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»Du sollst nicht stehlen!«
Hört, ich will euch eine Geschichte von einem Messerchen erzählen, eine wahre Geschichte, die ich selbst erlebt habe.
Auf nichts in der Welt hatte ich solche Lust, wie auf ein Messerchen, ein eigenes Messerchen. Nichts in der Welt begehrte ich so heiß zu besitzen, wie ein Messerchen. Das Messerchen sollte in meiner Tasche liegen, – wenn ich Lust hätte, würde ich es herausnehmen und damit schneiden, was ich wollte, – damit es alle meine Kameraden wüßten!
Als ich eben zu dem Elementarlehrer Fossel in die Schule gekommen war, besaß ich bereits ein Messerchen, das heißt, etwas Ähnliches wie ein Messerchen. Ich hatte es mir allein hergestellt, indem ich einen Gänsekiel aus einem Federwisch herausriß, ihn an einem Ende abschnitt, an dem anderen spitzte und mir einbildete, das sei ein Messerchen, mit dem man schneiden könne.
»Was ist denn das für eine Feder, zum Kuckuck! Wozu schleppst du solche Federn mit dir herum?« fragte mich mein Vater, ein kranker Mann mit einem gelben, welken Gesicht und ewigem Husten. »Eine neue Spielerei mit Gänsefedern! Kche, Kche!« krächzte er.
»Was stört es dich, daß das Kind spielt?« entgegnete ihm meine Mutter, eine kleingewachsene Frau mit einem seidenen Tuch auf dem Kopf. »Nur, um dich aufzuregen!«
Später, als ich rechnen und die Fünf Bücher Moses lernte, besaß ich bereits ein fast richtiges Messerchen, ebenfalls ein selbstangefertigtes. Ich nahm ein Stückchen Stahl aus der Krinoline meiner Mutter und setzte es kunstvoll in ein Stückchen Holz ein. Den Stahl schärfte ich an einem Topf und zerschnitt mir dabei alle Finger.
»Sieh nur, sieh nur, wie er blutet,« schrie der Vater und umkrallte dabei mit solcher Wut meine Finger, daß man die Knochen knacken hörte. »Ein feiner Bursche! Kche, Kche!« –
»Ach, der Schlag trifft mich!« rief die Mutter, nahm mir das Messerchen fort und warf es in den Ofen, ohne auf mein Weinen zu achten. Jetzt hat die Sache ein Ende! O weh mir!
Aber bald darauf bekam ich ein anderes Messerchen, ein ganz richtiges Messerchen, mit einem runden, hölzernen Griff, wie ein Faß, und einer breiten Klinge, die aufgeklappt und zugeklappt werden konnte. Wollt ihr wissen, wie ich zu diesem Messerchen gekommen bin? Ich sparte mir die Kopeken zusammen, die ich für das Mittagessen mitbekam, und kaufte es einem Kameraden ab: drei und eine halbe Kopeke bezahlte ich ihm bar und drei blieb ich ihm schuldig.
Ach, wie teuer war es mir, wie lieb! Wenn ich aus der Schule hungrig, müde, schläfrig und verprügelt nach Hause kam, (– ich fing gerade an, bei »Mottl dem Todesengel«, den Talmud zu studieren: »Ein Ochse stieß eine Kuh« – und weil ein Ochse eine Kuh stieß, mußte ich Ohrfeigen bekommen –) – wenn ich also verprügelt aus der Schule kam, war das erste, was ich tat, daß ich das Messerchen unter dem schwarzen Schrank hervorholte. Es lag dort den ganzen Tag, weil ich es nicht in die Schule bringen durfte; zu Hause durfte erst recht niemand wissen, daß ich ein Messerchen besaß. – Ich schnitt zuerst ein Blatt Papier, dann einen Strohhalm, schließlich mein Stück Brot in ganz kleine Teile, spießte sie mit der Spitze der Klinge auf und steckte sie in den Mund.
Vor dem Schlafengehen reinigte ich das Messerchen, putzte und scheuerte es, nahm mir den Schleifstein vor, den ich auf unserem Boden gefunden habe, spuckte darauf und begann bedächtig – das Messerchen zu schleifen ...
Der Vater, ein Käppchen auf dem Kopf, saß über einem Buch, studierte und hustete. Hustete und studierte.
Die Mutter war in der Küche mit dem »Barches« – Striezel – beschäftigt. Ich ließ mich nicht stören, das Messerchen zu schleifen. Plötzlich erwachte der Vater wie aus einem tiefen Schlummer.
»Was quietscht da? Wer arbeitet dort? Was machst du denn da, verdammter Bengel!«
Er kam auf mich zu, beugte sich über meinen Schleifstein, faßte mich beim Ohr und fing an zu husten.
»Aha! Ein Messerchen, hast du! So! So!« sagte der Vater und nahm mir das Messerchen zusammen mit dem Schleifstein fort. »Solch ein Lümmel! Ist zu faul, sich ein Buch vorzunehmen! Kche, kche, kche ...«
Ich fing an, laut zu weinen. Da versetzte mir der Vater ein paar Ohrfeigen und die Mutter kam mit aufgekrempelten Aermeln und lautem Geschrei aus der Küche gerannt.
