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»Gott sei mit all seinen Heiligen gelobt und gepriesen!« rief der Alte, der wie ein Jüngling herbeilief. »Meister! Euch hat der Himmel wohlgewollt. Nur dreizehn sind übriggeblieben; eilet, eilet von dem verruchten Orte hinweg. Jesus, Maria und Joseph! Ich sehe noch immer Petermanns Schwert und wie er so kläglich zum Landamman hinschaute, wenn wieder ein Rumpf nach vorwärts gefallen war.«
»Wohin bringt Ihr mich?« fragte Isenhofer.
»An einen guten Ort; fraget doch nicht!« rief keuchend der Alte. »Ich mußte Euch ja dort auf den Rettungsplatz hinstellen, damit Ihr einer von den letzten wäret – Petermann that auch sein Teil, er zog das Blutwerk in die Länge; der alte Mönch desgleichen. Man hoffte auf Erbarmen von der Zeit; der Itelhans hatte keins. Gott sei gelobt in Ewigkeit!«
Damit lief der Alte nach einem zunächst dem Dorfe gelegenen Stalle und führte zwei gesattelte Pferde hervor. Auf das eine hieß er Isenhofer sich setzen, auf das andere schwang er sich selbst; dann ritt er im scharfen Trabe davon, Isenhofer ihm nach,
So viel es die Eile der Reise und das zweifelhafte Sternenlicht gestattete, schien es Isenhofer, daß sie denselben Weg nahmen, auf welchem er vor vier Wochen mit dem unglücklichen Freiherrn von Sax von Zürich nach Greifensee gekommen war. Kaum währte es aber eine starke Stunde, so wurde ihm die Gegend fremd. Der Weg war schlecht und zog sich bergauf, bergab, bald durch Bäche, bald durch Waldgestrüpp, verlor sich mitunter ganz und mied die bewohnten Ortschaften. Umsonst bemühte sich Isenhofer, seinem Führer Rede abzugewinnen. Auf seinem behenden Klepper, immer in starkem Trabe, ritt er stumm vor ihm hin durch die Nacht Die dunklen Gestalten der Felsen und Baumstämme liefen links und rechts, wie Gespenster, an ihnen vorüber. Es mochte Mitternacht sein, als der Mond hinter Gewölken hervorbrach und sein blasses Licht auf Waldhügel und den zitternden Spiegel eines Sees warf. In nicht großer Entfernung schimmerte ein rötliches Licht durch ein erleuchtetes Fenster. Der Alte nahm über feuchte Wiesen in geradester Richtung dahin den Weg. Auf einem Hügel lagen im Mondschein sichtbar ein Turm und die gebrochene Mauer eines alten Schlosses. Vor einer ärmlichen Hütte unfern derselben, unter deren niedrigem Strohdach ein Fenster erleuchtet war, sprang der Alte vom Pferde.
»Wo sind wir?« fragte Isenhofer.
»Gott sei gelobt! Am Katzensee bei meiner Schwester,« antwortete jener. »Nun können wir ruhen. Steigt ab!«
Es trat ein Knabe aus der Hütte, ihm folgte ein altes Weib.
»Bist Du's, Hemman?« rief das Weib. »Jesus Maria! Mir war schon bange um Dich, Brüderchen.«
»Das war aber auch ein Ritt,« sagte der Alte und reckte die steif gewordenen Glieder. »Höre! Der gestrenge Herr ist doch hier, hoffe ich?«
»Er kam schon lange vor Nacht,« antwortete jene, »wollte aber nicht essen, nicht trinken. Halte Dich fein still; er sitzt im Winkel am Tisch und nickt ein wenig; er wollte nicht zur Ruhe, bis er Dich gesehen.«
»Felix!« rief zufrieden nun der Alte dem Burschen zu, »die Pferde sind erhitzt. Führe sie auf der Wiese umher, bis ich wieder zu Dir komme.«
»Bist Du es, Hemman?« rief eine dem Isenhofer wohlbekannte Stimme durchs Fenster. Es war die Stimme des geharnischten Ritters, der in voriger Nacht ihn und andere Gefangene bewacht hatte. »Bist Du es, Hemman? Langst Du allein an?«
»Nein, mein allerliebster, gnädiger Herr!« schrie der Alte gegen das Fenster zurück. »Alles ist wohl gelungen; er ist gerettet!« Bei diesen Worten ergriff der Alte Isenhofers Hand und führte ihn in die Hütte. Eine vom Rauch geschwärzte niedere Stubenthür öffnete sich, durch welche Isenhofer in ein enges, kaum sechs Fuß hohes Gemach, das zum vierten Teil von einem gemauerten, breiten Ofen ausgefüllt war, eintrat. Au einem Tisch, roh von Tannenholz gezimmert, der fast die Hälfte des kleinen Raumes der Wohnung einnahm, saß beim Schimmer einer trüben Öllampe ein betagter Herr, dem die Freude aus dem Antlitz lachte.
»Willkommen im Leben, Meister Isenhofer!« rief derselbe und streckte ihm, in froher Bewegung, beide Hände über den Tisch entgegen. »Wie starret Ihr mich doch an, als wäre ich ein Gespenst. Möget Ihr Euch meiner nicht mehr erinnern?«
Isenhofer war überrascht, denn er erkannte nach einigem Besinnen Herrn Rüdiger Trüllerey, den er im Freihof zu Aarau, in freilich jedesmal nur kurzen Augenblicken gesehen hatte.
»Wie lief's auf der Wiese von Nänikon ab? fragte der Ritter weiter. »Erzähle Du, Hemman, denn der Meister von Waldshut ist von seinem Entsetzen noch nicht genesen, weil Petermanns scharfe Klinge ihm schon nahe am Genick war . . . Else, wo ist die alte Else? Jetzt tische Deine Karpfen auf, Else, und vom guten Klosterwein der Herren von Wettingen!«
»Ritter,« sagte Isenhofer mit feuchten Augen und drückte gerührt die Hand des frohen Greises, »Ihr also seid mein rettender Schutzgeist gewesen?«
»Das nun wohl nicht,« erwiderte der greise Rüdiger. »Meister, Du warest der einzige, den ich von allen Gefangenen aus Greifensee kannte. Da wir den Tod aller für unvermeidlich hielten, traten wir aus dem Kreise und beredeten uns; alles wohlgesinnte Herren von Bern, Zug und Luzern. Wir wurden einig, in den Gang des blutigen Geschäftes auf jede Weise so viel Verzögerung zu bringen, daß bei Einbruch der Nacht kaum die Hälfte der armen Sünder abgethan sein konnte. Dann wollten wir den Übrigen, wo sie bis zum Morgen in Verwahr gethan würden, durch List oder Gewalt zur Freiheit helfen. Nun empfahl ich Euch dem Hauptmann von Glarus, der im Kreise über die Todesopfer Wache hielt, daß er den armen Meister von Waldshut zu den letzten in die Reihe stelle. Das war alles. Ich ließ darum den Hemman mit guten Pferden zurück und ritt hierher, um nicht das Elend von Nänikon zu sehen und um Euch eine sichere Herberge zu bereiten. Nun, Hemman, erzähle Du! Wie wurden die armen Leute aus den Krallen des Itelhans erlöset?«
Der alte treue Diener Rüdigers verbeugte sich tief und berichtete mit Umständlichkeit, wie er zum Hauptmann von Glarus gekommen; wie dieser ihm befohlen habe, selber den rechten Mann unter den Gefangenen auszusuchen und abseits zu stellen; wie dann nach der Entfernung des Landammanns Reding keine Ordnung mehr geherrscht, und jeder von denen, die noch hingerichtet werden sollten, seinen guten Freund gefunden habe.
