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Schon am nächsten Tage war der Umzug bewerkstelligt. Daniel bewohnte jetzt in dem Tellierschen Hause ein vier Treppen hoch gelegenes geräumiges Zimmer, dessen Fenster auf den Hof und in einen Winkel zwischen Vorder- und Seitengebäude hinausgingen.
Er hatte des Vormittags von acht bis zwölf Uhr in dem Studirzimmer zu arbeiten, d. h. Briefe zu schreiben und die endlosen Reden des Abgeordneten anzuhören, der ihre Wirkung an seinem Sekretär ausprobiren zu wollen schien. Des Nachmittags beschäftigte er sich dann damit, Ordnung in das Werk hineinzubringen, in dem sich Tellier nicht mehr zurecht fand. Ueber den Abend konnte er nach seinem Belieben verfügen.
Seinem Wunsche gemäß brachte man ihm sein Essen in sein Zimmer hinauf und so kam es, daß in den ersten Tagen die Hausbewohner seine Gegenwart nicht einmal bemerkten. Er begab sich nach dem Studirzimmer mit leisen Schritten und ohne sich unterwegs aufzuhalten. Ebenso still zog er sich auf sein Zimmer zurück, so dass es nicht verwunderlich war, daß man nichts von ihm sah und hörte.
Eines Abends ging er aus, um Georg zu besuchen. Sein Freund fand, daß er krank und vergrämt aussah. Er sagte nicht, wie es ihm jetzt ging, sondern schwelgte nur in alten Erinnerungen, woraus Georg schloß, daß er den Drang spürte, sich in die Vergangenheit zurückzuflüchten. Er forderte ihn deshalb schüchtern auf wieder zu ihm zu ziehen und mit ihm an dem gemeinsamen Werk weiter zu arbeiten. Aber dieser Vorschlag erfuhr eine beinah zornige Ablehnung.
In der That war Daniel in jener trüben Zeit nur einem Gedanken zugänglich: Er wollte Jeanne's Charakter erforschen, er wollte wissen, was man aus seinem lieben Töchterchen gemacht hatte. Jedenfalls hatte man sie ihm vollständig umgemodelt und deshalb drängte sich ihm die sorgenvolle Frage auf, wie die unbekannte junge Dame, deren Lippen so verächtlich zu lächeln verstanden, geartet sein möge.
Er legte sich also auf die Lauer, beobachtete Jeanne's Thun und Treiben, suchte sich über die Bedeutung aller ihrer Worte und Handlungen, auch der geringfügigsten, klar zu werden. Bei diesem Bestreben verdroß es ihn, daß er nicht öfter und vertraulicher in ihrer Nähe weilen konnte. Kaum, daß es ihm vergönnt war, sie durch ein Zimmer huschen zu sehen, sie lachen oder einige kurze Aeußerungen hinwerfen zu hören. Sich ihr aufzudrängen wagte er nicht. Sie schien ihm ein unnahbares, von einer blendenden Glorie umgebnes Wesen; stand sie vor ihm, im Glanze ihrer Schönheit und Jugend, so kam er sich so klein vor, als schaue eine Gottheit auf ihn herab.
Unter anderm nahm er die Gewohnheit an, jeden Nachmittag gegen vier Uhr, wenn schönes Wetter war, an sein Fenster zu treten und in den Hof hinabzusehen, wo eine Equipage wartete, in der Frau Tellier und Jeanne spazieren zu fahren pflegten. Wenn die beiden Damen die Freitreppe hinunterstiegen, hatte Daniel nur Augen für das junge Mädchen.
Wie sie sich hierbei benahm, war für ihn ein Studium von besondrem Interesse. Die Art, wie sie sich in die Kissen zurückwarf, fand er von einer Lässigkeit, die sein Mißfallen erregte. Auch ärgerte ihn ihr Putz, denn er hatte das Gefühl, daß alle die Bänder und Spitzen ihm imponirten und ihn einschüchterten.
War die Equipage mit Jeanne davongerollt, so starrte Daniel noch eine Weile in den leeren Hof hinab. Der tiefe Schacht kam ihm dann jedes Mal noch düstrer und öder vor als zuvor. Er ließ seinen Blick trübselig an den Wänden entlang gleiten und gedachte mit Bitterkeit der schönen Träume, an denen er sich Angesichts der Bäume der Impasse Saint Dominique d' Enfer ergötzt hatte.
Er redete sich bald ein, daß Jeanne ein schlechter Charakter und daß die Sorgen ihrer armen Mutter nichts weniger als grundlos gewesen seien. Diesen Gedanken gab ihm sein Mißmut ein, sein Aerger, daß er seine jetzige Umgebung nicht verstand.
