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Herbst ist's geworden auf der lichten Höhe des herrlichen Dobratsch; kürzer werden die Tage, doch reiner mit jedem strahlenden Sonnenaufgang die Fernsicht in das erstarrte Meer von Bergen. Es glitzert der Eispanzer der Tauernriesen; aus schimmernden Schneefeldern ragt die kühne Spitze des Glöckners in den blauen Äter. Unheimlich schließen die bleichen Dolomitzacken in bizarren Formen den westlichen Horizont ab, und im Süden streben die kahlen Gipfel der julischen und venezianischen Alpen himmelan: graue Kolosse in schneidigen Formen unter Führung des gigantischen Mangart, des steilen Montatsch, und des vielbesungenen Triglav mit seinen ungeheuren Eisfeldern. Breit blähen sich die verwitterten Karawanken auf; ernste Berge, während im Osten die schönen Höhenzüge der Koralpe lieblich verblauen. Ein Meer von Bergen, Zinnen und Zacken voll hehrer Majestät!
Und welch ein lieblicher Blick bietet sich dem trunkenen Auge in die Tiefen! Langgedehnt liegt das Gailthal mit seinen freundlichen Siedelungen, Burgen und Schlössern zu Füßen des gigantischen Dobratsch. Silbern zieht das glitzernde Band der Gail durch das grüne, gesegnete Gelände, es blitzen gleich Edelsteinen die herrlichen Seen; der liebliche Wörthersee drüben, der waldumstandene Magdalensee, der Ossiachersee mit seiner Melancholie, und der uralten Klostersiedlung zwischen Pappeln, und im Westen dämmert weltvergessen der schilfumsäumte, einsame Preseggersee am Fuße des dunklen Eggforstes.
Träumerisch in den Anblick all dieser Schönheit der Bergwelt versunken, steht Jerza an die Thüre der Dobratschalm gelehnt; langsam gleitet ihr Blick von Gruppe zu Gruppe, bis das Auge auf dem Höhenzug der Göriacheralpe länger verweilt, und ihre Strahlensterne den Osternig grüßen. Dort drüben muß ja Heinzens Diensthütte liegen, in welcher Jerza weilte nach jenem unheilvollen Kirchtag. Wo der deutsche Jäger jetzt wohl sein wird? Ob er ihrer noch gedenkt? Jerza hat, seit sie auf den Rat ihrer Mutter die Brentlerin In Kärnten, wie auch in Obersteiermark heißt die Sennerin Brentlerin, wohl von Brente – Sennhütte. Brenteln gehen – gassel gehen, fensterln auf der Dobratschalm ablöste, und nun den Sennerindienst auf der luftigen Höhe versieht, um all dem wüsten Gerede unten im Thale zu entgehen, Zeit genug, sich ihren Gedanken hinzugeben. Vor ihrem geistigen Auge ziehen alle die bitteren Erlebnisse vorüber; froher wird ihr Sinn nur, wenn sie an Heinz denkt, den mutigen Retter, den wackeren, lieben Menschen. Und Trost im Herzen bietet ihr das gläubige Gebet zur Gnadenmutter im windischen Kirchlein oben auf der Spitze des Dobratsch. Vor kurzem noch, als die lieblichen Dobratschrosen Potentilla nitida. die Hänge rosig färbten, war es Jerza, die Sonntags das Bild der Gottesmutter mit einem Kranze dieser schönen Bergblümlein schmückte. Nun ist der letzte Kranz verdorrt; die Dobratschröslein sind verwelkt, und Herbstfäden hängen in der zitternden Luft. Eingeschrumpft sind die Blüten all', die den Frühling einläuteten, die duftende Aurikel, die blaue Glockenblume; trauernd steht blütenlos in buschigen Stauden der rostfarbige Almenrausch, und nächtlicher Reif hat die letzten Dobratschröslein versengt, getötet. Schon färben sich die Alpenwiesen in fahles Gelb, in kräftigen Tinten leuchtet der herbstliche Wald, dunkel steht der Tann, lehmfarbig leuchten aus dem Fichtengrün die Lärchen. In den Wachholderstauden hängen blaue Beeren, Kranewitts Tribut an den Herbst auf stolzer Höhe. Melancholisch klingt über die Alpentrift das Glockengebimmel des frühzeitig zum warmen Almstall ziehenden Weideviehes; es mahnt der aus der Tiefe steigende Nebel an ein baldiges Abziehen von der Alm. Nur kurz noch soll der Almfrieden währen! Dann beginnt wieder der Kampf im Alltagsleben, Streit und Zwietracht unter den Menschen. – –
Die Sonne ist blutrot hinuntergesunken; es glühen die höchsten Zacken der Dolomiten, indes die Schatten der rasch beginnenden Nacht schon durch das Thal huschen. Einen langen Blick und einen Seufzer der Sehnsucht schickt Jerza noch hinüber zu Heinz; dann eilt sie in die Hütte, entfacht das Herdfeuer auf's neue; sie öffnet den Stall, und läßt die Kühe herein, die gemolken werden müssen.