»Halt! Halt! Was ist denn geschehen? Warum schlägst du ihn? Um Gottes willen! Was willst du von dem Kind? Weh mir!«
»Mit dem Messerchen spielt er!« schrie der Vater und fing an zu husten. »Ein kleines Kind! ... Solch ein Bengel! Kche, kche, kche ... Kann er sich nicht ein Buch vornehmen ... Ein Junge von acht Jahren ... Ich werde dir geben ... mit dem Messerchen zu spielen, du Faulenzer! ... So mittendrin mit dem Messerchen spielen! Kche ... kche ... kche ...«
Oh weh! Was will er von meinem Messerchen!
Was hat es gesündigt! Warum ist er so wütend?!
Solange ich zurückdenken kann, war mein Vater fast immer krank, immer blaß und gelb und ewig auf die ganze Welt böse und erzürnt. Wegen der geringsten Kleinigkeit geriet er in Wut und hätte mich umbringen mögen. Ein Glück, daß die Mutter mich beschützte und mich seinen Händen entriß.
Mein Messerchen verschwand, es verschwand so gründlich, daß ich es acht Tage lang ununterbrochen suchte und nicht wiederfand. Ich beweinte bitter das liebe, bucklige Messerchen. Und wie schwer wurde mir in der Schule ums Herz, als ich daran dachte, daß ich mit verschwollenem Gesicht und roten, schmerzenden Ohren, die ich unserem Lehrer »Mottl, dem Todesengel«, verdankte, nach Hause kommen würde, weil ein Ochse eine Kuh gestoßen hatte. Bei wem würde ich Zuflucht suchen? ... Verlassen war ich ohne mein buckliges Messerchen! Elend, wie ein Waisenkind! Niemand, kein Mensch sah die Tränen, die ich heimlich in meinem Bett vergoß, wenn ich abends aus der Schule kam und schlafen ging. Ich weinte mich still aus, wischte meine Augen trocken und schlief ein. Am nächsten Morgen ging's wieder in die Schule, wieder kam die Geschichte von dem Ochsen, der die Kuh stieß, heran, wieder wurde man von »Mottl, dem Todesengel« geschlagen, wieder ertönte das Husten des Vaters und das Fluchen der Mutter. Kein freier Augenblick, kein fröhliches Gesicht, kein Lächeln, ... nicht ein einziges lachendes Gesicht, nicht ein einziges! – Elend und verlassen in der ganzen Welt!
*
Seit jener Zeit verstrich ein Jahr oder anderthalb ... Ich hatte das bucklige Messerchen fast schon ganz vergessen. Es schien aber, als wäre es mir vom Himmel beschieden, während meiner ganzen Kinderjahre unter Messerchen zu leiden. Denn zu meinem Unglück tauchte ein neues Messerchen auf, ein nagelneues Messerchen, ein kostbares Ding, bei Gott, ein prachtvolles Messerchen mit zwei Klingen, teuren Stahlklingen, scharf wie ein Schlachtmesser, mit einem Messinggehäuse und einem weißen Knochenköpfchen, das mit roten Messingstiftchen befestigt war – ich sag euch, ein kostbares Stück, echt Solingen.
Wie kam ich wohl zu solch einem teuren Messerchen, das so wenig in meine elende Hütte paßte? Das ist ja die Geschichte, – eine traurige, aber schöne Geschichte! Hört, bitte, mit Verstand zu!
Ihr könnt euch vorstellen, welchen Eindruck der glattrasierte jüdisch-deutsche Herr auf mich machte, unser Aftermieter, der Lieferant Herz Herzenherz ... Er sprach jiddisch, aber er ging mit unbedecktem Kopf, ohne Bart und Seitenlocken und trug – mit Verlaub zu sagen – den Rock bis über die Hälfte abgeschnitten. Ich frage euch, war es möglich, daß ich nicht in Lachen ausbrach, wenn der »jüdische Goj« oder der »gojische Jude« mit mir nur jiddisch sprach, ein merkwürdiges Jiddisch, mit lauter A-Vokalen.
»Nun, lieber Junge, was für einen Wochenabschnitt nehmt ihr jetzt durch?« fragte er mich eines Tages.
»Hi, hi, hi!« begann ich zu lachen und hielt die Hand vor das Gesicht.
»Sag doch, mein Junge, was nehmt ihr jetzt durch?«
»Hi, hi, hi,! ... den Wochenabschnitt ›Balak‹«, platzte ich lachend los und rannte fort.
Das trug sich im Anfang zu, als ich ihn noch wenig kannte. Aber später, als ich mit dem Deutschen, Herrn Herz Herzenherz, schon gut bekannt war, – er wohnte bereits länger als ein Jahr bei uns – gewann ich ihn so lieb, daß es mich nicht mehr störte, wenn er nicht betete und wenn er aß, ohne sich die Hände zu waschen. Anfangs konnte ich überhaupt nicht begreifen, daß er leben durfte, daß Gott ihn in der Welt duldete, wieso er beim Essen nicht erstickte, wieso ihm das Haar aus dem unbedeckten Kopf nicht ausfiel. Von meinem Lehrer, »Mottl, dem Räuber«, hörte ich aus eigenem Mund, daß jener Jüdisch-Deutsche zur Strafe für seine früheren Sünden zum zweitenmal zur Welt gekommen war, das heißt, der Jude war zur Seelenwanderung verdammt und in einen Deutschen verwandelt worden, um später vielleicht in einen Wolf, eine Kuh, ein Pferd oder gar in eine Ente verwandelt zu werden ... jawohl, in eine Ente ...