Der Uebergang hatte sich zu schnell vollzogen. Da er bisher mit mönchischer Strenge und in einsiedlerischer Zurückgezogenheit gelebt hatte, so kannte er vom Leben nur die rauhen Seiten. Der naive große Gelehrte hatte vor Putz und Luxus eine heilige Scheu und nicht das geringste Verständnis für die Eigenart der Frauen.
Und nun stand er plötzlich dem Thun und Treiben der müßigen Reichen gegenüber, nun sollte er die Gemütsäußerung eines jungen Mädchens deuten. Hätte Jeanne ihm ein so freundschaftliches Willkommen geboten wie einst Georg im Luxemburger Garten, so hätte er das ganz natürlich gefunden, denn er hatte keine Ahnung von den Gebräuchen, die in der vornehmen Welt herrschen. Er erkundigte sich nicht, was sich hinter dem ihm verhaßten Frauenputz verbarg, sondern bildete sich ohne Weiteres ein, er decke ein verderbtes Herz. Statt dessen hatte Jeanne in ihrem Kloster, trotz ihrer achtzehn Jahre, einen sehr kindlichen und kindischen Sinn behalten. Ihr Gemüt und ihr Verstand waren im Umgange mit ihren oberflächlichen kleinen Freundinnen zurückgeblieben und sie hielt das Leben für eine Art Märchendrama, in dem sie einst auch eine Rolle spielen würde. Im Kloster übermäßig in Anspruch genommen durch die unzähligen Albernheiten und Nichtigkeiten der modernen Mädchenerziehung, war sie ein nervöses Kind, ein elegantes, distinguirtes Püppchen geworden.
Von ihrer Mutter hatte sie nur noch eine recht dunkle Vorstellung. Kein Mensch sprach je mit ihr über ihre erste Kindheit und sie selber dachte an die Verstorbne nur, wenn sie die Mütter der Kameradinnen im Sprechzimmer des Klosters sah. Dann fühlte sie wohl, daß es ihrem Herzen an etwas fehlte, aber was das war, hätte sie nicht angeben können.
In dem Maße wie sie heranreifte, gewöhnte sie sich an die Vereinsamung, zu der die verurteilt war, und wurde verschlossen, gleichgültig, beinah boshaft. Aus dieser Gemütsverfassung entwickelte sich allmählich eine starke Neigung zu Spott und Ironie, durch die sie sich überall gefürchtet machte, während anderseits die zarteren Gefühle einschlummerten und in den Tiefen ihres Herzen verborgen blieben. Vielleicht hätte es nur eines Kusses bedurft, um ihre Liebesfähigkeit zu wecken und ein zärtliches Weib aus ihr zu machen. Aber es war Niemand da, der ihr diesen Kuß gab.
Nachdem Sie also vom Kloster abgegangen war, und sich bei der denkbar schlechtesten Morallehrerin in die Schule begeben hatte, wohnten zwei verschiedne Ichs in ihr, ein spottsüchtiges, hochmütiges, und ein edleres, das sich nicht kannte, aber ab und zu in einem seelenvollen Blick zutage trat.
Da erfaßte sie eine unsinnige Leidenschaft für Toiletten und frivole Vergnügungen, um sich auszutoben, um ihre Jugendkraft, mit der sie nichts anzufangen wußte, zu verausgaben. Natürlich konnte diese frivole Beschäftigung sie nicht wirklich befriedigen, und es gab Augenblicke, wo sie sich über die Oedigkeit ihres Lebens klar wurde; aber dann verspottete sie sich selbst, suchte sich zu beweisen, daß zu ihrem Glück nichts fehle, und tadelte sich, daß sie sich nach Dingen sehne, die es nicht gebe. Freilich, so etwas wie Liebe hatte nie für sie existirt.
Infolge dessen ließ sie sich immer mehr gehen und suchte an der Befriedigung der Eitelkeit Genüge zu finden, in dem Rauschen prunkvoller Kleider, in der Bewundrung, die ihr die Menge zollte, im Reichtum und Luxus das Glück und den einzigen Zweck des Lebens zu sehen.
Einen aus so verschiednen Elementen zusammengesetzten Charakter konnte natürlich ein so schlechter Seelenkenner wie Daniel nicht begreifen. Er sah wohl die hochmütigen Blicke, verstand aber nicht den Ausdruck der sanften Gefühle, die sich in der Tiefe ihrer Augen wiederspiegelten. Er hörte wohl ihr Lachen, aber die heimlichen Tränen, die sie mit ihrer lärmvollen Lustigkeit niederkämpfte, sah er nicht.