Nacht ist's geworden auch auf dem Almboden des Dobratsch; doch senden Millionen Sternlein ihr glitzerndes sanftes Licht vom wolkenlosen Firmament herab, so daß die Konturen der Felswände, des Bergwaldes und der Alphütte noch wahrnehmbar sind.
Auf dem Pfade, der, den Bergwald verlassend, in die Almwiese einmündet, taucht eine Gestalt auf, die wie um Atem zu holen, stehen bleibt, und lange wie gebannt verharrt. Ein weibliches Wesen ist's, das mühsam den steinigen Weg herauf kletterte, und nun auf der Höhe sinnend verweilt. Ein seltsam Zögern auf freiem, windumtosten Plateau, so nahe der Schutz bietenden Almhütte! Die rothaarige Kathra ist's, die unschlüssig hier oben steht in Nacht und Wind. Aber wie hat sich das üppige Mädchen verändert! Ein großes faltiges Umhängetuch verhüllt den Oberkörper und dessen Zipfel flattern im Bergwind; bleich ist das Antlitz, und geisterhaft flackern die großen Augen; in ihnen glüht ein unheimliches Feuer. Das Mädchen ist matt zum Umfallen, und dennoch sucht Kathra nicht die schutzbringende Schwelle der nahen Hütte. Sie flüstert vor sich hin: »Soll ich, soll ich nicht? Unheil bringt mein Schritt in jene Hütte, Verderben wird die Gastfreundschaft Jerzas lohnen. Ist sie mir Feindin genug, um namenlose Schmach auf ihr unschuldig Haupt zu häufen? Sie ist es nicht, das sagt mein Herz, und darum soll der teuflische Plan des spurlos verschwundenen Mathija nicht in allen Teilen zur Ausführung gelangen. Nein, nein! Verderben will ich die stolze Jerza nicht – – und komme ich heil wieder hinunter, soll Mathija fluchen – ich will reine Hände behalten.« Ein banger Seufzer drängt sich über Kathras Lippen; es wirbelt ihr im Kopf, schmerzerfüllt zuckt ihre Gestalt, ihr ist so weh, so matt, sterbensmüde. Mühsam schleppt sie sich weiter, der Hütte zu, und sinkt ohnmächtig an der Thürschwelle zu Boden.
Eben hat Jerza die Melkarbeit beendet, und tritt aus dem Stall, um auf dem Hüttenherd rasch das frugale Abendessen zu bereiten. Wenige Schritte vor der Hütte sieht sie ein dunkles Etwas liegen; was kann das sein?
»Wer ist's?« fragt Jerza, und tritt zögernd näher. Keine Antwort. Indes haben Jerzas Augen doch erkannt, daß eine weibliche Gestalt vor der Schwelle liegt. Hurtig steigt Jerza darüber hinweg, entzündet einen Spahn am glimmenden Herdfeuer, und leuchtet der Ohnmächtigen ins Gesicht.
»Allmächtiger Gott! Kathra ist's!«
Mit kräftigen Armen hebt Jerza das Mädchen auf, trägt es in die Hütte, und legt es auf ihr eigenes Bett. Bald haben ihre Belebungsversuche den Erfolg, daß Kathra die Augen aufschlägt.
