben und Tod, ich betrat Proserpinens Schwelle« – also das Reich des Todes wird betreten, der Abbau des kreatürlichen Ich wird vollzogen; Proserpina, die Herrin der Toten, entspräche hier der Schakti und Mutter in ihrem grauenvollen, toddrohenden Aspekt als Mahā-Kālī, als großer Todesgöttin, die als skeletthaftes altes Weib die Eingeweide des blühenden Lebens, das sie hinrafft, verschlingt. – »Und nachdem ich durch alle Elemente gefahren, kehrte ich wiederum zurück« – was tut Kundalinī als Prinzip unseres Lebens anderes in ihrem Auf- und Abstieg durch die fünf Lotoszentren der Elemente? – »Zur Zeit der tiefsten Mitternacht sah ich die Sonne in ihrem hellsten Licht leuchten« – so bricht das Licht des höchsten brahman aus dem Dunkel der Māyā – »ich schaute die unteren und oberen Götter« – eine altägyptische Formel für »alle Götter« – »von Angesicht zu Angesicht und betete sie in der Nähe an«, – so verehrt der Yogin alle Götter, wie er sie in den Lotoszentren aufgereiht und angesiedelt findet, einen jeden an seiner Stätte, indem er ihr Bild innen sich aufruft und die Silben und Sprüche flüstert, die ihr Wesen enthalten.

Der Eingeweihte der Isis erfährt dann seine Heimkehr vom Jenseits des Todes im Sinnbild des Nachtlaufes der Sonne; von ihrem täglichen Tode im Westen kehrt die Sonne auf unterweltlicher Nachtfahrt durch die zwölf Stundenhäuser der Tiefe allnächtlich zur Wiedergeburt in neuen Aufgang. Der Eingeweihte wird nacheinander in zwölf verschiedene Gewänder gekleidet, entsprechend den zwölf Stundenhäusern des Unterweltslaufes, in denen die unteren Götter und die Toten der Sonnenbarke zujubeln, die an ihnen vorüberfährt, »in tiefster Mitternacht leuchtend mit hellstem Licht«, – dann wird der Eingeweihte endlich der versammelten Isisgemeinde gezeigt: »als Bild der Sonne ausgeschmückt stand ich gleich einer Bildsäule da« – er steht auf einer Holzbank unter dem Bildnis der Göttin Isis, augenscheinlich in der Haltung ihres Kindes Horus, in dem ihr Gatte und Bruder Osiris, wiedergeboren als sein Sohn, zurückgekehrt ist.

Dieses ganze Geschehen ist ein Vorgang, der einmalig am Einzuweihenden bei der Einweihung vorüberzieht, mit Räumen und Bildern, Kleidern, Formeln und Symbolen, mit Gebärden und Schritten durch Hell und Dunkel, – eine sakramentale Handlung, die von außen her vollzogen wird, damit der Einzuweihende sich daran innerlich verwandle. Der Adept mimt die Sonne, um ihr Wesen zu teilen: als immer wieder Todgeweihter ein in Wahrheit Todloser zu sein; – durch den Mimus der Sonne, die aus der Totenwelt wiederkehrt, durchtränkt er sich mit ihrer todenthobenen Natur, so wie der Hathayogin, der Vischnu als Löwen-Mann mimt und sich in der Vorstellung durchdringt, der Gott zu sein, sich mit seinem übermenschlichen Wesen durchtränkt. Aber der Yogin des Kundalinī-Ganges vollzieht mehr als einen Mimus, er verübt wirklich eine innere Einschmelzung und Neuentfaltung des Mikrokosmos, er wandelt nicht einen sinnbildlichen Weg durch Gewölbe und Gänge eines Tempels, aber im Gebäude seines Leibes durchmißt er mit der Kundalinī einen wirklichen Wandlungsweg im Gange der »Ader reinster Lust« aufwärts und abwärts.

