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VII.

Juha sitzt in halber Betäubung in seiner Stube, mit den Ellbogen auf den Knien, umsonst bemüht, sich klar zu machen, ob es Abend oder Morgen ist und ob es noch derselbe Tag ist wie damals, oder ob schon andere Tage und Nächte dazwischen liegen. Manches von dem, was geschehen ist, erinnert er sich, anderes nicht. Es ist, als ob seine eine Körperhälfte abgestorben und gefühllos wäre, wie die eine Hälfte seines linken Beines seit dem Bärenbiß immer etwas taub war. Wenn er daran rührte, war es wie fremdes Fleisch, wirkte wie von fern, von einem anderen Menschen.

Wo er auch gewesen sein mochte, so war es, als hätte er sich um einunddenselben Fleck gedreht, links um das Wasser, rechts in niedrigem Bruchwald, auf schwankendem Moorgrund. Dessen erinnerte er sich, und auch, daß er seine Mütze verloren und wiedergefunden hatte. Es war auch noch etwas anderes, dessen er sich gern erinnert hätte, auf das er sich angestrengt besann, so daß ihm der Kopf schmerzte, die eine Seite leise schmerzte; die andere war taub und klebrig, als wäre sie voll fremden, geronnenen Blutes.

Etwas war geschehen, was? Was hat den Balken dort auf dem Boden zerbrochen? Weshalb liegt die Tabakstampfe unter der Diele?

Da fiel es ihm ein.

Aber warum hatte er das getan? Wollte ich die Mutter treffen? Aber warum?

Der Kopf wirbelte ihm, das Herz zog sich ihm zusammen. Er war eine Weile wie ohne Bewußtsein.

Dann war ihm, als hörte er einen fernen Ruf: »Das lügst du!« Er selbst hatte es ja gerufen. Und jetzt fiel ihm mit einem Mal alles ein: wie er vom Hofe gerannt, im Laufen geschrien hatte: »du lügst,« es geschrien hatte, während er um die Moortümpel lief, hinfiel, weiter lief, wie etwas verfolgend, um es zu packen, es zu zermalmen.

Aber das war ja keine Lüge. Das war ja Wirklichkeit. Sie war ja gegangen. Sie ist ja fort ... es schnitt ihm durch den ganzen Körper und in die Seele, so daß sich sein Mund zu einem Schrei öffnete, der aber nicht hervorwollte. Zugleich wurde es wieder dunkel und wirr. Wenn das geschehen war, mußte ja auch anderes geschehen sein? Aber es ist ja alles wie früher. Da ist der Ofen, und das Heimchen zirpt. Marja ist nicht gegangen. Nein, dies ist nur ein Traum. Aber weshalb wache ich denn nicht auf? Kann ich mich nicht aufwecken, ehe ich ersticke? Es entfuhr ihm ein Schrei, wie dem, der den Alp von seiner Brust zu wälzen versucht. Er stand mitten auf der Diele, die Arme aufgestreckt. Jemand sprang aus der Herdecke von der Bank und stürzte mit einem Ruf hinaus, im Hemd, weiß wie ein Hase. – »Kaisa, laß doch – ich tue dir nichts,« tröstete Juha hinter ihr her.

Das Mädchen kam zurück.

»Ich bin so erschrocken – ihr solltet doch in euern Speicher gehen und schlafen – seid ja ganz naß und schmutzig.«

Juha ist vollständig zu sich gekommen. Er steht auf der Treppe und sieht, daß der Morgen durch den rieselnden Regen tagt. Der Hund kommt unter der Treppe hervor und schmeichelt ihm um die Füße. Ein Tauchervogel schreit auf dem See.

Er ist an den Strand geschritten. Da sind die Netze noch auf dem Gestell, wie sie damals nach dem Brachsenfang hängen geblieben waren. Es ist Wirklichkeit, Wirklichkeit ist es. Um etwas zu tun, begann Juha die Netze auf den Maschenzapfen zu raffen. Er tat es schnell, geübt. Die Gedanken im gleichen Takt. So ist es, so ist es. Fort ist sie. Brauchst es dir nicht anders zu wünschen. Umsonst hast du doch den Dielenbalken zerschlagen. Da es Kaisa gesehen hatte, daß sie sich ihm an den Hals geworfen hat. Dir ist es geschehen, und sonst niemand.

