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Louise von Francois

Zu Herbstbeginn 1893 starb in einem kleinen Saalestädtchen eine Schriftstellerin, die das Schicksal so vieler Anderen teilte: ihr Nachruhm war groß, aber das Leben hatte ihr gerade in der Vollkraft ihres Schaffens keinen Lorbeer gereicht.

Marie Louise von François wurde am 27. Juni 1817 zu Herzberg in Sachsen als Tochter eines Offiziers geboren, der in glänzenden Verhältnissen lebte. Schon ein Jahr nach ihrer Geburt starb ihr Vater, und nun wurde sie durch den Leichtsinn und die Treulosigkeit ihres Vormunds um ihr ganzes Vermögen gebracht. Sie erfuhr erst als junges Mädchen davon. Da hatte sie sich mit einem stattlichen und eleganten Offizier verlobt, der aber zurücktrat, als er von der Vermögenslosigkeit seiner Braut hörte. Der Schlag war hart; er würde eine Andere vernichtet oder grenzenlos verbittert haben. Aber Louise war kein Dutzendgeschöpf. Sie brach nicht zusammen; die Freudlosigkeit des Schicksals wirkte erzieherisch auf ihr großes und edles Herz.

Ihre Mutter vermählte sich zum zweiten Male mit dem Gerichtsrat, späteren Hofrat Herbst. Bei ihr lebte sie, bis sie – nach den Angaben Brümmers – in das Haus des Vaters ihrer Kusine Klotilde von Schwartzkoppen zog. Klotilde war die Tochter des durch seine romantischen Jugendschicksale in weiteren Kreisen bekannt gewordenen Generals Karl von François, ihr Gatte zuerst preußischer Forstrat und später Hofkammerpräsident und Hofjägermeister in Berlin. Dem alten General hütete Louise nach der Verheiratung seiner Tochter bis zu seinem Tode (1855) getreulich das Haus; dann kehrte sie zu ihrer Mutter nach Weißenfels zurück – und hier in Weißenfels verblieb sie auch bis zum Ende ihres Lebens.

Dies alte Fräulein war ein wundervoller Mensch. Die Lösung ihres Verlöbnisses mit dem Grafen G. hatte das lustige Mädchen, das nicht viel mehr gelernt als andere adlige junge Damen ihrer Zeit, in eine reife Frau verwandelt und zu tiefem Nachdenken über die sozialen Grundlagen unsrer Existenz angeregt. »Mit unablässigem Lesen und Lernen holte sie nach«, so charakterisiert sie Richard M. Meyer; »vor allem aber hatte sie eins gelernt: den Abscheu vor leeren hohlen Ansprüchen, den Respekt vor ernster Zuverlässigkeit«. Äußere Bedrängnis führte die klare und entschlossene Helferin der Ihren zur Schriftstellerei. Seit dem Tode des Generals von François schrieb sie für das damalige Cottasche Morgenblatt und verschiedene kleinere Journale eine Anzahl Erzählungen, die als »Ausgewählte Novellen« 1868 bei Franz Duncker in Berlin gesammelt erschienen. Inzwischen hatte sie aber auch ihren prächtigen Roman »Die letzte Reckenburgerin« vollendet und klopfte mit ihm vergeblich an mancherlei Türen an. Es war die Zeit, da die Familienblätter noch ganz in der Schablone steckten, da Ernst Keil als Herausgeber der »Gartenlaube« Otto Ludwig die Erzählung »Zwischen Himmel und Erde« mit dem guten Rate zurücksandte, sich erst einmal ein wenig an den Spannungsmotiven Balzacs zu bilden. Die »Reckenburgerin« wurde überall abgelehnt; sie segelte sogar über das Meer und fand auch drüben keine Heimstätte, bis es Otto Roquettes Vermittlung endlich gelang, ihr in der Jankeschen »Roman-Zeitung« einen Unterschlupf zu schaffen. »Das Honorar, das die Verfasserin für ihr Meisterwerk erhielt«, erzählt Frau von Ebner-Eschenbach, ihre treue Freundin, »würden die Franzosen dérivoire nennen. Die Kritik erwies sich als freundlich, die Lesewelt kaufte in nicht ganz zweiundzwanzig Jahren nicht ganz vier Auflagen.« Immerhin – es muß Otto Janke, der auch Willibald Alexis, Otto Ludwig und Spielhagen einführen half, als Verdienst angerechnet werden, daß er sich des irrenden Kindes annahm.

»Die ›Letzte Reckenburgerin‹«, sagt Richard M. Meyer, »bleibt unzweifelhaft übrig, wenn man die Unmasse der deutschen Romane durch das engste Sieb schüttet; von den Romanen nach Goethe mag kaum ein Dutzend dies Schicksal theilen. Was vor allem imponirt, ist die Rundung der Gestalten. Mit vollster Deutlichkeit stehen sie vor uns: Hardine, die Starke, Strenge, Untadlige, deren moralischer Rigorismus doch von dem Zauber sündhafter Lieblichkeit in ihrer bestrickenden Jugendfreundin entwaffnet wird; die Eltern, der Vater gutmüthig, läßlich, die Mutter hoheitsvoll – das typische Edelmannspaar, wie etwa Annettens Eltern waren oder die von Fontanes ›Effie Briest‹ oder das Ehepaar in seinem Roman ›Unwiederbringlich‹. Dann das reizende Dorl selbst, unwiederstehlich auch in der Schilderung der sonst etwas kühlen Erzählerin, und der Doktor, wie manche Figur und manches Erlebniß nach Jugenderinnerungen der Dichterin gezeichnet, und was vielleicht am schwersten war: die Herrin der ›schwarzen Linie‹, deren fast gespenstische Figur durch gesunde realistische Züge von der üblen Romantik anderer Herrinnen in Thurmzimmern befreit ist; der Invalid und seine Gruppe. Dazu die mehr episodischen Gestalten wie der Prinz, der vornehme Bewerber. Man hat gemeint, bei Louise von François seien die Figuren ganz aus der Handlung herauskonstruirt; ich kann die Meinung nicht theilen. Die Komposition ist großlinig; besondere Künste hat die Erzählerin darin nie versucht, oder es sind altmodisch rückschauende Berichte in Brief- oder Beichtform, Antworten auf unmotivirte Fragen. Die Naturschilderungen sind zu merkbar mit ererbtem Apparat eingebaut; der Stil ist ganz der Mensch: knapp, klar, ohne überflüssigen Schmuck. Das Ganze aber durchdringt eine Poesie, die mehr werth ist als der üppige Bilderreichthum mancher vielgepriesenen Stilkünstler. Der herbe würzige Erdgeruch einer unbedingten Ehrlichkeit verschmilzt mit dem Hauch einer milden, ruhigen Menschenliebe, für die jede Lehre eine gute That und jede gute That eine Lehre ist.«