Er konstatirte also, daß Jeanne von böser Gemütsart sei, und empfand tiefen Schmerz über diese weisheitsvolle Entdeckung. Demzufolge beschloß er, ihr nicht zu sagen, wer er sei, und welches Amt ihre Mutter ihm übertragen habe. Er wollte die Rolle eines unsichtbaren Hüters spielen, nicht die eines banalen Beschützers. Auch sah er ein, daß Jeanne mit ihrem hochfahrenden Charakter das Joch, so leicht es auch sein mochte, sofort abschütteln würde. Im Grunde genommen aber hätte er nie so viel Mut aufbieten können, ihr gegenüber zu treten und ihr sein Geheimnis zu offenbaren.
Zu seiner größten Verwunderung fühlte er seine Zuneigung zu Jeanne und seinen Eifer ihr zu dienen, mehr und mehr wachsen, seitdem er von ihrer moralischen Verderbtheit überzeugt war. Entrüstung und Anbetung wechselten sich bei ihm fortwährend ab. Sah er sie spöttisch oder leichtfertig gestimmt, so lief er davon, in sein Zimmer hinauf. Da oben aber sah er sie mit seinem geistigen Auge so groß und schön, daß er nicht mehr an die Bösartigkeit eines solchen Wesens glauben mochte. Er nahm sich dann vor, ihr Gemüt zu wecken, um sie nach Herzenslust anbeten zu können.
Bis dahin war ihm nicht klar geworden, welches Jeannes materielle Lage und ihr Verhältnis zu ihrer Tante sein mochte. Nun aber entsann er sich, daß Frau von Rionne von bevorstehendem Ruin gesprochen hatte, und in den zwölf Jahren, die seit ihrem Tode verflossen waren, mußte der Vater diesen Ruin leicht genug zu Stande gebracht haben. Daniel zog vorsichtig Erkundigungen ein und erfuhr in der That, daß dem Lüderjan nicht mehr viel übrig geblieben sei. Jeanne konnte also kein Vermögen haben, und nun kam es Daniel merkwürdig vor, daß Frau Tellier ihrer Nichte eine so üppige Gastfreundschaft gewährte. Die Sache hatte folgende Bewandtnis. Frau Tellier war sich, als sie Jeanne zu sich nahm, von vornherein klar darüber gewesen, daß sie damit die Tochter ihres Bruders gewissermaßen adoptirte. und hatte sie deshalb so lange wie möglich im Kloster gelassen. Späterhin, als sie schier vierzig Jahre alt war, neigte sie, infolge geheimer Enttäuschungen, zur Schwermut. Da entsann sie sich Jeanne's und berief sie zu sich, um sie zu vermählen.
Allerdings kosteten ihr Jeanne's Toiletten ein Heidengeld, aber auch bei dieser Verschwendung fand die praktische Frau ihre Rechnung, denn indem sie Jeanne putzte, putzte sie sich selber und fröhnte so nur ihrer Liebe zum Luxus und ihrer Eitelkeit. Da sie einmal ihre Nichte in ihrem Salon bei sich haben mußte, war es für sie gar nicht anders denkbar, als daß diese darin nur als ein Ausbund von Chic und Eleganz figuriren konnte.
Vielleicht sprach aber noch ein andrer Hintergedanke bei Frau Telliers Handlungsweise mit. Es wäre ihr gewiß nicht unlieb gewesen, wenn ihr die letzten Jahre, wo sie noch als Königin der Schönheit und der Mode glänzen konnte, recht viel Kampf und Aufregung gebracht hätten. Jedenfalls fand sie Vergnügen daran, sich mit Jeanne als einer Nebenbuhlerin zu messen und sie wußte sich vor Freude kaum zu lassen, wenn auf ihren Soireen die Herren Jeanne vernachlässigten, um die Dame des Hauses zu umschwärmen. Sie ließ Jedermann wissen, daß ihre Nichte keine Mitgift hatte, und lachte, wenn die Freier davonliefen. Vielleicht berechnete sie sogar die schlimme Wirkung, die Jeanne's reiche Kleider auf die ledigen Herren ausüben mußten, wenn sie erfuhren, daß die schöne, junge Dame keinen Heller Vermögen besaß. Ihre Nichte wurde eine seltne, aber gefährliche, weil zu kostspielige Blume. Sie machte sie also unerreichbar für die Freier, ein Spiel, an dem sie Gefallen fand. Endlich war sie darauf gefaßt gewesen, daß die Klostererziehung aus Jeanne ein Gänschen gemacht hätte, und nun war sie angenehm überrascht, als sie in ihrer Nichte einen verbitterten, bissigen, kalten Charakter entdeckte. Deshalb hatte sie rasch Freundschaft geschlossen mit der Spötterin und bestärkte sie in ihrem häßlichen Fehler, ohne sich etwas Böses dabei zu denken. Denn da ihr selber keine Herzensgüte eigen war, die Jeanne's Herz zum Leben hätte erwecken können, so glaubte sie ihr einen Dienst zu erweisen, indem sie ein Talent in ihr ausbilden half, das ihrer Meinung nach einer zukünftigen Weltdame förderlich und notwendig war.