»Ist dir besser, Freundin?«
»Ja, ich danke dir, Jerza! Gieb mir etwas Wasser zum trinken!«
Das Gewünschte reichend, fragt Jerza, wie denn Kathra so spät noch auf die Alm käme.
»Wallfahrten wollte ich ins windische Kirchlein, und vor Weh und Müdigkeit verließen mich die Kräfte.«
»Wie du übel aussiehst! Komm, laß dir helfen beim Entkleiden! Du bleibst in meinem Bett – keine Widerrede – und einen Schluck guten alten Enzian nimmst du – das wird die Lebensgeister wieder aufwecken!«
»Und wo wirst du unterkommen über Nacht?«
»Sei unbesorgt, Kathra! Einer Brentlerin ist das Heulager nichts fremdes. Du wirst dich über Nacht gut ausschlafen, und morgen gesund mit roten Backen erwachen. Dann kannst du hinauf zum Kirchlein, und der Gnadenmutter dein Herzleid klagen. Kommst du reinen Herzens und gläubigen Gemütes, so wirst du sicher Erhörung finden!«
»Wie gut du bist, Jerza! Ach wie ist mir so weh!«
»Ruh dich aus, Kathra, es wird schon besser werden.«
»Jerza, ach liebe, gute Jerza!« Und in einem aufquellenden warmen Gefühl schlingt das Mädchen den Arm um Jerzas Nacken, und flüstert ihr bebend abgerissene Sätze ins Ohr.
»Arme Kathra!«
»O, wie bereue ich meinen Leichtsinn!«
»Die Reue kommt zu spät! Aber vertrau' auf Gott und die Gnadenmutter; mit ihrer Hilfe wirst du auch diese schwere Stunde überstehen!«
»Wenn ich nur noch glücklich hinabkomme!«
»Das liegt in Gottes Hand! Bete, Kathra! Und ich will für die heutige Nacht doch lieber auf der Ofenbank bleiben, um dir beistehen zu können, falls du meine Hilfe benötigst!«
»Hab' Dank, gute Jerza!«
Wie es draußen stürmt und wettert! Schneidig kalter Wind umtost die einsame Hütte und rüttelt am Gebälk; dunkles Gewölk treibt am nächtlichen Himmel, die kleinen Fensterscheiben klirren, wenn wuchtige Windstöße gegen sie prallen; es bebt die Almhütte in ihren Fugen, und angsterfüllt brüllt im angebauten Stalle das Vieh. Es wird eine böse Nacht werden auf unwirtlicher Höhe. – –
Gegen Morgen hat der wütende Sturm etwas nachgelassen, und ermattet von den Aufregungen der Nacht ist Jerza eingeschlummert auf der Bank neben dem Bett, in welchem die todesbleiche Kathra liegt. Ein leises Gewimmer weckt Jerza, und erschrocken fährt das Mädchen in die Höhe. Wie traumverloren streicht sie die Hand über die Stirne; sie muß sich erst besinnen, was alles in dieser fürchterlichen Nacht sich ereignet hat. Ein kleines Wesen wimmert in der Almstube – Kathras neugeborenes Kind! Und wie es draußen so verändert ist, so glitzernd und hell! Jerza tritt ans Fenster: »Großer Gott! Schnee! Furchtbarer Schneefall! Und die Wöchnerin heroben auf der Alm!«
Der halblaute Schreckensruf hat Kathra aufgeweckt. »Was ist's, Jerza? Was erschreckt dich so?« flüstert das bleiche Mädchen.