Einen zweiten Roman der François, den ich der »Reckenburgerin« gleich stellen möchte: »Die Stufenjahre eines Glücklichen«, erwähnt Meyer in seiner Literaturgeschichte merkwürdigerweise gar nicht. Als sie das Buch ihrer Freundin Ebner zuschickt, tut sie es mit einer poetischen Warnung vor der »Langeweile« des Biedermanns, den sie geschildert hat. »Langweilen kann der Roman einen ernsten Leser schwerlich«, bemerkt Frau von Ebner dazu, »wer aber ein sogenanntes Unterhaltungsbuch sucht und die Stufenjahre in die Hand nimmt, wird seine Rechnung nicht finden. Es ist ein Erziehungsbuch und zwar ein Erziehungsbuch allerersten Ranges. Das Bild der Verfasserin tritt uns auch aus ihm ehrfurchtgebietend entgegen, und sich der Fähigkeit bewußt sein, diese Ehrfurcht zu empfinden, ist ein läuterndes Glück und gehört zu den unveräußerlichen Gütern, denen die genialsten Versuche einer ›Umwertung aller Werte‹ nichts anhaben können ...« Die »Stufenjahre« erschienen zuerst in der Wochenschrift »Daheim«, und die Redaktion machte mit dem Roman ähnliche Erfahrungen wie einige Jahre vorher mit einer anderen großen Arbeit: mit Fontanes »Vor dem Sturm«. Die Leser waren noch nicht reif genug, das Literarische dem »Spannenden« vorzuziehen.

Frau von Ebner-Eschenbach hat in Velhagen & Klasings Monatsheften nach dem Tode der François ein Erinnerungsblatt veröffentlicht, das vielerlei interessante persönliche Erinnerungen enthält. Sie schildert sie als eine im Alter imponierende und einnehmende Erscheinung. Groß, fast überschlank, mit tief dunkelbraunen Augen, die nicht bloß sahen, die schauten, deren Blick Herz und Nieren prüfte, die eigenes Licht zu haben schienen und leuchteten, wenn die lebhafte geniale Frau in Eifer geriet, wenn etwas ihre Bewunderung oder Entrüstung erweckte. Für eine »eigentliche Künstlernatur« hielt Frau von Ebner sie aber nicht. Der innigste Zusammenhang, den es gibt, der zwischen dem Künstler und seiner Schöpfung, bestand bei ihr nicht und konnte bei ihr nicht bestehen, denn sie ging nicht auf in ihren Werken: sie war um vieles größer als diese. »Erdacht, nicht erdichtet«, sagte sie selbst von ihren Büchern. Am meisten Vorliebe hatte sie für ihre Erzählung »Frau Erdmuthens Zwillingssöhne«, relativ das meiste Glück machten ihre letzten und nicht besten Novellen »Phosphorus Hollunder« und »Zu Füßen des Monarchen«. Als sie ihre kleine Novelle »Der Posten der Frau« dramatisiert hatte und das harmlose Spiel am Hoftheater zu Meiningen aufgeführt werden sollte, erhielt sie von der dortigen Intendanz eine liebenswürdige Einladung, der Première in der Hofloge beizuwohnen. Aber: »Lieber kröche ich in ein Mauseloch«, schrieb sie an Frau von Ebner; »es ist mir wieder einmal recht deutlich geworden, daß ich eine geborene Winkelnatur bin. Jede Berührung mit der Öffentlichkeit, das leiseste Streifen eines abenteuerlichen, waghalsigen Scheins ist mir von Grund aus zuwider. Nicht, daß ich darauf erpicht wäre, akkurat so zu sein wie alle Welt; aber was ich etwa Besonderes sein könnte, möchte ich in der Stille für mich und einige wenige sein. Und da wird nun, vielleicht noch ehe die Veilchen blühen, mein Name auf einem Theaterzettel figurieren und jeder für eine Mark Entrée das Recht haben, mich auszupfeifen« ... Zum Auspfeifen kam es freilich nicht; es blieb aber auch nur ein kühler Erfolg, den Louise übrigens begriff; doch lehnte sie die Vorschläge ab, das Lustspiel technisch wirksamer auszugestalten, weil sonst etwas Anderes daraus werden würde, als sie im Sinne gehabt hatte.

Frau von Ebner wurde eine Anzahl kleiner Notiz- und Merkbüchlein ihrer Freundin überlassen, die mannigfache charakteristische Äußerungen enthalten. Gregorovius und Karl Hillebrand verehrte sie besonders. Goethe ist für sie der Inbegriff dichterischer Größe. Auch Tolstoi gewinnt sie lieb, und für Reuter hegt sie eine Schwärmerei. Unter den lebenden Schriftstellern aber stand ihr Conrad Ferdinand Meyer am höchsten. Ihre Korrespondenz mit dem Schweizer Poeten hat kürzlich Anton Bettelheim herausgegeben und bei Georg Reimer in Berlin erscheinen lassen. Bettelheim hat sein Buch, dem die nachfolgenden Auszüge entstammen, der Baronin Ebner gewidmet, die gelegentlich schon vor Veröffentlichung des Briefwechsels Einblick in die Briefe tun konnte, die von Kilchberg aus nach dem Saalestädtchen flogen und denen sie das Zeugnis edler Bescheidenheit des hochgefeierten Mannes der wenig bekannten Schriftstellerin gegenüber nachrühmt. Der Einsiedlerin in Weißenfels klingt der Name des Schweizers anfänglich ganz fremd; als er seinen ersten Brief an sie richtet, hat sie noch nie etwas von dem Verfasser des »Jürg Jenatsch« gehört. Aber dann wird sie rasch die Vertraute seiner Pläne. Immer ist ihre Ansicht für ihn von Wichtigkeit, wenn er ihr auch häufig widerspricht; er teilt ihr seine Ideen mit und erbittet ihren Rat, den sie ihm auch offenherzig erteilt. Denn Unaufrichtigkeit, auch die unscheinbare der sogenannten Höflichkeit, ist ihr versagt: »in aller freundschaftlichen Wärme für ihre Lieblinge bleibt die feine Kennerin stets eine unbeirrbare wahrhaftige Richterin«.

