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IX.

Tamara, Flannagans Braut, die bis jetzt kaum den Mund zum Sprechen aufgetan hatte, seufzte plötzlich vernehmlich.

»Ich möchte auch mal tanzen«, sagte sie sehnsüchtig.

»Bravo!« rief Tom begeistert und stand sofort auf. »Woll'n wir mal 'nen Tango hinlejen, daß de Fatzken hier vor Staunen de Maul- und Klauenseuche kriegen!«

Aber Tamara schüttelte nur den Kopf.

»Ich will nicht mit dir tanzen«, sagte sie nach einer Weile eigensinnig. »Ich will mit einem feinen Herrn tanzen …« Und dann kam es wie aus der Pistole geschossen: »Mit Mr. Harrogate!«

Harrogate war so verblüfft, daß er zunächst nur ziemlich einfältig lächelte. Dann blickte er auf Flannagan, dessen Augen, wie ihm schien, tückisch funkelten, und dann wurde er rot vor Ärger.

»Ich tanze nie«, erklärte er kurz und böse.

»Wirklich, mein Vater tanzt nie«, bestätigte Miß Harrogate hastig. »Aber ich tanze sehr gern.«

Sie sah dabei Flannagan an, und er begriff, daß er mit ihr tanzen sollte, um sie vor der Notwendigkeit zu bewahren, mit Tom oder Jim zu tanzen. Einen Augenblick schien es, als wollte er sie nicht verstehen, aber dann erhob er sich entschlossen und forderte sie auf.

Anfangs tanzten sie schweigend, von dem Auftritt ganz in Anspruch genommen, der sich am Tisch des englischen Gesandten abspielte. Hubert hatte eine Absage erhalten, schien aber nicht gesonnen, sich damit zufrieden zu geben. Er sprach eifrig auf den englischen Gesandten ein, sichtlich bemüht, ihn von der Harmlosigkeit seiner Absichten zu überzeugen. Jetzt stand der Gesandte auf und sah sich hilfesuchend um. Aber der Geschäftsführer, nach dem er spähte, war in den Erdboden versunken. Nichts konnte diesem tüchtigen Mann ungelegener kommen als die Notwendigkeit, sich mit einem Gast Mr. Harrogates zu verfeinden.

»Verlassen Sie sofort meinen Tisch«, sagte der Engländer scharf und nicht sehr laut. Man hatte es aber doch an vielen Tischen gehört, und die Köpfe der Gäste rückten zusammen.

»Aber ich will nur einen Tanz«, widersprach Hubert, sichtlich schon etwas gereizt. »Ihnen wird davon nicht gleich ein Zacken aus Ihrer Krone brechen – – –«

Weiter kam er nicht. Der Gesandte hatte seiner Gattin einen Wink gegeben, und schweigend, mit ernsten Gesichtern, verließen sie den Raum. Hubert stand noch eine Weile da und sah ihnen ziemlich blöde nach, dann senkte er traurig den Kopf und trottete an seinen Tisch zurück.

»Das kommt morgen in die Zeitung«, sagte Tamara Harrogate ruhig. »Ich sehe dort am Tisch zwei Berichterstatter.«

»Sicherlich kommt es in die Zeitung«, gab Flannagan ruhig zu.

Eine Weile schwiegen beide. Sie tanzten ausgezeichnet, und das, was Tom und Flannagans Braut verdarben, das machte dieses Paar wieder wett. Es war wirklich nicht zu sehen, ob das Publikum es vorzog, das eine lächerliche oder dieses ausgezeichnete Tanzpaar zu beobachten.

»Sie tanzen vorzüglich«, sagte Miß Harrogate anerkennend. »Das haben Sie wohl in Ihren guten Tagen gelernt?«

»Ja«, antwortete er beherrscht. »Als ich noch nicht trank.«

»Und warum fingen Sie an – zu trinken?« fragte sie.

Er zuckte die Achseln.

»Fragen Sie einen Verliebten, warum er anfing zu lieben.«

»Also keine Antwort«, stellte sie fest. »Gut, dann will ich Sie etwas anderes fragen: Haben Sie sich schon einmal im Leben geschämt? Ich meine, so richtig geschämt, daß Sie am liebsten hätten weinen mögen?«

»Nein«, antwortete er schroff.

»Ich bis heute auch nicht«, sagte sie langsam. »Dieses Gefühl habe ich erst am heutigen Abend kennen gelernt. Ich habe mich so furchtbar geschämt – die ganze Zeit … Ich kann es Ihnen gar nicht schildern – – –«

»Warum sollten Sie sich schämen?« meinte er verwundert.

»Ich schäme mich – für Sie!« sagte sie streng.