»Eingeschneit! Und du heroben! Und das mir anvertraute Vieh ohne Futter! Heiliger Gott, wie wird das enden!«
Jerza entzündet vor allem das Feuer auf dem Hüttenherd, stellt den Milchhafen auf, und will dann Wasser holen. In dichten Massen lagert Wehschnee an der Hüttenseite; fußhoher Schnee bedeckt die Almwiesen, weiß sind die Bäume, Winter ist's geworden über Nacht. Im Stalle blöckt das Vieh nach Nahrung, die Kühe nach Entleerung des vollen Gesäuges. Was nun ums Himmels willen soll Jerza zuerst beginnen? Hurtig schleppt sie Heubündel in den Stall, und schüttet den Kühen das Futter auf; dann hastet das Mädchen an den Herd, um für Kathra ein Morgensüppchen zu kochen. Kaum damit fertig, erledigt die gehetzte Jerza die Melkarbeit, während welcher der Brentlerin klar wird, daß sie schleunigst abtreiben muß, wenn das Vieh ungefährdet vor Nacht die heimatlichen Ställe erreichen soll. Aber was fängt sie mit der Wöchnerin an? Kann sie Kathra hilflos auf der eingeschneiten, schier einsamen Alm lassen? Und doch hat sie keine andere Wahl. Es steht nur zu hoffen, daß ihr die Knechte vom elterlichen Gut unterwegs entgegen kommen, um ihr das Vieh abzunehmen, denn den riesigen Schneefall wird man unzweifelhaft auch unten beobachtet haben. Einmal sich klar über die Situation, vollführt Jerza energisch ihre Obliegenheiten. Sie sagt Kathra, daß ihr Ausbleiben nur von kurzer Dauer sein werde, und daß sie noch vor Abend sicher auf die Alm zurückkehren werde. In den nächsten Tagen werde das Wetter hoffentlich wieder besser werden, und der Schnee etwas schwinden, so daß dann auch Kathra den Abstieg werde bethätigen können. Ein schützendes Tuch um den Oberkörper gewunden, treibt Jerza das Vieh aus, und hart muß sie den Knüttel auf den Rücken der Kühe fallen lassen, um die vor dem Schnee zurückweichenden Tiere zum Vorwärtsschreiten zu bringen. Am Hang bockt das geängstigte Vieh abermals; verweht ist der Pfad, Runsen und Rinnen sind ausgefüllt; Jerza muß sich den Weg erst suchen, dann mit Salz in der Hand die Kühe zum Nachtreten locken, bis im Hohlweg ein Ausweichen nicht mehr möglich ist, und das Vieh durchgetrieben werden kann. So geht es langsam abwärts durch das bös verschneite Gelände, und nur mit größter Mühe gelingt es Jerza, die Tiere beisammen zu halten und vorwärts zu bringen, bis auf der untersten Terrasse des gewaltigen Bergkolosses ihr einige Knechte, wie erwartet, entgegenkommen und das Vieh abnehmen. Jerza atmet, von großer Sorge und Angst befreit, auf, doch tadelt sie mit scharfen Worten, daß die Burschen so spät heraufgekommen seien, wodurch sie gezwungen wurde, so tief herab das Vieh allein zu treiben.
Verwundert fragen die Knechte, ob denn Jerza wieder auf die Alm zurück wolle? Die oben aufgestapelte Milch könne doch einer der Knechte morgen ausbuttern, und Schmalz, Käse sowie das Kochzeug in der Kraxen herabtragen.
Jerza macht nicht viel Umstände; sie befiehlt den Knechten, heimzutreiben, und der Mutter zu sagen, daß sie oben noch alles erledigen, daher erst in einigen Tagen abziehen werde. Hilfe habe sie nicht nötig, und das »Zeug« könne geholt werden, wenn sie selber in Feistritz angelangt sei.
»Hüh hüh!« schreien die Knechte, und blinzeln sich gegenseitig zu; dieses Alleinbleiben auf der Alm erregt hochgradige Verwunderung bei den Burschen, die doch auch den Almbrauch kennen, und daher die Absicht Jerzas als ganz ungewöhnlich betrachten.