In anderen Andachtsübungen entfaltet der Yogin in Anlehnung an eine gemalte Vorlage ein kreisförmiges konzentrisches Bild (mandala) in innerer Schau und setzt sich selbst mit seiner Imagination in den Mittelpunkt dieses Gebildes, in den sich selbst entschwindenden, ungreifbar feinen Punkt oder Tropfen (bindu), aus dem die kreisförmige Gestalt in konzentrischen Formen hervorquillt und sich um ihn breitet. Er läßt diesen sich selbst ungreifbaren Tropfen der Transzendenz in fortschreitenden Visualisierungen aus seiner in sich selbst aufgehobenen Fülle aller Gestaltmöglichkeiten überfließen zur konzentrisch-gestaltigen Vielfalt der Erscheinungswelt, und was er so aus dieser Mitte quellen läßt, nimmt er, wenn es entfaltet und angeschaut ward, wieder in sie – in sich – als Sphäre des Transzendenten zurück. Der Kundalinī-Yogin ist sich selbst mit seinem Leibe ein solches mandala, vielmehr sein Leib ist wie der Kreissektor eines solchen mandala: der Mittelpunkt daran, das dem Zugriff entschwindende Transzendente, der Quell aller Entfaltung, ist der tausendblättrige Lotos des Jenseits, »außerhalb des brahman-Ei's« der Welt des Leibes, die konzentrischen Schichten aber, zu denen dieser »Tropfen« sich entfaltet, werden durch die übrigen fünf Lotoszentren bezeichnet, der Erdlotos (Mūlādhāra) liegt an der Peripherie der Entfaltung des Mikrokosmos, als deren letzte dichteste Stufe, die Suschumnā aber ist ein Radius des Kreissegmentes, der die Peripherie durch alle konzentrischen Sphärensegmente mit dem Mittelpunkte verbindet. Auf diesem Radius spielt sich die Übung des Kundalinī-Ganges ab: dieser gewollte Weltuntergang, dieses absichtsvolle Sterben und das Wiedergeborenwerden als Welt und Leib, das darauf folgt.

Hier wird erfahren, wie wir zustande kommen und uns aufbauen, als was wir uns täglich haben; es ist als solle sich hier das Geheimnis lüften, das Hofmannsthal in seinem Distichon »Erkenntnis« anrührt:

»Wüßt' ich genau, wie dies Blatt aus seinem Zweige herauskam,
Schwieg' ich auf ewige Zeit still: denn ich wüßte genug.«

Hier greift eine innere Hand hinter den Schleier des Weltprozesses, wie aus dem transzendenten Einen (dem überweltlich ruhenden höchsten Schiva) das vielfältig Vergängliche, die Welt, wird, dank der unendlichen Bewegtheit seiner Kraft, der Schakti, die in uns Kundalinī, die Lebensschlange, ist. Man erfährt erleuchtend die Einheit der Gegensätze Schiva und Schakti –: die in sich ruhende Transzendenz und die aus ihr und in sich spielende Immanenz der Welt sind zwei Aspekte eines Bestandes.

»Erleuchtet wird er dann imstande sein,
sich den Mysterien der Isis ganz zu weihn«

– was heißt das ins Indische übersetzt? Das Geheimnis der Isis als Kundalinī, – wo wäre es nicht? Sie selbst ist das offenbare Geheimnis. Sie spinnt es als Māyā von Welt und Ich und löst es, wie Penelope nächtlich ihr Geweb des Tages wieder auf im Heimgang zum transzendenten Einen, zum überweltlichen ruhenden Schiva des höchsten Lotos. Daß sie eins mit ihm ist, nie von ihm getrennt oder verschieden, die Gattin in unendlicher Umschlingung des Gatten, und daß er jenseits scheint wie sie diesseits, – das ist ihr Geheimnis. Der Yogin, der es für sich erleuchtet hat, ist allein imstande, sich ihm »ganz zu weihn«. Für ihn hat die Gewalt, die alle Wesen bindet, der Bann unfreiwilligen Teilhabens an Welt und Ich in ihrer Vergänglichkeit, seine Macht verloren. Mitten im Leben steht er, ihm hingegeben als der vielfältigen Offenbarung der göttlichen Kraft, die sein innerstes Leben ist, von seiner Māyā außen wie innen, in Welt und Leib, nicht überwältigt oder gebannt, in bodenloser Gelassenheit.