So führten also beide dasselbe frivole Leben, die Tante mit vollster Seelenruhe, die Nichte ab und zu von heimlichem moralischen Unbehagen gequält. Die Eine galt in Paris für eine Königin der Mode, die Andre für eine Infantin, die früher oder später Königin werden sollte. Ueber diese beiden Damen ärgerte sich also Daniel jedes Mal, wenn er sie von seinem Fester aus in ihre Equipage steigen sah, und gedachte der Worte seiner Wohlthäterin, die vorausgesehen hatte, wie schlechte Unterweisung ihre Tochter von der Tante empfangen würde. Wie sollte er bloß diesem bösen Einfluß entgegenwirken?
Da geschah es eines Tages, daß Tellier, der Daniel seine Huld zugewandt hatte, ihn zu einer Soiree einlud. Daniels erster Gedanke war, er solle die Aufforderung ablehnen. Gab es doch nichts Entsetzlicheres für ihn, als sich in einem hell erleuchteten Salon unter lauter eleganten Herren und Damen zu bewegen!
Aber da ließ sich in seinem Innern Frau von Rionne's matte Stimme vernehmen. »Folgen Sie meiner Tochter auf Schritt und Tritt, hatte sie gesagt, und halten Sie alle schlechten Einflüsse von ihr ab.«
Er nahm also trotz seiner innerlichen Angst Telliers Einladung an.
Am Abend brachte er über eine Stunde vor seinem Spiegel zu. Denn so wenig eitel er war, so sehr fürchtete er, sich in Jeanne's Augen lächerlich zu machen. Es gelang ihm denn auch eine Toilette zu Stande zu bringen, die in ihrer Einfachheit nichts Auffälliges hatte.
Als er sich dann zur festgesetzten Zeit in den Salon schlich, war ihm Anfangs so beklommen zu Mute, wie einem Schwimmer, der mit dem Kopf untertaucht. Die Lichter tanzten ihm vor den Augen, das Stimmengewirr summte ihm in den Ohren und sein Atem stockte. Er mußte eine Weile unbeweglich stehen bleiben, um des Uebels Herr zu werden.
Da ihn aber Niemand beim Eintritt beachtet hatte, so konnte er sich ungestört erholen und die übermäßige Befangenheit abschütteln.
Nun vermochte er seine Umgebung klar zu erkennen. Der in Weiß und Gold gehaltene Salon erstrahlte im hellsten Kerzenlicht; die vergoldete Bronze der Kandelaber blitzte und von den Wänden prallten grelle Reflexe ab, von denen die Augen geblendet wurden.
In der schwülen Luft des Raumes wogten Blumendufte, in die sich die Parfüms weiblicher Schultern mischten.
Es fiel Daniel auf, daß die Damen im Hintergrunde saßen, während die Herren, von ihnen abgesondert, an den Thüren und Fenstern standen und unter sich blieben. Die ganze Gesellschaft war in zahlreiche Gruppen aufgelöst, und man hörte nur ein gedämpftes Gemurmel, aus dem von Zeit zu Zeit ein leises, alsbald zurückgehaltnes Lachen herausklang. Daniels hatte sich bei dem Anblick eine Art achtungsvoller Scheu bemächtigt. Der Ernst der älteren Männer, die Eleganz der Jüngern imponirten ihm. Denn da er nie so viel Glanz und Herrlichkeit gesehen hatte, so war sein Geist unvorbereitet und vollkommen wehrlos gegen den gewaltigen Eindruck, den das Ganze auf ihn ausübte; er bildete sich ein, er sei plötzlich in eine lichte Sphäre versetzt, wo alles gut und schön sein müsse. Besonders verzückt war er über das liebenswürdige Lächeln der Damen, über ihre schönen, mit Gold und Edelsteinen geschmückten Arme und Hälse. Namentlich aber hatte er seine Augen auf Jeanne geheftet, die stolz und sieghaft in Mitten eines Schwarms von Verehrern saß.