Ihre Briefe an Frau von Ebner sind nur teilweise veröffentlicht worden. Baronin Ebner erzählt, daß aus denen der letzten Jahre häufig eine große Müdigkeit und Sehnsucht nach Ruhe gesprochen habe. »Ich lebe noch«, schreibt Louise, »ich spaziere oder richtiger, schleiche von Bank zu Bank, bei gutem Wetter ein Stündchen fast alle Tage, bin nicht eigentlich krank, nur altersmatt, das Augenlicht schwach. Vor einiger Zeit kam mein Landsmann und gütiger Freund, Geheimrath Graefe aus Halle, zu mir, um meine Augen zu untersuchen und mir zu einer Operation des rechten, längst staarreifen zuzureden; so lange ich aber auf dem linken noch einen sehr schätzbaren Schimmer habe, denke ich nicht an eine Operation. Ich stehe ja im siebenundsiebzigsten Jahr!..«

Nach einem letzten Ausgang im August 1893 brach sie völlig erschöpft zusammen und verließ nun ihr Lager nicht mehr. Ihr Tod war ein sanftes Hinüberschlummern. »Sie hat gelebt«, so schließt Baronin Ebner ihren Nachruf an die Freundin, »um noch einmal ihre Worte zu gebrauchen, ›seit dem Erwachsensein siech; an Krankenbette gebannt, unter dem Eindruck und Einfluß kläglicher Verarmung, später als Todtenpflegerin und Bestatterin vieler Lieben, und ist sich selbst doch nie beklagenswerth vorgekommen‹ und hat Gestalten geschaffen, durch und durch gesund, voll Lebenskraft und Lebensfreudigkeit. Sie ist in der Abhängigkeit selbständig, im schwersten Daseinskampfe selbstlos geblieben, sie hat geliebt und ist geliebt worden; sie war ein altes Fräulein und hat mehr für die Ihren gethan als manche Familienmutter«.

Portrait

Briefe von Luise von François.

An Conrad Ferdinand Meyer.

Weißenfels d. 17. Mai 1881.

Hochgeehrter Herr.

Dank für Brief und Bild. Ich betrachte es mit Freude. Ich bin keine Lavater'sche, aber es muß ähnlich sein. Klugheit und feine Laune war von dem Dichter des Hutten vorauszusetzen, Gutmüthigkeit auch von Einem, der mit so viel Interesse sein Häuschen umbaut, und daß seine politischen Gewaltnaturen ihm die Leiblichkeit nicht verkümmern – ei, das lobe ich mir. Neulich hörte ich, Sie wären Arzt. Gar häufig ist die Verbindung von Physikus und Dichter ja nicht; aber sie kommt doch vor, von Ihrem Schweizer Haller Albrecht von Haller, der Botaniker, Anatom, Physiolog, Arzt und Dichter. ab, bis auf unseren Halleschen Richard Leander, Richard Leander war das Pseudonym des Hallenser Chirurgen Professor Richard von Volckmann, des Verfassers der »Träumereien an französischen Kaminen«.der durch und durch eine Künstlernatur ist.

... Die Frage über die Entstehungsgeschichte meiner alten Reckenburgerin war wohl nur Spott, nicht wahr? Ich will sie aber doch beantworten, als wäre sie Ernst gewesen. Ich habe niemals aus innerem Drang geschrieben, nicht wie viele andere, gute und schlechte Autoren, weil ich es nicht lassen konnte. Sonst würde ich mich wohl auch nicht den Vierzigen genähert haben, ehe ich mich, von Außen gedrängt, dazu entschloß. Das Heraustreten in die Öffentlichkeit war mit eine Widerwart. Die Geneigtheit des Redacteurs des Stuttgarter Morgenblatts – Hauff Hermann Hauff, der Bruder Wilhelms und sein Nachfolger in der Redaktion des Cottaschen Morgenblattes. – persönlich wie alle Schriftsteller, Redacteure, Buchhändler – mir durchaus unbekannt, – erleichterte mir nach dem ersten, jeden ferneren Schritt auch insofern, als meine Anonymität so ziemlich gewährt ward. Mit der Reckenburgerin, die in den ersten sechsziger Jahren geschrieben ward – in wie langer Zeit, weiß ich nicht mehr; ich habe allezeit langsam und mühsam gearbeitet, Gewissenhaftigkeit ist mein einziges Verdienst, – ging ich zum ersten Male über den Rahmen der kurzen Erzählung hinaus. Den Stoff gab, wie immer, ein Alltagsereigniß, beobachtet oder gelesen, das sich unter einem gewissen ideellen Brennpunkt zusammenfassen ließ. Ich wollte an zwei Frauengestalten zeigen, wie die beleidigte Natur sich rächt, die versäumte sich hilft. Nur der erste Vorwurf ist aber zum Austrag gelangt, da sein dramatischer Gehalt die mälige Entwicklung des zweiten nicht mehr aufkommen ließ. Da dieser zweite im Grunde aber mein Hauptanliegen war, mußte ich das Opus eigentlich als verfehlt ansehen. Das Morgenblatt nahm, trotz seiner Länge, dasselbe an; bevor aber Raum dafür geschaffen war, starb H. Hauff und Cotta ließ das Journal eingehen. Ich erhielt das Ms. zurück, machte anderwärts etliche Versuche es unterzubringen, ward aber aller Orten auf recht schnöde Weise zurückgewiesen. Da ließ ich die Sache ruhen. Du bist zu alt geworden, dachte ich, auch Dein Produkt wird altmodisch geworden sein. Ist doch auch das Morgenblatt an seiner Unzeitgemäßheit eingeschlafen. Zudem lag ich schwer krank und fragte wenig mehr nach diesseitigen Erfolgen. Auswärtige Freundinnen aber hatten Mitleid mit der armen Hardine, die sie liebgewonnen hatten, und vielleicht mit Hardinens kranker Mutter, der sie eine letzte Erdenfreude zu machen glaubten, indem sie der Tochter ein Unterkommen verschafften. Jahrelang ist das Manuscript von Hand zu Hand gewandert, ohne mein Vorwissen vergeblich ich glaube an alle möglichen Thüren geklopft worden – sogar in Amerika – bis es endlich, durch H. Otto Roquettes Vermittlung in der Jankeschen Romanzeitung aus Gnade und Barmherzigkeit Aufnahme fand und gleich bei den ersten Kapiteln die erstaunte Verfasserin zu einer Art von Berühmtheit machte. Das ist die Geschichte der Reckenburgerin. In allen meinen Erzählungen sind die Motive der Wirklichkeit entnommen, und wo erfundene, mißrathen. Die Erfindung ist meine schwächste Seite. Dagegen sind alle meine Charaktere erfunden und wo einmal copiert als Carricaturen verschrieen worden. Mich selbst habe ich niemals portraitirt, außer etwa in der kleinen Reisenovelle vom Monarchen ...