Ein Netz war gerafft, und er warf es vorn in das Boot, so daß die Steinsenker klapperten.

... Sie kamen zusammen vom Hofe hierher. Der Mann stand dort an dem Zaun. Ob sie es da schon beschlossen hatten? Daß Marja es fertig brachte noch zu schmeicheln und an die früheren Fischzüge zu erinnern ... Sie sind jung und schön. Ich bin alt und häßlich. Was liegt ihr an mir, wo solch einer sie nehmen will. Mag er sie nehmen! Mag er sie nehmen! Mag er sie behalten!

Das zweite Netz war gerafft. Immer rascher arbeitete Juha, er kümmerte sich nicht darum, ob ein paar Maschen an dem Netz zerrissen.

Sie nahm ja die Brautgeschenke offen, ohne Hehl von ihm an. Ihm hatte sie die Badestube geheizt, ihm machte sie die Schwitzbank zurecht, nicht mir, und bereitete ihm den Platz in ihrem eigenen Speicher. Sie ist nicht vor der Mutter davongelaufen

– das hat sie gelogen. Hätte sie es geradeheraus gesagt, hätte sie gesagt: jetzt gehe ich, jetzt habe ich einen anderen, besseren. Ich hätte es ihr nicht verwehrt? Nicht? Sicher nicht, nein; aber daß sie heimlich – wie ein Dieb –

Plötzlich wurde ihm schwach, es beengte ihn so, daß er nur mit Mühe das letzte Netz zu raffen vermochte. Mit Mühe gelangte er zum Hof, schwankte in seinen Speicher, dessen Tür offen stand, stolperte in den Kleidern auf sein Bett und schlief ein.

Juha schlief den ganzen Tag bis zum Abend.

Es war ein ziemlich rauher, klarer Abend mit abflauendem Nordwind. Die Mutter und Kaisa melkten die Kühe. Es ist geschehen, und er will es sich nicht mehr anders denken. Es ist nicht zu ändern, und was schadet es auch? Meinetwegen, ist sie gegangen, so ist sie gegangen. – In seinem Speicher waren Kleidungsstücke von Marja. Er nahm sie und trug sie in ihren Speicher. Als er die Tür öffnete, schlug ihm der Geruch des Krämers entgegen. Er warf hastig die Tür zu und steckte den Schlüssel in seine Tasche; ging an den Strand und schleuderte den Schlüssel in den See. Dann mähte er die Nacht und den Morgen, in den heißen Tag hinein, bis ihn die Erschöpfung umwarf. Tage und Nächte gingen jetzt Juha durcheinander.

Es hatte ihn ein Rausch erfaßt, aus dem er gar nicht zu sich kommen wollte. Mit starren Augen, wie ein Nachtwandler, ging er umher und tat seine Arbeit. Ohne ein Wort zu sprechen, ließ er seine Mutter schaffen.

Der alten Wirtin schien alles in bester Ordnung.

»Es sieht ja aus, als ob man hier zurechtkäme,« sagte sie zu Kaisa. »Sie fehlt nicht weiter.«

»Es ist nicht richtig mit ihm, denn er spricht kein Wort.«

»Er hat ja früher auch nichts gesprochen.«

»Es ist nicht richtig mit ihm,« wiederholte die Magd. »Ich habe ihn in der Nacht weinen hören, und am Tage redet er mit sich.«

»Was sagt er?«

»Ach, was du getan hast!« – »Ach, daß du das getan hast!« Er sehnt sich nach der Frau.

