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»Still doch, lassen Sie mich in Frieden,« schimpfte Doktor Maingot.
Er legte seine Zigarre auf den Aschbecher und sagte sehr ernst:
»So, da ist die dritte Majeure: drei Aß, drei Könige, drei Zehner. So! Darüber kann wohl keiner!«
Damit breitete er vergnügt seine Reichtümer vor sich aus und fragte: »Was wünschen Sie, mein Lieber?«
»Doktor,« erwiderte der junge Staatsanwalt Lorillon, »Chauvon behauptet, er könne mich hypnotisieren.«
Maingot zuckte die Achseln und rief mir zu: »Weiter, weiter, das sind Dummheiten … So, Sie spielen Treff … Ah! Sie spielen Treff? Um so schlimmer für Sie!«
Aber Lorillon war hartnäckig. »Glauben Sie, daß man mich wider meinen Willen hypnotisieren kann?«
Der Doktor nahm seine Zigarre, und während er seine vierte Majeure aufreihte, grinste er:
»Bleiben Sie bei Ihren Akten, scharfsinniger Herr Jurist, und lassen Sie die Hand vom Hypnotismus, Sie könnten sich verbrennen.«
»Erlauben Sie, ich bin doch kein grüner Junge mehr.«
»Nein, nein, aber sehen Sie, Sie stören mich, zum Donnerwetter!«
Während ich die Points unserer vier Partien addierte, lehnte sich Maingot in seinen Sessel zurück und stieß große Rauchwolken aus.
»Ah, Sie wollen in die Fußtapfen Charcots, Bernheims und Richets treten! Schön, schön! Sie werden sich ebenso verdreht machen, wie so viele andere. Sie werden Schweinsblasen für Laternen ansehen, und der Herr Staatsanwalt werden in der Zelle endigen …«
Dann plötzlich ernst werdend, schüttelte er den Kopf:
»Das ist der Rachen der Finsternis, das ist der Abgrund! Es wird ja vielleicht einmal die Zeit kommen, wo wir das Chaos entwirren können, aber vorläufig gebe ich Ihnen den guten Rat, hüten Sie sich vor diesem Sport. Wenn man nicht einen Fachmann zur Seite hat, pantscht man da nicht ohne Gefahr herum!«
»Aber wir haben ja den Fachmann, wir haben ja Sie!« erwiderte Lorillon! »Und an Versuchspersonen fehlt's auch nicht. Wissen Sie was, halten Sie uns doch an einem der nächsten Abende einen schönen Experimentalvortrag über Suggestion und Hypnotismus. Als Staatsanwalt finde ich da vielleicht Belehrung zum Thema Simulation; und dann ich, für meine Person, möchte gerne feststellen, wie weit der Widerstand des freien Willens geht.«
»Ja, guter Freund, wofür halten Sie mich denn? Wir Aerzte, merken Sie sich das ein für allemal, gehen nicht gerne weiter ins Wasser, als wir festen Boden unter den Füßen fühlen; denn es gehört zum Wesen unseres Berufes, nichts zu tun, was unsern Nimbus zerstört. Vergessen Sie doch nicht, weit mehr als mit dem Rezeptbuch heilen wir durch unser sorgfältig überwachtes Benehmen. Eine ehrfürchtige Scheu, ein gewisser heiliger Schrecken muß bei unserem Anblick den Kranken und seine Familie erfassen. Aesculap war ein Gott, mein Lieber. Selbst der energischste, streng logisch denkende Mensch muß vor uns zu einem kleinen, sich anschmiegenden Kinde werden. Deshalb darf nichts unsere Autorität herabsetzen. Wir müssen jedes lächerliche Benehmen vermeiden, jede ungeschickte Bewegung und zweideutige Situation. Nur so entsteht die notwendige Autosuggestion des Patienten. Unsere Gegenwart erleichtert ihn, gerade weil uns etwas Mysteriöses umgibt und wir die Geheimnisse des Lebens in Händen zu halten scheinen. Und Sie verlangen von mir, dem medizinischen Sachverständigen des Gerichts von Mauves, dem leitenden Arzt des Krankenhauses von Mauves, daß ich mich in einen Salon stelle und Augen aus den Köpfen treten lasse, auf geschlossene Augenlider puste und auf hysterisch gekrampfte Hände klopfe! Von dem Augenblick an, mein Lieber, würde ich keinen Menschen mehr heilen können.«
Der Kellner des Klubs kam und sagte Doktor Maingot etwas ins Ohr. Der Doktor erhob sich und drückte uns eilig die Hände.
Während er im Vorzimmer mit den Aermeln seines Ueberziehers sich abmühte, hörten wir ihn schimpfen: »Na ja, ich komme schon. Aber was ist das für eine Art, um solche Zeit niederzukommen! Haben Sie einen Wagen? Es ist finster wie in einem Ofen.«
Am nächsten Tage erwartete ich den Doktor an unserem gewöhnlichen Spieltisch. Er kam mit Verspätung und lange nicht so heiter wie sonst, und während er mir 2000 Points abknöpfte, machte er kaum einmal den Mund auf. Erst vor der großen Schlußsumme der Addition schien er wieder einigermaßen guter Laune zu werden. Er schlug mir einen Spaziergang an den Quais vor. Ich witterte die Erzählung eines interessanten Erlebnisses und war sofort bereit. Aber ich hütete mich, ihn zu drängen; denn ich wußte aus Erfahrung, daß er solche Aufforderungen haßte und schon von allein anfangen würde zu sprechen.
Wir gingen langsam die verlassenen Trottoirs entlang. Er pfiff den Refrain eines alten Studentenliedes. Die großen da vor Anker liegenden Dampfer schienen auf dem still dahinfließenden Wasser zu schlafen. Die Reihen der Gaslaternen an den beiden Ufern des Flusses verloren sich ins Unerkennbare. Auf der anderen Seite der Loire lud man aus einem Schiffe Kohlen aus. Ein unausgesetztes Knirschen erfüllte die Nacht, ein wütender Lärm von Kolbenstößen und plötzlichem Rattern. Beim Licht der großen Petroleumfackeln sahen wir die riesenhaften und doch so präzisen Bewegungen der Kräne und das Schwanken ihrer großen Förderschalen.
Unser Ohr vernahm den mächtigen Lebensrhythmus der Maschinen, durchbrochen von schrillen, taktmäßigen Rufen. Plötzlich fragte mich Maingot:
»Kennen Sie das Ehepaar Rosalba?«
»Wer kennt die denn nicht? Und ich kenne sie sogar etwas näher. Ich habe sie nämlich im vorigen Jahr miteinander versöhnt.«
»Ach nein!«
»Ja, ja; sie wollten sich scheiden lassen; die Frau wenigstens wollte es. Sie konsultierte mich. Ich habe ihr im Guten und Bösen zugeredet, und vierundzwanzig Stunden später haben die beiden sich in meinem Bureau umarmt. Es hat niemand sonst etwas davon gewußt, und ich rechne auf Ihre Diskretion. Sie haben mir dann eine hübsche und geradezu einzigartige Reproduktion der Wachsbüste aus dem Wicar-Museum geschenkt. Sie haben sie gewiß bei mir gesehen?«
»Was? Der spitzbübische kleine Kopf, der ebensosehr der heiligen Jungfrau als der Venus von Ille ähnelt?«
»Ganz recht!«
»So, so; sagen Sie mal, wie leben denn diese Rosalbas? Sind es denn eigentlich Franzosen?«
»Sie leben auf großem Fuße, aber hauptsächlich auf Kredit, wie ich glaube; denn man weiß weder etwas von Gütern, die ihnen gehören, noch von einem Guthaben auf der Bank. Gleichviel, sie sind sehr schick, sehr gerne aufgenommen, verhätschelt, selbst von der allerersten Aristokratie. Welcher Nationalität sie sind? Das ist so eine Sache, ich glaube, sie kommen aus Nizza … Vielleicht kommen sie auch aus der Polakei. Oder sonst woher. Jedenfalls müssen sie doch Franzosen sein, wenigstens naturalisierte Franzosen, sonst hätten sie ja nicht ihre Scheidung vor dem Gericht von Mauves betreiben können.«
»Man trifft sie viel in der Gesellschaft?«
»Ja, gewiß. Bei dem Namen!«
»Wieso, bei dem Namen?«
»Aber ich bitte Sie, das ist doch ganz klar. Dieselben Leute, die einen Dupont oder Durand kaum ansehen, öffnen ohne weiteres die Tür ihres Allerheiligsten einem Delponte oder einem Durandoff. Das hat eben den beliebten exotischen Zug, das schmeckt so nach vornehmen Herrschaften, die inkognito reisen und rein um nicht zu genieren ihre Kronen im Vorzimmer zurücklassen. Und nun solch ein Name wie Rosalba, ich bitte Sie! Man denkt doch sofort an Marquis, Grafen, Prinzen, an Gesandtschaft, an den päpstlichen Hof, an das Knistern von Kardinalsmänteln, an römische Paläste und Villen, an den Neffen eines Papstes. So einen Namen sieht man gleich auf Marmor, mit einem Wappenschild darüber.«
»Hören Sie auf, hören Sie auf! Sagen Sie mal, können Sie mir eine sehr indiskrete Frage beantworten?«
»Na, wissen Sie …«
»Hat Frau Rosalba einen Geliebten? Sie müssen doch darüber orientiert sein.«
»Wieso interessiert Sie das? Außerdem verbietet mir das Berufsgeheimnis …«
»Na, Sie wissen doch, ich bin so ein bißchen fürs Komplizierte und mache so für mich allerlei Kombinationen. Und als Arzt weiß ich ja zu schweigen. Also ganz ohne Besorgnis und gerade heraus: Ja oder nein?«
»Nun wohl: Ja. Wenigstens hatte sie einen Geliebten; wahrscheinlich hat sie ihn noch.«
»Er wohnt in Mauves.«
»Ja, in Mauves oder Umgegend.«
»Sie kennen ihn?«
»Ja.«
»Danke schön. Uebrigens ist Herr Rosalba heute um 7 Uhr abends gestorben. Das ist nebenbei gesagt der Grund, weshalb ich so spät in den Klub kam; ich bin erst um 8 Uhr zum Essen gekommen.«
Und mit philosophischer Ruhe zündete Doktor Maingot seine zweite Zigarre an dem Stummel der ersten an. Ich konnte einen Ausruf nicht unterdrücken, und Gott weiß, was der Doktor aus ihm heraushörte; denn er beeilte sich, hinzuzufügen:
»Er ist einen sehr schönen Tod gestorben. Ich habe bereits das Zeugnis ausgestellt und bin jederzeit bereit, es vor Gericht zu bekräftigen. Niemand hat ihn auch nur mit einem Finger angerührt, und von Selbstmord ist ebenfalls nicht die Rede; also keine Spur von Roman. Das scheint Sie zu ärgern?«
»Wie kamen Sie denn dahin? Sie sind doch nicht der Hausarzt?«
»Gott, nein, aber man hat mich von der Straße heraufgeholt. Der Concierge des Hauses, den ich im Lazarett behandelt habe, sah mich vorübergehen, gerade als das Dienstmädchen mit der Nachricht herunterstürzte.«
»Das ist ein Ereignis! Das wird schönes Aufsehen machen! Woran ist denn der Unglückliche gestorben?«
Maingot blieb stehen und faßte mich am Aermel:
»Hören Sie mal, keine Dummheiten! Ich schwöre Ihnen zu, daß er auf die natürlichste Weise von der Welt gestorben ist. Er soll schon immer ein bißchen Atembeschwerden gehabt haben, eine Influenza kam hinzu, und er ist einem echten und rechten Erstickungsanfall erlegen. Nichts Einfacheres als das. Ich fand ihn im Sessel, mit der Zeitung auf den Knien. Er war mausetot, und seine Frau riß sich förmlich die Haare aus. Ein verdammt hübsches Weib. Sie zitterte übrigens wie Pythia, und ihre Augen glitzerten und sprühten merkwürdig. Ich habe ihr Brom eingegeben … Also auf morgen. Meine Wöchnerin von gestern beunruhigt mich ein wenig. Ich muß nach Hause, ich werde vielleicht gerufen.«
Wie ich zum Doktor gesagt hatte, der plötzliche Tod des Herrn Rosalba erregte ungeheures Aufsehen; die ganze feine Gesellschaft von Mauves kam schmerzlich bewegt der Witwe ihr Beileid ausdrücken. Ihre adligen Freundinnen wichen überhaupt nicht mehr von der Stelle. Sie dampften vor Ungeduld, die Traueranzeige zu sehen und aus ihr die Familie des Verstorbenen kennen zu lernen.
