Stefan Zweig
Amerigo. Die Geschichte eines historischen Irrtums
Stefan Zweig

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Die Dokumente mengen sich ein

Im siebzehnten Jahrhundert ist Amerigo Vespucci ein erledigter Mann. Der Streit um seinen Namen und um seine Tat oder Untat scheint endgültig erledigt. Er ist entthront, des Betrugs überführt und – trüge nicht Amerika seinen Namen – zu schmachvoller Vergessenheit bestimmt. Aber es beginnt ein anderes Jahrhundert, das nicht mehr bloßem Gerede von Zeitgenossen und überlieferten Gerüchten Glauben schenken will. Geschichtsschreibung wird allmählich aus einem bloßen Chronistentum eine kritische Wissenschaft, welche alle Tatsachen zu überprüfen, alle Zeugnisse zu revidieren sich zur Aufgabe setzt, aus allen Archiven werden die Dokumente geholt, untersucht und verglichen, und so ist es unvermeidlich, daß auch der alte und scheinbar längst entschiedene Prozeß Columbus versus Vespucci wieder aufgenommen wird.

Den Anfang machen seine Landsleute. Sie wollen es nicht wahrhaben, daß der Name dieses Florentiners, dessen Ruhm so lange den ihrer Vaterstadt über die Welt getragen, an den Schandpfahl genagelt bleibe, sie fordern als erste gründliche und unparteiische Revision. Der Abbate Angelo Maria Bandini veröffentlicht 1745 die erste Biographie des florentinischen Seefahrers, ›Vita e lettere di Amerigo Vespucci‹. Ihm gelingt es, eine Reihe Dokumente zutage zu fördern; Francesco Bartolozzi schließt sich ihm 1789 mit neuen ›Ricerche istorico-critiche‹ an, und die Resultate scheinen den Florentinern derartig ermutigend für die Rehabilitierung ihres Landsmanns, daß der Padre Stanislas Canovai in einer Akademie eine feierliche Lobrede zugunsten des Verleumdeten »celebro navigator« hält, ›Elogio d' Amerigo Vespucci‹. Gleichzeitig beginnt man in den spanischen und portugiesischen Archiven Nachschau zu halten, man wirbelt viel Aktenstaub auf, und je mehr man aufwirbelt, um so weniger klar sieht man.

 

Am unergiebigsten sind die portugiesischen Archive. Kein Wort über eine der beiden Expeditionen, die Vespucci begleitet haben soll. Keine Erwähnung seines Namens in den Rechnungsbüchern. Keine Spur von jenem »zibaldone«, seinem Reisetagebuch, das er nach seiner Aussage dem König Manuel von Portugal eingehändigt hat. Nichts. Keine Zeile, kein Wort. Und einer der grimmigsten Gegner Vespuccis erklärt dies sofort als gültigen Beweis, daß Amerigo demnach seine beiden Reisen »auspiciis et stipendio Portugallensium«, »unter Förderung und Finanzbeihilfe Portugals«, einfach erlogen habe. Aber das ist selbstverständlich ein schwachbeiniger Beweis, wenn über einen einzelnen Mann, der Expeditionen weder ausgerüstet noch kommandiert hat, sich nach dreihundert Jahren keine Akten mehr vorfinden. Der größte Portugiese, der Ruhm seiner Nation, Luiz de Camões, ist sechzehn Jahre in portugiesischen Diensten gestanden, er wurde verwundet im Dienste des Königs, und keine amtliche Zeile tut dessen Erwähnung. Er wurde verhaftet und eingekerkert in Indien, aber wo sind die Akten, ja sogar nur die Fakten des Prozesses? Auch über seine Fahrten findet sich keine Zeile, und ebenso ist das Tagebuch Pigafettas von der doch noch denkwürdigeren Magalhães-Fahrt verschwunden. Wenn also der dokumentarische Ertrag in Lissabon über die wichtigste Epoche in Vespuccis Leben gleich Null ist, so kann man nur erinnern: es ist genau so viel, wie wir von den afrikanischen Abenteuern des Cervantes, den Reisejahren Dantes, der Theaterzeit Shakespeares aus Archiven wissen. Und doch hat Cervantes gekämpft, ist Dante von Land zu Land gewandert und Shakespeare hundertemale auf der Bühne erschienen. Selbst Akten sind nicht immer ein gültiger Beweis, und noch weniger das Fehlen von Akten.