»Ah!«

»Für Sie!« wiederholte sie. »Was können Ihre Freunde dafür, daß sie sich lächerlich machen? Was kann Ihre – Braut dafür, daß sie nicht weiß, was in guter Gesellschaft erlaubt und was es nicht ist? Aber Sie, ein gebildeter Mann, der was von der Welt gesehen hat, – Ihnen macht es Vergnügen, einen alten Mann mit grauen Haaren in tödliche Verlegenheit zu bringen! Sie empfinden Freude darüber, diesen Mann lächerlich zu machen und ihn folglich sogar auch geschäftlich zu schädigen! Ihnen, dem gebildeten Mann mit guten Manieren, Ihnen kommt gar nicht der Gedanke, wie häßlich dieses Ausnutzen der Angst eines Vaters um das Leben seines Kindes ist …«

Sie schwieg, denn der Tanz war beendet, und alle kehrten an ihre Plätze zurück. Flannagan machte ein recht unzufriedenes Gesicht dabei.

»Nun«, sagte er aufatmend, als sie Platz genommen hatten, »man kann die Sache auch von verschiedenen anderen Seiten aus betrachten – – –«

Miß Harrogate unterbrach ihn lächelnd:

»Sie werden sicherlich noch Gelegenheit haben, mir diese anderen Seiten zu zeigen«, sagte sie ihm freundlich. Man hatte wirklich den Eindruck, das Gespräch der beiden habe sich um recht unwichtige Dinge gedreht.

Hubert saß an seinem Platz, feuerrot im Gesicht, denn er fühlte sich blamiert. Und er hatte den ernsten Wunsch, den ungünstigen Eindruck, den er hervorgerufen, wieder wettzumachen.

»Ich will Ihnen mal 'ne spannende Geschichte erzählen«, begann er, krampfhaft bemüht, heiter zu erscheinen. »Die Geschichte is' von großer Bedeutung für unsere Damen. Es handelt sich dabei um Mädchenhandel« – – –

Etwas Unerwartetes geschah. Flannagan hatte sich jäh vorgeneigt und starrte Hubert so finster an, daß dieser erschrocken verstummte.

»Halt den Schnabel!« befahl Flannagan streng.

»Aber ich … Aber … Aber wir hatten doch be – be – bespro – – –« verteidigte sich Hubert mit weinerlicher Stimme.

»Wenn du nicht augenblicklich den Mund hältst, fliegst du über das Gitter«, sagte Flannagan drohend. »Es geht zweiunddreißig Stockwerke tief hinab.«

Hubert schwieg. Mit trauriger Miene lud er sich eine neue Portion Eis auf und widmete sich gekränkt dem Verspeisen.

Flannagan griff nach seinem Glas und stürzte es durstig hinab. Aufatmend stellte er es auf den Tisch und sah zu Mr. Harrogate hin, wobei er es vermied, dem Blick Miß Harrogates zu begegnen.

»Ich werde morgen früh um neun bei Ihnen vorsprechen, um alles Nötige über den Fall Ihres Söhnchens zu beraten«, sagte er sachlich. »Wir müssen jedenfalls schnell und entschlossen vorgehen, wenn wir da etwas erreichen wollen.«

Harrogate, der sehr müde und angegriffen aussah, nickte eifrig.

»Ja, kommen Sie bitte gleich morgen. Ich werde auf Sie warten, und – – –«

Er schwieg, denn Flannagan hatte sich plötzlich an die Brust gegriffen und starrte mit einem so entsetzten Ausdruck im Gesicht um sich, daß alle erschraken. Dann sprang er auf, taumelte und sank wieder auf seinen Stuhl zurück.

»Was ist geschehen? Was? Fehlt Ihnen was?« riefen zwei, drei, viele Stimmen auf einmal durcheinander.

Flannagans Gesicht verzog sich zu einer schmerzlichen Grimasse. Dann preßten sich seine Lippen fest aufeinander, und dann öffnete er den Mund und sprach – langsam, mit Anstrengung, und jeder fühlte, wie wichtig ihm jedes Wort sei:

»Ich – vergiftet – – – Krankenwagen – bestellen – Zum – Krankenhaus – – – Polizeiarzt – Dr. Henderson – zu – mir – bestellen. – Schnell – schnell – schnell – – –«

Sekundenlang standen noch alle um ihn herum und stierten ihn an. Zu unerwartet war das gekommen. Aber dann stoben sie alle auseinander, schreiend, mit den Armen fuchtelnd und einer den andern hindernd, etwas Nützliches zu unternehmen.

Miß Harrogate hatte sich als erste gefaßt.

»Einen Arzt!« schrie sie laut. »Ist kein Arzt anwesend?« Dann wandte sie sich streng an Flannagans drei Freunde: »Habt ihr nicht gehört, was er befahl?«

Die Musik, die bis jetzt immer noch gespielt hatte, brach mit einem Mißton ab. Menschen, Kellner und Gäste liefen herbei. Man schrie, man jammerte und tat nichts, um dem Unglücklichen zu helfen. Es vergingen drei, vier Minuten, bis es sich herausstellte, daß hier kein Arzt anwesend war.

In dem allgemeinen Trubel fiel es niemandem auf, daß Inspektor Reginald Bath sich entfernt hatte und auch nicht wieder erschien.


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