Während dieser Erzählung hatte die rührige Mutter Else den geräumigen Tisch mit Brot, Emmenthalerkäse, Wein in zinnernen Kannen und gekochten und gebackenen Fischen besetzt, welche eben sowol den Reichtum des Katzensees in seinen Fischgattungen, als die Kunst der alten Else darthaten, sie schmackhaft zuzubereiten.
»Lasse Dirs wohl sein!« sagte der greise Rüdiger zu Isenhofer. »Else hat mir lange Zeit im Freihof zu Aarau die Küche bestellt, bis sie das Weib des Wettinger Klosterknechts wurde. Auch dort hat sie nichts verlernt; das wissen die geistlichen Herren zu ehren. Bei jedem großen Schmause zur Fastenzeit muß Else zur Hilfe in die Klosterküche kommen. Vor allen Dingen, Meisterlein, versuche hier den Karpfen in der braunen Brühe mit Zwiebeln und Mohrrüben. Er wird Dir besser schmecken, als das magere Henkersmahl von diesem Morgen.«
Der Gast ließ sich nicht lange bitten. Nüchtern seit dem Frühstück, hatte der Stand auf dem Richtplatz, dann der scharfe Ritt von fast sechs Wegstunden seine Kräfte gänzlich zur Neige gebracht. Wie diese aber bei der nahrhaften Kost und dem goldenen Rebensaft vom Markgrafenland allmählich zurückkehrten, gewann er auch die Lust zur Unterhaltung und seine eigentümliche Laune wieder.
»Fürwahr,« sagte er, »der Mensch ist ein vollständiges Uhrwerk, das zu seiner bestimmten Zeit aufgezogen sein will, wenns gehen soll. Hat der Magen sein Gewicht, läßt sich das Glockenspiel der Zunge lustig hören und der Verstand, als Zeiger, weiset die rechte Stunde. Meine Augen sehen nun selbst die Schlächterei bei Nänikon schon anders an als diesen Mittag.«
Auf Rüdigers Begehren mußte Isenhofer berichten, durch welche Umstände er zum Wildhans gekommen und in dessen Schicksale verflochten worden sei. Der alte Ritter hörte ihm mit Vergnügen zu und gewann immer größeres Gefallen an dem sonderbaren Manne, der so richtig und redlich urteilte und selbst über die schreckenvollsten Augenblicke seines Lebens noch scherzen konnte.
»Doch heute,« sagte Rüdiger, »bei Petermanns Arbeit, ist Dir das Lachen schwer geworden?«
»Wie Ihrs nehmen wollt, gestrenger Herr!« antwortete Isenhofer. »Ich mag ein ernstes Gesicht gemacht haben, wenn sich die Lust zum Leben gegen das Sterben in mir sträubte, doch meine Seele lachte zum Himmel. Ich würde so ruhig vor Petermann ins Gras gekniet sein, wie ich jeden Abend das Nachtlager besteige, Auf der Wiese von Nänikon stand ich dem Tode nicht eine Spanne näher, als an diesem Tische. Möge darum der gnädige Herr des Lebens walten, der uns hierher schickt und wieder abruft, und es nimmer böslich meint, weder das eine, noch das andere Mal.«
Als Isenhofer diese Worte sprach, setzte Rüdiger den schon erhobenen Zinnbecher wieder auf den Tisch und sah den heitern Redner ganz unerwartet mit derselben Abgestorbenheit des Blickes, mit demselben Todesernst an, den er zum ersten Male im Turm Rore gezeigt hatte. Isenhofer erschrak beim Anblick der Verwandlung und wollte eben den Mund öffnen, ihn zu fragen, ob ihm unwohl sei, als jener, wie warnend, die Hand mit vorgestrecktem Zeigefinger erhob und eintönig sagte: »Der eifrige, starke Gott, der die Sünden der Welt heimsucht! . . .«
»Das ist der Priestergott, nicht der Gott des Heilandes, zu dem wir rufen: Abba!« entgegnete Isenhofer.
»Wie?« rief der Alte. »Du hattest vor wenigen Stunden auf dem Richtplatz keine Furcht, vor sein Angesicht zu treten?«
»Mit nichten,« erwiderte der Waldshuter. »Glaube, Liebe, Hoffnung! Wir stehen auch jetzt vor diesem Gottes-Angesicht.«
»Dem Schuldbeladenen ists verhüllt in tausend Finsternissen!« sagte der Greis und ließ die noch immer gehobene Hand zitternd sinken.
Isenhofer wurde verlegen. Er sah, daß Herr Rüdiger in seine vorige Schwermut zurückgesunken war, und wollte dem Gespräch eine heitere Wendung geben. Doch wagte er, beim Anblick dieses erschreckenden Gesichtes, welches immer starrer und leichenähnlicher wurde, keinen Scherz. Ohne Zweifel quälte den Greis irgend ein Geheimnis. Isenhofer empfing durch Rüdigers seltsame Reden eine Ahnung und beschloß, wenn es möglich sei, zur Beruhigung des Mannes beizutragen, dem er sich so sehr verpflichtet fühlte.
»Erlaubt mir,« sagte er, »ein wenig unbescheiden zu sein, Herr Rüdiger! Ihr glänztet eben erst in der freudigsten Stimmung; warum vertauscht Ihr nun so plötzlich das Freudenkleid Eures Antlitzes, welches Euch so wohl anstand, mit dem Trauermantel?«
Rüdiger saß starr da, mit in sich zurückgewandten Sinnen; er schien nichts zu vernehmen.
»Ich sollte denken,« fuhr jener fort, »heute mehr, denn an jedem andern Tag müsse der ganze Himmel in Eure Seele hineinlächeln, da Eure Menschenliebe eines Menschen Leben rettete.«
Rüdiger verriet durch keine Bewegung, daß Isenhofers Rede zu seinem Ohre gedrungen sei; die Gegenwart schien dem Alten verloren, dessen Leib wohl in der Fischerhütte, dessen Geist aber in andern Sphären war.