 

Gewichtiger sind die Florentiner Dokumente. Es werden von Bandini und Bertolozzi drei Briefe Vespuccis an Lorenzo di Medici im Staatsarchiv aufgefunden. Es sind keine Originale, sondern spätere Abschriften einer Kollektion, die sich ein gewisser Vaglienti anlegte, der alle Nachrichten, Briefe und Publikationen über die neuen Entdeckungsreisen in chronologischer Reihenfolge kopierte oder sich kopieren ließ. Von diesen Briefen ist einer unmittelbar auf der Rückkehr von der dritten – der ersten im Auftrage des Königs von Portugal unternommenen – Reise von Kap Verde aus geschrieben. Der zweite Brief enthält dann ausführlichen Bericht über diese sogenannte dritte Reise und damit in Substanz alles, was im ›Mundus Novus‹ nachher veröffentlicht ist, außer gewissem – sehr verdächtigem – literarischem Aufputz jener Veröffentlichung. All das scheint eine blendende Rechtfertigung der Wahrheitsliebe Vespuccis zu bedeuten: wenigstens seine sogenannte dritte Reise – diejenige, die ihn zuerst durch den ›Mundus Novus‹ berühmt gemacht – ist nun unwidersprechlich erhärtet, und man könnte ihn schon rühmen als unschuldiges Opfer grundloser Verleumdung. Aber da findet sich noch ein dritter Brief an Lorenzo di Medici, in dem er – verdammt ungeschickter Mann! – die erste Reise von 1497 als die von 1499 schildert, also genau das zugibt, was ihm seine Gegner vorgeworfen haben, nämlich daß er in der gedruckten Ausgabe seine Reise um zwei Jahre vordatiert hat. Durch diesen seinen eigenen Bericht ist unwiderleglich dargetan, daß er oder irgend jemand anderer aus einer Reise zwei fabriziert hat, und daß der Anspruch, als erster das amerikanische Festland betreten zu haben, frech – und dazu noch ungeschickt – erschwindelt ist. Las Casas' grimmiger Verdacht ist jetzt unwiderleglich wahrgemacht. Diejenigen, die Vespucci als wahrheitsliebenden Mann retten wollen – seine rabiatesten Verteidiger und seine Landsleute in der »Raccolta Columbiana« –, haben keinen anderen Ausweg mehr als den letzten und verzweifeltsten: diesen Brief als eine nachträgliche Fälschung zu erklären.

Wir gewinnen also von den Florentiner Dokumenten abermals das uns schon vertraute Doppelbild von Vespucci, dem ewigen Zwielichtmann: einerseits einen Mann, der in seinen privaten Briefen redlich und bescheiden an seinen Geschäftsherrn Lorenzo di Medici den richtigen Tatbestand berichtet. Und einen zweiten Vespucci der gedruckten Bücher, den Mann des großen Ruhms und des großen Ärgernisses, der sich lügnerisch Entdeckungen und Reisen berühmt, die er nie gemacht hat, und der durch diese Großsprecherei erreichte, daß ein ganzer Erdteil mit seinem Namen getauft wurde. Je weiter der Knäuel der Irrtümer durch die Zeit rollt, um so mehr verwickelt er sich.

 

Und sonderbar: genau, aber genau dieselbe Divergenz der Tatsachen ergeben die spanischen Dokumente. Man erfährt aus ihnen, daß Vespucci 1492 nicht als großer Gelehrter, nicht als vielgereister Seemann nach Sevilla gekommen, sondern als unbeträchtlicher Angestellter, als »factor« des Kaufhauses Juanoto Beraldi, das eine Art Filiale der Medici-Bank in Florenz war und sich meist mit Ausrüstung von Schiffen und Finanzierung von Expeditionen befaßte. Das stimmt zunächst übel zum Nimbus, daß Vespucci als Führer verwegener Entdeckungsfahrten schon 1497 von Spanien ausgefahren sei. Und noch schlimmer: von dieser angeblichen ersten Reise, mit der er Columbus in der Entdeckung des Festlands zuvorgekommen wäre, findet sich in allen Dokumenten nicht die geringste Spur, und somit ist beinahe sicher, daß er im Jahre 1497, statt wie in seinen ›Quatuor Navigationes‹ behauptet ist, die Küsten Amerikas zu erforschen, in Wirklichkeit als emsiger Kaufmann in seinem Kontor in Sevilla gesessen hat.