Bald wandelte ihn nun die Lust an, den Gesprächen dieser höheren Wesen zu lauschen, und er trat bescheiden an eine Gruppe heran, in der Tellier ein gewichtiges Thema zu entwickeln schien.
Da hörte er Folgendes:
»Ich bin seit gestern etwas erkältet,« sagte der Abgeordnete.
»Da müssen Sie sich in Acht nehmen,« antwortete ein alter Herr.
»Ei bewahre! So was vergeht, wie's gekommen ist.«
Länger hörte Daniel nicht diesem Gespräch zu; er bedauerte vielmehr, vergessen zu haben, daß Tellier ein Dummkopf war.
Er ging also einige Schritte weiter und blieb hinter einer jungen Frau und einem jungen Mann stehen. Die Dame, die lässig da saß, neigte lächelnd und träumerisch die Stirn, um — so schien es — der Sphärenmusik zu lauschen und sich von der Erde weg in eine höhere Welt emporzuschwingen. Der junge Mann, der sich leicht auf die Lehne ihres Sessels stützte, glich einem Cherub im Frack. Daniel glaubte, er würde mit einem Liebesgespräch regalirt werden, wie man deren bei den Dichtern liest. »Was für greuliches Wetter heute gewesen ist!« murmelte der Jüngling.
»Ach, erinnern Sie mich nicht daran,« erwiderte die Dame tief erregt. »Ich bekomme immer Kopfweh, wenn's regnet, und denke mir, ich sehe heute Abend abscheulich aus.«
»Nicht doch, Sie sind zum Anbeten schön.«
»Haben Sie bemerkt, daß, wenn es regnet die Haare nicht kraus bleiben?«
»Allerdings!«
»Ich habe mir heute dreimal die Haare kräuseln lassen, aber wie wirr sehen sie jetzt aus!«
»Ich brauche in solchen Fällen immer gepulvertes Gummi arabicum.«
»Wirklich ? Besten Dank für das Recept.« Daniel dachte, das müsse ein Friseur sein, und entfernte sich schleunigst, um die Erörterung etwaiger andrer Geschäftsgeheimnisse nicht zu stören. Nun suchte er sich zwei große, junge Burschen aus, die abseits standen.
Denn, dachte er, die Beiden hätten keine Damen zu unterhalten und müßten also wie Männer sprechen.
Sie sprachen aber wie Kutscher und Daniel verstand ihre Worte nicht vollständig, so daß er sie für Ausländer hielt. Endlich erriet er, daß sich ihr Gespräch um die Frauenzimmer und die Pferde drehte, konnte aber nicht immer genau feststellen, welche Ausdrücke sich auf die Pferde und welche sich auf die Frauenzimmer bezogen, denn sie sprachen über beide gleich liebevoll und mit gleicher Rohheit.
Da blickte Daniel aus klaren Augen in dem Salon herum. Es war eine Ahnung in ihm aufgestiegen, daß er sich durch äußeren Prunk hatte bestechen lassen. Die Plattheiten und Eseleien, die er hier zu hören bekam, waren genau so öde wie die Dialoge der Ausstattungsstücke im Theater.
Er dachte, all die Pracht bestehe nur in Reflexen von Juwelen und kostbaren Kleidern. Die Köpfe, die alten sowohl wie die jungen, waren hohl oder thaten, als wären sie hohl, um sich aus Höflichkeit dem Niveau der Andern anzupassen. Alle die Herren schauspielerten und zeigten kein eigenes Hirn und Herz. Alle die Damen waren Zierpuppen, die auf ihren Stühlen zur Schau saßen, wie man Porzellanfigürchen auf Etageren zur Schau stellt.
Da regte sich ein mächtiger Stolz bei Daniel. Er bildete sich auf einmal etwas ein auf seinen Mangel an Schliff und seine Weltfremdheit. Nun fürchtete er sich nicht mehr vor den Blicken der Andern, sondern hob den Kopf und bewegte sich frei im Salon herum. Ungehobelt wie er war, kam er sich ihnen so überlegen vor, daß er nicht mehr danach fragte, ob sie über ihn lächelten oder nicht. Sein Selbstbewußtsein war wieder erwacht, und er nahm in aller Unbefangenheit den Platz in Anspruch, der ihm zukam.
Hatte er sich bis jetzt noch nicht an die Gruppe herangewagt, in deren Mitte Jeanne wie eine Königin thronte, so ging er jetzt gerade auf sie zu und blieb nur hinter den Andern stehen, um sobald es anginge, in die erste Reihe vorzutreten.
