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ca. 1935
Die Schönheit einer Stadt beruht niemals einzig auf ihrer Architektur, sondern immer auf einem besonderen Verbundensein mit der Natur, auf der gelungenen Vermählung des Menschlich-Schöpferischen mit dem Gottgegebenen, Architektur des Menschen und Dichtung der Natur. Zu dieser Form der Schönheit braucht eine Stadt Verbundenheit nicht nur mit einem Element, sondern mit allen Elementen, mit Wasser, Erde und Luft. Wasser erhöht das Lebendige einer Stadt, als Strom teilt es ab, bringt Schiffe und Flut, als Hafen am Meer Ferne und Bildnis unendlicher Reisen. Die Erde wieder, je mannigfacher und großartiger sie sich ballt zu Hügeln und Bergen, zu Felsen und Schroffen, gibt jeder Architektur erst Hintergrund und Übersicht – eine Stadt ganz im Flachland, ohne Wasser und Berge, kann nie völlig sich zur Schönheit entfalten. Und drittens braucht eine Stadt, um schön zu sein, Luft und Atem – breite Plätze, schöne Prospekte, die ihre Formen voll und plastisch hervortreten lassen.
Diese Bindung mit den Elementen, mit Erde, Wasser und Luft, ist in Salzburg geradezu vorbildlich erfüllt. Vom Süden her wirft sich das mächtigste Felsmassiv Europas, die Alpen, mit einem drohenden Sturz heran. Aber gerade knapp vor Salzburg, ja innerhalb der Stadt selbst, hält mit einem ungeheuren Ruck die gebäumte Felswelle plötzlich inne. Der Untersberg, das Watzmannmassiv, der Göll, zweitausend Meter hohe Berge, umringen wie eine hochgetürmte Felswand den Horizont, aber sie stürzen nicht zerschmetternd hinab in die Tiefe, sondern klingen aus in ein paar kleine milde Hügel, deren zwei, der Mönchsberg und der Kapuzinerberg, selbst schon in der Stadt stehen, umsponnen vom Grün, gezähmt und bewohnt, und hinter dieser letzten ausklingenden Welle beginnt das Flachland, wie ein einziger Teller geht eben dann der Weg bis ans Nordmeer hinauf. Zur rechten Hand muß sich der Blick aufheben zu schneebedeckten Gebirgen und Felsenschroffen, zur linken umfaßt er freie Horizonte bis ins Unendliche hinein – so steht diese Stadt haargenau in der Mitte zwischen zwei Lebenszonen, zwischen zwei Klimaformen, zwischen Bergland und Flachland. Sie kann ganz Südstadt sein und ganz Nordstadt, mit weißvermummten Bergen, kaltklarer, eiskühler Luft, dann klirren Schlitten hinaus ins weiße Land, und von den Bergen und Hügeln sausen die Skier, aber über Nacht wirft sich der Wind, ein föniger Himmel blaut feucht und lau, und sofort wird Salzburg zur Südstadt, mit italienischen Farben, funkelnd, mit weißen Häuserflächen und umbuscht von aufquellenden Gärten, ein letzter Glanz vom Süden her rührt diese erzdeutsche Stadt in solchen Augenblicken an.
Aber auch dem zweiten Element der Schönheit, dem Wasser, ist diese Stadt verbunden. Die Salzach, die meist rasch und schäumend sie durchquert, hat ein nordischer Dichter, Jens Peter Jacobsen, einmal zur Trägerin einer seiner bezauberndsten Novellen gemacht. Es ist ein kleiner, aber ungebärdiger Alpenfluß, der zur Zeit der Schneeschmelze in plötzlichem Zorn aufbrausen kann, ungestüm die Brücken zerschlägt und zahllose Bäume als Beute mit sich schleppt; im Sommer geht er meist still und gelassen, selten aber duldet er mehr als ein Faltboot auf seinem unruhigen Rücken. Doch dieses Wasser ist nicht das einzige belebende Element; ringsum, bis weit ins Salzkammergut hinein und nach Berchtesgaden reihen sich Seen an Seen, flache und bergumrundete, grüne und blaue, große und kleine, nüchterne und romantische, es ist, als hätte die eitle Natur hier unzählige Spiegel ins Grüne geworfen, um ihre Anmut in jedem anders zu betrachten. Und drittes Element der Schönheit: die Luft, der freie Raum. Salzburg ist verschwenderisch gebaut, mächtig die Türme, mächtig die Paläste, herausfordernd groß die Kirchen und vor ihnen die Plätze weiträumig, so daß ihre Höhe und Rundung voll zur Geltung kommen. Zwanzig, dreißig Türme steigen empor aus dieser alten Bischofsstadt, schmale und rund gekuppelte, viereckige und zwiebelig gewölbte, kleine und unscheinbare, die nur wie Mützen aus dem Häuserhaufen hervorlugen, und breite, massive, die an die Peterskirche und ihre Pracht bewußt erinnern wollen – und alle diese vielen Kirchen haben Glocken, und alle diese Glocken läuten jede mit einem anderen Ton, heller und dunkler, so daß zu manchen Stunden die Stadt wie überspannt ist von einem bronzenen Zelt. Aber hoch über all dem steht das wuchtige Wahrzeichen der Stadt, die Hohensalzburg, in wunderbarer und immer andersartiger Perspektive. Steigt man von den Höhen des Gaisbergs nieder zu Tal, oder kommt man vom bayrischen Flachland, blickt man nieder von den Höhen oder schaut man empor aus der Tiefe – von allen Seiten, von Nord und Süd und West und Ost, von nah und fern, immer sieht man zuerst das steinerne Schiff, die Hohensalzburg, über dem grünen Gewoge der Landschaft. Festgeankert seit den Tagen der Römer, eine zweitausendjährige Trireme aus hellen Quadern, fährt dieses Schiff durch die Zeit und steht doch ewig an gleicher Stelle, bald den Bug, den scharfen, mit Mastturm und Wimpel dem Blicke blendend zugewandt, bald die Breitseite mit hundert Luken und Fenstern. Und um das leuchtende Schiff rauscht wie weißer Schaum inmitten einer grünen Flut die kleine uralte Stadt.