Wiederum scheinen jetzt alle Anschuldigungen gegen Vespucci dokumentarisch gerechtfertigt. Aber sonderbar: in denselben spanischen Akten finden sich gleichzeitig Beweise, die ebenso überzeugend für Vespuccis Rechtschaffenheit sprechen, wie die andern für freche Großsprecherei. Da ist eine Naturalisierungsurkunde, die Amerigo de Vespucci am 24. April 1505 zum spanischen Bürger macht »für die guten Dienste, die er der Krone erwiesen und die er ihr noch erweisen wird«. Da ist am 22. März 1508 die Ernennung zum »piloto mayor« der Casa de Contratación, zum Leiter des ganzen nautischen Dienstes in Spanien, die ihn anweist, »die Steuermänner im Gebrauch der Meßinstrumente, des Astrolabiums und der Quadranten zu instruieren und sie zu prüfen, ob sie die Theorie gehörig mit der Praxis zu verbinden wüßten«, da ist der königliche Auftrag, einen »padrón real«, eine Weltkarte, anzufertigen, welche in endgültiger Weise alle neuentdeckten Küsten verzeichnen solle, und die von ihm beständig ergänzt und verbessert werden soll. Ist es nun denkbar, daß die spanische Krone, die doch über die ausgezeichnetsten Seeleute der Zeit verfügte, zu einem so verantwortungsvollen Posten jemanden berufen würde, der durch Aufschneidereien und Bücher über erfundene Fahrten jeder moralischen Verläßlichkeit entbehrte? Ist es wahrscheinlich, daß der Nachbarkönig von Portugal gerade diesen Mann eigens in sein Land berufen würde, um zwei Flotten nach Südamerika zu begleiten, wenn sich nicht Vespucci schon vordem einen besonderen Ruf als nautischer Fachmann erworben hätte? Und ist es nicht ein Zeugnis für seine Rechtschaffenheit, wenn Juanoto Beraldi, in dessen Hause er durch Jahre gearbeitet hat, und der demnach das beste Urteil über seine menschliche Verläßlichkeit haben müßte, auf dem Totenbett just ihn als Exekutor seines Testaments und Liquidator seiner Firma einsetzt? Abermals begegnen wir demselben Kontrast: wo immer eine Urkunde über das Leben Vespuccis vorliegt, rühmt sie ihn als ehrlichen, verläßlichen, kenntnisreichen Mann. Und wo immer wir eine Druckschrift von ihm zur Hand nehmen, finden wir Großsprecherei, Unwahrheiten und Unwahrscheinlichkeiten.

Aber kann man nicht ein trefflicher Seefahrer sein und zugleich ein wilder Aufschneider und Übertreiber? Ist es nicht möglich, ein guter Kartenzeichner zu sein und gleichzeitig ein neidischer Charakter, ja gilt Fabelei nicht seit Jahrhunderten als ein Seemannslaster und Mißgunst für nachbarliche Leistung geradezu als eine Fachkrankheit der Gelehrten? Somit brächten alle diese Dokumente Vespucci keinen Beistand gegen die entscheidende Beschuldigung, dem großen Admiral Amerikas Entdeckung heimtückisch wegeskamotiert zu haben.

Aber da erhebt sich eine Stimme aus dem Grab, um für Vespuccis Rechtschaffenheit zu sprechen. Und gerade derjenige tritt als Zeuge in dem großen Prozeß Columbus versus Vespucci an Vespuccis Seite, den man am wenigsten als seinen Eidhelfer erwartet hätte: Christophoro Colombo selbst. Ganz kurz vor seinem Tode, am 5. Februar 1505 – also zu einer Zeit, da der ›Mundus Novus‹ längst in Spanien bekannt sein mußte –, richtet der Admiral, nachdem er schon in einem früheren Schreiben Vespucci als seinen Freund gerühmt, an seinen Sohn Diego den folgenden Brief:

»5. Februar 1505.

Mein lieber Sohn,

Diego Méndez ist am Montag, den 3. dieses Monats von hier abgereist. Seit seiner Abreise habe ich mit Amerigo Vespuchy gesprochen, welcher sich an den Hof begibt, wohin er berufen worden ist, um wegen einiger auf die Seefahrt bezüglicher Gegenstände zu Rate gezogen zu werden. Er hat stets den Wunsch bezeugt, mir angenehm zu sein (él siempre tuvo deseo de me hacer placer), es ist ein rechtschaffener Mann (mucho hombre de bien). Das Glück ist ihm unfreundlich gewesen wie vielen anderen. Seine Mühen haben ihm nicht den Vorteil gebracht, den er mit Recht erwarten konnte. Er geht dorthin (an den Hof) mit dem lebhaften Wunsch, für mich bei gebotener Gelegenheit (si a sus manos está) etwas Günstiges (que redondea mi bien) zu erwirken. Ich weiß von hier aus nicht, ihm genauer anzugeben, worin er uns von Nutzen sein könnte, weil ich nicht weiß, was man von ihm will. Aber er ist entschlossen, zu meinen Gunsten alles zu tun, was ihm zu tun möglich ist.«