»Mich dünkt, Herr Rüdiger, Euch wandelt ein übler Zufall an,« sagte Isenhofer nach einem langen Schweigen, während dessen er den Greis nicht ohne Grauen und Furcht betrachtete; »Eure Gesichtsfarbe ist anders geworden; Eure Augen und Wangen scheinen eingesunken; Ihr seid krank. Wollt Ihr Euch mir vertrauen? Ich habe zu Bologna und Paris, unter großen Meistern, der Arzneikunst obgelegen; laßt wissen, wie Euch ist, wo Ihr den Schmerz fühlt? Schon zu Aarau im Freihof bemerkte ich, daß Eure Gesundheit schwer erschüttert sei. Reicht mir Eure Hand; der Puls wird mir mit seinen Schlägen sagen, ob nicht vielleicht ein schleichendes Fieber an Eurem Leben zehret.«
Als Isenhofer Rüdigers Hand ergriff, den Puls zu suchen, wandte Rüdiger stillschweigend und wie träumend den Kopf zu ihm, zog die Hand zurück, stand rasch auf, ging hinterm Tisch hervor und im engen Raume des Gemaches unruhig auf und ab. Auch Isenhofer erhob sich und folgte dem Alten mit den Augen. Dann redete er ihn abermals an und sprach:
»Macht mich glücklich; ich habe eine große Schuld gegen Euch abzutragen.«
Bei diesen Worten blieb Rüdiger vor Isenhofer stehen, seufzte und sagte:
»Eine schwere Schuld? Du, Meister?«
»Die Schuld eines ganzen Lebens,« antwortete Isenhofer.
»Und kannst sie nicht mehr abtragen?« fragte Rüdiger, in düsterm, forschendem Blick.
»Wohl kann ichs, wenn Ihr nur wollt!« antwortete jener. »Ich bin Euch alle die Lebenstage schuldig, die mir noch vergönnt sind. Ohne Eure Sorge läge in diesem Augenblick mein Leichnam bei den neunundfünfzig Enthaupteten auf der Wiese zu Nänikon. So gestattet mir, erkenntlich zu sein und dies Leben, das ich Euch danke, dem Dienst und Wohl des Eurigen zu widmen; ja, wäre es nötig, es für das Eure zu opfern.«
Herr Rüdiger schüttelte den Kopf, setzte den unruhigen Gang im Zimmer wieder fort, stand dann wieder vor Isenhofer still und sagte:
»Gut, gut, ich will! Mache eine Wallfahrt mit mir gen Rom.«
»Warum nach Rom?«
»Daß ich meine Ruhe finde an den Schwellen der heiligen Apostel, wenn mir der Himmel es versagt, meinen Frieden anderswo zu finden.«
»Wer könnte Eure Ruhe nehmen oder genommen haben?«
»Die Hölle.«
»Das kann sie nicht, Herr Rüdiger!«
»O, sie kann's! Sie streckt ihren scheußlichen Arm tief hinein in mein Leben. Glaube mir's! . . . Gehe schlafen; heute nichts mehr. Ziehest Du mit mir im Lande umher oder nach Rom?«
»Wohin Ihr wollt . . . aber darf ich . . .«
»Morgen, Isenhofer! Du mußt es wissen, sollst es hören. Gehe schlafen. Siehe, im Kämmerlein hier ist für uns gebettet; ich folge Dir bald nach, gehe schlafen.« Damit öffnete der Ritter das Seitenkämmerchen, wo der Erdboden mit frischem Stroh belegt und mit grobem, doch sauberem Linnen bedeckt war.
Isenhofer gehorchte und warf sich auf das Lager, wahrend Rüdiger die Kammer verschloß. Isenhofer hörte ihn das Zimmer verlassen und aus der Hütte gehen. Er wollte ihm nacheilen, denn er wurde besorgt um den Greis; doch gab er den Vorsatz wieder auf, in Furcht, dem Ritter mißfällig zu werden, oder durch anscheinende Zudringlichkeit ein eben aufkeimendes Vertrauen zu zerstören. Er erwartete ihn lange vergebens und entschlummerte endlich. Der schicksalsschwere Tag mit seinen Wechseln hatte die Kraft des Mannes erschöpft.
Spät Morgens erwachte Herr Isenhofer von einem langen und tiefen Schlafe. Gestärkt durch denselben, erschienen ihm die grausigen Erlebnisse des gestrigen Tages als ein schwerer Traum, der im Lichte der Gegenwart zu erbleichen und zurückzutreten begann.
Kaum eine Spanne weit von sich, auf dem Strohbette an seiner Seite, wurde er den Greis gewahr, welcher, obzwar gestiefelt und gespornt, in einen braunen, groben Wollmantel eingehüllt war, dessen Kutte, von hinten über den Kopf gezogen, die Stelle einer Kappe versehen mußte; neben demselben das entblößte Schwert. In den auf der Brust gefalteten Händen hielt er einen Rosenkranz. Bei der blassen Farbe, welche die scharfen Züge des Antlitzes überflossen, glich er einem zur Schau gelegten Toten, der, obwohl Ritter, nach damaliger frommer Sitte in einem Mönchskleid zur Erde bestattet werden sollte.
Bei Isenhofers erster Bewegung schlug auch Herr Rüdiger Trüllerey die Augen auf. Man begrüßte sich gegenseitig mit freundlichen Wünschen, ordnete den zerstörten Anzug, wusch Kopf, Hals und Hände im kalten Wasser, verrichtete sein Morgengebet und entnüchterte sich durch einen kräftigen Imbiß, während die geschäftige Else mit tausend Worten die schlechte Bewirtung entschuldigte.
Als sie darauf vor die Hütte hinaustraten, die reine frische Luft des Maimorgens zu genießen, sprach Herr Rüdiger: »Freund! Du versprachst mein Wandergefährte zu werden, mich sogar nach Rom zu begleiten. Ich entbinde Dich des Wortes, wenn es Dich gereut.«
»Nein,« erwiderte Isenhofer, »entbindet mich der Zusage nicht, insofern sie Euch gefällig ist. Ich habe Euch eine große Schuld abzutragen, und bin froh, dieses Schauspiel des blutig geführten Krieges nicht länger zu sehen: Ihr aber werdet Euch erinnern, daß Ihr mir das mitzuteilen verhießet, was Euch bedrängt und zur Fahrt nach den heiligen Gräbern treibt.«
»Das habe ich niemandem noch offenbart,« sagte der Alte ernst. »Meister, ich habe zu Dir Zuversicht gewonnen, wie nicht leicht zu einem Sterblichen. Was ich Dir anvertrauen will, wird selbst Gangolf, mein Sohn, erst vernehmen, wenn ich nicht mehr am Leben bin; Du hingegen gelobst mir Verschwiegenheit, bis ich im Grabe liege.«
Isenhofer streckte die Hand zum Himmel und sagte: Bei Gott und seinen Heiligen allen! Dann reichte er dieselbe Hand bekräftigend dem Ritter.