»Laß ihn nur vergessen.«

»Er erwartet sie noch zurück. Er vergißt sie nie und nimmer.«

»Ich werde schon dafür sorgen.«

»Nehmt dem Armen nicht seine letzte Freude.«

»Was für eine Freude ist es, sich zu sehnen.«

»Doch, das ist eine.«

»Ich werde sie schon mit der Wurzel ausjäten.«

»Wenn ihr sie aber nicht herauskriegt – wenn sie nur abreißt – und ist vielleicht schon abgerissen.«

»Laß sie reißen!«

»Wenn nun aber Marja zurückkommt?«

»Die kommt nicht.«

»Es ist euch wohl lieb, daß sie gegangen ist!«

»Das ist's.«

»Daß ihr so boshaft sein könnt.«

»Jawohl.«

Als Juha zum Essen kam und seine Mahlzeit beendigt hatte, sagte die Mutter:

»Du wartest wohl noch auf sie?«

»Was sprichst du denn noch davon, Mutter?« sagte Juha matt.

»Ich weiß schon, daß du wartest und hoffst, aber wenn sie kommt, dann kommt sie deswegen, weil sie sie weggejagt haben, nicht deinetwegen.«

»Laß das nun sein.«

»Immer hat sie dich zu alt gescholten.«

»Gegen wen?«

»Gegen alle, die es hören wollten. ›Wenn das Schlotterbein nur stürbe, dann bekäme ich einen Jüngeren‹.«

Plötzlich brach Juha zum Erstaunen seiner Mutter in Lachen aus.

»Jetzt hat sie ihn ja! Hat einen Jungen und Flinken – und das ist ja gut, daß sie ihn hat! Was brauchte sie sich auch mit mir herumzuquälen – mit so einem. Seht mal, wie spaßig mir das Gehen steht – der Fuß stößt wie der Flügel einer zerbrochenen Windmühle, seht mal!«

Juha war aufgestanden und hüpfte auf der Diele herum, indem er seinen Fuß absichtlich noch schiefer hielt.

»Laß die Sperenzien, alter Mensch!«

»So flutscht das; aber ich könnte ja auch mal tanzen, wenn einer aufspielte. Trällre was, Mutter!«

Er lachte immer lauter, hüpfte und lachte noch, als er auf dem Hof war, und trällerte dazwischen, mit der Axt auf der Schulter.

»Da siehst du es jetzt,« sagte die Alte. »Es ist nichts gerissen. Er scherzt schon darüber.«

»Mir hat das nicht wie Scherz ausgesehen,« sagte Kaisa.

Als Juha aber am Abend nachhause kam, tat er immer noch, als wäre er so vergnügt wie beim Weggehen. Lachte aus vollem Halse, spaßte und johlte, während er in der Badestube saß.

»Vorigen Sonnabend machte mir hier noch meine Alte Dampf, jetzt ist die nicht da – nicht da – kommt auch nicht – trallala – drudirallala! Sorg du deinem Jungen für Dampf, Mutter. 's ist ja einerlei, wer es tut. He? – Meine Alte – meine Alte – meine Alte ist zu 'nem Russen in den Schlitten gesprungen! Aber was tut's? Sollen wir uns dafür eine neue nehmen? Was?« fragte er, mit dem Peitschen innehaltend. »Man darf sich doch wohl auch eine neue nehmen?«

»Weshalb soll man das nicht dürfen?« bejahte die Mutter zufrieden.

»Wenn auch die erste noch lebt?«

»Wer jenseits der Grenze ist, der lebt nicht mehr.«

»Das meine ich auch! Und wo sie dazu selber gern gegangen ist.«

»Ich werde dir schon eine neue schaffen.«

»Tu's! Schaff mir eine nach deinem Sinn, aber schaff mir keine Arme.«

»In solch ein Gehöft bekommt man auch die Reichste.«

»Eine Neue muß ein neues Haus haben! Wart solange, bis ich eine neue Stube und eine neue Kammer fertig habe. Da schlagen wir einen solchen Bau auf, mit einem Steinsockel, mit einem Schornstein drauf, wie ihn die Teerkrämer in der Stadt nicht prächtiger haben. ›Seht doch mal den Juha an, was der gemacht hat. Hat eine Reiche geheiratet, hat sich ein Haus gebaut, wie es die Krämer in der Stadt nicht besser haben. Hat sich eine neue Frau genommen, hat sich aber eine Schmucke genommen!‹ – Such du mir nur eine recht Junge und Schöne, Mutter – und eine, die auch Kinder zur Welt bringen kann. Ich werde schon noch! Mit der wird anders umgesprungen. Die wird gut gehalten, das Essen auf den Tisch gebracht, von Mägden bedient wie eine Pfarrersfrau, die Arbeit von Fremden gemacht, darf selber in der Kammer sitzen und Strümpfe stricken.«