* * *

Weißenfels d. 12. Sept 1881

Verehrter Herr,

Das war eine Freude! Ein Brief von Ihnen schon an sich und nach so langer Zeit – fast drei Monate seit dem letzten – und dann die prächtigen Ernteaussichten auf Ihrem Acker! Eine neue Novelle – ich zerbreche mir den Kopf, was der Titel bedeuten mag – und ein erneuter Hutten, wenn er Ihrem alten Hutten, »Huttens letzte Tage«. 1872. meinem Liebling, nur nicht gar zu unähnlich und dem verwogenen Original gar zu ähnlich geworden ist! Erst unter dem Schleier Ihrer Dichtung ist mir das letztere eigentlich ein herzbewegliches geworden. Auch daß der heiße Julimond dem bösen Dynasten förderlich gewesen ist, ist ein tröstlicher Bon, hoffentlich schon für nächstes Jahr. Sie werden aus dem Halb- oder Garnichtverstandenen schon etwas Einleuchtendes machen. Als ich einst, ich weiß nicht mehr wann und wo, die Sage von der bluträchenden Plantatochter las, hätte ich auch nicht gedacht, daß ein Dichter sie einem Jenatsch zu Grunde legen könnte; richtiger ausgedrückt: einen Jenatsch aus ihr schaffen könnte. Manche, die ich neuerdings gesprochen habe, halten den ›Jenatsch‹ für Ihr Meisterwerk. Und dem Gusse nach mögen sie recht haben. Auch der Kontrast zwischen Jenatsch und Rohan ist unvergleichlich; außer etwa dem des Becket und Heinrich. Aber das Motiv des Heiligen, die Tiefe des Problems, sein weltumfassender Horizont machen mir diese Dichtung doch zu der größeren. Ich kenne keinen historischen Roman, den ich ihm an die Seite stellen möchte; längst, längst nicht die promessi sposi und ich muß mir beim Wiederlesen ordentlich Mühe geben, nach Weiberart etwas zum Mäkeln daran zu finden. Mit dem indirecten Vortrag bin ich bereits ausgesöhnt. Wer hörte denn nicht auch aus dem vermittelten Wort, daß der Mann, welcher sich selbst für den klügsten seiner Zeit hält, in der erhabensten Liebe das Medium erkennt zur Befriedigung des tiefsten Hasses und der umfassendsten Herrschsucht und daß erst dieser Haß jene göttliche Liebe in ihm zum Durchbruch bringt. Und dann wieder das Gegenspiel von Herrschsucht und Unterwürfigkeit. Ja, ja Sie sind ein Meister der Contraste. Wo haben Sie so tief in die Seelen zu blicken gelernt? Wo hat es Shakespeare gelernt? O, bleiben Sie nur gesund, so werden wir noch Wunderdinge von Ihnen erleben. Seltsam, daß Sie erst als Fünfziger, wo andere aufhören, angefangen haben, nicht zu dichten, aber zu fabuliren. Will's Gott ein Anzeichen, daß Sie von der Natur angelegt sind, ein Hundertjähriger zu werden ...

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Weißenfels 11.12.81.

... Daß W.[ildenbruch]s Karolinger sich als Kraftstück behaupten, will ich wünschen; zweifele jedoch, ohne sie zu kennen, daran. In Meiningen, wo sie zuerst aufgeführt wurden, hatten sie nur einen Achtungserfolg. Ich hörte von mancherlei Schönheiten der Sprache und sogenannter Mache – häßliches Wort – aber einen zu Grunde liegenden Sinn, ein zündendes tragisches Problem vermochte man nicht herauszufinden. Denn es ist nicht wie in dem späteren Waldradastreit das Ringen geistlicher und weltlicher Obergewalt, sondern soll einfache Niedertracht sein der kaiserlichen Stiefmutter und ihres gewaltthätigen Buhlen.

Uebrigens hat W. möglicherweise die Kraft, ein bedeutender dramatischer Dichter zu werden. An Leidenschaft dafür und sauerem Schweiß hat es ihm nicht leicht einer gleich gethan. Da er in mir verwandten Kreisen befreundet war, interessire ich mich seit Jahren für ihn, ohne natürlich ihn persönlich zu kennen. Sie wissen, daß er der Enkel des genialen preußischen Prinzen Louis Ferdinand ist, der bei Saalfeld blieb. Sein Vater, preußischer General, war lange Zeit unser Gesandte in Constantinopel. Dort wurde der Dichter auch geboren und später nach preußischer Art in Berlin zum Soldaten erzogen. Der Poet ließ dem jungen Gardeoffizier jedoch keine Ruhe, mit einer (Energie, die für den Mittellosen doppelt anerkennenswert ist, setzte er sich auf die Schulbank, um das versäumte Abiturientenexamen nachzuholen, studirte, legte die unerläßlichen Staatsprüfungen ab und ist nun, irre ich nicht, dem Namen nach im äußeren Ministerium angestellt, viel wird der idealistische Schwärmer Meister Bismarck freilich nicht nützen. Bei alledem vermochte er bisher bei seiner Bühne mit einem feiner Dramen: Mennonit, Herrin ihrer Hand usw. anzukommen. Jetzt auf einmal schießt sein Weizen in die Höhe. Sein Genius wolle, daß er zur Reife gelangt ...

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Weißenfels, 15/3. 82.

Verehrter Freund,

Alles Gute im neuen Haus Meyer hatte sich in Kilchberg angebaut. seinem Herrn nebst Gattin und Kind und –

last not least – der hold ernsten Muse. Ich hoffe sie heißt im nächsten Jahre Melpomene, bin aber auch zufrieden, wenn sie wie bisher so ein Geschwisterkind der Clio ist. Die Zahl der quellenschöpfenden Nymphen hat sich vermehrt. Sie sind Mütter geworden.

Das Glück eines eigenen Hauses – und auch das eines neuen – auf einem schönen, sonnigen Fleckchen Gotteswelt, fühle ich Ihnen nach. Es ist lebenslang meine Sehnsucht gewesen. Jetzt, im Alter, bin ich dankbar, es wenigstens zu einer Mansarde gebracht zu haben, in der ich die Sonne und die Sterne aufgehen sehen kann, zu Füßen den Fluß und gegenüber eine Wiese, die sich – wunderfrüh – von Tag zu Tag grüner färbt. Was aber die Hauptsache: in Haus und Hof keine Katze; denn wo Katzen sind kann ich nicht sein, das ist meine einzige, vielfach genirende, Eigentümlichkeit und auch keine besonders rare.

Das Frauenstübchen im Giebel denke ich mir anheimelnd genug, wennschon ich bekennen muß, daß ich mich in Bezug auf Wohnräume – wie in allem andern – als ein styllos moderner Mensch fühle. Hoch, hell, luftig, freier Blick, weiche niedere Polstermöbel. Meine eigenen sind leider die denkbar härtesten, aus der Zeit der elterlichen Einrichtung, d. h. Empire, also altmodisch.