Beide gingen, in Gesprächen, über die feuchten Wiesen gegen den Berg hin, auf dessen Rücken hoch über dem Thale das Städtchen Regensberg im Sonnenlichte glänzte. Turm und zerfallenes Gemäuer des ausgebrannten alten Schlosses Regensberg zeigten ihr schwarzes, rußiges Gestein: ein Bild schauerlicher Wehklage über der Menschen Wahnsinn. Vor zwölf Monaten erst war es von den Eidgenossen zerstört worden, nachdem es in ehrwürdiger Herrlichkeit beinahe fünf Jahrhunderten die Stirn geboten hatte.
Die Sonne stand schon hoch, als sich die Lustwandelnden am Bergabhang unter wilden Birnbäumen einen Schattenplatz suchten. Vor ihnen, hinter den grünen Wiesen, zog der Morgenwind, im beweglichen Spiegel der Zwillingsseen spielend, weitgekrümmte Furchen. Isenhofer hatte bisher von seinen Reisen in Deutsch- und Welschland, von seinen Verhältnissen zu den Falkensteinen, von seiner ersten Bekanntschaft mit Gangolf, von Ursulas Untreue, von dem stürmischen Rittertag zu Seckingen und dem Tode des Freiherrn von Sax erzählt. Der greise Rüdiger, welcher ein aufmerksamer Zuhörer gewesen, seufzte und sprach. »So möge es sein! Er ist ein starker und eifriger Gott, der die Sünden der Väter heimsucht an den Kindern! Der Glanz meines alten Hauses ist erloschen; Gangolf muß, als ein armer Söldner, durch die Welt ziehen, bis er dem Tode begegnet. Ich hoffte noch, daß er sich durch die Verbindung mit dem Hause Falkenstein aufrichten werde; nun ist auch das vereitelt!«
»Wollet Ihr um Gangolf Euch Kummer bereiten, dem sein Arm und Herz Überfluß gewinnen, sobald er ihn will?« sprach Isenhofer. »Dereinstiger Erbe Eurer Güter und . . .«
»Nein,« unterbrach ihn rasch Herr Rüdiger. »Er hat kein Erbe; er wird ein Bettler sein. All' mein Besitztum hat einen andern Herrn; und entdecke ich diesen nicht, so fällt alles der Kirche zu, damit meine Seele Ruhe finde.«
»Die Kirche wird das Geld nehmen, die Geistlichkeit wird dabei wohlleben, aber Ruhe giebt nur Gott!« sagte Isenhofer lächelnd. »Doch bitte ich, lasset mich erfahren, wie Ihr die Sache meint. Wer ist der andere Herr, von dem Ihr nicht einmal zu wissen scheinet, wo Ihr ihn entdecken werdet?«
»Es ist der Freiherr Jörg von Ende, Herr zu Grimmenstein, im Rheinthal. Hast Du jemals von ihm gehört?« fragte Rüdiger.
»Von manchem Ende,« antwortete Isenhofer, »aber von keinem Menschen, der sein Ende schon im Namen hat.«
»Ich war ein wilder Gesell,« fuhr der Ritter fort, »zur Zeit, als die Berner auf Befehl des Kaisers Siegmund und der Kirchenversammlung zu Konstanz den Aargau einnahmen. Mein Vater hielt mich streng, wie ein unmündiges Kind, obwohl ich meine dreißig Jahre damals schon vollendet hatte. Wir waren selten zusammen eins, denn er hielt zu den Bauern, ich mit dein übrigen Adel zum geächteten Herzog Friedrich von Österreich. Im Zorn stieß er mich endlich von sich und verbot mir, je wieder vor seinen Augen zu erscheinen. Ich ging lachend in die Welt hinaus, froh, die Mißhandlungen meines Vaters und seine magere Kost los zu sein. Ein gutes Pferd, ein gutes Schwert, das war mein Reichtum; damit hoffte ich mir genug zu erwerben. Ich trieb mich eine gute Weile umher, anständigen Herrendienst zu finden, doch als mein geringes Geld zur Neige ging, begann ich zu verzagen. Heimzukehren in den Turm Rore und des Vaters Gnade zu erflehen, verdroß mich; als gemeiner Soldat und Knecht mit niedrigem Dienst den altadeligen Namen meines Hauses zu beflecken, dessen schämte ich mich. Da nannte ich mich Günther von der Weide, entschlossen, des schlechtesten Gewerbes wegen nicht roh zu werden und müßte ich auch zum Räubergewerbe greifen.«
»Wie kamet Ihr zu dem zartem bürgerlichen Gewissen?« sagte Isenhofer: »dies Gewerbe ist rein adelig und eine freie Kunst, vor der kein Kaiser und kein König rot wird, wenn er fremdes Land überzieht. Aber Kleinigkeiten rauben, nur arme Pilger und Kaufleute überfallen und ausplündern, nun freilich, das ist stinkend. Wie triebet Ihr's?«
»Es kam anders,« sagte Rüdiger, dessen ernstes Gesicht zu verraten schien, er habe an Isenhofer's Scherz keinen Gefallen. »Als ich zu St. Gallen in der Herberge traurig dasaß, redete mich ein reicher Herr von etwa fünfunddreißig Jahren an, der mit einem großen Troß von Pferden und Hunden angekommen war, den Abt zu besuchen. Er war schlank und schön, von ungewöhnlicher Größe, prächtig gekleidet, freigebig, lebhaft und gesprächig. Sobald er von mir vernahm, wo mich's drücke . . . ich erzählte ihm ein Märchen von Kriegsunglück . . . sprach er mir zu: Wohlan, Günther von der Weide! Leute Deines Schlages kann ich brauchen. Tritt in mein Gefolge, Dich soll's nicht gereuen! . . . Das war der Freiherr Jörg von Ende; ihm folgte ich. In manchem Fürstenschloß war nicht so viel Wohlleben und Pracht, als auf der Burg Grimmenstein . . . Nicht alles ist Gold, was glänzt, sagt's Sprüchwort. Der Freiherr lebte in unglücklicher Ehe und täglichem Streite mit seinem Weibe und den Verwandten desselben. Jörg war ein edler Mensch, aber reizbar, stürmisch, jähzornig; seine Gemahlin hingegen ein Ausbund alles Schlechten, verlogen, verbuhlt, rachsüchtig und verschmitzt. Sie lebte mit einem jungen Edelknecht, der Konrad genannt wurde, in heimlicher Unzucht. Sie wiegelte nicht nur ihre Brüder gegen den Freiherrn auf, sondern stiftete selbst zwischen ihm und seinen eigenen Blutsverwandten tödliche Feindschaft. Er aber, dessen wilden Zorn alle im Hause fürchteten, hatte Händel mit sämtlichen Nachbarn weit umher, und damals, als ich zu ihm kam, noch dazu eine Fehde