Ein Gleiches lehrt mit anderen Zeichen der spirituale Weg der Yogasūtra's, die das Wesen des Yoga vom Psychischen her mit einer idealen Verbindung von Präzision und Weiträumigkeit in Formeln fassen. Einer ihrer Grundbegriffe sind die »Minderungen, Behinderungen oder Beschwerden« (klescha). In der Alltagssprache meint das Wort alles, was das ideale Befinden eines Gegenstandes, einer Person beeinträchtigt: ein welkgewordener Blumenschmuck, ein abgenutztes, beschmutztes Gewand ist von »klescha« betroffen, so auch die Schönheit des Monds, wenn eine Wolke sie befängt; aufreibende Geschäfte und Verpflichtungen sind »klescha«, sie ziehen einen von seinem Wesen ab. Im Yoga sind diese »Minderungen« unserer eigentlichen Herrlichkeit fünf an Zahl: Befangenheit oder »Nichtwissen« (avidyā), das Gefühl »ich bin ich«, Zuneigung und Abneigung und als letztes der Drang ins kreatürliche Dasein. Diese »Minderungen« sind Verkehrtheiten unseres wahren Wesens, indem sie »schwingen (oszillieren), festigen sie das Walten des psychischen und physischen Weltstoffs, der uns aufbaut« und sich in den drei Aggregaten der lauteren Klarheit, des Wirbelstaubs der Leidenschaften und der Dumpfheit der Kreatur darstellt. »Befangenheit« ist der Mutterboden der anderen, diese sind Wandlungsformen des »Nichtwissens«; in ihnen strömt sich Befangenheit als der naive Eindruck aus, Vergängliches und Unreines, Leidvolles und Wesenloses an der Welt und unserem natürlichen Dasein sei unvergänglich, rein, glückhaft und wesensvoll. Dieser zwingende Eindruck, der uns befängt, veranlaßt falsche »Benennung«: »unvergänglich ist die Erde, ist der Himmel mit Mond und Sternen, unsterblich die himmelbewohnenden Götter« – indes das Gegenteil Wahrheit ist. Das indische Vergänglichkeitsgefühl setzt nicht bei der Hinfälligkeit der Kreatur ein, ihr gibt die hintergründige Wesenlosigkeit des Kosmisch-Astralen, die Vergänglichkeit der Götter das Relief.

Die Minderungen hängen sich an alles, was für uns die Form eines Gegenstandes annimmt, in allen Augenblicken unserer verkehrten Benennungen sind sie wirksam, aber für den Yogin, der sich vollendet, »schwinden sie der schwingenden Befangenheit nach«. Dank Bemühungen im Yoga werden sie kleiner und kleiner, in Zuständen der Entrückung sind sie auf Zeit eingeschlafen, aber im Weltkind sind sie mächtig. Alle zusammen sind, was man das Leben der Person nennen muß: die Verfangenheit in die Welt, wie sie sich uns bietet, das Hangen an unserem Ich, wie es uns naiv gegeben ist, Zuneigung und Abneigung, die uns auf allen Wegen leiten, und der Drang ins kreatürliche Dasein, der uns mit dem Wurme eint, der Urschrei in Gefahr, »nicht will ich nicht sein, – ich will sein« – er ist der Schrei im Tode und schwingt uns hinüber in künftige Existenz. Anfangslos quillt er aus sich selbst, »denn wie empfände sonst ein eben erst geborenes Geschöpf, das den Tod noch nicht gekostet hat, Abneigung gegen die Eigentümlichkeit des Sterbens?« – dieser Urlaut meint auch, »nicht möchte ich nicht werden, – ich will werden«; er besagt den Drang des Lebens, über seine Gestalt hinauszufließen und neue Gestalten zu bilden, und nicht im Tode des Individuums verschlungen zu werden. Mythisch stellt sich dieser Drang als erste Regung des Weltentstehens dar; der »Herr der Ausgeburten«, der Weltschöpfer der Veden wird durch zwei Motive zur Zeugung der Geschöpfe aus sich selbst heraus bewogen: er fühlt sich einsam und fürchtet sich, darum gebiert er die Fülle der Lebensgestalten aus sich, oder aber es verlangt ihn, »viel will ich sein, ich will mich ausgebären«. Er ist nicht schaffender Geist, aber Kreatur, All-Kreatur, aus der alle Kreaturen kommen, und seine zwei Regungen sind ein Drang, – der Drang aller Kreatur: da zu sein, wie immer es sei, und nicht zu vergehen; über sich hinaus zu sein und nicht in sich zu vergehen.