Dieses Bildnis der Stadt ist uralt, Jahrhunderte kennen sie schon im gleichen Profil, es hat sich wenig geändert, und heute sorgt schon bewußtes Interesse, daß dieses einzige historische Bildnis einer mittelalterlichen Stadt mitten im modernen Leben möglichst unverändert erhalten bleibe. Ein Glücksfall hat es mit sich gebracht, daß diese Stadt, die einzige im ewig streitbaren deutschen Reiche, seit Hunderten von Jahren keinen Krieg kannte, keinen Eroberer und Zerstörer, daß also, was von Vorvätern und Urvätern geschaffen wurde, sich treu in seiner traditionellen Form erhalten konnte. Der alte Reichtum dieser Stadt kam, der Name sagt es, vom Salz. Denn Salz war bei den Binnenländern Europas, die nicht vom Meer diese heilige Gabe empfingen, so kostbar wie Gold, und von überallher, wo in Europa Salz gefunden wurde, zeichnen sich die besonderen Straßen und Wege, die Salzwege ab. Auf ihnen wurde das kostbare, das zur Ernährung unentbehrliche Material zu Schiff und zu Wagen verfrachtet. Daß es ganz nahe bei Salzburg, in Hallein, in Hallstatt – Hall meint immer Salz – gefördert wurde, wußten schon die Römer, und sie erkannten mit ihrem ausgezeichneten strategischen Blick sofort die wunderbare geographische Lage Salzburgs und machten es zu ihrem Kastell Juvavum. Noch heute findet man bei fast jedem Hausumbruch römische Steine oder Vasentrümmer. Dann kamen die Erzbischöfe als Herren, die Kriege nicht liebten und deren Neigung die Kunst war. Prächtige Kirchen zu bauen und weiträumige Paläste, schöne Gärten, Springbrunnen und Wasserspiele war ihre Leidenschaft, sie bestellten italienische Baumeister, italienische Musiker und ließen sich, reich wie sie waren, in prächtiger Fülle alles ausstatten; und dank ihrer klugen Politik, die der Stadt jedweden Krieg ersparte, ist ihr Werk eigentlich unverändert erhalten geblieben, und wer, besonders abends, über die Straßen und Plätze geht, kann sich vollkommen und restlos der Illusion hingeben, im fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhundert zu sein, denn im inneren Kreise der eigentlichen Altstadt steht kaum ein einziges Haus, das jünger wäre als dreihundert Jahre, und wo Modernisierungen sich als notwendig erweisen, werden sie ziemlich behutsam im Stile der Vergangenheit durchgeführt.
Das alles macht nun Salzburg zu einer geheimnisvollen und kaum vergleichbaren Doppelwelt. Es ist eine uralte, eine antiquierte Stadt und im Sommer doch die lebendigste, kulturellste von Europa. Da schwemmen zu den Festspielen die großen Luxuszüge die reichsten, die bekanntesten, die berühmtesten, die neugierigsten Menschen Europas heran, und Salzburg ist für zwei Monate die europäischeste Hauptstadt der Musik, des Theaters und der Literatur. Dann ist man mitten im zwanzigsten Jahrhundert und fünfzig Schritte weiter liegt ein stiller Kirchhof, unberührt seit fünfhundert Jahren, schlafendes Mittelalter, und ohne daß man es weiß, gerät man aus der Landschaft in die Stadt, aus der Stadt in die Landschaft hinein. Alleen heben mitten an in Wiesen um ein uraltes Schloß, und plötzlich werden sie Straßen und ihre Bäume erstarren zu steinernen Wänden. Und anderseits blühen mitten im Weichbild in Höfen breite Gärten auf, die niemand kennt, von oben nach unten, von den Bergen, von den Hügeln ins Tal schaffen Villen und kleine Schlösser den Übergang. Allerorten ist der harte Übergang vermieden, die Landschaft dringt milde in die Stadt, und die Stadt wieder löst sich fächerhaft ins Freie; das Alte gliedert sich dem Neuen, das Großstädtische dem Antiquierten, Norden und Süden, Gebirge und Tal söhnen sich in dieser Stadt freundlich aus.