Jeanne sah zerstreut aus; sie hörte nur mit halbem Ohr auf die Komplimente der Herren, die sich um sie herumdrängten. Sie kannte ja all die Redensarten auswendig und fand das Wortgeklingel an diesem Abend langweilig. Sie zerdrückte ungeduldig einen Rosenstengel zwischen ihren Fingern und ihre entblößten Schultern machten leise Bewegungen, die Geringschätzung verrieten. Daniel störte es, daß sein liebes Töchterchen so tief ausgeschnitten ging, und er spürte in seinem Herzen ein unbekanntes Wonnegefühl, das ihm durch jede Ader rieselte.
Er fand das junge Mädchen entzückend schön, schöner als er sie je gesehen hatte. Sie glich ihrer Mutter sehr, und ihr Anblick zauberte ihm ein teures Bild, Frau von Rionne's, vor Augen, wie sie, blaß und abgemagert, damals den Kopf auf das Kissen zurücklehnte. Aber die Wangen blühten rosig, in den Augen strahlte die Flamme des Lebens, zwischen diesen Lippen wehte ein lieblich gesunder Odem.
Vor Jeanne stand ein junger Mann, der sich von Zeit zu Zeit niederneigte und der ihre Gestalt Daniels Blicken zum Teil entzog. Dieser ärgerte sich über den Menschen, dessen Gesicht er nicht sehen konnte. Warum drängte sich der Unbekannte so an das junge Mädchen heran? Was wollte er von ihr, und mit welchem Recht stellte er sich zwischen sie und ihn?
Aber da geschah es, daß der junge Mann sich umwandte, und Daniel erkannte Lorin, der ihn gleichfalls bemerkte und ihm mit verbindlichem Lächeln die Hand zum Gruße hinhielt. Lorin ging in dem Tellierschen Hause ein und aus. Zu der Zeit nämlich, als er den Grundstein zum Aufbau seines Vermögens legte, hatte er Tellier Kapitalien anvertraut, und diesem war es leicht gewesen, sie aufs vorteilhafteste anzulegen. Daher die Freundschaft zwischen den Beiden.
Böse Zungen fügten zwar noch hinzu, der junge Mann suche noch etwas Andres in dem Tellierschen Hause: Er habe lange genug dort verkehrt, um mit dem Mann über Geschäfte und mit der Frau über Liebe zu sprechen. Jedenfalls aber vernachlässigte Lorin, seit Jeanne gekommen war, Frau Tellier in unverkennbarer Weise.
Er schob seinen Arm in Daniels und ging mit ihm durch den Salon, um sich mit ihm leise zu unterhalten.
»Also Sie verkehren auch hier? Wie freue ich mich, daß ich Ihnen wieder begegnet bin!«
»Sehr liebenswürdig,« antwortete Daniel ziemlich kühl.
»Was macht Raymond?«
»Es geht ihm gut.«
»Also Sie haben Sich bequemt aus ihrer Klausnerzelle hervorzukommen und sich in dem Paradiese dieser Welt zu verirren?«
»O, ich werde mich schon wieder zurecht finden. Ich kenne meinen Weg.«
»Sie kommen wohl wegen der jungen Dame, die Sie soeben mit so lüsternen Augen bewunderten?«
»Ich?« fragte Daniel mit veränderter Stimme und sah Lorin gerade in's Gesicht, aus voller Furcht, dass er sich dem Manne gegenüber eine Blöße gegeben und sich habe durchschauen lassen.
»Na, was wäre dann weiter dabei?« meinte der Andre ruhig. »Wir sind ja Alle in sie verschossen. Sie hat prachtvolle Augen und üppige Lippen, von denen man sich mal was versprechen kann. Dazu ist sie geistreich, witzig; — na, kurz, wer die mal kriegt, der langweilt sich nicht.«
Dieses eigentümliche Lob in solchem Munde verdroß Daniel sehr. Doch verbiß er seinen Aerger und bemühte sich, Gleichgültigkeit zu heucheln.