Die Minderungen sind zeitloses Erbe unserer kreatürlichen Natur, sie liegen den anfangslosen Imprägnierungen unseres Kerns zugrunde, die als ein unbewußter Schatz von Bereitschaften, uns zu gebaren, von frühem Dasein her an uns haften. Sie wollen abgebaut sein; nicht bloß die Person, auch die Kreatur in uns soll abgestreift, ein Jenseits von beiden, das ungreifbar in uns ruht, soll uns zu eigen gegeben werden. Askese, Lernen und dem Göttlichen Sich-Weihen sind drei Mittel des »tätigen Yoga«, die dazu helfen. Askese glüht Unreinheit in uns hinweg, die aus anfangslosem Uns-Selbstbestimmen durch zahllose Akte des Verhaltens in früheren Leben mit vielerlei Tönung uns trübt (wie auch der Jaina-Yoga lehrt), – jene naturhafte Unreinheit, die auf den Minderungen beruht und früheren Imprägnierungen unseres unbewußten Kerns, bereit vorm »Netz der Dinge und Situationen« zu immer neuem spontanem Sich-Geschehenlassen ins Bewußtsein aufzubrechen. Stofflich besteht sie in einem Übermaß verwölkender Leidenschaft und animalischer Dumpfheit; beide sollen zerstäubt und aufgelöst werden durch asketische Glut, wie Sonnenglut trübende Wolkengebilde aufsaugt und zerlöst in die ätherisch klare Stille des Firmaments. »Lernen« meint Rezitieren von reinigenden, heiligenden Silben und Worten und wiederholtes Aufsagen der Lehre, die vom Banne der Befangenheit erlöst und den Gang der Selbstverwandlung weist. »Sich dem Göttlichen weihen« meint, alles, was man tut, samt den Früchten, die es trägt, nicht für sich selbst vollziehen, sondern dem Gotte aufopfern nach der Devise, »was ich willentlich tu oder unwillkürlich, Reines oder Unreines: alles das lege ich auf Dich, von Dir gelenkt tu ich es« – vollkommene Selbstabdankung in gläubiger Hingabe (bhakti), wie die Bhagavadgītā sie lehrt: »ich bin es nicht, der tut.«

In einem Leben, das sich ganz diesen Verhaltensweisen weiht, soll es gelingen, die »Minderungen« – den Inbegriff von Person und Kreatur in uns – »völlig klein zu kriegen« und »im Feuer der Askese ihren Samen«, der zu immer neuem Blütenflor der Individuation, zu immer neuer Frucht des Schicksals aufschießt, »zu verbrennen«, seine Keime zu töten, dann wird von allen Minderungen und Beschwerden unangetastet eine »feinste Erkenntnis« die Möglichkeit gewinnen, in Funktion zu treten. Es wird eine rein unterscheidende Erkenntnis sein: daß ein innerster, rein zuschauender Kern in uns jenseits aller greifbaren Person und des Tiefendunkels ihrer unbewußten Bereitschaften steht, jenseits des psychisch-physischen Weltstoffs in uns, der sich durch »tätigen Yoga« von seinen niederen Aggregatformen verwölkender Affekte und animalischer Dumpfheit zu völliger Klarheit und Stille geläutert hat. Das Gemüt, durch Sammlung und Vereinfaltung aus dem beständigen Strudelflusse äußerer Eindrücke und innerer Reaktionen in einen klaren Spiegel gestaut, faßt diese jenseitige Größe in sich: sie hebt sich ab und begreift sich als ein unverwoben Jenseitiges, das nur gespiegelt wird von der völlig geläuterten Person.