Das gab nun eine Genugtuung ohnegleichen: ein Kommandeur kam als sein Onkel zum Vorschein und eine Anzahl Kammerherren als seine Vettern. Außerdem erfuhr man jetzt, daß der Verstorbene aus Savoyen stammte.
Es gab eine Trauerfeierlichkeit mit Wappen, mit Musik und mit ganzen Hainen von Rosen und Chrysanthemen. Die Leiche nahm ein von dort unten hergekommener Verwandter mit, und am Tage darauf nahm das Leben wieder seinen gewöhnlichen Lauf.
Mir aber kam doch sehr oft wieder Maingots Frage in den Sinn, wenn ich bei meiner Lampe am Arbeitstische saß. Unwillkürlich mußte ich dann die Augen erheben; in dem Halbdunkel erblickte ich dann das rätselhafte Gesicht aus Wachs. Ich konnte mich eines gewissen Unbehagens nicht erwehren. Dieser Kopf aus Wachs, der mir die Erinnerung an die Ehe Rosalba aufrecht erhielt, begann einen merkwürdigen, geheimnisvollen Ausdruck anzunehmen. Je schärfer ich den Kopf ins Auge faßte, destomehr vertiefte sich auch sein verschleiertes Lächeln; die feinen Nasenflügel schienen sich zu weiten; das ganze Gesicht spitzte sich wie vor Ironie zu. Ich trat näher an die Wachsbüste heran und ließ das Licht voll auf sie fallen, indem ich die Lampe in die Höhe ihrer Augen hob; und sofort wurde die Sphinx ein kränkliches kleines Mädchen mit eigensinnig gebeugter Stirn und vor dem hellen Licht blinzelnden kranken Augenlidern. Aber kaum entfernte ich mich etwas, so kam wieder der maliziöse Ausdruck zum Vorschein.
Bei hellem Tageslicht war all dies Blendwerk wie fortgeweht: da blieb nur ein Bild voller Sanftheit und friedlicher Trauer, mit weichen Konturen und einer müden Haltung. Aber wenn die Stille der Dämmerung wieder herabsank, wenn ich meine Lampe anzündete: sofort geschah auch wieder die Verwandlung. Aus ihrem Winkel heraus schien sie irgend etwas Schrecklichem zuzusehen, das da irgendwo fern im Raum und in der Zeit geschah. Ihre Lässigkeit verwandelte sich in Sammlung, ihre kaum angedeuteten Augenbrauen schienen sich zusammenzuziehen, und sie schien ihr Ohr irgendwelchen geheimnisvollen Tönen zuzuwenden. Mehr als einmal, wenn ich sie so heimlich beobachtete, hatte ich den unbestimmten Eindruck eines übernatürlichen Lebens. Ich hatte das unheimliche Gefühl, als ob der unbekannte Künstler, der einst die feinen Formen des Originals geschaffen, noch hier nm die Kopie herumstrich und sie mit einem unseren unvollkommenen Sinnen nicht wahrnehmbarem Hauch belebte.
Ja, ja, Maingot hatte ganz richtig empfunden: sie war die Schwester jener Venus von Ille, die durchaus nicht in allen Stücken Mérimées Phantasie entstammte, die Schwester jenes Idols mit den schräg geschnittenen Augen, auf deren Sockel die Worte standen: Cave amantem. – Hüte dich vor dem, der liebt.
Mein erhitztes Gehirn ließ all die heroischen und perversen Buhlerinnen vorbeipassieren: Calirrhoé, Jokaste und Helena; die ganze böse Schar mit dem grausamen Lächeln.
Meine Gedanken kehrten zu jener Promenade an den einsamen Quais zurück, zu der merkwürdig hartnäckigen Frage Maingots, ob Frau Rosalba einen Geliebten hätte. Nie wieder war er auch nur mit einem Wort darauf zurückgekommen. Wir hatten nach wie vor unsere Spielabende im Klub, doch nie kam er auch nur mit einer Silbe auf die Angelegenheit zurück. Nur ließen mich zwei, drei kurze Sätze, die ihm gelegentlich entschlüpften, vermuten, daß der Hypnotismus und die Suggestion, für die sich der junge Staatsanwalt so interessierte, ihn nunmehr ebenfalls stark beschäftigten. Aber da mir seine Verschlossenheit bekannt war, begnügte ich mich mit jener Beobachtung und überließ es der Zukunft, die Konsequenzen zu enthüllen.
Ich begegnete oft dem mehr oder weniger ehemaligen Geliebten meiner Klientin. Er grüßte mich mit ganz außerordentlicher Höflichkeit, in der ein ganz klein wenig Erinnerung an jenes Geheimnis zu liegen schien, dessen Mitwisser ich war. Dieser Geliebte war ein gewisser Herr Le Herpeur vom alten Chouan-Adel, wie man sagte, und einer der größten Jäger der Umgegend. Er galt für wenig gesellig und für sehr hochmütig. Sehr sonderbare Gerüchte liefen über ihn um, aber sie entsprangen wahrscheinlich der Eifersucht anderer Jäger. Was auch daran richtig sein mochte, jedenfalls tadelte man an ihm, daß er Dinge wie Tischrücken betrieb, und die Krautjunker mit ihrer naiven Psychologie nannten ihn allgemein den Hexenmeister. –
Was Frau Rosalba anbetrifft, so wurde sie immer beliebter in der Gesellschaft. Dabei ging sie sehr wenig aus, trug in keiner Weise ihre Trauer zur Schau und empfing nur ihre nächste Bekanntschaft, die allerdings sich außerordentlich weit erstreckte und durch Ausdehnung ersetzte, was ihr an Tiefe fehlte. Kurz, sie bereitete mit außerordentlichem Takte ihr Wiedererscheinen in »der Welt« vor. Sie kapitalisierte gewissermaßen die Sympathie, die ihr zu erweisen zum guten Ton gehörte, und sicherte sich so für den Tag ihrer Wiederauferstehung ein großes Einkommen an Achtung und Begehrtheit. So schlecht man auch in Mauves über seine Mitmenschen zu sprechen pflegte, an Frau Rosalba wagte die üble Nachrede sich nicht von weitem heran. Für den großen Haufen war sie die schöne, die elegante Frau Rosalba; für ihre vornehmen Freundinnen die arme, kleine Theresina, für alle Welt aber geradezu ein Ideal an feinem Benehmen, Würde und Takt. Maingot, so schien es mir, hatte sie völlig vergessen; kaum daß er dann und wann, wenn er ihren Namen nennen hörte, ausrief: »Ein verdammt hübsches Weib!« – was beinahe verletzend aus dem ihr stets nachfolgenden respektvollen Murmeln herausplatzte.
Was meine Wachsbüste anlangt, so weiß ich nicht, wie sie darüber dachte. – Sobald ich meine Lampe angezündet hatte, rückte ich meinen Sessel so, daß meine Augen beim Aufblicken nicht auf sie fielen. Ich hätte sie ja eigentlich auch irgendwo in meinem Rücken aufstellen können, etwa auf dem Kamin. Aber abgesehen davon, daß die Wärme ihr nicht gut bekommen wäre, wäre es mir doch etwas unheimlich gewesen, sie in meinem Rücken zu wissen, während ich dasaß und schrieb.