»Aber sie hat kein Geld, lieber Freund,« fuhr Lorin fort, »nicht einen roten Heller. Frau Tellier, die mir gewogen ist, war so gewissenhaft und liebenswürdig mich auf diesen Punkt aufmerksam zu machen. Das Mägdlein ist reizend wie ein Engel, aber sie gehört nicht zu den Engeln, die keinen andern Schmuck brauchen als ihre Flügel; sie konsumirt grausig viel Seide und Samt und Atlas. Sie wird mal entzückend sein als Frau; nur schade, daß sie Einem auch verteufelt viel kosten wird.«
Er schwieg eine Weile nachdenklich und begann dann wieder plötzlich:
»Sagen Sie mal, Raimbault, würden Sie ein Mädchen heiraten, das nichts hätte?«
»Ich weiß nicht,« antwortete Daniel durch diese Frage überrascht. »Ich habe nie darüber nachgedacht. Aber ich glaube, ich würde Diejenige heiraten, die ich liebte.«
»Da hätten Sie vielleicht Recht,« kam es langsam aus Lorins Munde. »Ich freilich würde so etwas für eine Torheit halten.«
Er hielt inne, als trüge er Bedenken seinen Gedanken offen auszusprechen. Dann aber sagte er:
»Ach was! Torheiten begeht man ja jeden Tag.«
Hierauf lenkte er das Gespräch auf etwas Andres, seinen Reichtum und die Vorteile, die das Geld verleihe. Endlich aber unterbrach er sich, als er Frau Tellier bemerkte, die eben hereingekommen war, und um die sich rasch eine Menge Herren drängten.
»Wollen Sie, daß ich Sie unsrer Königin vorstelle?« fragte er Daniel.
»Ist nicht nötig,« antwortete dieser. »Sie kennt mich.«
»Ich habe Sie aber nie hier gesehen.«
»Es ist auch das erste Mal, daß ich heruntergekommen bin. Ich wohne nämlich im Hause. Ich bin seit vierzehn Tagen Herrn Telliers Sekretär.«
Diese kurz hingeworfnen, dürren Worte brachten auf Lorin eine merkwürdige Wirkung hervor.
»Sie sind Telliers Sekretär?!«
Der Ton, in dem er dies aussprach, bedeutete: »Zum Donnerwetter, warum haben Sie mir das nicht früher gesagt, Sie Lump Sie? Dann wäre ich nicht so lange mit Ihnen öffentlich herumspaziert?«
Er ließ sacht Daniels Arm los und schloß sich der Gruppe an, die sich um Frau Tellier gebildet hatte. Da der ehemalige Kamerad nur ein subalterner Angestellter war, konnte der Verkehr mit ihm nur Schaden bringen.
Daniels Lippen umspielte ein verächtliches Lächeln; er bedauerte, daß er Lorin nicht früher klaren Wein eingeschenkt hatte; dann wäre er den unangenehmen Menschen gleich los geworden. Indessen folgte er dem empfangenen Rat und trat an Frau Telliers Verehrerscharen heran.
Die Dame prangte mit einer Jugend, die ihr viele Mühe und Arbeit gekostet hatte, und erheuchelte eíne übertriebene Kindlichkeit in ihrem Gesicht, das hier und da seine Runzeln aufwies. Von Zeit zu Zeit blickte sie verstohlen nach Jeanne hinüber und freute sich, wenn sie konstatirte, daß sie doch immer noch mehr Verehrer um sich hatte, als ihre junge Nichte. Die Kleine spielte in ihren Augen nur die Rolle eines Versuchs- und Vergleichsobjektes; sie bewies ihr, daß es mit ihrem Alter noch nicht zu schlimm war.
Zu denjenigen ihrer Trabanten, die sich am aufmerksamsten, galantesten zeigten, gehörte auch Lorin. Der Heuchler war viel zu pfiffíg, der Nichte wegen, die er zwar liebte und bewunderte, mit der Tante zu brechen, die er vielleicht noch brauchen konnte.
Indessen, so eitel Frau Tellier auch war, so erriet sie doch die innersten Gedanken ihres Courmachers und ließ es ihn auch merken.
»Herr Lorin,« sagte sie, indem sie eine unverkennbare Ironie in den Ton ihrer Stimme und in den Ausdruck ihrer Gesichtszüge legte, »gehen Sie doch zu meiner Nichte hinüber. Die Arme sitzt ja ganz allein da und langweilt sich.«
Aber sie bekam alsbald Grund, den Spott zu bereuen. Lorin, der sich ärgerte, daß sie ihn durchschaute, nahm sie beim Wort, und ihm folgten mehrere naive junge Herren, die froh waren, der jüngeren Schönheit huldigen zu dürfen. Auch Daniel schloß sich ihnen an. Jeannes Zerstreutheit und Gleichgültigkeit wich jetzt vor dem Bestreben, sich vor den andern Damen hervorzuthun. Ihre Züge belebten sich, ihre Augen erglänzten, ihre Líppen sprudelten von witzigen Einfällen und Bonmots, aber ihr Gemüt und Herz hatte keinen Teil an dem nervösen Geplauder.