Diese Erkenntnis, die Person und jenseitigen Kern voneinander scheidet, bedeutet die Einleitung eines »rückläufigen Prozesses« in uns: das ständige Aufschießen von Person und Welt aus unserer Tiefe im Sich-Geschehenlassen unbewußter Bereitschaften zum Gestaltigen innerer und äußerer Akte wandelt sich in den Abbau der Sphären, die von der Dynamik dieser Akte erfüllt, ja ständig neu von ihr gewoben werden. An Stelle der Welt- und Ichverflochtenheit tritt ein Abgespalten- und Ledigsein: der Zustand des »kaivalya«. Sein Wesen ist mit »Ledigsein« nur einseitig begriffen: nur von der Seite des Abbauprozesses her, der Person und Kreatur als Schwerpunkt unseres Daseins auflöst; indem wir über beide hinaus und zurück nach innen schreiten, werden wir ja nicht ärmer, sondern reicher. Das besagt ja der Begriff »Minderungen« als Zeichen für Person und Kreatur; ihr Abbau bedeutet den Wegfall von etwas, das uns beklemmt und hindert, unserer wahrhaftigen, uns lang verborgenen Herrlichkeit froh zu werden.

Der Weg zu diesem idealen Sein, unbeschwert von Minderungen, geht über eine Reihe von Übungen wunderbarer Erfahrungen, in denen das kaivalya als Fülle verborgener Herrlichkeit sich schrittweis zu eigen gibt. Man hat die besonderen Kräfte, die sich auf diesem Gange entfalten, als »supernormal powers« begriffen, – das sind sie, sofern man den verminderten, beschwerten Zustand des Weltkindes als den normalen ansieht. Sieht man aber, wie die Yogasūtra's laut ihrer Bezeichnungsweise tun, das Person- und Kreaturhafte an uns als den abnormen, weil verminderten und beschwerten Zustand an und spricht wie sie vom Stande des kaivalya – und von welcher anderen Ebene gültiger Wirklichkeit her sollte Yoga die Dinge benennen? –, so sind diese wunderbaren Kräfte uralter, lang vorenthaltener Besitz unseres tieferen Wesens; im Weltkind gefangen und schlummernd, werden sie endlich freigesetzt. Innere Sammlung auf einen Gegenstand, die sich selbst vergessend ganz in ihm aufgeht und nur mehr wie sein eigenes Ausstrahlen ist, verwandelt den Adepten in den Gegenstand: sie verleiht ihm ein übersinnliches, überlogisches Wissen um dessen Sphäre. Solche Sammlung hat soviel Stufen, wie sie sich an Gegenständen des Fixierens heften kann, sie befaßt sich mit den Organen des Leibes wie mit Bestand und Elementen der Welt; auf die Zeit als vergangene, gegenwärtige und künftige gerichtet, befreit sie von der Bindung der Kreatur an Augenblick und Gegenwart und gibt ein Wissen um Vergangenes und Künftiges. Oder: das Unbewußte tut sich auf mit seinem Schatz an Imprägnierungen und Bereitschaften, der Yogin aber liest in ihnen intuitiv seine Vergangenheit in früheren Leben, die sich zu diesem Schatz an Zeichen und Keimen in ihm niedergeschlagen hat. Sammlung auf den unmittelbaren Eindruck einer anderen Person führt dazu, um ihre Gedanken zu wissen. Sammlung auf die Sonne verschafft die Intuition über den Bau des Kosmos, dessen allsehendes, wanderndes Auge die Sonne ist; Sammlung auf den Mond, den Herrn der Sterne, erschließt das Wesen der Sternenwelt, Sammlung auf den Polarstern schenkt Intuition des Sternenlaufs, der den Pol umkreist, Sammlung auf den Nabel, den Pol des Leibes, schenkt das intuitive Wissen um das Arbeiten der Organe. Solchem Erkennen ohne Grenzen folgen entsprechende Kräfte: Verlust der Körperschwere, Herrschaft über die Elemente, gedankenschnelle Bewegung durch den Raum und andere Fähigkeiten werden genannt.

