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Ihr sagt, daß die Juden überall Feinde haben, daß sie gejagt, getrieben und verfolgt werden? Ich sage euch aber, es ist gerade umgekehrt: Der Juden nimmt sich jeder an. Zum Beweis will ich euch eine Geschichte von zwei Brüdern erzählen, und wir wollen hören, wie ihr nachher darüber denkt.
Es gab zwei Brüder, der eine hieß ... was liegt daran, wie er hieß? Stellt euch vor, der eine hieß Meier, der andere Schneier. Zugetragen hat es sich irgendwo in Samogytien, oder in Polen, in Wolhynien oder in Litauen, gleich am Anfang der Revolution und der großen Greueltaten, die sie mit sich brachte. Es verbreitete sich das Gerücht von einem ›Pogrom‹, einem ganz gewöhnlichen Judenpogrom, der in kurzem ausbrechen sollte ... Obgleich unsere zwei Brüder außer ihrem nackten Leben nichts zu verlieren hatten, gar nichts, denn sie besaßen weder ein eigenes Haus noch ein Geschäft, noch Vermögen, nicht einmal Weib und Kinder, – fürchteten sie dennoch, ihr Leben einzubüßen.
Eines schönen Morgens standen sie früh auf und machten sich auf den Weg, in der Richtung, wohin die Augen sie führten. Der Aufbruch geschah in größter Eile. Warum eilten sie so? ... Weil sich das Gerücht von einem Pogrom verbreitete, mußte man gleich davonrennen? Die Antwort könnte lauten: Wahrscheinlich hätte sich im Städtchen bereits ein unruhiges Treiben bemerkbar gemacht, vielleicht ritten gar die Kosaken mit den ›Nagajki‹ umher ... Was hatten Kosaken in einem stillen Städtchen zu tun, in einem jüdischen Städtchen, zweitausend Meilen von der Mandschurei entfernt? ... Stellt euch aber vor, daß wirklich ein Pogrom ausgebrochen war!
Unsere beiden Riesen, Meier und Schneier, flogen, wie ein Pfeil auf dem Bogen. In der großen Eile hatten sie wahrscheinlich vergessen, ein zweites Hemd, einen zweiten Anzug, ein Kissen und allerlei andere Sachen, die ein Mensch auf der Reise haben muß, für den Weg mitzunehmen, zum Beispiel auch Brot. Ich rede gar nicht erst von anderen Lebensmitteln, wie Wurst, geräucherte Zunge, eine Büchse Sardellen, nein, ich rede nur von einem einfachen Stückchen Brot, ›dem täglichen Brot‹, über das wir den Segensspruch machen, das kein Mensch entbehren kann, und wenn er bis ans Ende der Welt liefe. Naht der Augenblick, da der Magen nach Speise verlangt – ihr mögt ein Gelehrter oder ein Philosoph sein, – so werdet ihr nicht eher ruhen, bis ihr, mit Verlaub zu sagen, euch den Bauch vollgestopft habt. So hat Gott den Menschen einmal geschaffen, – dagegen läßt sich nichts tun. Ist es nicht so? Sagt selbst!
Aber wo waren wir in unserer Geschichte stehengeblieben? Bei den beiden Brüdern. Also Meier und Schneier wanderten unermüdlich, keuchend, seit dem frühen Morgen; nur manchmal blieben sie stehen, schöpften Atem und setzten ihren Weg wieder fort, rasteten von Zeit zu Zeit einen Augenblick und liefen mit rasender Eile weiter, als ob sie von Räubern verfolgt würden oder den Jahrmarkt versäumen könnten. So ging es den ganzen Tag; erst, als der Abend nahte, mäßigten sie ihre Schritte und hielten endlich in ihrer Wanderung an.
Da sagte der ältere zum jüngeren:
»Weißt du, was ich dir sagen werde, Schneier?«
»Was denn, Meier?«
»Was? ... Ich fühle nicht so sehr Müdigkeit wie Herzweh. Ich habe Hunger.«
»Ich auch.«
Nachdem die beiden Brüder diese Worte getauscht hatten, bemerkten sie etwas in der Ferne. Was, glaubt ihr, war es? Vielleicht eine Quelle mit kaltem, kristallreinem Wasser? Oder einen soeben aus dem Backofen herausgenommenen, wohlriechenden Striezel? Oder warme, in Butter gebratene Fische? Oder etwa Suppenfleisch mit Kartoffeln und roten Rüben, mit Knoblauch zubereitet, dessen Duft m die Nase stieg? Nichts von alledem.