›Ha, ha, ha! Eine schöne Geschichte!‹ dachte ich und empfand in Wirklichkeit Mitleid mit dem Deutschen. Nur eins konnte ich nicht begreifen: Warum mein Vater, der ein wirklich frommer Mann war, ihm den Ehrenplatz abgetreten hatte und weshalb alle Juden, die zu uns kamen, ihm die größten Ehren erwiesen.
»Friede mit Euch, Herr Herz Herzenherz! Willkommen, Herr Herz Herzenherz! Nehmen Sie Platz, Herr Herz Herzenherz!« hieß es da.
Ich fragte einmal meinen Vater danach, aber er stieß mich fort und antwortete:
»Scher dich fort, das ist nicht deine Sache! Was kriechst du hier herum, verdammter Bengel! Kannst nicht lieber ein Buch zur Hand nehmen? Kche, kche, kche ...«
Immer wieder ein Buch! Gott, mein Gott! Ich wollte doch auch wissen, was im Hause vorging. Ich ging also in die große Stube, verkroch mich in einen Winkel und lauschte, was gesprochen wurde; ich hörte, wie Herr Herz Herzenherz laut auflachte, ich sah, wie er dicke, dunkle Zigarren rauchte, die ihm vortrefflich schmeckten. Plötzlich kam mein Vater auf mich zu und gab mir eine Ohrfeige.
»Bist du schon, wieder hier, du Müßiggänger! Was soll aus dir werden, du gottloser Bengel! O weh, was soll aus dir werden! Kche, kche, kche!«
Herr Herz Herzenherz nahm sich meiner an: »Lassen Sie ihn doch!« Aber es half nichts. Mein Vater jagte mich fort. Ich nahm ein Buch in die Hand, aber ich konnte beim besten Willen nicht hineinsehen. Was tun? Ich ging aus einem Zimmer ins andere, bis ich in das schönste Zimmer kam, in dem Herr Herz Herzenherz wohnte. Ach, wie schön, wie hell war es hier! Die Lampen brannten, die Spiegel glänzten! Auf dem Tisch stand ein großes silbernes Tintenfaß mit einem schönen Federhalter, daneben waren allerlei Nippes aufgestellt und dazwischen – lag ein Messerchen. Ach, welch ein herrliches Messerchen! ... Wenn ich solch ein Messerchen haben könnte! Wie glücklich wäre ich! Was hätte ich nicht alles damit geschnitten! Ich will einmal versuchen, ob es scharf ist! Ach, haarscharf! Ist das ein Messerchen! ...
Ich hielt es in der Hand, sah es von allen Seiten an und versuchte, es für einen Augenblick in meine Tasche gleiten zu lassen. Meine Hand zitterte. Mein Herz pochte so stark, daß ich die Schläge genau hören konnte: tick, tick, tick ... Ich hörte Schritte, knarrende Schritte ... Sicher war es Herr Herz Herzenherz ... Oh, weh, was tue ich! ›Das Messerchen kann in meiner Tasche bleiben ... ich werde es nachher wieder hinlegen,‹ dachte ich. Jetzt muß ich fort! Fort von hier! Fliehen! Rennen!
*
Beim Abendbrot konnte ich keinen Bissen essen. Die Mutter betastete meinen Kopf, der Vater betrachtete mich mit bösen Augen und schickte mich schlafen ... Schlafen? ... Ich konnte kein Auge schließen ... Ich war ja wie tot ... Was sollte ich mit dem Messer anfangen? ... Wie konnte ich es wieder an seinen Platz legen?
*
»Komm einmal her, mein Juvel!« sagte zu mir am nächsten Morgen mein Vater. »Hast du vielleicht irgendwo das Messerchen gesehen?« Im ersten Augenblick erschrak ich furchtbar. Ich glaubte, daß alle Leute von der Sache bereits wußten. Beinahe hätte ich mich verraten: ›Das Messerchen? Hier ist es!‹ wollte ich schon sagen. Aber meine Kehle war förmlich zusammengepreßt, und ich antwortete zitternd:
»Was für ein Messerchen? ... Wo?«
»Was für ein Messerchen? ... Wo?« machte mir mein Vater nach. »Was für ein Messerchen? ... Wo? ... Das goldene Messerchen ... Das Messerchen unseres Gastes ... Du Lümmel! Du Auswurf! ... Kche, kche, kche ...«
»Was willst du von dem Kind haben!« mischte sich die Mutter herein. »Das Kind hat keine Ahnung, und er verdreht ihm den Kopf mit dem Messerchen!«
»Was heißt, er weiß nicht von dem Messerchen!« erwiderte der Vater wütend. »Den ganzen Morgen hat er gehört, wie man von dem Messerchen redet, von nichts anderem als dem Messerchen ... Man hat die ganze Stube nach dem Messerchen abgesucht, und er fragt: ... Was für ein Messerchen? Wo? ... Geh jetzt, wasch dich, du Taugenichts! Du gottloser Bengel! ... Kche, kche, kche ...«
»Ich danke dir, lieber Gott, daß man mich nicht untersucht hat ...« Aber was soll weiter sein? ... Das Messerchen muß irgendwo gut versteckt werden ... Aber wo ... Ich weiß ... Auf der Bodenkammer ... Ich zog es rasch aus der Tasche und ließ es in den Stiefelschaft gleiten ... Ich aß mein Frühstück, aber ich hatte keine Ahnung, was ich aß ... Der Bissen blieb mir in der Kehle stecken.