mit einigen Reichsstädten. Sein böses Weib wünschte ihm von Herzen den Untergang. Jörg gewann mich lieb. In manchem blutigen Strauß stand ich ihm wacker zur Seite und er beschenkte mich aus jeder gemachten Beute fürstlich. Ich wußte mich in seine Launen zu schicken, vermochte sein Auffahren zu ertragen . . . ich wurde sein Freund, sein einziger in der Welt, mir vertraute er alles. Nun begab sich ein großes Unglück. Es war im Frühjahr 1416, daß sich Junker Jörg nach Konstanz begeben hatte, um mit einigen Prälaten und Herren der Kirchenversammlung Unterredung zu pflegen. Er wohnte aber daselbst in großer Heimlichkeit und niemand war mit ihm, als Konrad, der Edelknecht; denn er hatte Fehde mit der Stadt. Am Palmsonnabende erhob sich große Klage in der Stadt, es hätten die Diener des Freiherrn von Ende ein Schiff auf dem Bodensee aufgefangen, darin viel Korn und anderes Gut gewesen, das denen von Feldkirch, Konstanz und anderen Leuten gehört habe. Zuvor schon hätten des Freiherrn Diener einige geistliche Personen, Bischöfe und Äbte, die zur Kirchenversammlung reisen wollten, auf den Landstraße angerannt und beleidigt. Der Lärmen in Konstanz war groß. Da ging Konrad, der Edelknecht, niederträchtigerweise hin und verriet seines Herrn Aufenthalt. Konrad entwich dann aus der Stadt über den See; man eilte ihm jedoch nach, fing ihn und ertränkte ihn im See mit Harnisch und Gewand.«
»Wohlgethan!« rief Isenhofer dazwischen.
»Als die Botschaft nach Grimmenstein kam, daß die von Konstanz über den Junker Hochgericht halten wollten,« fuhr Rüdiger fort, »spottete die Freifrau, und sagte: So ist der Wolf in der Falle! Ich glaube noch heute, daß dies Weib, in Abwesenheit ihres Gemahls, ihm zu Leid den bösen Handel angestellt habe; denn er selbst wußte von dem Vorgefallenen nichts. Ehren halber gingen einige seiner Freunde nach Konstanz, für sein Leben zu bitten, und ich gesellte mich zu ihnen. Sie erreichten es beim Rat zu Konstanz ohne große Mühe, daß sein Leben gefristet, seine Burg Grimmenstein aber den Konstanzern überantwortet und zerstört werden solle, Bis dahin müsse er gefangen in der Stadt bleiben und nachher Urfehde schwören, weder den Leuten von Konstanz noch anderen Reichsstädten ein Leides zuzufügen. Als wir in den Turm traten, dem Junker dieses harte Urteil zu überbringen, geriet er in erschreckliche Wut über seine Dienerschaft und über den Rat von Konstanz; doch mußte er sich darin ergeben. Da seine Blutsfreunde von ihm gingen, behielt er mich allein bei sich und sagte. Sie sind allesamt Verräter und Schelmen, die mich verderben wollen; es soll ihnen aber nicht gelingen. Ich habe wohl noch so viel, daß ich mehr als zwei neue Schlösser, wie Grimmenstein, erbauen kann . . . Dann fiel er mir um den Hals und sagte: Mein lieber Freund Günther! Auf Dich allein setze ich meine Zuversicht, Du kannst mich retten. Schwöre mir vor Gott, daß Du gehorsam und verschwiegen sein wollest; ich möchte Dir etwas wichtiges vertrauen . . . Darauf schwor ich auf den Knieen einen Eid, nach seinem Willen zu thun.«
Hier hörte der greise Rüdiger auf zu erzählen; er faltete seine Hände krampfhaft zusammen; seine Augen waren halb geschlossen, der Ausdruck seines Gesichtes schmerzhaft verzogen. Seine Brust bewegte sich, als wenn er weine: doch entkam seinem Auge keine Thräne. Herr Isenhofer, welcher das Wort »Meineid« von seinen Lippen zu hören glaubte, betrachtete den alten Mann mit Grausen und Mitleid, doch wagte er nicht, denselben durch ein Wort zu stören. Erst nach geraumer Zeit sammelte sich der Greis und sagte:
»Nun, Meister, Du sollst ja alles wissen . . . Der Freiherr offenbarte mir nun, er besitze eine Truhe, nicht nur voll geprägten und ungeprägten Goldes, sondern auch zum Teil mit Perlenschmuck und edeln Steinen gefügt. Er bezeichnete den heimlichen Ort in der Burg, wo der Schatz wohl verborgen und verwahrt war, und sagte: Eile nach Grimmenstein und bemächtige Dich der Truhe: bringe sie anher, und wäre ich noch nicht frei, so überantworte Du sie niemandem, am wenigsten meinem Weibe. Du bewahrest sie, bis ich sie selber von Dir fordere, oder der Dir in meinem Namen – hier zog er mir den Ring vom Finger ab – diesen Deinen Ring zurückbringt, den ich bis dahin behalte . . . Nachdem Freiherr Jörg dies gesprochen hatte, eilte ich, seinen Auftrag auszuführen. Ich fand den Schatz von Grimmenstein und hob ihn am Ostertag, kurz zuvor ehe die Veste denen von Konstanz überantwortet wurde. Ich verbarg mich, weil die Gegend unsicher war, in einer Bauernhütte und sah am Dienstag die Flammen aus der Burg aufsteigen. Als ich nach Konstanz kam, sagten sie mir, der Freiherr Jörg von Ende sei freigelassen; doch wisse man nicht, wohin er gekommen sei.«
Rüdiger schwieg hier abermals, als müsse er neue Kräfte schöpfen; dann fuhr er mit niedergeschlagenen Augen und leiser Stimme fort:
»Isenhofer! Da wurde ich vom Teufel versucht und vollständig überwältigt. Ich eignete mir den Schatz zu, floh nach Straßburg, kaufte mir prächtige Kleider, legte meinen falschen Namen ab und kam gar stattlich wieder gen Aarau in die Veste Rore zu meinem Vater. Als dieser von mir erfuhr, daß ich im Kriege reiche Beute gemacht habe, womit ich sein verpfändetes und verschuldetes Gut frei machen könne, wurde er mir sehr hold und gewogen; ließ mich nicht mehr von sich, vermählte mich, und war bis an das Ende seiner Tage ein zärtlicher Vater. Ich aber konnte meines Lebens nicht froh sein. Mein Weib war die zärtlichste Gattin und Mutter, ein Muster christlicher Frömmigkeit. Sie starb heiter, gleich einer Heiligen, und pries das Glück ihres Lebens, das sie in meinen Armen genossen hatte. Ich aber war meiner Tage niemals froh gewesen. Erst zwanzig Jahre nach der Zerstörung des Grimmensteins forschte ich, doch heimlich nur, nach dem Schicksal des Freiherrn Jörg von Ende. Ich durchreiste die Gegenden im Rheinthal; ich sah die Trümmer seiner Veste. Sechzig Mann hatten acht Tage lang arbeiten müssen, um die dicken Mauern zu schleifen. Ich sprach die Verwandten des Freiherrn; sie besaßen sein Gut; das Zubehör von Grimmenstein hatte Ludwig von Ende dem Spital der Stadt St. Gallen verkauft. Niemand wußte, wohin der Freiherr Jörg, der nach Einäscherung seines Schlosses noch einige Jahre auf seinen Gütern am Bodensee gewohnt hatte und dann, nach dem Tode seiner ruchlosen Frau, für immer verschwunden war, gekommen sei. Einige sagten, er sei in ein Kloster gegangen; andere, er sei nach Jerusalem auf die Wallfahrt; noch andere behaupteten, Reisende hätten ihn im Tirol, als Waldbruder, gesehen. Nun aber habe ich mich aufgemacht, ihn zu suchen. Ich weiß, er lebt . . . Gottes Erbarmen ist mit mir, es will nicht des Sünders Tod, sondern meine Erlösung vom Meineide . . . Ja, er lebt! Es ist mir vom Himmel selber offenbaret. Meister Isenhofer, nun weißt Du alles. Bewahre mein Geheimnis! Du willst mein Gefährte sein? Ich suche den betrogenen, verratenen Freund, daß ich ihm das Seine zurückgebe; noch kann ich alles zurückerstatten . . . ich und mein Sohn Gangolf aber sind Bettler. Wir haben nichts mehr, und sollte ich seines Todes sicheres Zeugnis empfangen, so gehört mein Hab und Gut der Kirche: in der Trüllereyen Hand soll kein ungerechtes Gut verbleiben.«
Hier schwieg der Alte. Meister Isenhofer betrachtete ihn, wie er mit in dem Schoß gefalteten Händen und auf die Brust niedergesenktem Haupte, bleich und erschöpft neben ihm saß, und sagte dann:
»Ritter! Euer Meineid, Euer Verbrechen jagte mir einen Schauder ein, doch seid getrosten Mutes. Ihr waret ein arger Sünder; schon jetzt seid Ihr das nicht mehr. Ich helfe Euch den unglücklichen Freund zu suchen und wäre er am Ende der Welt. Indessen müßt Ihr mir doch sagen, woher Ihr wisset, daß er noch lebe . . . denn unter uns gesagt, ich traue den himmlischen Offenbarungen in unsern Zeiten nur halb.«
Rüdiger seufzte auf, gab jedoch keine Antwort.
»Sind bei dieser Offenbarung Geistliche beschäftigt gewesen?« fuhr Isenhofer fort, indem er die Achseln zuckte und die Unterlippe in die Höhe drückte. »Pah! Die Herren treiben, wie Ihr wisset, heutigen Tages in ihrem geistlichen Arzneiladen Handel für das liebe Geld mit allen überirdischen Dingen.«
»Nichts, nichts!« rief Rüdiger heftig. »Jörg von Ende ist mir selber erschienen.«
»Wie, er selber?« fuhr Isenhofer mit Erstaunen auf. »Im Traum?«
»Nicht im Traum,« sagte Rüdiger. »O das war kein Träumen, lebendig war er's. Wie Du hier neben mir, so stand er vor mir im Turm Rore zu Aargau. Noch nicht zwölf Wochen sind seitdem verflossen, da stand er vor mir.«
»Warum aber ließet Ihr ihn von hinnen ziehen, ohne ihm sein Eigentum zuzustellen?« fragte Isenhofer etwas ungläubig. »Warum müssen wir ihn jetzt suchen? Warum scheint Ihr zu zweifeln, ob Ihr ihn je finden werdet? Die Offenbarung ist mir etwas verdächtig. Verzeiht meiner ungläubigen Natur!«
»Isenhofer, Du wirst nicht mehr so sprechen,« sagte der Greis, »wenn Du alles gehöret hast. Seit manchem Jahr schon hatte ich die Edelsteine und das Perlengeschmeide nicht betrachtet; denn ich konnte das nie ohne Zittern. Nun geschah es kürzlich dennoch, es sind noch nicht zwölf Wochen seitdem. Mein Sohn Gangolf war auf der Heimkehr von Paris. Als ich den Reichtum beschaute, geriet ich in schwere Versuchung; der größte Teil des Goldes war zur Zahlung von meines Vaters Schulden verwendet worden; doch der übrige Schatz, wem gehörte er? Es gelüstete mich, ihn mir anzueignen; meinem Hause dafür Zehnten und Bodenzinse oder eine Herrschaft zu kaufen, auf daß die Falkensteine sähen, Gangolf sei kein armer Ritter, der sich von ihnen müsse füttern lassen. Doch gelobte ich der heiligen Jungfrau in der Kapelle der Klosterfrauen zu Aarau den schwersten Perlenschmuck dafür, daß sie meine Fürbitterin bei Gott werden möge. Ich schrieb der Priorin und dem Konvent der Klosterfrauen wirklich den Übergabebrief und gedachte ihn folgenden Tages selber ins Kloster zu tragen. Darüber war es Nacht geworden. Als ich zu Bett gegangen und noch nicht fest eingeschlafen war, wurde ich durch ein Geräusch in der Stube aus dem Halbschlummer geweckt. Ich hörte deutlich mich bei meinem falschen Namen und von einer bekannten Stimme rufen: Günther von der Weide! . . . Ich erschrak über die Maßen, hielt die Augen verschlossen, und fing an zu frieren. Ich wollte mir selber einreden, es sei Traumwerk; wurde aber darauf noch einmal gerufen, viel heller, als das erste Mal. Die Stimme hallte im Turm wider. Beim dritten Ruf aber konnte ich mich selbst nicht mehr täuschen. Der Mund dessen, der mich beim falschen Namen nannte, war hart vor meinem Ohr; ich fühlte seinen eiskalten Atemzug . . . ich fühlte . . . seine eiskalte Hand fühlte ich, wie sie sich in meine Brust tief einkrallte, als wollte sie mir das Herz aus der Brust reißen. Ich that einen Schrei vor Schmerz und sprang aus dem Bette. Der Mond, im letzten Viertel, leuchtete hell über den Hungerberg in mein Gemach.«
Isenhofer lächelte mitleidsvoll und hätte den Greis, dessen Gesicht immer verstörter erschien, gern beruhigt.