Eine Zeit lang sieht Jerza zu, wie die Kühe heimgetrieben werden, dann wendet sie den Schritt, und steigt den nun tief ausgetretenen Weg wieder bergan, um sich oben der armen Kathra zu widmen. Je höher das Mädchen empor klimmt, desto schärfer wird der Wind, der schneidend kalt über die Höhen bläst, und erst kleine Flinsen durch die Luft wirbelt, bis die Flocken immer größer und dichter vom grauen Himmel fallen. Kreuz und quer jagt der eisige Wind die Flockenstriche durcheinander: ein grausiges weißes Gewirbel, das es unmöglich macht, weiter als ein paar Schritte zu sehen. Verdutzt ist Jerza stehen geblieben; sie ist nahe der Sturzwand, an deren Rand der Pfad sich aufwärts zieht, und in diesem dichten Schneegestöber mag es doch nicht ratsam erscheinen, den Weg zu suchen. Der immens fallende Neuschnee hat jegliche Spur des Viehabtriebes verweht; Jerza muß sich einen neuen Weg zur Höhe bahnen. Und wie es rasch dunkel wird! Das Mädchen muß sich sputen, wenn es vor Nachtbeginn die Hütte erreichen will. Keuchend vor Anstrengung, die das Waten durch den Schnee bei scharfer Steigung verursacht, gewinnt Jerza endlich die Höhe der dicht verschneiten Almwiese; die Hütte trägt eine dicke Schneehaube auf dem Dache, welche erkennen läßt, wie arg es geschneit hat. Dunkel liegt die Hütte, kein Licht erhellt die Fenster; und doch erinnert sich Jerza, der Kathra ein Lämpchen in die Stube gestellt zu haben für den abendlichen Gebrauch. Rasch eilt Jerza zur Hütte, stößt den Schnee von den Füßen, schüttelt das Tuch ab, und tritt ein. Seltsam! Kein Feuer auf dem offenen Herd, kein Licht, und Totenstille in der Hütte. Jerza ruft nach der Wöchnerin – keine Antwort; rasch macht Jerza Licht, und leuchtet in die Schlafkammer. Großer Gott! Das Bett ist leer, Kathra fort, und nur der Säugling liegt zwischen den Polstern! – – – Was kann um Himmels willen Kathra veranlaßt haben, in diesem Zustand der Schwäche das Bett zu verlassen, und in den plötzlich gekommenen Frühwinter hinaus zu gehen. Es kann ihr Tod sein! – Wohin sie wohl ihre Schritte gelenkt hat? – Verweht ist jede Spur, und finstere Nacht verhüllt das winterliche Gelände. Eine Nachsuche ist unmöglich. Jerza entzündet das Herdfeuer, um sich eine späte Mahlzeit zu bereiten; sie heizt das Öfchen in ihrer Kammer, wartet den Säugling, so gut es bei dem Wäschemangel auf der Alm eben geht, und horcht von Zeit zu Zeit hinaus in die unheimliche, kalte Frühwinternacht.
Was kann Kathra zur Flucht bewogen haben – einen Tag nach der erfolgten Niederkunft? Jerza sinniert und kann nichts finden, was die Flucht unter Zurücklassung des Kindes erklärlich machen könnte. Und bei diesem Unwetter kann ihr sehr leicht ein Unfall zustoßen; ein schwaches Weib nach solcher Nacht, im Hochgebirg bei gräßlichem Schneefall! Es wird ihr Tod sein, selbst wenn sie nicht vom Weg abkommt! Wenn man sie nur suchen könnte! Aber das Gestöber hat alles zugedeckt, und wenn es so fort schneit, wird Jerza samt dem zurückgelassenen Kind eine Gefangene werden. Was dann? Und wenn das Wetter umschlägt, wenn der Abstieg möglich sein wird: was soll Jerza mit Kathras Kind beginnen? Schrecklicher Gedanke! Und heiß steigt es Jerza im Innern auf – die Erinnerung an jene Nacht, an die abscheuliche Verhöhnung ist in ihr wachgerufen. Was werden die Verleumder sagen, wenn sie mit dem Kinde ins Dorf kommt? In ihrer Jungfräulichkeit will sie das wimmernde Würmchen im Arm, die Frucht der Sünde einer anderen, wegstoßen, aber das Mitleid regt sich doch: das kleine Kind ist ja schuldlos und hilflos, verlassen, wenn Jerza sich seiner nicht annimmt. Es zu pflegen ist Christenpflicht; das Weib regt sich in ihr, und sie fühlt Erbarmen mit dem winzigen Lebewesen. Unter Thränen nimmt Jerza das kleine Geschöpf wieder zu sich, und herzt und küßt es. »Hat treulos dich die eigene Mutter verlassen, will ich dir Beschützerin sein, du armes Kind!« flüstert Jerza, und begiebt sich mit dem Bübchen zur Ruhe.