»Warum ißt du so hastig, verdammter Bengel!« fragte mich der Vater.
»Ich muß in die Schule,« antwortete ich und fühlte, wie mein Gesicht feuerrot wurde.
»Plötzlich fleißig geworden! Seht mal den eifrigen Schüler an!« brummte der Vater und sah mich böse an.
Endlich hatte ich das Frühstück heruntergewürgt und das Gebet gesagt.
»Nun, warum gehst du denn nicht in die Schule, du Gelehrter?« fragte der Vater wieder.
»Warum treibst du ihn denn so? Laß das Kind doch einen Augenblick ausruhen,« bemerkte die Mutter.
Aber ich war bereits auf dem Boden ... Ganz hinten unter den Balken lag nun das weiße Messerchen ... es lag da, und schwieg.
Was kletterst du auf den Boden, du Lümmel, du ausgewachsener Bengel, du Holzknecht! Kche, kche, kche!«
»Ich suche hier etwas,« erwiderte ich und wäre beinahe vor Schreck vom Boden heruntergefallen.
»Etwas? ... Was heißt etwas? ... Was ist das für ein etwas?«
»Ei–n ... B–b–buch ... ein aaal–tes Ttttal–mudsbuch ...« stammelte ich.
»Was? ... Ein Talmudsbuch auf dem Boden? Du Spitzbube! Kriech nur herunter, dann sollst du was erleben! ... Du Pferdeknecht, du Hundefänger, du Nichtswürdiger! Kche ... kche ... kche ...«
Ich machte mir nichts mehr aus dem Zorn des Vaters, ich zitterte nur vor Angst, man könnte das Messerchen finden. Wer weiß, vielleicht würde man gerade heute die Wäsche aufhängen oder die Löcher verschmieren ... ›Ich muß es wieder fortnehmen und einen besseren Versteck suchen!‹ dachte ich. Ich ging zitternd herunter; jeder Blick meines Vaters schien zu sagen, daß er bereits alles wußte, und ich erwartete im nächsten Augenblick die Frage nach dem Messerchen ... Ich habe ein Versteck, einen wundervollen Platz! ... Wo? ... In der Erde ... An der Mauer wollte ich es eingraben und die Stelle als Erkennungszeichen mit Stroh bedecken.
Als ich aus der Schule kam, ging ich auf den Hof und zog vorsichtig das Messerchen heraus. Aber als ich es kaum angesehen hatte, hörte ich den Vater schon schreien:
»Wo bist denn? Warum gehst du nicht beten, du Kutscherjunge, du Wasserträger! Kche ... kche ... kche ...«
So sehr mein Vater mich aber plagen und mich quälen mochte, so sehr der Lehrer mich schlug und prügelte, – das alles war nichts in Anbetracht der Freude, die ich empfand, als ich aus der Schule kam und meinen teuren, meinen einzigen Freund, mein liebes Messerchen, wiedersah. Aber das Vergnügen war leider mit Wehmut gemischt, durch traurige Gedanken verbittert, durch Schreck und bange Angst gestört.
*
Es war Sommer. Die Sonne ging unter, die Luft wurde kühler, das Gras duftete, die Frösche quakten, und am Himmel zogen einzelne Wolken ohne Regen am Mond vorüber, als wollten sie ihn verschlingen. Der weiße Silbermond verschwand jeden Augenblick und tauchte wieder auf. Es schien, als ob er dahinschwebte, obwohl er ruhig an einem Platz stand.
Der Vater ließ sich auf dem Grase nieder, in einem leichten Überrock, halb nackt, einen weißen Betschal auf dem Körper. Eine Hand hielt er auf dem Busen, mit der anderen scharrte er in der Erde, dabei guckte er nach dem ausgesternten Himmel und hustete. Sein Gesicht sah im Mondesglanz wie tot aus. Er saß gerade auf der Stelle, wo das Messerchen eingegraben war, ohne das Geringste zu ahnen. Ach, wenn er es wüßte, was würde er wohl sagen! ... Was würde mir dann blühen! ...
›Ach!‹ dachte ich im stillen, ›du hast mein buckliges Messerchen fortgeworfen, jetzt habe ich ein besseres, ein schöneres ... du sitzt darauf und weißt es gar nicht ... Ach, Vater, Vater! ...‹
»Was glotzt du mich mit deinen Augen an wie ein Kater!« fuhr mich der Vater an. »Was sitzt du mit gekreuzten Händen da, wie ein feiner Mann! Kannst dir gar keine Arbeit finden? Und mit dem Abendgebet bist du schon fertig? Lausbub einer! Möchtest du nicht etwas tun? ...«
Daß er mich Lausbub nannte, war ein Zeichen, daß sein Zorn nicht sehr groß war, im Gegenteil, es war ein Beweis, daß er in guter Stimmung war. Ist es ein Wunder?! Kann man an einem so herrlichen Sommerabend überhaupt böse sein, da es jeden hinauszieht in die warme, frische Luft, die herrliche weiche Luft?! Alle Menschen waren draußen: der Vater, die Mutter und die kleineren Kinder, die im Sand spielten und Steinchen suchten.
Herr Herz Herzenherz drehte sich im Hof herum, ohne Kopfbedeckung, eine Zigarre rauchend, ein deutsches Liedchen singend; er sah mich an und lachte, wahrscheinlich weil der Vater mich fortwährend antrieb. Ich aber lachte über alle. Sehr bald würden die anderen schlafen gehen, dann wollte ich heimlich auf den Hof laufen – ich schlief auf dem Flur, auf dem Fußboden, weil es in der Stube unerträglich heiß war – und nach Herzenslust mit meinem Messerchen spielen.
