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Freuds neues Werk ›Das Unbehagen in der Kultur‹

Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur

In seinem siebzigsten Lebensjahr, einem Alter, wo sonst der produktive Geist allmählich zu ermüden pflegt, hat Sigmund Freud gleicherweise seine Freunde und seine Gegner durch eine Umstellung und Erweiterung seiner Weltbetrachtung überrascht, indem er seinen exakten und fachwissenschaftlichen Forschungen die künstlerische Kuppel einer metaphysischen (oder vielmehr antimetaphysischen) Religionsanschauung überbaute (›Die Zukunft einer Illusion‹, 1927). Nun ergänzt ein neues Werk ›Das Unbehagen in der Kultur‹ (Psychoanalytischer Verlag) in willkommenster Weise sein philosophisches Weltbild, abermals die Weite und Spannkraft dieses strengen und unbeugsamen Geistes erweisend, ein Werk, durchaus produktiv eigenartig und wie jedes seiner früheren vehement zur Diskussion anreizend. Fragen in die Welt werfen, also in sokratischer Methode Probleme zu erlichten, war von je Freuds besondere Kunst und Leidenschaft: auch an dieser neuen und unerwarteten wird sich die allgemeine Aufmerksamkeit unbedingt erregen müssen.

Warum fühlt der Gegenwartsmensch sich nicht wohl in der Kultur? so formuliert Freud diese Frage. Er hat doch Unendliches erreicht, er hat seine Sinne unermeßlich ausgespannt, er ist – geniales Wort – ein »Prothesengott« geworden dank seiner technischen Entdeckungen. Sein Ohr hört dank der telephonischen Membran bis in die fernsten Kontinente, sein Auge sieht vermöge des Teleskops bis zu den Sternen, sein Wort blitzt im Telegraphen Hunderttausende Meilen weit in einer Sekunde und bleibt unzerstörbar, das einst flüchtige auf der Platte des Grammophons. Wir haben den Blitz eingefangen, die Elemente gebändigt, das Licht springt uns auf einen Knips unserer Hand flutend entgegen, alle Elemente sind uns, dem zweibeinigen Säugetier, sklavisch Untertan. Warum aber doch trotz dieser Triumphe der Gemeinschaft in dem einzelnen von uns kein rechtes Siegesgefühl, kein reines Glücksgefühl, warum eher ein Unbehagen, eine geheimnisvolle Sehnsucht nach einem Zurück in primitivere, einstmalige Zustände? Diese Frage beantwortet Freud folgendermaßen – oder nein, er beantwortet sie eigentlich nicht, denn der exakte Forscher in ihm ist zu übermächtig, als daß er in so dichten Gefühlskomplexen eine simple »Lösung« versuchte – er deutet also nur vorsichtig einige dieser Unlustkomponenten an, indem er dem Individuum ein Unterbewußtsein unterlegt, daß er diesen Zuwachs an Macht und Sicherheit mit einem Verlust an persönlicher Freiheit bezahlt habe. Nach der schon früher bekannten Auffassung Freuds ist ja nur eine dünne Oberschicht des Ich von Bewußtsein, von Kultur, von Ethik durchfärbt – die eigentliche dunkle elementare Ichmasse des Menschen bleibt durchaus triebhaft in seinen Wünschen und Wollen, seine unzähmbare Libido weiß nichts (und die Träume verraten dies) von den Sublimierungen und Vergeistigungen, an die sich das obere, das sozial eingeengte Ich längst gewöhnt hat. Und diese Urtriebe des Menschen wie der Menschheit sind im Laufe der Jahrhunderte unablässig mehr und mehr beschränkt worden. Nicht nur die Sexualität, die früher zwischen Geschlechtern freischweifende, die nicht nur bisexuelle, sondern multisexuelle hat sich eine Reihe von Einschränkungen gefallen lassen müssen wie das Inzestverbot, und ist allmählich auf den monotonen ehelichen Verkehr mit einem einzigen Objekt des anderen Geschlechts von der staatlichen und religiösen Norm abgedrängt worden – auch andere Elementartriebe, wie der Aggressionstrieb, sind durch religiöse wie sogenannte sittliche Verbote ihm entzogen; so spürt das innerste Wesen, das Urich, sich seiner übermächtigsten Leidenschaften beraubt, alle die höheren Errungenschaften an Sicherheit und Ordnung des Lebens sind also bezahlt mit Verzicht, es entsteht notwendigerweise »ein Glücksverlust durch Triebbeherrschung«, und das geheim Anarchische und Selbstwillige des Instinkts hat eigentlich in unserer wohlgeordneten Welt keinen Auspuff mehr: daher dies an aller Kultur immer nur gesteigerte geheime Unbehagen, das Freud in dieser Schrift eben aus einem »geheimen« in ein verständliches und verstehbares verwandeln will (Unbewußtes und Halbbewußtes zu verdeutlichen, zu akzentuieren, war ja von je dieses außerordentlichen Mannes besonderes Genie). Dieses Problem ist von Freud prachtvoll gestellt, und für sein Vorhandensein können noch unzählige Beweise gefunden werden – ich führe nur einen an. Sicherlich stellt die Wahl unserer Lektüre einen Befriedigungsersatz der Phantasie für eigene Triebhandlungen dar. Und daß unsere Welt von heute im Theater und Buch nichts so sehr fordert als den Zustand der Auflehnung gegen das Normale, daß er seinen Aggressionstrieb, seinen unbefriedigten, in leidenschaftliche Lektüre von Kriegsbüchern, sein anarchisches Ressentiment in Sherlock-Holmes-Geschichten oder Verbrecherstudien verschiebt, daß er alle Abweichungen von der normal ehelichen Sexualität in Büchern und Theorien so lärmend bewundert, all das ist (sehr tief im Unbewußten) ein Zeichen, daß der gesittete, geordnete, friedliche, beamtliche Zustand unserer Kultur irgendeinem Urinstinkt unseres Wesens widerspricht, und die Spiele des Kindes, aufrichtiger, weil noch moralisch ungehemmt, zeigen mit ihrer Soldatenfreude, ihrer gelegentlichen Grausamkeit wirklich die »Aggressionstendenz« jenes »Es« in uns, das sich beharrlich weigert, sittliches Ich zu werden. Und in dieser Schwebe zwischen Urtrieb und sozialer und ethischer Forderung, in dieser Angst vor dem äußeren Gesetz und seinem inneren schwarzen Schlagschatten, dem Gewissen, verbraucht der Kulturmensch nach Freud ein Großteil seiner Kraft zum reinen, bedenkenlosen Glücksgenuß. Manchmal spürt er, wieviel die »Kultur« ihm seiner innersten Libido entzieht, und dann überkommt ihn jenes Unbehagen, das in manchen einzelnen sogar zu neurotischen Äußerungen führt und das sonst nur gelegentliche Unlustgefühle zu tragischer Welteinstellung steigert.