Tage und Monate waren dahingegangen. Die Habitués des Klubs brachten nunmehr ihre Abende auf dem Balkon zu. Weder Billard noch Kartenspiel konnten sie locken. Das war nicht mehr das schläfrige Winterdasein; unsere Nerven entspannten sich, unsere Poren öffneten sich weiter. – Von den Wäldern kam der Duft frischen Grüns und frischen Saftes herüber, und aus den Gärten Fliedergeruch. Allerlei banale Frühlingsgedanken wurden ausgesprochen, selbst von Leuten wie Lorillon und Maingot, Worte, aus denen doch wenigstens das Bedürfnis nach Schönheit sprach, das selbst in den scheinbar ganz an den nüchternen Tatsachen hängenden Menschen schlummert. – Wir pflegten abends sehr lang auf dem Balkon zu bleiben. Das langsam fließende Wasser, das da zu unseren Füßen in seinem Granitbett rollte, und die Mondsichel, die am Maihimmel heraufstieg und sich in den silbernen Wellen spiegelte, hielten uns in ihrem Bann.
Um diese Stunde geheim erregter Stille, da die Naturkräfte uns und alle Wesen und Dinge ganz allmählich überfluten, saugen unsere Sinne, je mehr ihre Reichweite sich verengt, um so begieriger die Formen und Töne auf, die noch für uns lebendig bleiben.
Wir verfolgten ein Schiff, das eben die Anker gelichtet hatte und nun meerwärts hinabfuhr. Ganz sachte fuhr es, und die Schiffschraube arbeitete mit ganz geringem Geräusch. Zwischen den Hügeln sahen wir das weiße Licht am Fockmast glitzern, ohne daß wir den Mast selbst unterscheiden konnten; dann am Steuerbord das grünglitzernde Licht. Wir folgten dem Schiff, wie einem Freunde, der uns verläßt und im Begriffe ist, auf gefährliche Reisen zu gehen. Unsere Einbildung dichtete ihm ungeheure Schätze an, trotzdem es nur ein einfaches Kohlenschiff von Newcastle war. Und als es an einer Biegung des Ufers verschwand, spähten wir noch lange durch den Vorhang, den die Wipfel der Pappeln bildeten, nach dem unbestimmten Licht seiner Signallaternen …
Maingot, der das Haupt auf die Mauer gestützt, die Füße à la Yankee auf die Balustrade gelegt, dagesessen hatte, rüttelte uns plötzlich aus unserer Schläfrigkeit auf und begann von altem Hexenzauber zu reden, von dem Knoten des Liebesgürtels, von Zaubereinflüssen durch Bilder. Mit einer ganz seltenen Gesprächigkeit verbreitete er sich über dieses Thema, und ungläubiges Lachen nahm die Erzählung dieser Wundermärchen auf.
»Lacht nur, lacht nur,« sagte er, ohne sich zu ärgern. »Ich scheine euch hier Ammenmärchen zu erzählen; aber es ist nun mal so, daß Jahrhunderte, die mindestens so viel wert gewesen sind als das unsrige, im Glauben an diese Dinge gelebt haben, im Glauben an bösartige, geheimnisvolle Einflüsse, an Zaubereien und Beschwörungen und Werke des Teufels. Sie haben uns die Tatsachen überliefert, und da das Zeugnis unserer Vorfahren die einzige Quelle unserer Kenntnis der Vergangenheit ist, sehe ich nicht ein, warum wir ohne weiteres die von ihnen ausgezeichneten Erscheinungen ableugnen sollen, so ungeheuerlich sie uns auch erscheinen. Ich für meinen Teil, ich glaube gerade so viel an das Teufelswerk eines Gilles de Rais als an die Existenz Karls des Großen. – Ist es nicht soeben erst Oberst Rochas gelungen, die Sinnesempfindungen zu exteriorisieren: hat er nicht wie von kleinen Stichen herrührende Narben an Personen hervorgerufen, indem er die Spitze einer Lanzette auf ihre Photographie drückte, nachdem er dieser die Sensibilität des Originals verliehen hatte?« …
Und indem er sich zu mir wandte, fügte er hinzu: »Sehen Sie, ich würde gar nicht überrascht sein, wenn das Original dieses Köpfchens in Wachs, das Sie so lieben, einmal dazu gedient hätte, jemand zu ermorden. Ich erinnere mich freilich nicht genau des Gesichtes, aber es sieht nach 15. Jahrhundert und italienischer Herkunft aus. Zu jener Zeit hatte man eine verdammte Geschicklichkeit, jemand plötzlich sterben zu lassen.«
»Sieh, sieh, der Doktor bekehrt sich,« murmelte Lorillon. »Da werde ich wohl auch zu meiner hypnotischen Sitzung kommen.«
In mir hatten diese Worte vom plötzlichen Tod und die Anspielung auf das Geschenk meiner Klienten Rosalba einen bizarren Verdacht erweckt, aber ich hütete mich, etwas zu sagen.
Maingot erhob sich und stützte sich mit den Ellbogen auf die Rampe des Balkons, und ohne dem Staatsanwalt zu antworten, setzte er seinen Monolog fort:
»Was wissen wir denn überhaupt! Was uns heute übernatürlich erscheint, ist morgen ein Bestandteil der Wissenschaft. Unsere Wundertäter von heute nennen sich Richet oder Beaunis. Man streut ihnen Weihrauch, anstatt sie zu verbrennen. Das ist für die Zuschauer auch weniger unangenehm. Im Grunde genommen haben wir keinen Fortschritt gemacht. Die Wissenschaft, das ist nur das Wunder im akademischen Frack. Worauf es beruht, das ist uns nicht viel klarer geworden. Der einzige Unterschied ist, daß man es anerkennt und mit ihm rechnet. Im übrigen wird nie die Zeit kommen, wo man seine innerste Wesenheit erkennen kann.« – – –
»Nein, nein,« fuhr der Doktor fort, »niemals wird man etwas davon verstehen, gerade so wenig, wie wir von der Magnetnadel etwas verstehen. Eure Gerichte, eure Untersuchungsrichter werden sich dieser Kenntnisse bedienen, und das wird da hübsche Theatercoups geben. Man wird die zauberische Beeinflussung vermittelst der Porträts wieder entdecken. Wir kommen wieder um eine Stufe weiter in der Durchdringung der Dinge, ohne indessen bis zu den Anfangsgründen durchdringen zu können, – immerhin, wir kommen weiter. Wir erheben uns von der unmittelbaren Anschauung zum Mittelbaren, geistig Erschlossenen. Wir ahnen bisher unbekannte Zweige der Wissenschaft. Die willkürlichen wissenschaftlichen Klassifikationen brechen zusammen, die Lücken füllen sich, das Ganze schließt sich zusammen. Das müßte ein verteufelt schlauer Kerl sein, der heute die Grenze zwischen den psychischen Tatsachen, die vom Gehirn abhängen, und zwischen den verflixten Reflexen, die vom Rückenmark ausgehen, ziehen könnte. Ja, ja, die Wunderärzte und Magiker von ehemals, die wußten da Bescheid. Die waren unsere Vorläufer, und wir müssen erst wieder unter dem Spott der offiziellen Wissenschaft und dem Lärm der sich bedroht fühlenden Religionen ihre verlorene Wissenschaft wiederherstellen. – Zuerst hat man bewiesen, daß ein anderer auf unsere psychischen Akte wirken kann; im hypnotischen Schlaf hat man an die Stelle des eigenen Willens einen fremden gesetzt, wir wachen auf und haben unseren freien Willen verloren, sind unserer Persönlichkeit beraubt, haben kein Gewissen, keine Verantwortlichkeit. – Dann hat man sich weiter in das geheimnisvolle Land gewagt, wo der Reflex und die bewußte Handlung ineinander übergehen. – Man hat die Verdauung aufgehoben, den Atmungsvorgang beschleunigt oder aufgehalten. Wir haben unter unsern vor Staunen blöden Augen Menschen in unserer Gewalt gehabt wie einen Vogel, der unter der Glocke der Luftpumpe mit den Flügeln schlägt. Wir haben in den Kraftquellen des Lebens selbst Veränderungen hervorgerufen, wir haben Verstopfung hervorgerufen und Atemnot, trotz des verzweifelten Widerstandes des Willens, der bis zu einem bestimmten Grade auf die Funktion der Verdauung und der Atmung Einfluß ausübt. Durch bloße Einwirkung des Gehirns auf das Gehirn haben wir all das fertig gebracht.«
Er schwieg einen Augenblick nachdenklich, und sagte dann ganz langsam, nach den Worten suchend:
»Kann man noch weiter gehen? Könnte man vielleicht sogar den eigentlichen, dem Willen ganz entzogenen Reflexen befehlen? Kann man vielleicht z. B. auf den Blutumlauf einwirken, den Herzschlag schwächen oder verstärken, wie man eine Lampe herab- und heraufschrauben kann? Kann man ihn vielleicht ganz zum Stillstand bringen? Wenn ja, dann haben wir die Besessenheit wieder, dann haben wir die Verzauberung in ihrem teuflischen Glanz, dann sind wir angelangt bei dem Eritis similes Deo … Denn dann wird unser Gedanke dieselbe Wirkungskraft haben wie der Gedanke Gottes, und ein bloßes Wollen, ein bloßes Wünschen wird dann genügen, um zu töten, ohne daß die geringste Geste notwendig ist.«
Maingot schwieg. – Allmählich zerstreuten sich seine Zuhörer, wie ich glaube, unangenehm berührt von seinen seltsamen Reden. Lorillon schien ganz ernüchtert zu sein. Er verließ uns mit den Worten:
»Brr! – Das ist ja, um einem den Hypnotismus zu verekeln.«
Ich selbst kam in meine Wohnung zurück voll Phantasien von geheimnisvollen Einflüssen, von Verpflanzung der Individualitäten, erfüllt von einem Durcheinander dahinjagender, schauerlicher Ideen. – Als ich mein Arbeitszimmer durchschritt, um mich schlafen zu legen, beleuchtete im Vorübergehen mein Licht die Wachsbüste. Unwillkürlich blieb ich wie festgenagelt vor dem Phantom stehen, während meine Lippen murmelten: »Du mußt viel davon wissen.«
Ich sagte das ganz mechanisch aus dem Bedürfnis heraus, mein Unbehagen auszusprechen, vielleicht aus dem Bedürfnis heraus, meine Stimme zu hören und dadurch meine Nerven wieder ins Gleichgewicht zu bringen. – –