Endlich schlief alles. Ringsumher herrschte Stille. Ich erhob mich leise, und schlich mich auf allen vieren, wie eine Katze, heimlich in den Hof. Die Nacht war still, die Luft erquickend frisch. Ich kroch vorsichtig zu jener Stelle hin, in der das Messerchen vergraben lag, grub es behutsam und bedächtig aus und besah es bei Mondesschein. Es blitzte und glitzerte wie feinstes Gold und Diamanten ... Ich hob die Augen empor und sah, wie der Mond gerade auf mich und mein Messerchen herabschaute. Warum guckte er mich so an? ... Ich drehte mich um – er sah mir nach; ich versteckte das Messerchen unter meinem Hemd – er sah mir nach; er wußte bestimmt, was das für ein Messerchen war und woher ich es genommen hatte. Ich habe es gestohlen. Zum erstenmal, seitdem ich das Messerchen besaß, kam mir das schreckliche Wort in den Sinn: »gestohlen«. Ich war also ein Dieb, ein gewöhnlicher Dieb. In der Bibel steht es in den Zehn Geboten mit großen Buchstaben geschrieben:
»Du sollst nicht stehlen!«
Und ich habe gestohlen. Was harrte meiner dafür in der Hölle? O weh, man wird mir die Hand, die gestohlen hat, abhacken! Man wird mich mit eisernen Ruten peitschen! Man wird mich am heißen Rost braten! Ewig, ewig werde ich brennen ... Ich muß das Messerchen abgeben ... ich muß es an seine Stelle zurücklegen ... Man darf ein gestohlenes Messerchen nicht behalten ... Morgen lege ich das Messerchen auf seinen Platz zurück ...
So dachte ich und versteckte das Messerchen in meinem Busenhemd und fühlte, wie es mich brannte ... Oder sollte ich es lieber bis morgen in der Erde vergraben? ... Der Mond schaute auf mich herab. Warum guckte er so? ... Der Mond hat alles gesehen ... Er ist Zeuge ... Ich schlich mich vorsichtig ins Haus zurück, zu meinem Lager, und legte mich schlafen. Aber ich konnte nicht einschlafen. Ich drehte mich von einer Seite auf die andere und fand keinen Schlaf ... Erst als es hell wurde, schlief ich ein. Ich träumte vom Mond, von eisernen Ruten und von dem Messerchen. Am Morgen, als ich erwachte, betete ich mit großer Inbrunst, verschlang hastig, auf einem Fuß stehend, das Frühstück und eilte in die Schule.
»Warum eilst du denn so zur Schule?« fuhr mich der Vater an. »Was treibt dich denn so? Wirst nichts versäumen, wenn du später kommst! Sag lieber dein Gebet ordentlich, ohne die Worte auszulassen! Wirst noch Zeit genug zum Toben haben, du Bösewicht, du Ketzer, du treifner Jude! Kche, kche, kche ...«
*
»Warum so spät? Sieh dich einmal um!« hielt mich mein Lehrer an und zeigte mit dem Finger auf seinen Freund Beril, den Sohn des Rotkopfs. Er stand mit herabgelassenem Kopf im Winkel. »Siehst du, du Taugenichts,« sagte der Lehrer zu mir, »merk dir, von heute an heißt er nicht mehr ›Rotkopfs Beril‹, wie er bis jetzt genannt wurde, sondern er bekommt von jetzt ab einen viel schöneren Namen: ›Beril, der Dieb‹. Kinder schreit: Beril der Dieb! Beril der Dieb!«
Der Lehrer sprach diese Worte in einem leiernden Ton, die Schüler fielen im Chor ein: »Beril der Dieb! Beril der Dieb!«
Ich war wie erstarrt, ein Schauer durchrieselte meinen Körper ... Ich wußte nicht, was es bedeuten sollte.
»Warum schweigst du, du Lausbub?« wandte sich der Lehrer an mich und versetzte mir im selben Augenblick unverhofft eine Ohrfeige. »Warum schweigst du, du Ketzer! Hörst du nicht, daß alle singen! Sing mit: Beril der Dieb! Beril der Dieb!«
Meine Hände und Füße zitterten, meine Zähne klapperten, und ich sang mit: »Beril der Dieb!«
»Lauter, du Lümmel!« schrie mich der Lehrer an, »stärker! kräftiger!«
Ich und der Chor sangen mit allen möglichen Stimmen: »Beril der Dieb! Beril der Dieb!«
»Sch–sch–sch–sch–sch–aaa a! Still!« schrie der Lehrer plötzlich und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ruhe! Jetzt treten wir an das ›Urteil‹ heran!« sagte er langgedehnt.
»Nun, Beril, Dieb, komm mal her, mein Kind! Schneller! Vorwärts! Sag einmal, Junge, wie nennt man dich?« fragte er langgedehnt.
»Beril.«
»Wie noch?« fuhr er, jede Silbe dehnend, fort.