»Dazu ist auch dieses Gehöft gut genug.«

»Nichts da, nichts da, denn wenn ich sage, es wird ein neues Haus gebaut, dann wird's gebaut!«

»Hast du denn die Kraft und das Geld dazu?«

»Ich? Die Kraft dazu? Ich?«

Juha war von der Schwitzbank heruntergestiegen und nach dem Hof hinauf gegangen, wobei er immer dieselben Worte vor sich her sagte. Er saß auf der Treppe, als die Mutter hinterher kam.

»Das Geld dazu? Was ist das dort für ein Hügel mit dem Laubwald? Hast du einmal gesehen, was für eine Schwende ich da habe? Ich nehme Männer und mache den Hügel über den ganzen Scheitel hin dem Erdboden gleich. Beim Brennen wird man die Flammen in zwei Reichen sehen. Mit den Nachbarn wird geschnitten, und mit den Nachbarn werden die Säcke in zehn Lasten nach Oulu gefahren. Die lieben Brüder, die eigenen Brüder, und die Dorfleute helfen. An Marja nach Karelien wird Nachricht geschickt. »Der große Rauch kommt von der Schwende des seligen Juha – deines seligen Mannes – ach was! – des alten Juha, des reichen Mannes am Kajavaara. Er hat sich auf seine alten Tage eine neue Frau genommen, hat ein neues Haus wie der erste Krämer in der Stadt. Denkt an nichts mehr. Ist bloß vergnügt, daß er eine neue gekriegt hat, die auch Kinder zur Welt bringen kann. Dem geht's gut dort, der spaziert und tänzelt umher – ist wieder jung geworden, der alte Knabe, hinkt auch nicht mehr. Seine eigenen Jungen fällen und roden bald.« Du glaubst es nicht, Mutter. Du glaubst nicht, daß ich das Haus im Handumdrehen hoch habe wie der erste Krämer in der Stadt!«

»Ich glaube es ja.«

»Du glaubst nicht, daß ich eine neue Frau kriege?«

»Gewiß, die kriegst du.«

»Schaff sie mir bald, ich habe es eilig. Sonst kommt am Ende die erste zurück. Ei ja, jetzt sputest du dich. Nimm den Propst als Freiwerber. Der ist ein guter Mann, der hilft. – He, Mutter! was machst du denn da auf dem Flur?«

»Was denn?« brummte die Alte.

»Wenn vielleicht Männer aus Karelien hier vorbeikommen, dann bestell Grüße, wenn sie ihr dort begegnen sollten.«

»Ich schicke ihr keine Grüße.«

»Sag, du – sag, es ist Juha nur recht gewesen, daß sie ging. Er denkt nicht mehr daran. Ist auch nicht gestorben, wird nur jünger und lebt auf neben seiner neuen jungen Frau. Gleich hat er sich an die große Schwende gemacht, die er schon früher angefangen hatte, und arbeitet an dem neuen Haus, von dem er immer gesprochen hat. Die alten rauchigen Löcher hat er niedergerissen und ein neues Haus gebaut wie der erste Krämer in der Stadt – na, komm doch, Mutter, damit wir es besprechen, – sag, es ist eine neue Wirtin da, aber die erste darf auch auf Besuch kommen, wenn ihr Weg hier vorbei geht. Juha trägt nichts nach.«

»Es ist nicht richtig mit ihm – oder doch?« sagte Kaisa zu der alten Wirtin.

»Sei still – was geht es dich an!«

In der Nacht aber schlich Juhas Mutter an die Tür des Speichers und hörte ihn klagen: »Ach, was du getan hast, Marja! Weshalb hast du das getan?« Das konnte sie in der Nacht hören und in mancher anderen, es verging keine Nacht, wo er nicht jammerte, obwohl er am Tage johlte und lachte.


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