Sie schien mich aufmerksam anzuhören. Ihr verkniffenes Lächeln schien etwas wie eine Antwort zu enthalten. Und ich blieb vor ihr stehen, um sie näher zu betrachten, und hob und senkte meinen Leuchter, um dem wechselnden Ausdruck in dem Gesicht zu folgen. Bald hob ich den Arm und warf so Schlagschatten auf das Gesicht, so daß nur seine Umrisse aus dem Dunkel auftauchten. Nur der Stirnrand, die Backenknochen, die Spitze des Kinns waren dann erkennbar, das übrige schien zu zerfließen, sich aufzulösen. Bald wieder niederkniend, beleuchtete ich sie von unten. Dann schien ihr Lächeln zu erlöschen; ein beinahe göttlicher Ernst verklärte ihre Stirne, und ein tiefer Frieden goß Ruhe über sie. Aber ein Widerspruch war da: ihr paradoxer Blick aus den engen, zusammengekniffenen Augenlidern. –
Nach und nach schien Mir klar zu werden, wie dieses Werk entstanden war. – Ich sah den unbekannten Künstler das geliebte Gesicht einer kleinen Toten abformen, die feingeschnittene Nase, die engen Nasenflügel, die Lippen, die jetzt keine Klagen mehr ausstoßen konnten und entspannt waren durch eine Ruhe, die nichts mehr stören würde. Dann versuchte er dieses schlafende Gesicht wieder zu beleben und öffnete die geschlossenen Augenlider und formte diesen Blick heraus, der so merkwürdig in dem starren Gesicht blitzte, mit dem es in so völligem Widerspruch stand. – Beunruhigt von diesem entweihenden Widerspruch, den er geschaffen hatte, gab er die Arbeit auf und ließ die Büste unvollendet, bis Wicar sie fand, der dann 400 Jahre später sie zu vollenden versuchte. – – Aber als ich mich erhob, war ihr Gesicht von solcher Ironie übergossen, daß ich mich fragte, ob nicht vielleicht wirklich der Doktor richtig ahnte und ob dieses Werk, von dem ich eben angenommen hatte, daß es aus Liebe entsprungen, nicht vielmehr ein Werk der Bosheit wäre, geschaffen, um etwas Schreckliches zu bewirken. – –
Die ungewohnte Gesprächigkeit Maingots hatte mich frappiert. Ich wußte seit langem, daß er sich nicht gerne gehen ließ und er selten ohne ein bestimmtes Motiv sprach. Immer waren da Beziehungen zwischen dem Gegenstand, über den er sprach, und einer ihn im geheimen beschäftigenden Tatsache, von der die anderen nichts wußten. Für gewöhnlich, wenn er schon einmal öffentlich etwas auseinandersetzte, wollte er entweder irgendwelche, ihm zu irgend etwas dienende Bemerkungen provozieren, oder die angewandten Ausdrücke durch dem Effekt, den sie auf die Hörer ausübten, auf ihre Geeignetheit prüfen. Diesmal – daran war gar kein Zweifel – suchte er die verstreuten Glieder eines Gedankens zusammenzuschmieden und zu verketten, eines Gedankens, der mühsam sich seinem Geiste entrang. Er versuchte augenscheinlich noch wirre Ideen zu entwirren und ließ gewissermaßen eine Menge von Ausdrücken und Gedanken Revue passieren, um so vielleicht schließlich die exakte Formel zu finden. Er mußte auf richtiger Fährte sein. Ich hätte darauf wetten mögen, daß er die Arbeit noch fortsetzte, daß er sich abmühte, irgend eine im Vorübergehen ihm aufgefallene Tatsache, irgend eine Erinnerung, die sich ganz in sein Gedächtnis eingegraben hatte, unter dem Gesichtspunkte des Wunders und der Wissenschaft zu erklären … Aber was konnte das für eine Erinnerung sein? Welch undeutlich gesehenes Phänomen nahm in seinem Geiste festere Formen an und forderte seine leidenschaftliche Prüfung heraus? Zweifellos hatte das irgendwie mit Hypnotismus und Suggestion zu tun, und zwar in hohem Grade, sonst hätte er sich nicht dazu entschlossen, uns auf diesen schwankenden Boden zu führen, vor dessen Unsicherheit er vor kurzem noch zurückschreckte. Ich versuchte zuerst Stück für Stück das Gerüst abzutragen, das der Doktor vor mir aufgebaut hatte und hinter dem er sicherlich eine jener unvorhergesehenen Kombinationen zimmerte, in der seine grüblerische Art sich gefiel. Aber ich konnte hinter die Kombination selbst nicht kommen. Und als ich schließlich, ermüdet vom Grübeln, die Augen kaum noch aufhalten konnte, kam ich auf den Verdacht, daß es sich um nichts anderes handle, als Herrn Lorillon einige Bären aufzubinden, wie sie bei den alten Assistenzärzten der »Salpêtrière« bekannt und beliebt sind.
Aber am nächsten Morgen sah ich sogleich wieder ein, daß doch etwas Ernsteres dahinter stecken mußte. Der Doktor war nicht der Mann, zum Vergnügen und zur Erbauung eines jungen Staatsanwaltes den Pickmann oder Donato zu spielen. Ich verspürte, daß dahinter wieder mit Sorgfalt und Liebe eine Entschleierung vorbereitet wurde, die schon an irgend einem Tage stattfinden würde. Ich wußte noch nicht, worauf es hinaus sollte; aber ich wußte, Maingot liebte leidenschaftlich solche Unternehmungen, zu denen er ja auch in seiner Eigenschaft als Gerichtsarzt mehr als einmal Gelegenheit hatte. Ihn reizten und faszinierten ungeheuerliche Machenschaften, verzwickte oder gar perverse Verbrechen. Als geriebener Psychologe gefiel er sich darin, Kriminalakten zu studieren oder geheimnisvolle Winkel, die durch irgend einen Zufall des täglichen Lebens plötzlich vorübergehend erhellt wurden, zu durchforschen. Er tat es dann mit ganz langsamer, aber ebenso sicherer Logik. Er tat sich viel darauf zugute. – So war es ihm früher einmal gelungen, die bekannte Affäre Mathieu Michel, bei der es sich um einen Mord durch Erdrosselung handelte, aufzuklären, als alle Beweise schon versagt zu haben schienen. Er allein hatte gleich zu Anfang der Untersuchung entdeckt, daß die Wachtelschnur, die als Mordinstrument gedient hatte, durch eine linke Hand gedreht sein mußte, denn sie bildete eine von rechts nach links ansteigende Spirale. Er hatte ganz für sich daraufhin den Angeklagten beobachtet vom Beginn seiner Verhaftung an. Gelegentlich brachte er ihn auf scheinbar ganz natürliche Weise dazu, Feuer zu schlagen. Und während der Untersuchungsrichter Duplet und sein Gehilfe Lorillon und der Polizeikommissär Frost schon gar nicht mehr wußten, was sie von der Sache halten sollten, betrachtete Maingot in aller Gemütsruhe Mathieu Michel, dessen linke Hand, indem sie den Feuerstein schlug, den Urheber der linksansteigenden Spirale verriet. Als dann in der Gerichtssitzung die Anklage, trotz der ungesetzlichen Art der Verhandlungsführung schon beinahe zusammenbrach, löste, zum Entsetzen des Verbrechers, der Doktor die Frage in drei Worten. – – Was braute er nun diesmal zusammen? Vergebens durchsuchte ich mein Gedächtnis, um die tragischen Elemente aufzufinden, an denen sich der Spürsinn Maingots vielleicht in diesem Augenblick versuchte. – Unsere friedliche Stadt Mauves bot nichts dar, als seine gewöhnlichen kleinen Familienskandale. Nirgends die Spur eines Verbrechens. Während einer Minute legte sich meine Aufmerksamkeit allerdings auf das plötzliche Ende des Herrn Rosalba, aber sofort kam mir die ganz unzweideutige Versicherung des Doktors in den Sinn: »Niemand hat ihn auch nur mit einem Finger angerührt, und von Selbstmord ist ebenfalls nicht die Rede.« –
Die Gerichtsferien zerstreuten unseren kleinen Kreis, und erst im Herbst sah ich den Doktor wieder. Es war gegen Ende Oktober in einer Gesellschaft bei der alten, gastfreundlichen Baronin Cochart, in ihrem großen, schönen Schloß zu Lampérière, bei der die Aristokratie der Umgebung sowohl wie auch die reichen Fabrikanten in gleicher Weise verkehrten. Es ging nicht gerade sehr geistreich auf den Gesellschaften der Baronin zu. Bücher wie Zeitungen wurden gleichmäßig aus Lampérière verbannt, und niemals hatte man davon gehört, daß einer ihrer Gäste gegen diesen Ostrazismus protestiert oder auch nur gemerkt hätte, daß er überhaupt existierte. –
Diesen Herbst nun war Lampérière in voller Freude, denn man feierte Madame Rosalbas Wiedererscheinen in der Gesellschaft. Ihre vornehmen Freundinnen erstickten sie fast mit Zärtlichkeiten, und jede versuchte sie für sich zu monopolisieren und sich zu ihrer einzigen vertrauten Freundin zu machen, getrieben durch jene Wichtigtuerei, die so viele Frauen dazu führt, mit der ersten Besten intim zu werden, und durch jene Eifersucht, die oft ganz absurde Freundschaften und deren unangenehmste Folgen veranlaßt. – Auch einige alte Herren belagerten fortwährend die »arme Kleine«; diese zum mindesten mit ihren Gourmand-Gesichtern meinten es ganz ehrlich.
Maingot und ich fühlten uns eigentlich in diesem Kreis mit seinen kindischen und doch wichtigtuenden Prätentionen ziemlich fremd, und wir sahen uns wiederholt mit einem spöttischen Lächeln an. Immerhin fiel mir auf, daß der Doktor gleich von seinem Kommen an nervöser zu sein schien wie gewöhnlich. Ich für meinen Teil fühlte vom Beginn des Diners eine so drückende Langeweile, daß ich mir versprach, in dieser von lauter Vornehmheit versteiften Gesellschaft mich nicht allzu lange aufzuhalten. Rings um mich ließen die Frauen ihren Eitelkeiten freien Lauf in offenen oder verschleierten Worten. Die jungen Herren, an Damengesellschaft nicht sehr gewöhnt, aßen und sprachen wenig. Sie lauerten nur auf den Augenblick, wo sie ihre Zigarre anzünden und wo sie sich Spiel- und Jagdgeschichten erzählen konnten, völlig unfähig des beflügelten, in zierlichen Windungen sich bewegenden Gesprächs, wie es unsere Großeltern noch kannten.