»Beril ... Beril ... der Dieb ...«
»So, mein liebes Kind, so bist du ein braver Junge. Und nun, Beril, sollst gesund sein und starke Glieder haben, leg, bitte deine Kleider ab ... so ... rasch, rasch ... ich bitte dich, mach schnell ... so ... Berilchen, mein Liebling ...«
Beril stand nackt, wie neugeboren, da ... so weiß, als ob er keinen Blutstropfen im Körper hätte; er rührte kein Glied, seine Augen waren gesenkt, er war wie tot.
Der Lehrer rief, immer in leierndem Ton, einen der älteren Schüler.
»Nun, Herrschel der Große, komm einmal schnell aus deiner Bank her zu mir!! So! Und nun erzähle den ganzen Vorgang von Anfang bis zu Ende, wie Beril zu einem Dieb geworden ist. Hört aufmerksam zu, Kinder!«
Herrschel der Große begann zu erzählen, wie des Rotkopfs Beril sich an der Sammelbüchse Rabbi Meier Baal Nes vergriffen hatte, in die seine Mutter vor Sabbatbeginn, bevor die Lichter angezündet wurden, eine Kopeke oder manchmal zwei hineinzuwerfen pflegte; wie er sich an die Büchse herangemacht hatte, an der ein Schlößchen befestigt war, wie er mit einem in Teer getauchten Strohhalm die Kopekenstücke einzeln herausgezogen hatte; wie seine Mutter, die »heisere Golde«, der etwas aufgefallen war, die Büchse öffnete und einen in Teer getauchten Strohhalm darin fand; wie die »heisere Golde« ihn bei dem Lehrer angezeigt hatte, wie Beril sofort nach der ersten Prügeltracht des Lehrers gestanden hatte, daß er ein ganzes Jahr lang die Kopeken aus der Sammelbüchse herausgeschleppt hatte; wie er sich jeden Sonntag zwei Pfefferkuchen und eine Johannisbrotstange gekauft hatte ... und so weiter, und so weiter ...
»Nun, haltet Gericht über ihn, Kinder! Ihr wißt schon! Ihr tut es ja nicht zum erstenmal! Jeder von euch soll sein Urteil sprechen über einen, der die Kopeken aus der Büchse gestohlen hat. Herschel der Kleine! Sag du zuerst, was kommt einem zu, der die Kopeken aus der Sammelbüchse gestohlen hat?«
Der Lehrer neigte den Kopf zur Seite, schloß die Augen und hielt das rechte Ohr zu Herschel dem Kleinen hin.
»Ein Dieb, der Kopeken aus einer Sammelbüchse stiehlt, verdient, daß er bis aufs Blut geprügelt werde,« antwortete Herschel der Kleine mit lauter Stimme.
»Mojschele, was kommt einem Dieb zu, der Kopeken aus einer Sammelbüchse stiehlt?«
»Ein Dieb?« antwortete Mojschele mit weinerlicher Stimme, »ein Dieb, der Kopeken aus der Sammelbüchse stiehlt, verdient, daß er von zwei Jungen am Kopf, von zwei an den Füßen festgehalten und von zwei mit salzbestreuten Ruten gepeitscht werde.«
»Topel Tuteritu! Was für eine Strafe verdient ein Dieb, der die Kopeken aus der Sammelbüchse fortschleppt?«
Kopel Kukeriku, ein Junge, der »k« und »g« nicht aussprechen konnte, wischte sich die Nase und sprach das Urteil mit quietschender Stimme: »Ein Dieb, der die Topeten aus der Bütse herausschleppt, verdient, daß alle Junden danz nahe auf ihn zudehen und ihm dreimal ins Desicht saden: ›Danner, Danner, Danner!‹«
Die Schüler brachen in lautes Gelächter aus. Der Lehrer faßte sich mit seinem dicken Finger bei der Kehle, wie ein Kantor beim Singen, und rief mich mit einer Stimme, als ob er einen Jüngling vor die Thora aufriefe.
»Steh auf, Jüngling Scholem Reb Nuchems, und lies den letzten Thoraabschnitt,« zitierte er feierlich ... »Sprich dein Urteil, lieber Junge, wie straft man einen Dieb, der Kopeken aus der Sammelbüchse fortschleppt?«
Ich wollte antworten, aber meine Zunge versagte. Ich zitterte wie im Fieber, die Kehle war mir zusammengepreßt; kalter Schweiß bedeckte mich von oben bis unten; in meinen Ohren sauste es. Ich sah weder den Lehrer, noch den nackten Berel, den Dieb, noch die Schüler. Ich sah nur lauter Messerchen vor mir, unendlich viele Messerchen, weiße, geöffnete Messerchen mit einer Menge Klingen. Von oben sah der Mond lächelnd herab und blickte mich wie ein Mensch an. In meinem Kopf drehte sich alles, das Schulzimmer mit dem Tisch, den Büchern, den Kameraden, dem Mond, der an der Tür zu hängen schien, und mit sämtlichen Messerchen. Ich fühlte, wie meine Beine einknickten. Noch eine Minute, und ich wäre umgefallen. Aber ich hielt mich mit aller Kraft und bezwang mich, um nicht zu fallen ...