Ich hätte Ihnen lange schon gern einmal geschrieben, aber es war mir einigermaßen zweifelhaft, ob Sie, wie unser alter, braver Gellert, das Briefschreiben für eine weibliche Tugend hielten. Und was hätte ich sagen dürfen? Ich erlebe ja nichts. Der wundermilde Winter, den ich nach einer Pause von 48 fahren noch einmal erlebt habe, ist mein Wohlthäter gewesen; und über die langen Abende half unser lieber Gregorovius Gregorovius' Geschichte Roms hinweg. Ich bilde mir ein, daß Sie ihn persönlich kennen; mindestens finde ich einen verwandten Zug zwischen Ihnen beiden, wie zwischen einem älteren und jüngeren Bruder. Als Historiker hat er für mich nicht seinesgleichen: Forscher, Philosoph und Dichter verschmolzen und ich bin als Preußin stolz darauf, daß die nüchterne, nordische Provinz, in der man die Füchse sich gute Nacht sagend vermuthet, nach Kant und Herder noch einen dritten von den Ersten hervorbringen könnte. Seine Specialität scheint mir der nordische Sinn, gepaart mit südlichen Sinnen. Und bei Ihnen auch, Verehrter ...

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Weißenfels 9/11. 82.

... Fast gleichzeitig mit Ihrem Brief trafen, von dem Verleger gesandt, Ihre Gedichte ein, für die Sie auf das Wärmste bedankt sein sollen. Der Eindruck der noch unbekannten war der der bereits bekannten: ein haftender, wachsender bei jedem Wiederlesen. Das Buch war in Halle noch nicht im Buchhandel vorräthig. Eine Hand nach der andern nahm es aus der meinen und legte es darein zurück mit dem Vorsatz, sich einen wertvollen Besitz anzueignen. Vor just einem Jahre machte ich in der alten, ziemlich schwerfälligen, spröden Gelehrtenstadt die gleiche Erfahrung mit Ihren Novellen, die heuer Jedweder irgend Empfängliche dort kennt und hoch hält. – Ich lernte in Halle auch Wildenbruch kennen; d. h. zwei seiner Tragödien. Las den Harold und sah die Karolinger, die freilich für mehr – d. h. weniger als mittelmäßige Bühnenkräfte nicht geeignet sind. Das Stück leidet an überschüssigen Effekten, die Einen nicht zur Ruhe kommen lassen. Daher kein dauernd befriedigender Eindruck nach der spannenden Hetze. Alle Turbane ausgemerzt, das Problem rein karolingisch vertieft und charakteristisch erweitert – würde ein treffliches Ganze gegeben haben. Die Gestalten sind eigenartig, die knappe Sprache sehr schön. – Harold hat mir besser zugesagt. Die geschichtliche Exposition in den ersten beiden Akten dünkte mich tadellos. Die erfundene Catastrophe im dritten, auf einer Subtilität beruhend, wollte mir nicht genügen. Jedenfalls haben wir uns einer bedeutenden Dichterkraft zu erfreuen, einer noch im Werden und Wachsen begriffenen. – Als Novellisten kenne ich W. noch nicht; rühmendes in diesem Bereich wurde mir von ihm nicht vermeldet ...

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Weißenfels, 1/8. 83.

Verehrter Freund,

Nehmen Sie es humoristisch auf, wenn ich Ihnen beifolgendes Stückchen altbacken aufgewärmten Pumpernickel anbiete. Ein Leckerbissen ist es nicht, und eines Nährbissens, der es allenfalls sein könnte, bedürfen Sie nicht. Item: nur ein bescheidenes Erinnerungszeichen. Ich verüble Ihnen wahrlich nicht, wenn Sie mir ehrlich sagen, daß Sie den schwerverdaulichen Stoff unschmackhaft gefunden haben, bei alledem ist es die einzige meiner Geschichten, die ich – vor etwa 22 Jahren – mit einiger Selbstzufriedenheit geschrieben habe. »Judith, die Kluswirthin«. Was aber einstmals Silber war, wird häufig in der Erinnerung Blei und – vice versa.

Und nun will ich, wie Sie wünschten, den Eindruck vom Parsival vermelden, mit welchem meine Sommerreise abschloß. Kurzweg: der vollendetste theatralische, nicht etwa, den ich im Leben gehabt, denn das würde wenig bedeuten, aber den ich, ganz ohne Zweifel, während meines Lebens hätte haben können. Ich war und bin auch noch nur eine bedingte Verehrerin Wagners, meine Freude an ihn reichte kaum über den Lohengrin hinaus; ich ging als Sceptikerin zu dem romantischen Ueberschwang dieses »Bühnenweihefestspiels«, nur von der Musik erwartete ich eine meiner Stimmung entsprechende Wirkung; und just diese Erwartung ist mir nicht völlig erfüllt worden; die Musik allein würde mich nicht hingerissen haben; ich bezweifele sogar, daß sie mir bei wiederholtem Hören, einen befriedigenden d. h. schönen Eindruck machen würde. Ich habe mich bis zum Schluß nach einer erlösenden Harmonie gesehnt und im zweiten Akte, meine ich, würde nicht nur ein reiner Thor sondern auch ein unreiner Weiser, dem Sinnenzauber widerstanden haben, der so absolut unmelodiös auf feine Gehörnerven zu wirken unternahm. Von neuem und stärker als jemals überkam mich der Zweifel, daß die Zukunft dieser Zukunftsopern scheitern wird an der Zumutung die dem edelsten und gebrechlichsten musikalischen Organ, der Menschenstimme, durch das unausgesetzte recitativische Ueberschreien der gewaltigen Instrumentation gemacht wird. Die außerordentliche Wirkung dagegen, welche die Unsichtbarkeit des Orchesters hervorbringt, dies reine, – wenn auch noch duftlose! – Hören wird gewiß allmählig von allen Bühnen und hoffentlich auch in allen Concertsälen erstrebt werden. –

Aber alles, was die Seele durch das Auge empfängt, das bildliche, Abbildliche – das ist ein vollkommenes Kunstwerk; Supraromantismus in classischer Form. In Scenerie, Farbengebung, Rhythmus der Bewegungen, kurzum in der gesamten Auffassung und Darstellung das verkörperte Traumbild eines großen Dichters des zwölften Jahrhunderts; so etwa wie mir das jüngste Gericht des Cornelius in der Münchener Ludwigskirche als die Verkörperung einer Danteschen Vision vorgekommen ist. (Wer dagegen könnte vor Rubens jüngstem Gericht – gewiß seinem Meisterstück! – an Dante denken?)