Diese Kunst des harmonischen Übergangs ist das Wunderbare und gleichzeitig das eminent Musikalische der Stadt. Wie andere Städte versteht Salzburg in Stein und Stimmung tönend zu lösen, was sich sonst in der Wirklichkeit grob widerspricht. Und dieses Geheimnis, diese Lösung von Dissonanzen in Harmonie hat sie von der Musik gelernt. Man muß nicht erst auf Mozarts Heimathaus hindeuten, um zu bekräftigen, wie eminent musikalisch sie wirkt, und es ist wahrhaftig kein Zufall, daß gerade der heiterste, der beweglichste, der anpassungsfähigste, der beschwingteste aller Musiker hier geboren war, und wenn in der Landschaft die Größe und Strenge der Form, so findet er in den Lustgärten, in dem verschnörkelten Barock der Bischofsbauten jene architektonische Melodik der Stadt, er hat sie in einer andern Kunst zur ewigen Harmonie erhoben. Wie eine solche Stadt wird, ist so schwer zu erklären wie die Geburt eines Kunstwerkes, und es bleibt gleichgültig zu fragen, wer eigentlich diese besonders künstlerische Tönung – die übrigens auch das dumpfe Ohr hier vernimmt – dieser Stadt zugedacht hat. Ob es die Erzbischöfe waren, die reichen, kunstfreudigen und kunstgelehrten, oder ob der Zauber der Landschaft, ob die italienischen Baumeister oder die besondere Konstellation der Zeit: das Letzte eines Zaubers bleibt immer unerklärbar. Wie manche Menschen überschwebt eben auch manche Stätten der Genius der Musik, um ihrer steinernen Hülle eine besondere Schwingung zu geben. Salzburg hat die Gnade gehabt, nicht für Wehr und Krieg gebaut zu werden wie die meisten deutschen Städte, eng zusammengedrückt in einen Gürtel von Mauern – immer war der Stimme ihrer Seele ein Raum frei, immer konnte sie singen und schwingen, ein tönendes Instrument, das festliche und heitere Lebensstunden lobsingen wollte. Plätze waren ihr gebaut für Umgänge und Prozessionen, Lustschlösser für Heiterkeit und Spiel, Kirchen mit wölbigen Räumen für Orgel und Gesang – von allem Anfang war dieser einen Stadt von ihren prunkfreudigen, kunstwilligen Herren das Festhafte, das Spielfrohe wissend eingetan, das dann einer ihrer Bürger, ihr ewiger Sohn Mozart, aus Stein und Linien in Geist und Musik erhoben hat. In ihm hat sich die Form dieser Stadt im anderen Element bis ins Ewige hinein gestaltet – unversehrt aber steht noch im Irdischen in ursprünglicher Form das alte Instrument, immer bereit, wieder zu erklingen, ein Rahmen für Festspiele und Freudigkeit, wie er natürlicher und großartiger nicht gedacht werden könnte. Denn hier müssen nicht wie im künstlichen Theater Kulissen aus Pappe und Leinwand künstlich zusammengeschoben werden, um Stimmung und theatralischen Schein zu erwecken, sondern hier ist – etwa beim Jedermannsspiel oder beim ›Faust‹ – die tagtägliche Gasse und der Hof, die Kirche und die Landschaft selbst schon unübertreffliche Kulisse und mitschaffende Stimmung. Es ist kein Wunder, daß die größten, die besten Künstler unserer Zeit sich hier beschwingter fühlen als in ihren bretternen, nach Staub und Moder schmeckenden Kulissenräumen, daß hier die Sänger ihre Stimmen heiterer und voller erheben und in den Festspielen wahrhaft alles festlich zusammenklingt. Denn wenn hier Musik und Festspiele beginnen, so wird nichts Fremdes und Neues gewaltsam der Stimmung der Stadt aufgepfropft, sondern der in Stein eingegrabene Gedanke ihrer einstigen Herren erst wahrhaft erfüllt, die gleichsam eingefrorene Musik ihres Wesens gerät ins Tönen und weiß wunderbar in ihren Zauber mitzureißen. Und an solchen seltenen Tagen, wo Himmel und Landschaft die erlesensten Künstler der Zeit in den erhabensten Werken wie ›Fidelio‹ oder der ›Zauberflöte‹ oder ›Orpheus und Eurydike‹ zusammenwirken, erlebt man manchmal in dieser zerstückten Welt, in diesen zerstückten Zeiten den reinen und vollen Aufschwung zur Festlichkeit, jenen Zustand der Gnade, der sich immer nur ergibt, wenn Natur und Kunst, wenn Kunst und Natur sich wie Lippe und Lippe berühren, und an solchen Tagen ist die Sendung dieser jahrtausendalten Stadt nicht nur für ihre Heimat, sondern für die ganze Welt erfüllt.