»Laßt's gut sein,« sagte er. »Also doch zuletzt ein schwerer Traum und nichts weiter.«
»Ein schwerer Traum?« entgegnete der alte Rüdiger, nestelte dabei Wamms und Leibchen auf, entblößte weit die breite Brust und deutete mit dem Finger auf die Gegend des Herzens. Hier sah man noch die Stelle blaugelb unterlaufen, und ringsum fünf Wunden, wie von den Fingernägeln eines Mannes eingeschlagen; alle hatten geblutet und waren vom verhärteten Blute noch deutlich gezeichnet. Genau ließ sich die Stelle, wo der Daumennagel gelegen hatte, durch die größere Narbe und ihre gleichweite Entfernung von den vier übrigen Wundmalen erkennen. »Heißt das träumen?« sagte der Alte mit gedämpfter Stimme und bedeckte sich die Brust wieder.
Isenhofer wurde wunderbar zu Mute; seine Augen konnten ihn nicht täuschen und er wollte doch, seinen Augen zu Gefallen, nicht den Verstand weggeben.
»Nun sah ich ihn selber,« fuhr Rüdiger fort. »Jörg von Ende saß auf der Eisenkiste, worin die Truhe mit dem Schatze lag. Der Mond beschien seine eine Seite so klar, daß ich jedes Zucken seiner Mienen, jedes Haar seines Kopfes deutlich sah. Ich bin kein Furchtsamer, doch bei dem Anblick empfand ich, daß sich mein Haupthaar vor Entsetzen emporsträubte. Darauf streckte er die Hand in den Mondschein aus und sagte: Kennst Du den hier noch, Günther? . . . Er zeigte mir meinen Ring, mit dem grünen Smaragd darin, den er mir in Konstanz vom Finger gezogen hatte, und drehte ihn links und rechts im Licht des Mondes. Ich erkannte meinen Ring. Dann steckte er denselben wieder an seine linke Hand und sagte: Keinen Stein, keine Perle sollst Du von meinem Eigentum vergeuden, meineidiger Günther, oder ich fordere Dir Deine Seele ab. Bilde Dir morgen nicht ein, ich sei nicht bei Dir gewesen . . . morgen hast Du zum Wahrzeichen diesen Ring an der Hand. Wo ich bin, sage ich Dir nicht. Es ist an Dir, Meineidiger, mich zu suchen; ich habe Dir nun den Sündenfrieden aus der Brust gerissen . . . Als ich dies hörte, ging ich zitternd zu ihm, kniete vor meinem alten Herrn und Freunde nieder und sagte: Seid Ihr es denn wirklich selber, oder ists Euer abgeschiedener Geist, der wegen des Schatzes umgeht? . . . Er aber hob seinen Fuß gegen meine Brust, und stieß mich mit solcher Gewalt, daß ich weit zurückflog und, mit dem Gesicht gegen die Mauer geschmettert, die Besinnung verlor. Ich lag des folgenden Morgens noch am Erdboden, als ich mein Bewußtsein wieder erhielt; ich fühlte mich sehr schwach. Die Dielen des Gemaches waren weit umher mit Blut beflossen; mein Gesicht war blutig; ich hatte den Schmerz der Wunden auf der Brust. In meinem Gemach lag alles unbegreiflich umhergestreut und die Übergabeschrift fand ich zerrissen in meinem Blute.«
Isenhofer schüttelte, als der Alte schwieg, den Kopf, wie einer, der mit sich selber uneins ist. »Indessen könnte es doch ein Traum, ein Delirium mit dunkelm Bewußtsein gewesen sein,« sagte er zu Herrn Rüdiger. »Euer Geblüt mochte vom Gedanken an die vergangene Zeit vom Schreiben und Nachdenken erhitzt sein. Ihr fühltet Fieberangst, hörtet Stimmen, empfandet Schmerz, kralltet vielleicht bewußtlos unter krankhaftem Weh Eure eigene Faust in Euer Fleisch, spranget aus dem Bette, träumtet mit offenen Augen, richtetet die Zerstörung an, während Euch die Einbildungskraft im Fieberwahn Gespenster zeigte, bis Ihr in einer Art Betäubung Euch das Gesicht an der Wand zerschluget und in starker Verblutung ohnmächtig hinfielet. Es könnte doch sein, Herr Ritter, denn Krankheitszustände dieser Gattung gehören nicht zu den unerhörten.«
Der Alte verneinte dieses mit stillem Kopfschütteln; er hob die Hand und zeigte an derselben einen dicken goldenen Ring, in dessen Kästlein ein grüner, zierlich geschliffener Smaragd mit der Trüllerey Wappen zu sehen war. »Da ist der verheißene wieder an meiner Hand,« sagte Herr Rüdiger. »Vor achtundzwanzig Jahren zog ihn mir Jörg von Ende vom Finger, jetzt trage ich ihn wieder.«
Verblüfft starrte der weltkluge Waldshuter bald den verhängnisvollen Ring, bald den Nachbar an. Sein Verstand quälte sich vergebens, den Knoten des grauenvollen Rätsels zu lösen, und er behielt doch die feste Überzeugung, daß hier Selbsttäuschung oder Betrug obwalte. In diesem Widerspruch mit sich verzog er die Miene zum Lachen über sich selber. Rüdiger bemerkte es mit verdrießlichem Blicke und sagte:
»Du zweifelst noch an der Wahrheit?«
»Verzeiht, Herr Ritter.« antwortete Isenhofer. »Mein eigener Verstand wird mir lächerlich, wie ein Schulbube, der vor einem Taschendiebe mit Entsetzen Reißaus nimmt. Seid Ihr gewiß, daß Ihr in jener Nacht den Jörg von Ende und keinen andern bei Euch sahet? Woran erkanntet Ihr ihn sogleich und so bestimmt?«
»An seinen Geberden, an seiner Stimme, ich möchte sagen, an seiner Kleidung sogar,« antwortete Rüdiger. »Er war ganz so, wie ich ihn immer gesehen hatte.«
»Nun denn,« schrie Isenhofer lebhaft, »so konnte das der Freiherr nicht sein, sondern Eure Einbildungskraft entlehnte dessen Gestalt aus Eurem Gedächtnis. Bedenket Ihr nicht, daß der Mann, welcher vor achtundzwanzig Jahren erst fünfunddreißig alt war, jetzt ein Greis von dreiundsechzig sein müsse?«
Herr Rüdiger wurde durch diese einfache Bemerkung sehr überrascht. Er schaute ein Weilchen sinnend, und an sich selber irre geworden, ins Blaue hinaus, dann sagte er halblaut: »Aber dieser Ring, er ist doch wahrhaft der, welchen ich dem Freiherrn einst gegeben.«
»Und Ihr hattet ihn morgens nach der Erscheinung am Finger?« fragte Isenhofer.