Mein einziges Vergnügen an diesem Abend war, all die Hiebe, Stiche, Paraden zu beobachten, die zwischen meinen beiden Nachbarinnen gewechselt wurden. Es machte mir sehr viel Spaß, wie die Vicomtesse über meinen Kopf hinweg der Frau des Waffenfabrikanten ihre Schneiderin empfahl, und wie diese mit junonischem Lächeln antwortete: »Ja, ja, ich kenne sie, sie arbeitet immer für meine deutsche Gouvernante.« – Ich kannte sie auswendig, diese kleine vornehme Welt der Provinz mit ihrem engen Schädel, ihren lächerlichen Ansprüchen, deren brave Familienmütter ihre schwankenden Tugenden immer wieder in der Beichte stärkten und den Himmel durch große Bazare und Waldpicknicks zum besten des Freikaufs der jungen Patagonier und dergleichen zu erstürmen suchten. Und sie schwatzten und schwatzten! Es war wirklich kläglich; und die paar Sachen, die ich gelegentlich von Männern über Jagd und dergleichen hörte, hätten kaum genügt, mich auf die Dauer wach zu halten. Glücklicherweise bemerkte ich, daß der Doktor anfing, lebhaft zu werden. Er betrachtete mit blitzenden Augen Frau Rosalba, die zwischen einem Expräfekten aus der Zeit des Kaiserreichs und einem kleinen Marquis, einem früheren Gerichtsrat, saß. Zwei- oder dreimal benützte er mehr als kühne Uebergänge, um dem alten, sehr würdig dasitzenden Beamten indiskrete Fragen vorzulegen, was er vom Wunder und vom Wunderbaren halte. Der gute alte Herr wich der Antwort aus. Statt seiner erklärte der Marquis, daß er ein großer Anhänger des Okkultismus sei. Maingot ließ ihn nun nicht mehr los. Mit einer verteufelten Geschicklichkeit lenkte und wandte er die Unterhaltung, bis sie sich ganz um Hypnotismus drehte. Ganz augenscheinlich beschäftigte ihn wieder dieselbe Geschichte, die vor einigen Monaten zu jenen Gesprächen im Kasino geführt hatte, und ich bemerkte ganz deutlich, wie seine Anstrengungen darauf hinzielten, eine allgemeine Neugierde in der Gesellschaft zu erwecken. Das gelang ihm dann auch, obgleich einige protestierten: streng religiös Gesinnte, die an die Verbote der Kirche sich erinnerten, sich nicht mit diesen unbekannten und an Teufelswerk grenzenden Dingen abzugeben. Die Mehrzahl hörte aufmerksam zu wie Kinder, angezogen durch den Geschmack der verbotenen Frucht. Das Gruselige der Sache und ein Vorgeschmack von Sünde würzten die Versuchung.
Ich für meinen Teil empfand es als sehr merkwürdig, Maingot, der so Herr über sich selbst und für gewöhnlich so zurückhaltend war, diese Gesellschaft von Laien so anstacheln zu sehen. War seine geheimnisvolle Kombination vielleicht unterdessen zur Reife gediehen? Hatte er am Ende gar gerade für die Baronin Cochart und ihre geputzte Gesellschaft während Monaten sich mit dem Teufels- und Zauberwerk der Vergangenheit beschäftigt? Hatte er vielleicht seit langem schon an diese Gesellschaft von geistesleeren Menschen gedacht, und beabsichtigte er, sie durch irgendwelchen plötzlichen Schrecken zum Erstarren zu bringen? –
Er sprach und sprach fortwährend, forderte Fragen heraus, schürte unausgesetzt das Feuer unter seinem unwissenden Publikum, machte sich ein Vergnügen daraus, die Damen so zu erschrecken, daß kleine Schauder ihnen über die Schultern liefen und ihre unruhigen Augen in kurzen Flammen aufleuchteten. – Nur Frau Rosalba bewahrte ihren Gleichmut. Aber auch sie hatte aufgehört zu essen, und ihre Augen, auf ein und dieselbe Orchidee des Tafelaufsatzes gerichtet, mieden hartnäckig den Blick des Doktors. – Das Stimmengewirr wurde immer lauter. Maingot erzählte von hypnotischen Experimenten, nur von solchen, die durchaus harmlos und unschuldig waren. Aber sein klarer Vortrag, seine deutliche Darstellung reizten die Einbildung seiner Zuhörer, und die Fülle von Tatsachen, hübsch geordnet in wissenschaftlicher Nomenklatur, marterte ihr Gehirn und steigerte den Wunsch, einmal wirklich zu sehen und kennen zu lernen.
Endlich drückte die Baronin Cochart das allgemeine Gefühl aus, indem sie ausrief:
»Aber, lieber Freund, nachdem Sie uns so lange geködert haben, werden Sie wohl dabei nicht stehen bleiben!«
Die ganze Schar der Gäste stimmte ihr sofort zu; ihre religiösen Skrupel waren sofort verflogen, als die Hausherrin die gemeinsame Sünde auf sich nahm. Der Doktor verbeugte sich und erwiderte:
»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung … Aber woher eine Versuchsperson … vielleicht unter den Damen?« …
Da gab es nun ein kokettes Erschrecken und Sichsträuben. – Mehrere Ehemänner gaben bittende oder verbietende Zeichen. Schließlich bot sich der junge Marquis an. Maingot nahm sein Anerbieten an, bemerkte aber, daß der männliche Organismus sehr viel weniger sensibel wäre als der weibliche und daß dabei wenig interessante Phänomene zu erreichen wären. – Irgend eine Stimme murmelte: »Wenn Theresina wollte …«
Die anderen Stimmen erhoben sich sofort: »Ja, ja, bitte, bitte, Kleine!«
Frau Rosalba schüttelte ihren hübschen Kopf. »Oh nein, ich danke schön dafür, fällt mir gar nicht ein.«
Der Präfekt schlug vor, eine Bauernmagd zu holen.
Aber die Freundinnen Theresinas blieben hartnäckig. Im Grunde genommen wären sie ja selbst nicht abgeneigt gewesen, so ein bißchen mit dem Zauberwerk Bekanntschaft zu machen. Und der Schauder, der bei dem Gedanken daran ihnen über die Haut lief, reizte gerade so wie ein Versprechen etwas zweideutiger und wollüstiger Vergnügungen. Aber sie hatten doch auch Furcht, sich so wehrlos der Macht eines Mannes auszuliefern, und die Angst, es könnte ihnen irgend ein Wort entschlüpfen, das der Respektabilität ihrer Ehe schaden würde, scheuchte sie wieder zurück. Aber was sie selbst fürchteten, trieb gerade ihren Egoismus an, es der jungen Witwe zuzumuten, und wäre es auch nur, um zu sehen, wie sie sich zu dieser Zumutung verhielt. Sie war ja ohne Schutz, ohne Gatten. Das, was sie von ihrer Vergangenheit wußten, bot Aussichten auf interessante Geständnisse. Sie klammerten sich also förmlich an Frau Rosalba an, und schließlich brachte die Baronin Cochart ihnen unerwartete Hilfe:
»Liebling,« fragte sie, »warum weigern Sie sich denn so hartnäckig? – Sie haben mir doch früher einmal gestanden, daß Sie mit Ihrem Manne und einem Freunde sich mit diesen Dingen beschäftigt haben.«
Frau Rosalba wollte leugnen, aber der Chorus der Freundinnen brach in laute Vorwürfe aus: »Wie, Sie kennen das ganz genau und wollen sich weigern, uns belehren zu helfen? Sie böse Geheimnistuerin, Sie! Jetzt tun Sie's aber geschwind, sonst verzeiht man Ihnen nicht!«
»Charmant! Das wird charmant,« schnarrte der Präfekt.
Die Krautjunker lachten vertrauensvoll.
Theresina war blaß geworden und preßte die Lippen zusammen.
Meine Nachbarin zur Linken, die Vicomtesse, beugte sich zu mir und sagte:
»Wissen Sie was, sie hat Furcht, daß der Arzt sie im Schlafe irgend eine Dummheit verraten läßt. Ich verstehe das sehr wohl. Alles in allem weiß man ja gar nicht einmal, wo sie her ist.«
Dann rief sie laut der Frau Rosalba zu: »Aber meine Liebe, warum denn so eigensinnig, seien Sie doch nicht so ein Trotzkopf! Was fürchten Sie denn dabei, Liebling?«
»Ach, Theresina,« gurrte die Frau des Waffenfabrikanten, meine Nachbarin zur Rechten, »Sie mit Ihrer Schönheit, Sie müssen dabei ja aussehen wie ein Engel in Ekstase! Warum lassen Sie uns denn so betteln? das ist unartig, Theresina,« und sie drohte mit dem Finger.
Die Baronin erhob sich. Der Präfekt bot ihr den Arm. Es gab ein Durcheinander von gerückten Stühlen und Knistern seidener Schleppen, und die Paare bewegten sich zum Salon.