Dazu die Örtlichkeit von Bayreuth – der Bau des Amphitheaters auf grüner, weitschauender Höhe, der Contrast zwischen dem mystischen Dunkel im Zuschauerraum mit den langen Zwischenpausen in freiem, heiteren Tageslicht, die weihevolle Stimmung des Publikums, der gesammte vornehm praktische Apparat: der Parsifal würde auf einer anderen Bühne gewiß nicht ähnlich wirken wie dort, so wie eine Südfrucht in ihrer Heimath vom Baum gebrochen, saftiger munden wird denn als Dessert auf einem nordländischen Tisch ...

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Weißenfels 4/10. 83.

... Heimgekehrt Aus dem Bade Oynhausen. gerieth ich gleich in einen gewaltigen Kaisertrouble und Jubel. Es war großes Manoeuvre in der Nähe meines Saalstädtchens, das ich noch nie in solchem Schmuck und Frohleben gesehen habe; auch nicht in solcher Menschenfülle. Auch in meiner Antichambre – zu deutsch Vorsaal – lagerten und tummelten sich circa zwei Dutzend Vaterlandsverteidiger. Ich hätte das alte Fräulein in dieser kriegerischen Fassung aufnehmen lassen und seinem verehrten Freunde und Gönner ein Andenken damit stiften sollen! Immermanns alter Hofschulze – meinetwegen auch irgend ein Anderer – hat aber Recht: die Könige sind dem Volke zum Plaisir in die Welt gesetzt und ich möchte wissen, wie königslose Republikaner den Naturdrang befriedigen, von Zeit zu Zeit zusammenzuströmen, Hurrah zu schreien, Ehrenpforten zu bauen und ausnahmsweise einmal auch mit Lust zu einer Ehrenausgabe in den Seckel zu greifen. Nun an der Saale und am Rhein ist in dieser Beziehung jetzt das Mögliche geleistet worden. Aber es ist auch wirklich etwas zur staunenden Freude Ergreifendes im Anblicke unseres majestätischen Achtzigers, wie er bei Wind und Wetter stundenlang zu Pferde sitzt, bei trefflichem Appetit tafelnd Reden hält, bis in die Nacht hinein mit gleicher Liebenswürdigkeit abwechselnd Wirth und Gast ist und in den Zwischenpausen mit unnachahmlich freundlicher Würde sich umjauchzen, ansingen, mit Blumen bewerfen läßt u.s.w. Das Beste bei der Sache aber ist doch, daß er bescheidentlich seinen Kanzler gewähren läßt, der sich von alle dem Spektakel fernhält u. das Nothwendige in der Stille besorgt. »Der Reiter hält's immer länger aus als das Roß«, ist ein gut gefundenes – oder erfundenes – Wort von Bismarck, als sein alter Herr Jenes Hinfälligkeit gegenüber der eigenen Rüstigkeit beklagte ...

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Weißenfels 23. 12. 83.

... Ich habe kürzlich Manzonis Verlobte wieder gelesen. In meiner Jugend versuchte ich es im Italienischen, dessen ich nicht hinlänglich mächtig war – jetzt bin ich seiner völlig unmächtig – die feine Laune des Vortrags ging mir dadurch verloren; Göthes freudige Bewunderung – eine seiner glänzendsten Eigenheiten das frohe Würdigen und Preisen alles Guterkannten! – war mir fast unverständlich. Nach nahezu einem halben Jahrhundert lese ich das Werk nun wieder, diesmal deutsch. Unter uns: der Übersetzer – – hätte seine Sache auch etwas geschmackvoller u. sorgfältiger machen können; aber – – notwendig sparsame Honorare mögen wohl keinen Aufwand von Kunst und Studium gestatten. Den plötzlichen Impuls gab mir unser Luthertreiben Devrients Lutherfestspiel in Jena. und der novellistische Kampf gegen das katholische Priesterthum, in welchen, Pardon! Sie, Verehrter, sich neuerdings etwas verbissen haben. (Der Heilige und Hutten Meyers Novellen »Der Heilige« und »Huttens letzte Tage«. gehören selbstverständlich nicht unter diese Kategorie.) Weiblicher Opposition- oder Gerechtigkeitssinn trieb mich, auch einen apologetischen Dichter und zwar den Berufensten, zu Worte kommen zu lassen. Denn so groß die Kunst ist, aus dem denkbar unscheinbarsten Motiv – von Haus aus ein Lustspielstoff! – dem Walten der Naturereignisse vergleichbar, ein wahrheitleuchtendes, gewaltiges Zeitbild zu entwickeln, wir würden uns mit Schauder von dem Realismus der geschilderten Gräuelscenen abwenden, wenn dieselben nicht durch die Idealität echter Priesterseelen verklärt würden. Dank dieser sonnigen Verklärung ist das Nachtgemälde ein erfreuendes Gemeingut geworden und wird es bleiben, wennschon Breite und Anordnung der Darstellung dem Zeitgeschmacke kaum noch gemäß sind ...

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Weißenfels, 28./2. 84.

... Sie waren also nicht in Paris – wie ich eigentlich im Januar vermutete, – u. haben vor der Hand auch keine Lust hinzugehen. Wohl Ihnen! Der alte Professor Erdmann Johann Eduard Erdmann, Professor der Philosophie in Halle. in Halle – ich glaube der letzte Hegelianer, d. h. von der äußersten Rechten u. ein denkbar liebenswürdigster Greis, – sagte mir verwichenen Herbst nach der Heimkehr von einem Ausfluge nach Oberitalien: »Es ist doch ein Laster um das Reisen.« Er meinte wohl unsere deutsche Reiselust. Ich habe lebenslang auch an dieser Seuche laborirt; aber meinen Fieberdurst selten stillen dürfen. Im Grund gar nicht. Auch der geplante Sauser in den südlichen Frühling hinein ist aufgegeben. Die wenigen Menschen, die ich noch »Angehörige« zu nennen habe, sind Wintersiechlinge u. unser nordischer Frühling soll erst entscheiden, ob ich mich mit Ruhe aus ihrer Nähe entfernen darf ...

Daß Bismarcks Gebahren Sie lachen gemacht hat, verstehe ich. Mich hat es nach der Indifferenz der Regierung bei L's Begräbnis Eduard Laskers Begräbnis. Bismarck lehnte es damals ab, die Trauerkundgebung der Vereinigten Staaten dem Reichstag zur Kenntnis zu bringen. nicht überrascht, aber verdrossen bitterlich. Ob es nun eine Naivetät oder eine bewußt ironische Rancüne der Amerikaner war, – wegen des Schweinefleisches! mittelst der Verherrlichung eines Juden! – ein vornehmer Gewalthaber hätte, lachend wie Sie, der Kundgebung keinen Werth beigelegt und sie im Sande verlaufen lassen; wahrend durch einen kleinlichen Haß der Name eines redlichen, aber abgethanen Gegners zu einem historischen geworden ist. Der kleine Lasker lebt fortan als Dokument von des großen Bismarck Nichtgroßmuth. Ist Ihnen die Sache auch so erschienen, oder wie anders? ...