Hier ist man mitten in der Sphäre der Magie des Unbewußten, wo es seine ungeheuren Möglichkeiten, aus der überpersönlichen Fülle unserer Tiefe zu schöpfen, dem Menschen lockend zur Verfügung stellt. Aber die Gefahr, in bodenloser Inflation des Ego aus der rauschhaften Traumwelt des Über-Ich in die kahle Tagwelt wachen Daseins wirken zu wollen, wird voll begriffen: alle diese Ausweitungen der Person sind kein Ziel des Yoga, wohl aber sind sie Wegzeichen, die als solche angestrebt werden sollen und sich einstellen auf dem Gange zum kaivalya. Es steht wohl am Ende dieser Erfahrungsreihe, aber nur für den Adepten, der sich nicht mit einem Rest von Ego in die Ausübung solcher Verlockungen verfängt. Diese Verlockungen seiner überpersönlichen Sphäre verdichten sich dem Yogin, wie er sie innen dem kaivalya zuschreitend durchquert, zu göttlichen Gestalten. Sie nahen ihm mit Glanz und Reiz und bieten ihm himmlische Freuden, den Trank der Todlosigkeit, Erfüllung aller Wünsche, göttliche Einsicht. Er aber spricht zu sich, ohne ihrer zu achten, »geröstet auf den schauerlichen Kohlen des zeitlosen Kreislaufs durch Geburten und Tode und umgetrieben in seinem Dunkel, habe ich mit Mühe die Leuchte des Yoga erlangt, die das Dunkel der Minderungen vernichtet. Feindlich sind ihr diese Sinnendinge, deren Mutterschoß Verlangen ist, wie wehende Winde dem Licht einer Lampe. Ich habe das Licht dieser Leuchte erschaut; wie könnte ich, von dieser Fata Morgana der Dinge verführt, mich dazu hergeben, Brennholz zu sein für die von neuem entflammten Gluten des Lebenskreislaufs? – fahrt wohl, ihr Dinge, Traumbildern vergleichbar, Wunschziele Beklagenswerter!« – damit gibt er sich ganz der Sammlung in Yoga anheim. Er wird nicht einmal stolz darauf sein, diesen hohen Versuchungen begegnet zu sein und sie ausgeschlagen zu haben: solcher Stolz wäre eine letzte sublime Hemmung, ein letzter Triumph eines in Inflation zum Über-Ich geweiteten Ego.

Dieser Gang über immer andere Fähigkeiten, die vom Weltkind her wunderbar scheinen, läßt immer neue Facetten am Kristall der ungeminderten Herrlichkeit unseres Wesens aufleuchten; sein Ende, das kaivalya, integriert all jenen stufenweis zugewachsenen Gewinn in sich, der sich als differenzierte Kräfte des Wissens und Wirkens an besonderen Bereichen der Welt und des Leibes entfaltet hat. Der Endzustand erreichter Herrlichkeit hebt sie alle zu undifferenzierter Ruhe, unbezeichenbarer Einheit auf. Wie er negativ gesehen »Ledigsein« von Minderungen ist, meint er in seinem positiven Gehalt die Integration aller Möglichkeiten, zu sein und zu wirken, die übergegensätzliche Totalität aller individuellen Bestimmtheiten, sich auf etwas zu beziehen, sich irgendwie zu gehaben. So ist er Entrücktheit gegenüber jedem Schicksal, das sich allemal als Konsequenz der Individuation und Differenzierung erweist. Es ist ein Dasein jenseits jeder Bestimmtheit und Abhängigkeit, eine in sich schwebende Fülle aller Möglichkeiten, die dem Zwange der Kreatur, sich in irgendeine greifbare Wirklichkeit vollstrecken zu müssen, enthoben ist. Ein Sein, das sich grenzenlos weiß und aller Bestimmung bar, wie es die Präexistenz des Göttlichen ist, wenn es sich noch nicht zum Spiele der Welt in Selbstdifferenzierung aus seiner Ruhe entfaltet hat: schicksallos, todlos. Der Weg zum kaivalya vollzieht an unserem Wesen die »restitutio in integrum«, wie der Aufstieg der Kundalinī die schrittweise Integration der aus sich differenzierten Elemente in den sie alle in sich integrierenden Äther vollzieht und im Heimweg über ihn hinaus zum überweltlich ruhenden Gott die totale Integration der Welt des Leibes erreicht.


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