Die Vicomtesse lachte: »Sehen Sie doch, wie Frau Rosalba am Arm des Marquis geht. Man sollte glauben, es wäre eine Witwe von Malabar, die man zum Opfertode führt. Und während die Herren rauchen, werden wir ihr gut zureden. Sie wird nachgeben, verlassen Sie sich darauf; oder ich will Frau Durand heißen.«
Ich antwortete nicht. In ihren Worten lag eine unglaubliche Härte. Ich erkannte so recht, wie diese glühenden Frauenfreundschaften den Liebkosungen von Wölfen gleichen, die sofort beißen, sowie man sich rührt. Ich merkte ganz genau, daß Frau Rosalba schon dadurch, daß sie allein stand, den andern als natürliches Freiwild galt; sie lauerten nur darauf, sie wehrlos indiskreten Fragen ausgesetzt und zu ihrem Vergnügen in eine Puppe verwandelt zu sehen. Sie wußten sehr wohl, ihnen, die unter dem Schutz ihrer Ehemänner standen, konnte das nicht passieren. Sie bildeten das in Sicherheit hinter den Schranken sitzende Publikum, während die andere, die Alleinstehende von vornherein sich als geeignete Versuchsperson für Experimente darbot, denen Lächerlichkeit, wenn nicht Schlimmeres, entspringen konnte. Und so bedrängten sie sie immer mehr. Ich sah das nicht ohne Beängstigung an. Obgleich Frau Rosalba mit Recht getan hatte, als ob sie mich nicht kennte, machte ich mir doch innerlich Vorwürfe, daß ich ihr nicht zu Hilfe kam. Noch mehr. Ich empfand ein unerträglich peinliches Gefühl, wie vor dem Nahen einer Katastrophe. Trotz der Heiterkeit und dem Gelächter lagerte für mich über dieser geschwätzigen, charakterlosen Gesellschaft etwas wie ein dunkles Verhängnis.
Was mich besonders beunruhigte, war die Rolle, die der Doktor spielte. Er zog nach einem augenscheinlich sorgfältig überlegten Plane die Fäden dieser Hampelmänner. Das harmlose Gesicht, das er aufgesetzt hatte, und die gleichgültigen Augen, die er machte, täuschten mich nicht darüber hinweg. Die nervösen Bewegungen seiner Finger und die Kontraktion seiner Backenmuskeln verriet eine mit Mühe unterdrückte Nervosität. Ich suchte ihn denn auch gleich im Rauchzimmer zu sprechen, wo die Junker sich in heiterer Stimmung ihre uralten Geschichten von prämierten Jagdhunden und dergleichen erzählten. Er nahm meinen Arm und sagte:
»Nehmen wir unsere Mäntel und gehen wir ein bißchen in den Park; ich muß etwas frische Luft schöpfen.«
Vor dem Schloß erstreckte sich eine weite, von Buchen eingefaßte Lichtung bis in die Felder hinein; ganz am Ende leuchtete die weiße Barriere in der mondscheinlosen Nacht. Eine große Stille lag über dem eingeschlafenen Land, und der Doktor pfiff wieder die Melodien seiner alten Studentenlieder, wie an dem Abend, wo er mir den plötzlichen Tod des Herrn Rosalba mitgeteilt hatte. Die ersten vertrockneten, vom Westwind losgerissenen Blätter knisterten unter unseren Füßen. Wir gingen in der Dunkelheit unter den Wipfeln der Buchen, wo es nach frisch gefallenem Regen roch, bis zum Ende der Avenue. Man konnte von hier aus die hell erleuchteten Fenster im Parterre des Schlosses deutlich sehen. Der Doktor blieb stehen, deutete mit dem Finger nach dem Schloß und fragte:
»Haben Sie den »Sturz des Hauses Usher« gelesen? Glauben Sie nicht auch mit Poe, daß es Kombinationen von ganz einfachen leblosen Gegenständen gibt, die mit undurchdringlichen, melancholischen, fast schmerzlichen Mächten begabt sind? Ich für meine Person bin davon überzeugt, wenn ich diese starre und ärmliche Perspektive durch die weißen Buchen sehe und dieses massive Gebäude, dessen Mauern wie von großen, feurigen Augen durchbohrt scheinen, ohne daß man irgend ein Geräusch des Lebens vernimmt, das es einschließt!«
»Himmeldonnerwetter,« rief ich, »was ist denn nur mit Ihnen los?«
Er zuckte die Achseln und antwortete: »Haben Sie keine Sorge, ich bin bei voller Besinnung, ich werde es Ihnen gleich beweisen.«
»Doktor, Doktor, sprechen Sie sich mal aus, es ist Zeit. Seit Monaten benehmen Sie sich merkwürdig und werden auf die Dauer direkt beunruhigend, auf mein Wort. Wohin wollen Sie uns mit Ihrem plötzlich mit solcher Leidenschaft erfaßten Hypnotismus führen? Was macht es Ihnen für Spaß, diese hölzernen Köpfe zu verdrehen? Haben Sie vielleicht wieder eine Erdrosselung durch eine linksherum gewundene Schnur gefunden, eine Art neue Affäre Mathieu Michel?«
»Vielleicht noch etwas viel Schöneres!«
»Noch etwas Schöneres?«
»Ei, ja, hören Sie zu. In fünf Minuten gehen wir zurück. – Haben Sie einmal sterben sehen? … Machen Sie nicht solche Gesten, mein Freund, als ob ich verrückt sei! Hören Sie ruhig zu! Haben Sie jemals sterben sehen? Wissen Sie, daß der Tod eine eng an seine Ursache gebundene Folge ist? Er ist der Abschluß eines streng logischen, durch uns Aerzte fast beim ersten Anblick erkennbaren Prozesses. Der Tod drückt sein Merkmal auf überall, wo er vorbeigeht, und bei der Prüfung seines Werkes erraten wir die früheren Spuren, die seine Merksteine waren. Nicht etwa, daß das Leben auf tausend verschiedene Weisen aufhört, wenn es uns auch aus tausend verschiedenen Gründen verläßt; im Grunde genommen sterben wir immer eines Erstickungstodes. Indessen der Erstickungstod rührt von den verschiedensten krankhaften Erscheinungen her und bewahrt ihren speziellen Charakter. Ein Paralytiker kann nicht mit einem Schwindsüchtigen verwechselt werden, und dieser wieder nicht mit einem Herzkranken. – Nun aber hören Sie. Herr Rosalba ist niemals weder herzkrank, noch schwindsüchtig, noch Paralytiker gewesen, und er ist auch nicht einem Schlaganfall erlegen. Das darf ich ganz bestimmt behaupten, da auch nicht ein Symptom, das auf diese Krankheiten hinweisen konnte, vorhanden war. Er war auch nicht kurzatmiger wie Sie oder ich; dagegen war er ein Neurotiker. Meine Nachforschungen von mehr als einem Jahr haben das festgestellt. Sie haben mich aber auch noch mehr gelehrt, meine Nachforschungen, so z. B. den Namen des Geliebten. Es ist der schöne Le Herpeur, der Hexenmeister, wie die Leute ihn nennen. Nun wohl, man hat den guten Rosalba erstickt, einfach erstickt! Das setzt Sie in Erstaunen, was? Ich selbst wehre mich noch immer gegen die ganz offenbare Tatsache. Und noch heute kann ich die Methode, durch die dieses Resultat erreicht worden ist, nur vermuten.«
»Aber Sie versicherten mich doch in allen Tonarten, daß man ihn nicht mit einem Finger angerührt hat!«
»Und ich wiederhole Ihnen von neuem: Nein, man hat ihn nicht angerührt. Die Zauberer von ehemals rührten ihre Opfer auch nicht an.«
»Also was wollen Sie? Man hat ihn doch nicht ausgelöscht, indem man auf ihn gepustet hat. Nun, er ist nicht mehr da, um Ihnen den Schlüssel zur Lösung des Rätsels zu geben. Hören Sie auf! – Gehen wir ins Schloß zurück!«
»Eine Minute! – Gewiß, er ist nicht mehr da, aber seine Frau ist noch da, und was wir nicht wissen, weiß sie ganz genau, die kleine Spitzbübin, ebenso ihr Geliebter, der schöne Le Herpeur, der Hexenmeister!«
Auf einmal war mir nun alles klar. Meine Ohren brausten unter dem plötzlichen Andrang des Blutes zu meinem Kopf, und ich hatte das Gefühl, als ob meine Haare sich sträubten.
»Seine Frau,« murmelte ich, und unwillkürlich setzte ich hinzu: » Cave amantem«!
»Also hören Sie,« sagte Maingot hastig, »ihre Freundinnen werden sie unterdessen überredet haben, darauf will ich wetten, mit Schmeicheleien und mit Sticheleien überredet haben. Ich werde versuchen, sie in hypnotischen Schlaf zu versetzen. Sie wird uns die Sache in allen Einzelheiten erzählen, und die andern werden gar nicht einmal merken, um was es sich handelt, unter der Voraussetzung freilich, daß sie überhaupt rein mental gegebenen Befehlen zugänglich ist. Denn Sie können sich wohl denken, daß ich sie nicht laut fragen darf. Da nun das unbewußte Gedächtnis, einmal aufgeweckt, die Treue eines Phonographen hat, wird sie uns genau die Worte ihres Geliebten berichten, die sie ganz genau in ihrem Gehirn verzeichnet hat. Ich habe auf diese Weise Luys sich von einem seiner Schüler die Vorlesungen des vorangegangenen Monats Wort für Wort wiederholen lassen sehen, mit jedem Zaudern und jeder Wiederholung irgend eines Wortes. Sie sollen sehen, die Sache klappt. Frau Rosalba ist ja das Experiment schon gewohnt, und so ist ja sehr viel möglich. Infolgedessen ist es gleichgültig, ob sie will oder nicht. Ich bin überzeugt, daß in ihrem Hause fortwährend Hypnotismus und dergleichen getrieben wurde. Sie ist ein ganz auserlesenes Medium, davon bin ich fest überzeugt. Nun hören Sie! Beachten Sie alle ihre Antworten auf meinen stummen Befehl und verlieren Sie, um es besser zu verstehen, nicht aus den Augen, daß es sich um einen Erstickungstod durch Suggestion handelt. – So, nun kommen Sie!«
Ganz bei seiner Entdeckung, rieb er sich vergnügt die Hände.
»Wir werden jetzt erfahren, wie man einen Menschen aus der Welt schafft, ohne ihn anzurühren. Das wird interessant! Wenn es wahr ist, wenn der Wille unbeschränkt auf die reinen Reflexe, auf die Zirkulation des Blutes wirken kann, es wäre etwas ganz Außerordentliches! Tödliche Suggestion, denken Sie mal!«
Und noch einmal vor mir stehen bleibend:
»Sind Sie jetzt im Bilde? Verstehen Sie jetzt, weshalb ich mich seit Monaten mit Hypnotismus abgebe?«
Im Rauchzimmer fanden wir noch die Junker, die endlich ihrer Jagdabenteuer müde geworden waren und sich in tollpatschiger Fröhlichkeit allerlei Liebesabenteuer, die sie hinter Hecken und unter Heuschobern erlebt hatten, erzählten. – Der alte Präfekt war außer sich vor Vergnügen. Er wollte auch beitragen und stotterte an dem Beginn einer sehr gepfefferten Geschichte herum. Da er aber nicht dazu kam, sie im Ganzen anzubringen, hob er die Sitzung auf, und wir begaben uns alle nach dem Salon.