Sie bemerkten mitten auf dem Feld zwei Kosaken, auf der Erde sitzend, richtige Kosaken mit langen Piken und kurzen Peitschen, den ›Nagajkis‹, und mit rot gehaspelten Beinkleidern. Sie saßen in halbliegender Stellung, auf die Ellenbogen gestützt, die Mütze auf einem Ohr, das glänzende Haar auf eine Seite herunterfallend. In einem Ohr trugen sie einen silbernen Ring. Ihre Gesichter waren von der Sonne rotgebrannt, ihre Zähne weiß wie Milch. Im Mund hielten sie eine Pfeife. In ihrer Nähe hielten sich ihre Pferde auf und zupften Gras; über dem Feuer, das sie angelegt hatten, hing ein kleiner, dreifüschiger, eiserner Kessel. Was mochte wohl darin kochen? Fische, Fleisch, Wurst oder Grütze? Etwas Schlechtes war es keinesfalls, das verriet der Geruch. Aber ob es wohl rituell war? ...
»Weißt du, was ich dir sagen werde. Schneier?«
»Was denn, Meier?«
»Was? ... Was riskieren wir? Wir wollen lieber zu ihnen herangehen, als daß wir sie zu uns kommen lassen.«
»Das meine ich auch.«
Nach diesen Worten näherten sich die beiden Brüder den Kosaken. Hätten sie es nicht freiwillig getan, so hätte man sie dazu gezwungen. Denn kaum hatten die Kosaken die Juden bemerkt, als sie, nicht faul, sich aufrichteten, ihnen zuwinkten und ihnen in russisch-jüdischem Dialekt zuriefen:
»Ei! Izchok! Chaim, kommt mal her!«
Und nun entspann sich zwischen den Kosaken und den Brüdern eine Unterhaltung, die selbst ein Mensch mit achtzehn Köpfen nicht imstande wäre, wiederzugeben. Denkt euch, es machte den Kosaken Spaß, jüdisch zu sprechen, obgleich sie es gerade so gut konnten, wie die beiden Brüder russisch. Die Brüder kannten nur das eine Wort: ›Skudawo?‹ (woher) und hatten vor diesem Wort eine schauderhafte Angst. Wie zum Trotz war es das erste Wort, das sie von den Kosaken vernahmen. Sie durften den Kosaken selbstverständlich nicht verraten, daß sie vor einem Pogrom flohen, denn das könnte sie ihr Leben kosten ... Was weiß ein Kosak von einem Pogrom? ...
Unsere beiden Brüder verständigten sich schnell untereinander und taten so, als ob sie kein Wort russisch verständen. Anstatt auf die Frage der Kosaken zu antworten, zeigten sie mit dem Finger auf den Kessel, in dem das wohlschmeckende Gericht kochte; dabei lief ihnen das Wasser im Mund zusammen, als ob sie sagen wollten: »Wir haben Hunger, wir möchten essen, und ihr verdreht uns den Kopf mit Fragen, die wir nicht verstehen.«
Die Kosaken schienen begriffen zu haben, daß die Juden Hunger hatten, sie überließen die Frage ›Skudawo‹ für ein anderes Mal und schickten sich an, Gastfreundschaft zu üben, jedoch nach Kosakenart. Wie sah das aus?