Der Ritter antwortete: »Das nicht, aber am Abend desselben Tages, als ich unter der Pforte meines Turmes stand, stürzte ein häßliches Zigeunerweib in den Freihof, das von den Stadtknechten verfolgt wurde, weil es ein Huhn gestohlen hatte. Wegen so unehrbarer Sache wollte ich der Hexe keine Freistatt gewähren; sie aber betrachtete mich scharf mit den schwarzen Augen und sagte: Sei gegrüßt, Herr Günther von der Weide! Wenn Du mich aus dem Freihof stößest, hast Du Dein Glück verstoßen. Du kennst mich nicht, aber ich Dich an der Schramme über der linken Augenbraue. Weißt Du, wir sahen uns im alten Bauernhause, da Du die Truhe von Grimmenstein verstecktest und das Schloß des Jörg von Ende abbrannte. . . . Isenhofer! Da erstarrte ich, als das Weib solches sprach. Es nahm meine Hand und betrachtete darin die Linien und sagte: Du suchst Verlorenes, ich bringe es Dir, wenn Du mich verbirgst und aus den Händen der Verfolger rettest. Du hast Kummer, ich kenne das Kräutlein dafür . . . Ich verbarg darauf die Egypterin in einer verborgenen Kammer des Turmes. Da fragte ich: Wenn Du wahr redest, so zeige mir das Verlorene, was ich suche . . . Sie übergab mir grinsend den Ring, welchen sie in einem Walde bei Winterthur gefunden zu haben vorgab, und als ich in sie drang, mir zu sagen, von wem sie wisse, daß er der meinige sei, sagte sie: Vom Wappen über der Pforte des Freihofes.«
»Die Diebin hat ihn gestohlen,« rief Isenhofer, »doch ein seltsamer Zufall . . . oder wenn Ihr lieber wollt, ein Werk der ewigen Vorsicht ist's, daß Euch der Goldreif zukam, während Ihr die Nacht zuvor im Rausche des Fiebers Dinge träumtet und sahet, welche Euch beinahe schon dreißig Jahre lang gefoltert hatten.«
»Nenne es, Meister, wie Du willst,« sagte Herr Rüdiger, »hier ist aber eine furchtbare Hand geschäftig! Auch ich glaubte, die Zigeunerin habe den Ring entwendet, und wem anders, als dem Freiherrn Jörg? Sie leugnete beharrlich, selbst als ich mit Folter und Galgen drohte; doch behauptete sie, ihm noch vor mehreren Monaten in Eglisau begegnet zu sein, und, wenn ich ihr zur Freiheit helfe, ihn zu finden; denn das sei mein Kummer, dafür sie das Kräutlein kenne.«
Ungläubig lächelte Isenhofer und sagte: »Ich kenne dies Gesindel, es lebt vom Wahrsagen, aber nicht vom Wahrreden.«
»Doch ich muß dem Weibe vertrauen,« entgegnete Rüdiger, »denn es hat mir viele Geheimnisse entdeckt. Dessenungeachtet kann ich mir vorstellen, wie dies egyptische Volk, das überall umherzieht, alles erforscht und erspähet, und sich auf Kreuzwegen, in Feld und Wald begegnet, was es wissen will leichter denn wir anderen auskundschaftet.«
»Wo ist die Zigeunerin geblieben?« fragte Isenhofer. »Ihr ließet sie entwischen? Die Hexe weiß ohne Zweifel mehr vom Freiherrn Jörg, als sie für gut fand, Euch zu sagen.«
»Ich gab ihr die Freiheit, nachdem ich sie lange verpflegt hatte,« erwiderte der Ritter. »Entdeckt sie den Aufenthalt des Freiherrn, hat sie ein reiches Geschenk zu erwarten. Sie weiß mich jederzeit zu finden, so wie auch Gangolf in Aarau von meinem Aufenthalt stets Nachricht hat. Beim Heere der Eidgenossen vor Rapperswyl, wo ich den unglücklichen Jörg suchte, wie auch im Lager vor Greifensee ist er nicht. Doch habe ich Spuren, er wäre in ein schwäbisches Kloster gegangen. Dahin will ich jetzt. Für mich ist auf Erden keine Rast, es drängt und treibt mich Tag und Nacht; ich bin unstät, gleich dem ersten Brudermörder. Und erhalte ich Gewißheit vom Tode des Freiherrn, dann bleibt mir nichts übrig, als der Zug nach Rom.«
Hier schwieg der Greis, welchen seine alte Bangigkeit wieder zu überfallen schien. Er schloß seine dürren Hände krampfhaft in einander und starrte mit erstorbenen Blicken vor sich hin. Isenhofer verfiel in ein langes Nachdenken über die seltsame Begebenheit, welche ihn zum Gewerbe der irrenden Ritterschaft einlud. Er bemerkte wohl, daß der alte Herr durch die Vorwürfe des Gewissens krank am Gemüte geworden, dabei, wie jeder Unglückliche, abergläubisch sei, und nicht immer die kürzesten Wege zum Ziele wähle.
»Euer Geheimnis bleibt und stirbt mit mir,« sagte er endlich zum Ritter. »Ich verlasse Euch nicht, bis Ihr getröstet seid, aber, alles wohl erwogen, gewährt mir eine Bitte: beurlaubt mich bis zum dritten Tage. Ich mache eine Reise nach Aarau zu Gangolf, um mancherlei mit ihm zu bereden. Sobald ich zurückgekehrt sein werde, lasset uns vor allen Dingen von hier ins Rheinthal und nach Schwaben gehen, um sämtliche nahe und ferne Verwandte und Bekannte des Freiherrn Jörg von End wiederholt auszuforschen, und erst dann als fahrende Ritter in der weiten Welt umherkreuzen. Ich wette, wir treffen, was wir jagen, ohne Hilfe der Zigeuner.«
Herr Rüdiger willigte nach einigen Bedenken in die Vorschläge und sie kehrten über die Wiesen zu Elsens Hütte zurück. Hemman Enderli führte bald darauf Isenhofers Pferd gesattelt vor, und der Meister von Waldshut eilte durch das Hügelland den Ufern der Limmat zu.