Ich war betroffen von den triumphierenden Gesichtern, die mich im Salon empfingen, und von dem allgemeinen »Ah!« der Erleichterung, das unsere Ankunft begrüßte. Die Vicomtesse, meine Nachbarin beim Diner, hatte jede Zurückhaltung abgelegt und rief mich mit hastigen Zeichen zu sich.
»Wir haben sie so weit!« sagte sie. »Wir haben sie so in die Enge getrieben, daß sie nachgeben mußte. Uebrigens war es auch wirklich nicht leicht, zu widerstehen. Wir haben uns alle an sie geheftet, bis sie beinahe den Verstand verlor. Natürlich, das Entscheidende war, daß wir uns den Anschein gaben, zu argwöhnen, als ob sie irgend etwas zu verbergen hätte und fürchtete, sie würde es sich im hypnotischen Schlafe entschlüpfen lassen. Das ist ein ganz einfacher Trick mit den Frauen. Es genügt, mißtrauisch zu scheinen … die Männer wissen das wohl, das gelingt immer … Setzen Sie sich da hinter mich. Vom Augenblick an, als sie merkte, daß wir an ihr zweifelten, hopp! sprang sie über die Barriere … gerade in dem Moment, als wir es schon aufgaben, sie zu bitten … Es ist wahr, unsere Gesichter sprachen für uns, und sie war am Ende ihrer Kräfte. Noch ein bißchen mehr, und sie hätte zu weinen angefangen, ich merkte es ganz genau … Ich bin auch sicher, wenn sie uns hätte, sie würde uns bei lebendigem Leibe zerfleischen … das würde eine schöne Schlacht geben, alle Wetter … sehen Sie sie nur an …«
»Doktor,« sagte die Baronin Cochart, »wir stehen zur Verfügung, Theresina will endlich unseren Bitten nachgeben … nicht wahr, mein Lieb?«
Nun setzte der Chor der weiblichen Stimmen wieder ein, diesmal aber in einem sehr falsch klingenden Tone des Mitleids.
»Aber gehen Sie vorsichtig mit ihr um, sie ist so zart, unsere kleine Freundin.«
Theresina erhob sich, und, sich an den Doktor wendend, der, die Hände in den Taschen, gleichgültig die Szene durch seinen Kneifer betrachtete, sagte sie mit erregter Stimme:
»Wenn es beliebt, mein Herr!«
Sie ließ einen kalten Blick über ihre vornehmen Freundinnen schweifen, vor dem das Geschwätz glatt abbrach und einige Stirnen sich senkten. Die Junker drängten sich mit etwas erschreckten Gesichtern in den Ecken, unter den Türen und in den Fensternischen. Das erwartete Schauspiel störte etwas ihre ruhige Verdauung. Es verlangte von ihren erschöpften Geistern die Anstrengung einer außerhalb ihrer Gewohnheiten liegenden Anspannung. Nur der alte Präfekt schwänzelte beim Anblick der Frau Rosalba, die sehr blaß und schlank aussah, heran. Vielleicht ließ ihn das Erwachen seines alten Raffinements in ihrer Haltung eine mühsam bemeisterte Angst, eine widerwillige Resignation erkennen, welche sie nur noch um so reizvoller machten, da sie ihrer kalten Schönheit einen Stich ins Diabolische gaben.
Sie sagte:
»Wollen Sie beginnen, mein Herr?«
Maingot stellte, ohne zu antworten, einen Sessel unter den Kronleuchter und führte sein Medium zu sich. Theresina lehnte sich in ihn zurück und ergab sich augenscheinlich in alles. Sie atmete hastig, und ihre Nasenflügel erbebten. Der Präfekt überwachte mit starrem Blick das Heben und Senken ihres Busens. Der Doktor zog einen Ebenholzbleistift aus seiner Westentasche und hielt ihn Theresina vor die Augen gegen die Stirn, ein wenig über den Augenbrauen. Sofort wurden die Augen feucht und glänzend. Die Pupillen bewegten sich nach innen und oben und wurden ganz groß. Frau Rosalba stieß einen tiefen Seufzer aus.
In diesem Augenblick sah ich mehrere Zuschauer erbleichen, besonders die Jäger fühlten sich etwas unheimlich. Mehrere lächelten blöde mit halboffenem Munde. Ihre zusammengezogenen Augenbrauen zeugten von ihrer Aufmerksamkeit und widersprachen ihrer zur Schau getragenen Fröhlichkeit. Andere wieder schluckten nervös. Die Frauen dagegen schienen ganz verhärtet durch die wollüstige Erwartung und reckten neugierig den Hals.
Frau Rosalba saß da, ohne sich zu rühren. Der Doktor setzte die Spitze seines Zeigefingers auf den Scheitel der jungen Frau. Sie schloß ihre Augen; ihre Lider zuckten leise. Sie schlief.
Maingot trat etwas zurück und kreuzte die Arme. Ich begriff: jetzt begann die mentale Befragung. Sie stotterte:
»Warum? … Warum? … Das ist ja heller Wahnsinn.«
Dann, mit sehr hartem Ausdruck:
»Nun gut, nein!«
Einige Sekunden später wiederholte sie:
»Nein … Nein …«
Diesmal hatte ihre Sprache schon einen weniger energischen Ausdruck.
Endlich stammelte sie:
»Ja.«
Maingot hatte sich gegen sie gebeugt. Nun richtete er sich wieder auf. Hinter den Gläsern seines Kneifers blitzten seine Augen ganz merkwürdig. Sie sprach weiter. Ihre Stimme war nun ganz verändert, die Klangfärbung beinahe männlich. Sie sprach folgende unverständliche Worte:
»Glaube mir und habe keine Furcht! Du liebst mich doch? … Mit etwas Geduld kommen wir zum Ziel … zehn, fünfzehn Versuche vielleicht. Was weiß ich, vielleicht auch mehr? Man verlangsamt jedesmal mehr. Schließlich hält man an … dann läßt man wieder beginnen und wiederholt das immer wieder … jedesmal hält man etwas mehr an. So brennt die Lampe immer niedriger, immer niedriger … Wovor fürchtest du dich denn? Ich habe dich dazu nicht nötig, ich selbst brauche nicht einmal da zu sein, es genügt ein Befehl, den ich am Tage vorher gebe … am nächsten Morgen, genau um die Stunde, die ich festgesetzt habe, wird die Lampe wieder niedriger brennen! … Also sei fest. Liebst du mich? … Ah! ja, auf die Atmung, nein, das geht nicht, das ist unmöglich; die Reaktion würde zu stark sein … der Widerstand … nein, das geht nicht … dagegen da, das geht … man verlängert jedesmal den Aufenthalt etwas mehr. Allmählich kommt man durch Gewöhnung weiter, schließlich, eines Tages, endet man damit, die Lampe auszulöschen. Wie? … Jawohl, die Lampe auszulöschen … Du hast Furcht! Aber meine Liebe, alle Aerzte sind Esel! …«
Sie sagte das außerordentlich drollig, in einer Art trauriger Fröhlichkeit; die ganze Zuhörerschaft brach plötzlich in ein erleichterndes Lächeln aus. Die Jäger schlugen sich auf die Schenkel und stammelten:
»Herrje! Das hat gesessen!«
Maingot aber lachte am meisten und erklärte: »Auf mein Wort, sie schwatzt dummes Zeug!«
»O nein! O nein!« meckerte der alte Präfekt. »Die junge Frau hat ihren Molière gelesen.«
»All das ist ja nichts,« erwiderte der Doktor. »Ich will versuchen, Ihnen einige interessante Erscheinungen zu zeigen.«
»Können Sie ihr nicht ein paar Fragen stellen?« fragte die Vicomtesse.
»Nein, das würde ich mir nicht erlauben,« erwiderte der Doktor salbungsvoll; »und dann ist das doch etwas gefährlich … Nein, nein, ich will Ihnen lieber ein paar lustigere Erscheinungen zeigen.«
Er nahm die Hände seines Mediums, legte sie zusammen, und, ihre Arme ausstreckend, gab er ihr die Stellung einer Bittenden. Und sofort breitete sich der Ausdruck einer übermenschlichen Seligkeit über das Gesicht der Frau Rosalba. Ihre ganze Persönlichkeit schien sich umzuwandeln und zu erheben.
Die Baronin Cochart war ganz gerührt. »Ein Engel!« rief sie, »ein Engel, der zum Himmel aufsteigt!« …
Und ein Gemurmel der Bewunderung durchlief die Versammlung. Selbst die rohesten Jäger, die sonst nur für die derbsten Reize schwärmten, waren wie gebannt. Der alte Präfekt putzte aufgeregt sein Monokel. Der alte Feinschmecker wußte die harmonischen Linien des von den Handknöcheln bis zu den Schultern und von der Hüfte bis zum Knie gespannten Stoffes wohl zu würdigen.
Der Rest der Experimente ließ mich sehr gleichgültig. Soweit ich mich erinnern kann, folgte auf die Attitüde des Betens die des Schreckens und dann eine Anzahl von Vorführungen, wie man sie seither aus den öffentlichen hypnotischen Schaustellungen kennt. All das interessierte mich ebensowenig wie die weißen Schultern der Vicomtesse, ihr sehr ausgiebiger Rückenausschnitt und der feine Veilchenduft, der sie umgab. Geschützt von dem Rücken der Vicomtesse saß ich da und wiederholte für mich die merkwürdigen Worte Theresinas, die nur Maingot und ich verstehen konnten. Und auf meine Lippen, die sich unwillkürlich bewegten, um möglichst genau die männliche Betonung der Hypnotisierten nachzuahmen, auf meine Lippen trat zwischen den Worten, die ich da hörte, das » Cave amantem« – hüte dich vor dem, der liebt! das mich so oft vor dem geheimnisvollen Bild von Wachs gepackt hatte. Ganz allmählich, aber unabweisbar, drängte sich meinem widerstrebenden Verstand die klare, aber schreckliche Gewißheit auf. Ja, sie hatten ihn verlangsamt … dann wieder seinen Lauf gehen lassen … dann wieder verlangsamt … immer etwas mehr … und schließlich war die Lampe erloschen … Diese so einfachen Worte klangen in meinem Gehirn wie Glocken, die eine Fülle anderer Glocken zum Klingen brachten. Sie nahmen eine ungeheuerliche und diabolische Bedeutung an.