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Weißenfels 13./3. 85.

... Ich fand Ihren Brief bei der Rückkehr von Halle, wohin mich die Händelfeier, d. h. ausschließlich der Messias, gelockt. Ich hatte denselben vor langen Jahren in der nämlichen Kirche gehört, als der Grundstein zu Händels Denkmal gelegt wurde und Jenny Lind die Sopranstimme sang. Ihre Stimme hatte schon damals den jugendfrischen Zauber eingebüßt; aber durch die Inbrunst ihres Vortrags erweckte und hinterließ sie mir – und wohl allen Musikliebhabern – den bedeutendsten Sangeseindruck im Leben. Die gelehrten Musikkenner dahingegen, an ihrer Spitze R. Franz, der dazumal noch hörte u. dirigirte, schmälte u. schmähete die »Comödiantin«, weil sie zu Gunsten ihrer Person sich nicht streng an die Vorschrift des Komponisten gehalten habe. Nun, heuer wurde im Ganzen und Einzelnen correct vorgetragen, der Sopran auch mit frischerer Stimme als der damaligen der Lind; aber ein Offenbarungsschauer wie damals bei dem: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt«, hat mich nicht überrieselt. Mich alte Laiin wollte sogar bedünken, als ob auch in diesem dauernd großen Werke ein gutes Teil dem Wechsel des Zeitgeschmacks verfallen wäre.

Die paar Tage in Halle waren die einzige Unterbrechung meiner winterlichen Ofenhockerei. Frost ist mein Erzfeind und alles nordische mir antipathisch oder wenigstens gleichgültig. Dennoch habe ich acht dicke Bände – sage acht! – von Bernhardis russischer Geschichte, mit deren Verarbeitung mein guter Hallescher Speisewirth mich den Winter über zu unterhalten gedachte, gründlich verzehrt und nachdem nur das erste Graueln überwunden war, mich auch ganz behaglich dabei gefühlt; gar oft versetzte ich mich aber in die Seele Ihres polnischen Herrn Nachbars und deren zornmüthigen Widerspruch; denn der Autor ist – wie alle unsere jezeitigen deutschen Historiker – der gerechteste nach Moltke in seiner erneuten Lieutenantsarbeit – ein grausamer Polenverächter. Ach, und wie habe ich bei 13 Jahren – 1830 – und (auch noch später) für die Polen geschwärmt u. wie ist ihr Schicksal auch heute noch der harte Bissen, der mir, als Preußin, unverdaulich im Magen liegt.

So theile ich auch nur bedingt unsere gegenwärtige Sympathie für die russischen Novellisten. Selbst nicht für Turgénjeff. Nur ganz allein sein Tagebuch eines Jägers hat mich entzückt um seines Natursinns willen. Er ist ja ein großer Künstler als Portraiteur; aber nicht eines seiner Originale hat mir das Herz bewegen können zur Liebe, oder auch nur zum Haß und wenn der Dichter ein Prophet ist, steht es trübselig um die Entwicklung der russischen Welt. Von Tolstoi erinnere ich mich nicht, etwas gelesen zu haben; sein religiöser Umschlag ist aber – und nicht blos unter russischen Verhältnissen mir recht einleuchtend! Von Dostojewsky kenne ich blos eine kleine Novelle, N. N. (von Zabel übersetzt) die mir gesucht absonderlich vorkam, fremdartig u. fast unverständlich war. Nordisch! Auch mit den Norwegern – d. h. Dichtern und ihrer herben Logik – kann ich mich selten befreunden, von den Skandinaviern interessirt mich aber Brandes sehr, der freilich nicht eigentlich Poet ist. Kennen Sie ihn wohl persönlich? ...

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Weißenfels 12./10. 85.

... Nun kommt der erste Teil der Richterin. Meyers Novelle »Die Richterin«. Er hat mich stark ergriffen und gespannt. Der Kritiker N. N., dessen Sie erwähnen, hat, was wenigstens die Frauencharaktere anbelangt, – nicht ganz unrecht, wenn er meint, Sie kümmern sich nicht viel um die umgebende Gegenwart. Den Emancipationsbestrebungen unserer Damen zum Trotz würden Sie heute kaum ein Vorbild finden für die beiden weiblichen Species, die Ihre Muse gelten läßt: die Kindesreinheit und die Manneskraft. Darum müssen Sie Ihre Probleme in abgelegenen sagenhaften Zeiten sich entwickeln lassen. Shakespeare hielt es ebenso; auch mit den Gewaltaufgaben für seine Männer. Er verlegte sie – den phänomenalen Richard abgerechnet – nicht in die näher liegenden Historien, sondern in die Zeitentiefe, in welcher die Geister, Traumgeister und Gespenster noch Umgang hielten und pflegten unter den Menschen und mit ihnen. Die Exposition Ihrer Richterin ist gewaltig. Sie schrieben mir, daß Sie sich um die realistische Form Mühe gegeben; das hätten Sie, meine ich, nicht nöthig gehabt. Im Gegentheil. Sie gerathen nimmer nach Wolkenkukuksheim. Ein bischen Angst habe ich vor der Entwickelung. Wegen der Geschwisterliebe, gegen deren Erörterung ich eine Aversion habe; nicht aus Prüderie; ich glaube, blos weil das Thema mit abgenutzt scheint, o weh! Und so will ich denn hoffen, daß die Richterin nicht aus Mutterzärtlichkeit zur Bekennerin ihrer Sünd- und Heuchelthat wird. Am liebsten hätte ich, sie wäre gar keine Sünderin; aber das geht wohl nicht an. Und Sie werden in eigenartiger Weise auch als Sünderin und Selbstrichterin mit ihr fertig geworden sein. Ich freue mich auf das Novemberheft Der Deutschen Rundschau mit der Fortsetzung der »Richterin« ...

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Weißenfels 26./11. 86.