Dieser Brief ist eine der überraschendsten Szenen in unserer Komödie der Irrungen. Die beiden Männer, die sich der Unverstand dreier Jahrhunderte immer nur als erbitterte Rivalen vorgestellt, die mit verbissenen Zähnen um den Ruhm kämpften, das neue Land nach sich benannt zu wissen, waren in Wirklichkeit herzliche Freunde! Columbus, dessen mißtrauischer Charakter ihn mit fast allen Zeitgenossen in Konflikt brachte, rühmt Vespucci als langjährigen Helfer und macht ihn zu seinem Anwalt bei Hofe! Sie haben also beide – dies zweifellos der historische Sachverhalt – nicht die leiseste Ahnung gehabt, daß zehn Generationen von Gelehrten und Geographen ihre Schatten gegeneinander hetzen würden in einem Kampf um den Schatten eines Namens. Daß sie Gegenspieler sein sollten in einer Komödie der Irrungen, der eine als der lautere Genius, der von dem andern, dem tückischen Schurken, bestohlen wird. Selbstverständlich kannten sie beide das Wort »Amerika« nicht, um das dieser Streit aufgezäumt werden sollte, weder Columbus ahnte, daß seine Inseln, noch Vespucci, daß die Küste Brasiliens diesen gewaltigen Kontinent hinter sich barg. Männer von gleichem Metier, beide vom Glück nicht verwöhnt, beide ihres unermeßlichen Ruhms nicht bewußt, verstanden sie einander besser als die meisten ihrer Biographen, die in unpsychologischer Weise ihnen eine damals völlig unmögliche Bewußtheit ihrer Leistung unterschoben: wieder einmal wie so oft zerschlägt hier die Wirklichkeit eine Legende.

 

Die Dokumente haben zu sprechen begonnen. Aber gerade mit ihrer Auffindung und Ausdeutung lodert die große Diskussion um Vespucci nur noch heftiger auf, nie sind zweiunddreißig Seiten Text mit solcher Akribie psychologisch, geographisch, kartographisch, historisch, drucktechnisch auf ihre Glaubwürdigkeit durchackert worden wie die Reiseberichte Vespuccis. Aber das Resultat ist, daß die streitenden Geographen ihr Ja und Nein, Schwarz und Weiß, Entdecker oder Betrüger jeweils mit gleicher Sicherheit und mit angeblich gleich untrüglichen Beweisen verfechten. Ich stelle hier nur flüchtig zur Erheiterung zusammen, was die verschiedenen Autoritäten in dem letzten Jahrhundert in ihren Thesen über Vespucci behaupteten: Er hat die erste Reise mit Pinzón gemacht. Er hat die erste Reise mit Lepe gemacht. Er ist auf seiner ersten Reise mit einer unbekannten Expedition gesegelt. Er hat überhaupt keine erste Reise gemacht, sie ist erfunden und erlogen. Er hat auf der ersten Reise Florida entdeckt. Er hat gar nichts entdeckt, weil er die Reise gar nicht gemacht hat. Er hat den Amazonenstrom als erster gesehen. Er hat ihn erst auf seiner dritten Reise gesehen und ihn früher mit dem Orinoco verwechselt. Er hat die ganzen Küsten Brasiliens bereits bis zur Magalhãesstraße bereist und benannt. Er hat sie nur zum kleinsten Teil befahren, und die Namen waren vor ihm längst gegeben. Er war ein großer Seefahrer. Nein, er hat nie ein Schiff, nie eine Expedition kommandiert. Er war ein großer Astronom. Niemals – alles was er über die Sternbilder schrieb, ist Unsinn. Seine Daten sind richtig. Seine Daten sind falsch. Er war ein bedeutender Pilot. Er war nichts als ein »beefcontractor« und ein Ignorant. Seine Angaben sind zuverlässig. Er ist ein professioneller Schwindler, Gaukler und Lügner. Er ist nach Columbus der erste Entdecker und Seefahrer seiner Zeit. Er ist eine Ehre – nein, er ist eine Schande der Wissenschaft. Alles dies wird in den Schriften zu seinen Ungunsten und zu seinen Gunsten mit gleicher Vehemenz und mit einer Unzahl von sogenannten Beweisen behauptet, belegt und begründet. Und so steht man wie vor dreihundert Jahren wieder genau bei der alten Frage: »Wer war Amerigo Vespucci? Was hat er getan, was hat er nicht getan?« Ist sie zu beantworten? Ist das große Rätsel zu lösen?


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