Plötzlich hörte ich einen großen Lärm. Das ganze Publikum applaudierte. Ich sah Theresina aufrecht stehen, immer noch sehr blaß; mit verwirrtem Ausdruck schaute sie den Doktor an, der eine elegante Verbeugung machte. Die Vicomtesse wandte sich zu mir um und sagte: »Ach, Sie sind das, der so hinter mir schnaufte.«
Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete. Meine Gedanken gingen wirr durcheinander, meine weit geöffneten Augen konnten sich nicht von der schönen Witwe trennen, die Maingot wie im Menuett der Baronin Cochart zuführte. Während der Enthusiasmus sich austobte, empfand ich eine Art von peinlicher Angst und unbestimmter Furcht, wie vor den Folgen einer großen Unvorsichtigkeit und der Herausforderung irgendwelcher bösartigen, bedrohlichen Macht. Die Frau des Waffenfabrikanten hatte ihren Arm um die Hüfte der Frau Rosalba gelegt. Diese fragte mit etwas zitternder Stimme:
»Habe ich gesprochen? … Was habe ich denn erzählt? Ich erinnere mich an nichts.«
»Ah! Liebling,« rief der Chor der enttäuschten Freundinnen, »Sie sind nicht allzu amüsant gewesen! … Sie sprachen immer von Ihrer Lampe, die auslöschen wollte.«
Theresina hob die Augenbrauen und schien nachzudenken. Ihre Wangen färbten sich rosig, und in ziemlich brüskem Tone erklärte sie, indem sie ihre Zuhörer von oben herab ansah:
»Ich verstehe nicht …«
»Sie fügten noch hinzu,« bemerkte der Präfekt, »daß alle Aerzte Esel sind.«
»Wirklich? Weiter habe ich nichts gesagt? …«
»Das genügt vollständig, gnädige Frau,« sagte Maingot, sich verbeugend, worauf wieder ein großes Gelächter in allen vier Ecken des Saales ausbrach.
Um ein Uhr morgens saß ich wieder auf dem Bett des Doktors. Er lief durch das Zimmer auf und ab, rauchend und an einer großen Zigarre kauend. Ich wartete darauf, daß er sich näher erklärte. Endlich pflanzte er sich vor mir auf, die Hände in den Taschen, die Beine ausgebreitet, mit hochgezogenen Schultern und schüttelte mit einem Runzeln der Nase seinen Kneifer ab.
»Nun, was sagen Sie? Habe ich richtig gesehen? Da haben wir das Verbrechen.«
»Ja, ja, wir haben's, wir haben's. Ich glaube es ja auch, oder wenigstens ich spüre es, aber die Methode, die sie angewandt haben …«
»Ach, wie sie das angefangen haben? Nun …«
Er versicherte sich, daß der Korridor leer war, seine Tür fest geschlossen, dann sagte er:
»Es handelt sich hier um durch Suggestion hervorgerufenen Stillstand des Herzens … Ein ganz erschreckliches Unternehmen, dessen Möglichkeit man wohl bisher ahnte, worüber aber die Wissenschaft bisher keine feste Meinung auszusprechen wagte. Willkürliche Aufhebung der Herzbewegungen!«
»Aber wie? Aber wie?«
»Wie? … Sie hat es Ihnen ja gesagt, oder vielmehr ihr Geliebter hat es Ihnen durch ihren Mund gesagt. Sie haben fortschreitend immer mehr die Lampe herabgeschraubt, bis sie schließlich erlosch.«
»Aber er hat doch dagegen ankämpfen müssen, der Unglückliche!«
Der Doktor schüttelte den Kopf. »Nein, da gab es keinen Widerstand. Denn die Herzbewegung ist ein reiner Reflex. Der persönliche Wille hat dabei gar nichts zu sagen und kann sich dem Stillstand nicht widersetzen.«
»Aber dann … wie kann dann der Wille eines andern … wie kann die Suggestion sie aufhalten oder beschleunigen?«
»Die Suggestion kann auf die reinen Reflexe wirken, während der eigene Wille ohnmächtig ist. Das ist eine feststehende Tatsache. Man hat bereits wiederholt den Herzschlag durch Suggestion verlangsamt. Und eben diese neue Entdeckung hat mich zuerst auf meine Vermutung gebracht.«
»Wie? … Man hat dem Herzen dieses Unglücklichen befohlen, weniger schnell zu schlagen, und schließlich überhaupt nicht mehr zu schlagen? … Und er, er hat sich so ruhig hypnotisieren lassen? Man hat ihm da irgend so ein schwarzes oder glitzerndes Ding über den Augen an die Stirne gesetzt, und er war hypnotisiert? … Aber ich bitte Sie, das ist doch absurd!«
»Bewahre! All das war gar nicht notwendig. Unser Mann war ein Neurotiker, mit dem man sehr leichtes Spiel hatte. Sie wissen doch, der Hexenmeister, seine Frau und er trieben zum Vergnügen diesen unserm Freunde Lorillon so lieben Sport. Nun wohl, wenn der Mann sich im Zustand des Somnambulismus befand, befahl man ihm einfach, für den nächsten Tag, oder auch noch für denselben Tag, zu der und der festbestimmten Stunde eine jedesmal etwas länger andauernde Verlangsamung des Herzschlags an. Bernheim hat gezeigt, daß man gut dressierten Medien sogar im Zustand des Wachens Lähmungen suggerieren kann, und das ist doch noch viel mehr. Noch weiter ist Bottey gegangen; er hat bewiesen, daß dieses Experiment auch bei Versuchspersonen gelingen kann, die noch niemals als Medien gedient haben … Nun also, Rosalba empfand, während er in Ruhe seine Zeitung las oder sich anzog, plötzlich Schwindelanfälle, einen wirren Kopf, unverständliche Atembeklemmungen … Merken Sie wohl, das ist ein ganz besonders wichtiger Punkt: seine Frau und der andere hatten gar nicht einmal Nötig, dabei zu sein; sie hat es uns ja ausdrücklich erklärt, und das ist auch durchaus richtig. Sehen Sie, deshalb ist es ein Meisterwerk. Sie verübten einen Mord auf Distanz … Eines schönen Abends haben sie ihm seinen Herzschlag so verlangsamt, daß er stumm blieb für die Ewigkeit …
Der Doktor schwieg.
»Was gedenken Sie nun zu tun?« fragte ich ihn, ganz starr vor Entsetzen.
»Meiner Treu, nichts. Ich kann doch eine solche Beobachtung nicht der Medizinischen Akademie vorlegen; es ist zwar wirklich schade …! Ich bin auch nicht Staatsanwalt der Republik, um die von der Wissenschaft bedrohte Gesellschaft zu verteidigen … Ich werde gar nichts tun … Doch! Ich werde an dem Tage, wo Frau Rosalba ihren Hexenmeister heiraten wird, den Jungverheirateten in der Sakristei meinen Glückwunsch aussprechen.«
Im Monat darauf kaufte ich einen schönen normannischen Wandschrank und verkaufte mein Bücherspind aus schwarzem Tannenholz. Dabei mußte ich überhaupt meine Einrichtung etwas umordnen, und zwar erwies sich als das Bequemste, den Wachskopf mir nun gerade gegenüber aufzustellen. Sein Ausdruck schien mir ein sehr viel friedlicherer zu sein. Selbst beim Licht der Lampe bewahrte das Gesicht des jungen Weibes einen sanften und von aller Ironie freien Ausdruck. Nur bemerkte ich auch, daß von den Mundwinkeln zwei kleine Risse ausgingen, die die Wangen durchzogen, wie wenn die innere Stütze der Büste nicht mehr hielte. Ich gab den Loirenebeln die Schuld. Ich erwärmte das Wachs mit meinem Atem und versuchte mit vorsichtigem Finger den Sprung zu verwischen. Es schien mir auch, als ob es mir gelungen wäre, und ich setzte mich wieder an meinen Schreibtisch. Da ereignete sich nun ein merkwürdiger Zwischenfall. Wir waren beide noch sehr spät wach, sie augenscheinlich von ihren Jahrhunderte alten Erinnerungen träumend, ich damit beschäftigt, in einer Revue einen Aufsatz über künstliche Atmung zu durchfliegen, als folgende Zeilen vor meinen Augen gradezu aufflammten:
»Der Stillstand des Herzens, selbst wenn er so lange andauert, daß er definitiv zu sein scheint, ist kein überzeugendes Todesmerkmal. Das wohlbekannte Beispiel der Fakirs, die sich während Monaten begraben lassen, um dann wieder zum Leben zu erwachen, beweist das schon alleine. Man hat, wenn man sie ausgrub, keinen noch so leisen Herzschlag bei ihnen gefunden. Auch die elektrische Hinrichtung, wie sie in den Vereinigten Staaten angewandt wird, ist ein sehr unvollkommenes und zweifelhaftes Mittel, das Leben zu unterdrücken. Wenn der Arzt sich bei der Bescheinigung des Todes nur an den Stillstand des Herzens hält, läuft er Gefahr, einen Lebendigen begraben zu lassen …«
Ich sprang auf, von einem furchtbaren Schrecken und unsagbarem Ekel erfaßt. Der Name Rosalbas tauchte in meinem Gehirn auf, und neben ihm der Name Maingots, und erschreckende Phantasien durcheilten mein Gehirn … Da vernahm ich ein leichtes Krachen, und ich sah vor mir den Wachsschädel sich zu einem grausigen Lachen von einem Ohr bis zum andern verziehn. Der Unterkiefer hing losgelöst herab.