... Wie in früheren Jahren im Oktober war ich auch heuer in Halle, sogar zwei volle Wochen, denn das einst so lebensvolle Freundeshaus stand in eines der Witwenklage umgewandelt und die alte einsame Kleinstädterin hatte die Aufgabe, ein Lebensfünkchen darin anzufachen. Curioser Weise hat sie es auch fertig gebracht. Von Halle habe ich mir nun auch wieder Lesestoff für die langen Winterabende eingeholt. Der Universitätsbibliothekar, Dr. Hartwig – Ihr bescheidener Kollege von der Rundschau – ist mein gütiger, geistiger Nährvater. Diesmal hat er mir auf meine Bitte etwas Schweizerisches überlassen: die Cultur der Renaissance in Italien von Ihrem Baseler Burckhardt; vermuthlich Ihrem persönlichen Freunde, jedenfalls Ihrem geistigen. Das Werk setzt ja weit mehr voraus, als ich zum vollen Verständnis zu bieten habe, auch gleicht mein alter Kopf je mehr und mehr einem Siebe, durch welches das kaum Erfaßte rasch wieder abläuft; dazu die fragmentarische, mitunter aphoristische Schreibweise, das probeweise aus dem Vollenschöpfen; bei alledem jedoch habe ich wenig interessantere Geschichtswerke gelesen und kaum wie hier so oft jemals durch eine flüchtige Bemerkung eine weite, halbdunkle Strecke gleichsam illuminirt gesehen. Wenn ich mit der Renaissance fertig bin, soll die Cicerone an die Reihe kommen. Der beste Nothbehelf, wenn auch ein trübseliger, für das was mit Augen zu schauen mir nicht gegönnt war ...

In der nämlichen Zeit schrieb mir meine Freundin Ebner, diese Seele von einer Frau, wiederholt mit der höchsten Bewunderung über das Werk eines Amerikaners, von dessen Wirkung sie nahezu eine neue Weltordnung zu erwarten schien; und endlich schickte sie mir M. Salters »Religion der Moral« (übersetzt von Gizicki, einem Berliner Dozenten). Auf das erste Blatt hatte sie geschrieben: »Kein Philosoph, ein Prophet, dessen demütigste Jüngerin M. E.« Nun eine Philosophie der Moral soll es ja auch nicht sein, sondern zu einer Religion ist die Moral erhoben worden und das allein ist neu an ihr und das, was Sie Verehrtester, wie ich bezweifeln werden. Die Moral an sich, deren Quell und Ausfluß sind die altbekannten von Spinoza an bis Kant und von Kant bis auf uns Heutige; nur daß der republikanische demokratische Amerikaner sie popularisirt und gesellschaftlichen Einrichtungen und Entwicklungen angepaßt hat, für welche die christliche Ethik, dieser ewig unerreichbare individuelle Leitstern, zu hoch gegriffen ist. Das Buch ist aber mit einer packenden Begeisterung, mit einer Art Fanatismus des Guten vorgetragen; eine Ausdehnung der Darwin'schen Entwicklungslehre auf das sittliche Prinzip; und wo der »alte« Glaube nun einmal nicht mehr in Wahrhaftigkeit festzuhalten ist, wird dem »neuen« Glauben des Amerikaners eine allgemeinere Verbreitung zu erwünschen, auch zu erwarten sein als dem exclusiven »neuen« Glauben unseres deutschen Strauß ...

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Weißenfels 13./2. 87.

... Erlebt, gehört, gesehen habe ich nichts Erwähnenswertes; auch seit Ihrem Burckhardt nichts dergleichen gelesen, mindestens nichts Neues. Viel Grillparzer, der eine Fundgrube ist, eine von uns Norddeutschen viel zu wenig ausgebeutete. Ich bin mir nicht klar darüber, warum er nicht ein ganz großer, ein weithin bewegender Dichter geworden; einige kleine sprachliche Unarten – Idiomismen – können es nicht entschuldigen; seine Stoffe sind bedeutend, allein mir scheint, daß bei reichlicher, mitunter überschießender Phantasie, ihm es an abrundender, zündender Gestaltungskraft fehlt. Alles Vollendete heischt ja eine gewisse Beschränkung. Auch etliche Bruchstücke aus neueren Romanen, die mein Journalzirkel brachte, habe ich gelesen. Selber die, welche einen interessirenden Anlauf nahmen, erlitten vorzeitig ein willkürliches Ende. Wenn den Schreibern Kraft oder Lust an ihren Entwicklungen ausgeht, machen sie den Helden einfach auf irgend eine manierliche oder unmanierliche Weise tot. Selber Turgenjeff hat mit seinem besten Mann nichts weiteres anzufangen gewußt. Bei den Norwegern ist die Nichtlösung sogar Grundsatz; weil Naturwahrheit Lebenswirklichkeit – und erst die Franzosen! – Wie lange wird diese Kunstmode wohl noch währen? Auch in einer früheren ist das minutiöse Alltagsleben als Dichtungsstoff nicht verschmäht worden; aber nicht nackt und blos wurde das Ungenügende preisgegeben, sondern unter dem Schleier des Humors. Haben wir mit unseren Augen, Ohren, Nasen – der Herzen gar nicht zu erwähnen – nicht genugsam natürliche Niedrigkeiten auszustehen, um uns auch noch durch Kunstgenüsse Abbilder derselben mitspielen zu lassen? ...

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Weißenfels, 24./9. 88.

... Neulich fand ich in einem Journal das Bild von Leo Tolstoi; ein bärtiger, haariger alter russischer Bauernkopf, aber ein Tiefblick der Augen, den ich garnicht wieder vergessen kann; ich bebaute, das Blatt nicht herausgeschnitten und mich so des ersten bewußten Diebstahls im Leben schuldig gemacht zu haben. Jemehr ich mich aber in die Eigenart dieses seltenen Menschen versenke, um so lebhafter wacht die Traumgestalt meiner Jugendjahre in mir auf, der die Wirklichkeit so gründlich Hohn gesprochen hat, daß sie mir mit der Zeit zu einem Blutsverwandten des Ritters von der traurigen Gestalt geworden ist.

Ein Aristokrat – d. h. ein herrschender dem Herkommen nach – und ein Demokrat aus Herzenskraft; ein reich Begüterter und einfach volksmäßig lebend aus Rechtssinn; ein evangelischer Friedensfreund aus tapferer Kriegerprobe hervorgegangen; ein Wahrheitsforscher, der nach Volksveredlung strebt, ein Dichter, welcher des Glaubens lebt, für diese Veredlung durch seine Kunst zu wirken: So war mein nämliches Ideal vor länger als einem Halbjahrhundert und heute steht es nahezu verwirklicht – allerdings in mir damals fremdartiger nationaler Färbung – vor mir hochragend, inmitten eines Volkes, das sich kaum seines Halbbarbarentums bewußt zu werden beginnt und in Reih und Glied mit dem Heilandsjünger Tolstoi kämpfen Fanatiker der zerstörenden Theorie wie noch keine Nation sie hervorgebracht hat. Ob er den Glauben an seine menschenfreundliche Mission, die Religion, der er den Dichterberuf bereits geopfert hat, durchführen kann und wird? Es scheint nicht so. Daß die Ernüchterung ihn nur nicht ins Extreme der Erkenntnis führe! ...


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