Zunächst spotteten sie über die langen jüdischen ›Kaftans‹ und über die gekräuselten Seitenlöckchen, nannten den einen Izchok und den anderen Chaim und boten ihnen Grütze mit Schweinefleisch an. Denn es war zugleich spaßig und verdienstlich, einen Juden mit Schweinefleisch zu füttern. Sie verteilten die beiden Juden untereinander: der eine übernahm Izchok, der andere Chaim; dann setzten sie sich auf die Erde, stellten den Juden eine Schüssel mit heißer, fetter Grütze hin, gaben ihnen zwei hölzerne Löffel in die Hände und kommandierten nach Kosakenart:
»Jeschte, schidi! – Eßt, Juden!« – In unserer Sprache heißt das: »Kommt essen, jüdische Kinder! Laßt es euch gut schmecken!« Aber der Ton, in welchem sie die Worte »Jeschte, schidi!« gesagt hatten, mußte man folgendermaßen auffassen: »Ihr werdet essen, ob ihr wollt oder nicht!«
Es darf nicht vergessen werden, daß die beiden Brüder einen Sterbenshunger hatten. Eine Weile saßen sie wie starr da, obwohl der Duft der heißen, fetten Grütze ihnen in die Nase stieg, und sie ein Gefühl empfanden, als ob man ihre Eingeweide zwicken würde. Die Kosaken errieten scheinbar, daß die Juden das schwere Problem noch nicht gelöst hatten; sie wußten, was sie zögern ließ, und kommandierten sie zum letztenmal, mit einer Stimme, die das Herz der Juden erbeben ließ. Da sagte der ältere zu dem jüngeren:
»Weißt du, was ich dir sagen werde, Schneier?«
»Was denn, Meier?«
»Was ... Wir müssen essen, sonst riskieren wir unser Leben!«
Hierauf griffen sie zu den Löffeln, schlürften die heißen Grütze und verschlangen sie wie Nudeln am Freitagabend, verbrühten sich die Lippen und die Zunge und schluckten laut wie Gänse; sie dachten nicht im geringsten daran, daß sie sich wie Gäste zu benehmen hatten und daß das Essen nicht rituell war.
Die Grütze schmeckte ihnen wie ein Paradiesgericht, fürchtete ich, denn es war unnatürlich, wie hastig sie zugriffen und die Speise verschlangen; sogar die Kosaken wunderten sich darüber und führten in ihrer Sprache folgendes Gespräch:
»Was sagst du zu deinem Chaim, Wanjuscha, wie eifrig er zugreift?«
»Nein, Pawluscha, du irrst dich, dein Izchok ist es, der das ganze Essen verschlingt!«
Die beiden Brüder taten, als ob sie nichts verständen und löffelten mit unermüdlichem Eifer weiter.
»Wanjuscha, sage deinem Chaim, er soll nicht so hastig essen! Wenn ich ihn packe, holt ihn der Teufel!«
»Versuch nur einmal, meinen Chaim anzurühren, dann zermalme ich deinen Izchok zu Staub!«
Im selben Augenblick riß Pawluscha Wanjuschas Juden den Löffel aus der Hand und versetzte ihm einen Stoß in die Seite, daß er einen dreifachen Purzelbock schoß. Das ärgerte Wanjuscha sehr, er sprang auf und schlug Pawluschas Juden mit der Faust vor die Zähne, daß es ihm vor den Augen flimmerte. Empört haute Pawluscha Wanjuschas drei feurige Ohrfeigen. Da reckte sich Wanjuscha und rief mit wuterfülltem Antlitz:
»Dafür, daß du meinen Juden schlägst, schlage ich deinen Juden.«
Wanjuscha und Pawluscha verteidigten ihre Juden und schlugen und prügelten sie für das ihnen zugefügte Unrecht so unbarmherzig, daß die christliche Speise ihnen schlecht bekam. Ein Glück, daß die Juden die Hände in die Füße nahmen und davonliefen.
Wie aus einem bösen Traum erwachend, rannten sie vor sich hin, ohne sich umzuschauen, von Angst getrieben, daß man sie verfolgte. Sie rannten und rannten, bis sie, endlich erschöpft, ihre Schritte mäßigten, einen Augenblick anhielten und sich niedersetzten. Nun kamen sie allmählich zur Besinnung und erinnerten sich, was sich eigentlich zugetragen hatte. Drei Kapitel: Erstens vor dem Pogrom geflohen, zweitens Schweinefleisch gefressen, drittens Prügel erwischt. Endlich begann einer von ihnen, stammelnd:
»Weißt du, was ich dir sagen werde, Schneier?«
»Was denn, Meier?«
»Was? ... Ein Jude ist keine Kleinigkeit ... Sogar ein Kosake hat es nicht ruhig mitansehen können, daß ein Jude geschlagen werde ... Jeder Mensch nimmt sich unser an, wenn uns ein Unrecht zugefügt wird ... Alle treten für den Juden ein und verteidigen ihn.«