Gegen Abend kam ich nach Hause und fühlte, wie mein Gesicht brannte, meine Wangen glühten und wie es in meinen Ohren sauste. Ich hörte, daß man zu mir sprach, aber ich wußte nicht, was man sagte. Der Vater redete und schimpfte, drohte mir mit Ohrfeigen, die Mutter trat warm für mich ein und breitete ihre Schürze aus, wie eine Henne ihre Flügel, um ihre Küchlein zu beschützen, wenn man ihnen etwas antun wollte. Ich hörte nichts, ich wollte nichts hören, ich wünschte nur, daß es schon Nacht wäre, damit ich mit dem Messerchen ein Ende machen könnte. Was sollte ich tun? Geständig sein und das Messerchen herausgeben? – Dann würde ich bestraft werden wie Beril ... Sollte ich es irgendwohin werfen? – Dann könnte ich dabei abgefaßt werden ... Ich wollte es einfach fortwerfen, damit ich es loswäre! Aber wohin konnte man es werfen, daß es nicht gefunden werde? ... Auf das Dach? ... Man würde es fallen hören ... In den Garten? ... Dort würde man es sicher finden! Ach, ich weiß, ich habe eine Idee: Ich werfe es ins Wasser! Ein guter Einfall, wahrhaftig! Ins Wasser! In den Brunnen, der bei uns auf dem Hof steht! ... Dieser Gedanke gefiel mir so gut, daß ich nicht erst lange überlegen mochte. Ich ergriff das Messerchen und rannte zum Brunnen ... Es schien mir, als ob ich nicht das Messerchen in der Hand hielt, sondern etwas Widerwärtiges, eine Ratte, die ich so schnell wie möglich los werden wollte. Aber es tat mir doch leid ... ein so teures Messerchen ... Einen Augenblick stand ich in Gedanken versunken, und es schien mir, als ob ich etwas Lebendiges in der Hand hielte ... Das Herz preßte sich mir zusammen ... Oh, weh! Es wurde mir so schwer zu Mut! Was war das für eine Qual! Aber ich ermannte mich und ließ es plötzlich aus den Fingern gleiten: Plumps! Das Wasser plätscherte, dann hörte man nichts mehr. Das Messerchen war nicht mehr da! Ich stand noch einen Augenblick am Brunnen und horchte ... Nichts war zu hören! Gott sei dank, ich war es los ... obwohl das Herz mir weh tat ... Solch ein Messerchen, o weh, solch ein Messerchen!
Ich ging zu meinem Nachtlager zurück und fühlte, wie der Mond mir nachguckte. Es schien mir, daß er alles wußte, was ich getan hatte. Wie aus der Ferne hörte ich eine Stimme: Du bist trotz allem ein Dieb ... Faßt ihn! Prügelt ihn! Er ist ein Dieb! Ein Dieb! ... Ich schlich mich in die Stube, legte mich schlafen und träumte, daß ich lief, schwebte, in der Luft flog, das Messerchen in der Hand, und daß der Mond mir nachguckte und rief: »Faßt ihn! Prügelt ihn! Er ist ein Dieb ... ein Dieeeeb!«
Ein langer, langer Schlaf ... Ein schwerer, schwerer Traum. Helles Feuer brannte in mir, in meinem Kopf rauschte es; alles, was ich sah, war rot wie Blut. Glühende Feuerruten peitschten meinen Leib, ich wälzte mich in Blut. Rings um mich her drängten sich Schlangen und Nattern, mit geöffneten Rachen, als wollten sie mich verschlingen. Gleich darauf hörte ich Schauferblasen: Tu! tu–tu! tu! tu–tu! Jemand stand über mir und schrie mit lauter Stimme: Prügelt ihn im Takt! Prügelt! Prügelt ihn! Er ist ein Dieb! Ich selbst schrie: Oh, weh! Nehmt den Mond fort! Gebt ihm das Messerchen wieder! Was wollt ihr von Beril! Er ist unschuldig! Ich bin der Dieb! Ich!« Was weiter kam, wußte ich nicht mehr. – ... ...
*
Ich öffnete ein Auge, dann das andere. Wo bin ich? ... In einem Bett, wie es scheint ... Was mache ich hier? Wer sitzt an meinem Bett, auf einem Stuhl? »Ach, du bist es! Mutter! Mutter!« Sie hörte mich nicht. »Mutter! Mutter! Mut–ter!!! ...« Was soll das heißen? Mir schien, als ob ich laut schrie. Stille ... Ich horchte ... Sie weinte. Ganz leise. Auch den Vater sah ich mit dem gelben, kränklichen Gesicht. Er saß über einem Buch, leise murmelnd, seufzend und krächzend. Es scheint, daß ich gestorben bin. Gestorben? ... Da fühlte ich plötzlich, daß es um mich her hell wurde, ich fühlte eine Leichtigkeit im Kopf und in den Gliedern; in meinen Ohren begann es zu klingen, zuerst in einem, dann in dem andern, schließlich nieste ich.