Wie nun dem abhelfen? Diese Frage beantwortet Freud nicht – seine, des Psychologen, Aufgabe fühlt er im wesentlichen darin, Fragen zu stellen, nicht zu beantworten. Sein exakter, durchaus unmystischer Geist hat eine prachtvoll redliche Scheu vor allem Unbeweisbaren und nicht unbedingt Gültigen. Wohl deutet er noch einige Komponenten an, zum Beispiel, den Todestrieb als Gegentrieb des Eros, aber diese schon, weil sie ihm nicht voll erweisbar erscheinen, nur durchaus hypothetischer Art, und es ist rührend zu sehen, wie dieser Mann, der als Forscher in seinem eigensten Gebiet autoritär bis zur Starrsinnigkeit, unnachgiebig bis zum herrlichen Trotze ist, bei jedem philosophischen Exkurse mit äußerster Zurückhaltung seine Meinung äußert. Welche edle Bescheidenheit, und welche seltene vor allem, wenn er schreibt, daß er »wenig über diese Dinge wisse« oder daß er fürchte, »hier schon allgemein Bekanntes zu sagen«, wie ehrlich das Bekenntnis am Ende, er wisse, daß er eigentlich wenig Trost bringen könne! Aber wir sind der professionellen Tröster längst müde, die sich die Aufgabe und den anderen das Leben immer nur billig und bequem machen wollen, und eine kühne Diagnose wie diese wiegt hundert butterweiche Beschönigungen auf. Hier ist das psychologische Lot tief hinabgelassen in den Abgrund eines zeitgenössisch wichtigen Problems, eines unlösbaren, gewiß, aber welche Probleme darf man wirklich Probleme nennen, die glatt lösbare sind; hier handelt es sich nicht um optimistische oder pessimistische Ausdeutung, die Zeiten sind vorbei, wo eine Akademie die billige Preisfrage stellte, ob der Fortschritt den Menschen besser mache oder nicht, und Jean Jacques Rousseau durch sein glattes Nein die Begeisterung der Welt errang. Gerade die harte, sachliche, von keiner Gläubigkeit und Tendenz verzuckerte Art, wie Freud seine Thesen stellt, geben jedem, der sie ernstlich mitdenken will, etwas von seiner hohen Strenge und Entschlossenheit. Überreich an Anregungen, gedrängt voll mit Denkstoff, merkwürdig in vielen Einzelheiten, erweist abermals dieses Werk (dessen Grundfrage hier allein angedeutet wurde), einen wie ernsten und weiträumigen Denker wir gleichzeitig mit dem genialen Forscher in Sigmund Freud zu bewundern haben, und wie sehr diejenigen ihrer selbst spotten, die seine Leistung als Psychologe noch immer auf das einspurige Sexualgeleise abschieben wollen, indes seine Wirkung ständig ihre Grenzen erweitert und auf allen Gebieten geistiger Produktion schöpferisch anregend zutage tritt.


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