Daniel wurde weh ums Herz, während er ihr zuhörte. Er sagte sich, sie wäre nicht so dumm und eingebildet wie die andern jungen Damen, aber nicht minder gemütsarm. Frau von Rionne's Furcht vor dem bösen Einfluß, den der Verkehr in der Gesellschaft auf Jeanne ausüben konnte, war nur allzu begründet; Daniel begriff, daß in diesen höheren Regionen das Herz zu schlagen aufhören mußte.
Das Hauptopfer, das sich Jeanne zum Ziel ihres herben Spottes erkor, war Lorin.
»Also, Sie sind fest überzeugt, das ich ein anbetungswürdiges Geschöpf bin?«
»Anbetungswürdig,« wiederholte Lorin mit Nachdruck.
»Würden Sie das auch in Gegenwart meiner Tante behaupten?«
»Sie selber hat mich zu Ihnen geschickt, damit ich's Ihnen sage.«
»Ich bin ihr sehr verbunden, daß sie mir dieses Kompliment gönnt. Aber ich bin eine gutmütige Seele und will Ihnen deshalb eine Warnung zukommen lassen: Ihnen droht eine große Gefahr.«
»Was für eine, wenn ich fragen darf?«
»Die Gefahr, daß Sie einmal im Ernst meinen könnten, was Sie jetzt nur als Galanterie sagen.«
»Ein Geländer? Wozu denn?« fragte Lorin, den diese Art Geistreichelei aus dem Konzept brachte und ängstigte.
Jeanne lachte und zuckte die Achseln.
»Das könnten Sie nicht raten? Damit die Blinden nicht in den Abgrund der Mitgiftslosigkeit fallen.«
»Ich verstehe nicht,« stammelte Lorin.
Sie sah ihn voll an und er senkte vor ihr den Blick.
»Desto besser,« versezte sie. »Nun sehe ich, daß Sie mir etwas vorgeredet haben: Sie finden mich nicht anbetungswürdig.«
Sie brach ab und gab dem Gespräch eine andere Wendung.
»Haben Sie von dem entsetzlichen Unglücksfall gehört," fragte auf einmal Lorin, »der gestern beim Wettrennen passirt ist?«
»Nein,« antwortete Jeanne. »Was ist denn vorgefallen?«
»Ein Jockey hat sich das Rückgrat gebrochen, als er über das dritte Hindernis setzen wollte, und während der Unglückliche am Boden lag und vor Schmerz brüllte, lief das nächste Pferd über ihn weg und zermalmte ihm das eine Bein.«
»Ich war dabei,« fiel ein junger Mann ein. »So etwas Schreckliches ist mir noch nicht vorgekommen.«
Ein leichter Schauer ging über Jeannes ruhevolles Gesicht hin, aber sie kämpfte die bessere Regung nieder und sagte gleichgültig:
»Der Mann ist ungeschickt gewesen. Wer sich in Acht nimmt, fällt nicht vom Pferde.« Daniel, der sich bis dahin schweigsam verhalten hatte, bäumte sich das Herz in der Brust auf bei der gefühllosen Bemerkung des jungen Mädchens.
»Bitte um Verzeihung,« fiel er ein, »aber ich glaube, den Herren ist die Geschichte nicht vollständig bekannt.«
Alle wandten sich nach dem Eindringling hin, dessen Stimme vor tiefer Erregung zitterte.
»Ich habe den Bericht über den Unglücksfall heute früh in der Zeitung gelesen. Der ungeschickte Mensch, der die Dummheit begangen hat, einen tötlichen Sturz zu thun, wurde, mit Blut überdeckt, zu seiner Mutter gebracht. Diese, eine arme sechzigjährige Frau, verlor den Verstand bei dem Anblick. Gegenwärtig ist die Leiche des Sohnes noch nicht beerdigt, und in einer Zelle der Salpêtrière heult und jammert eine Mutter.«
Lorin fand diesen Ausfall seines alten Kameraden sehr anstandswidrig und dachte, der ungehobelte Mensch scheine doch wirklich unverbesserlich.
Aber Jeanne hatte, während Daniel sprach, ihn aufmerksam angesehen, und als er ausgeredet hatte, sagte Sie:
»Ich danke Ihnen, Herr Raimbault.«
Zwei Thränen perlten langsam ihre Wangen hinunter, die tiefe Blässe überzog. Thränen, die Daniel mit inniger Freude fließen sah.