»Gesundheit! Langes Leben ... Ein gutes Zeichen! Gott sei Dank! Gelobt sei Gott!«
»Wirklich geniest? Gelobt sei der Herr!«
»Unser Herrgott ist groß! Der Junge wird mit Gottes Hilfe gesund werden!«
»Gesegnet und gepriesen sei Gott!«
»Laßt die Schächterin Minze schnell herkommen! Sie verscheucht den bösen Blick.«
»Den Doktor hätte man rufen müssen! Den Doktor!«
»Den Doktor? Wozu? Unsinn! ›Er‹ ist der beste Arzt! Gott ist der einzige Arzt! Gelobt und gepriesen sei er!«
»Verteilt euch ein bißchen, meine Herrschaften! Es ist hier furchtbar heiß! Um Gottes willen, verteilt euch!«
»Nun, habe ich euch nicht gesagt, daß man ihn mit Wachs begießen soll?! Wer hatte recht?«
»Gelobt sei Gott! Gelobt sei der Ewige! Oh, mein Gott, gelobt und gepriesen seist du!«
Man drängte sich um mich, besah mich, jeder faßte meinen Kopf an, sagte einen Spruch, flüsterte zu mir, leckte mir die Stirn, bespie und beobachtete mich. Man goß mir heiße Bouillon in den Mund und stopfte mir Eingemachtes zwischen die Zähne. Alle gingen geschäftig hin und her und hüteten mich wie einen Augapfel. Man pflegte mich mit Bouillon und jungen Hühnchen wie ein kleines Kind und ließ mich nicht allein. Meine Mutter wich nicht von meinem Bett und hörte nicht auf, mir immer wieder zu erzählen, wie man mich bewußtlos auf der Erde gefunden hatte, wie ich vierzehn Tage lang in hohem Fieber lag und schrie und quakte und fortwährend vom Prügeln und dem Messerchen phantasierte. Man glaubte, ich sei schon – Gott behüte – tot ... Da begann ich plötzlich zu niesen, nieste siebenmal hintereinander und erwachte vom Tod zum Leben.
»Siehst du, was für einen Gott wir haben, gelobt und gepriesen sei sein Name,« schloß sie, mit Tränen in den Augen. »Du kannst sehen, wenn man Gott wirklich anruft, dann erhört er unsere sündigen Bitten und unsere schuldigen Tränen ... Viele Tränen haben wir vergossen, der Vater und ich, bis Gott sich unser erbarmte. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten ein Kind, Gott behüte, verloren ... Soll mir, statt deiner, ein Unglück zustoßen! Und wodurch ist das alles passiert? ... Durch jenen Jungen, einen Dieb, einen gewissen Beril, den der Lehrer in der Schule bis aufs Blut verprügelt hat! ... Als du aus der Schule kamst, warst du schon wie tot ... Ich wollte, ich hätte alles auf mich nehmen können ... Solch ein Räuber! Solch ein Mörder! Gott soll ihm heimzahlen! Du lieber Gott! ... Nein, mein Kind, wenn Gott dir das Leben schenkt und du wieder gesund herumläufst, geben wir dich zu einem andern Lehrer, nicht zu diesem Henker, solchem Mörder, wie dieser ›Todesengel‹! Ausgemerzt soll sein Name werden!«
Diese letzte Nachricht erfreute mich unendlich. Ich umarmte die Mutter und küßte sie.
»Teure, liebe Mutter!«
Der Vater näherte sich mir vorsichtig, legte seine bleiche, kalte Hand auf meine Stirn und sagte zu mir weich, ohne den geringsten Zorn:
»Du hast uns aber einen Schreck eingejagt, Junge! Kche, kche, kche!«
Auch der Deutsch-Jude oder der Jüdisch-Deutsche, Herr Herz Herzenherz, beugte sich, eine Zigarre im Mund, mit seinem glattrasierten Gesicht über mein Bett, streichelte mich und sagte auf deutsch: »Schön, daß du wieder gesund bist!«
*
Einige Wochen später, nachdem ich aufgestanden war, rief mich der Vater zu sich.
»Nun, mein Sohn, jetzt geh in die Schule, denk nicht mehr an das Messerchen und ähnlichen Unsinn ... Es ist jetzt Zeit, daß du ein Mensch wirst. In drei Jahren wirst du mit Gottes Hilfe eingesegnet ... bis hundertzwanzig Jahre sollst du leben ... kche, kche, kche! ...«
Mit diesen süßen Worten schickte mich der Vater zu einem anderen Lehrer in die Schule, zu Reb Chaim Kater. Zum erstenmal im Leben hörte ich von meinem Vater so gute, weiche Worte. Ich vergaß in demselben Augenblick seine früheren Schikanen, sein Fluchen und die Ohrfeigen, als wäre es niemals gewesen. Wenn ich mich nicht geschämt hätte, würde ich ihn geküßt haben ... Chi, chi, chi! Aber einen Vater küßt man doch nicht!
Die Mutter gab mir in die Schule einen ganzen Apfel und zwei polnische Groschen mit; auch der Deutsche schenkte mit einige Kopeken, kniff mich in die Wange und sagte zu mir in seiner Sprache: »Braver Junge! Sehr schön!«
Ich nahm den Talmud in die Hand, küßte die Mesuse Mesuse = eine Pergamentrolle, auf der ein Absatz aus der hl. Schrift geschrieben steht. mit warmer Inbrunst an der Tür und ging wie neugeboren zur Schule ... reinen und erleichterten Herzens, mit klarem, freiem Kopf, mit neuen Gedanken, mit frischem, ehrlichem und frohem Mut. Die Sonne blickte herab und grüßte mich mit ihren warmen Strahlen, ein leichter Wind schlich sich hinter meine Seitenlocken, die Vögel zwitscherten: zwit, zwit, zwit, ... Ich fühlte mich in die Luft emporgehoben, ich hätte rennen, springen, tanzen mögen! ... Ach, wie schön ist es zu leben und ehrlich zu sein, kein Dieb, kein Betrüger zu sein!
Ich drückte den Talmud fest an mein Herz und lief mit jauchzender Lust zur Schule und schwor bei dem Talmud, daß ich niemals ein fremde Sache anrühren, niemals stehlen und niemals lügen, immer ein offener und ehrlicher Mensch sein werde.