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Still sitzt sie an dem Bett der Schmerzen
Und heftet auf die bleichen Zuge
Doch ach wie steht's mit deinem Herzen!
Tegnér's Axel
»Die alte Gräfin hat mich betrogen!« dachte Naomi, »Sie wollte mich kränken! Die ganze Geschichte ist erdichtet oder sie hat ein lügenhaftes Gerücht aufgegriffen. Ich muß es wissen, ich will es wissen!« Und sie hing sich schmeichelnd an den Grafen, der davon sprach, wie bald sie nun getrennt werden würden.
»In zwei Jahren werden wir uns nicht sehen, aber wenn wir uns wiedersehen, dann fliegst du mit mir nach London, dem lebendigen, prächtigen London.«
»Du bist so gut gegen mich,« sagte Naomi, »du bist auch der Einzige, vor dem meine Gedanken, mein ganzer Wille sich beugt. Die andern Menschen, die ich leiden mag, liebe ich doch nur um meiner selbst willen, wegen der Unterhaltung, die sie mir bereiten, und weil ich sie nicht entbehren kann; sie sind mir oft unerträglich.«
»Sie fügen sich nicht so in dich wie ich!« sagte der Graf.
»Du?« wiederholte sie und sah ihm ins Auge. »Du dich mir fügen? Nein, nicht in meine unschuldigsten, meine glühendsten Bitten, und deshalb muß ich Kränkungen ertragen, die ich dir nicht mal sagen darf, denn dann bist du hart und kalt!« und sie legte ihre Wange an die seine, wickelte ihr Haar um seine Finger und schien den Athem zurückzuhalten. »Du schämst dich vor der Welt zu sagen, daß ich deine rechte Tochter bin! Bin ich es nicht, so sage mir wenigstens, wen ich als meinen Vater lieben soll?«
»Mich!« sagte der Graf, »mich! Du bist mein Kind!« Aber sein Blick wurde finster, seine Stirne furchte sich, als wollte der Blick läugnen, was die Zunge sagte.
»Und vor der Welt, wer sind da meine Eltern?« fragte sie. »Eines Juden Tochter, ein –?« Sie schwieg und die Lippen bewegten sich krampfhaft.
»Ein Mensch, dessen Namen du nie hören sollst!« antwortete der Graf. »Er war aus Norwegen – aber er ist todt, todt, auf die Art, wie er es verdiente.«
»O, erzähle mir!« sagte Naomi.
»Nein,« antwortet« er und ging fort.
»Auch er ist grausam!« sagte Naomi. »Die Menschen peinigen einander. Normann allein ist gut und hat mich mehr lieb als irgend Jemand und ihn haben sie an die Kette gelegt.« Und sie ging hinaus in den Hof zu dem Hunde, streichelte und küßte ihn, löste die Kette und führte das Thier im Hofe umher; es wälzte sich vor Freude, wedelte mit dem Schweife und sprang hoch empor, während seine rothe dampfende Zunge weit aus dem offenen Maule heraushing.
»Du lieber Normann!« sagte sie. »Ja, Normann muß mich lieb haben, denn um deines Namens willen habe ich dich allein frei gemacht!«
Christian hatte eben seine einsame Wanderung durch den Garten beendigt. Den einen von den kräftigen Schneemännern, die gestern noch so stolz dastanden, hatte das eingetretene Thauwetter in die Kniee sinken machen, so daß die Lanze wie gefällt schien. Die Mittagsglocke ertönte; Christian trat aus dem Garten! Er hatte gerade die Pforte geöffnet, als er Naomi und des Hundes ansichtig wurde, welcher bellte und seine scharfen Zähne zeigte. Naomi lachte laut über Christians Schreck. Der Hund machte eine Bewegung auf ihn zu, Christian sprang wieder in den Garten zurück, indem er sie bat, den Hund anzubinden.
»Feigling!« rief sie.
Der Hund riß sich im selben Augenblicke los, sprang gegen die Pforte, welche aufging und fuhr nun auf Christian los, der einen Schrei ausstieß, indem er das große Thier mit dem rothen, dampfenden Maul und den scharfen weißen Zähnen sah. Instinctmäßig suchte er an dem Schneemann hinaufzuspringen und erfaßte mit beiden Händen die gefällte Lanze, als er im selben Augenblick den Biß des Hundes fühlte. Der Schneeklumpen stürzte mit dumpfem Fall zur Erde und es war ein Glück, denn der Lärm und der rings auffliegende Schnee jagten den Hund fort.
Einige von den Leuten des Hofes kamen herbeigelaufen. Naomi stand stumm an der offnen Thür.
»Er blutet! Der Hund hat ihn gebissen!« rief man.
»Da siehst du die Folgen deiner Wildheit!« sagte der Graf mit einem strengen Blick auf Naomi.
Man hob Christian auf.
»Der Hund soll erschossen werben!« sagte der Graf.
Da stürzte Naomi weinend herbei, bat für ihn, ergriff Christians Hand und mit dem bittenden Blicke eines kummererfüllten Herzens rief sie ihn an, für das Thier zu bitten. Ihre Lippen berührten die Wange des Knaben und er bat, was sie wünschte.
Der Arzt aus dem nächsten Städtchen wurde geholt, Christian war gefährlich gebissen; er entbehrte sorgfältigster Pflege und Fürsorge nicht. Naomi besuchte ihn; still und ernst setzte sie sich an das Bett, er reichte ihr vergebend die Hand und um ihr etwas Liebes zu sagen, wiederholte er seinen Wunsch, daß man den Hund am Leben lasse.
»Ich glaube, ich könnte dich lieben!« sagte Naomi mit seltsamer Heftigkeit, indem sie mit funkelnden Augen ihm in das bleiche Antlitz sah.
Der Graf wollte reisen, aber es war nicht daran zu denken, daß Christian ihn nach Odense begleiten konnte. Herr Knepus wurde in einem Briefe von dem Geschehenen unterrichtet.
»Schreck und Sorge rauben mir das Leben!« sagte die alte Frau. »Nun gehst du fort und ich fühle wohl, daß wir uns nie wiedersehen werden. Wenn du in ein oder zwei Jahren wiederkommst, dann magst du nach der Dorfkirche gehen, die kleine Capelle aufschließen und du findest einen Sarg mehr.«
»O, Mama, das steht in einem Roman!« sagte der Graf lachend.
»Das steht in deiner Mutter Herzen!« antwortete die Gräfin ernst.
Die Abreise des Grafen war ein großes Ereigniß auf dem Edelhof, eine wichtige Begebenheit und doch wollen wir sie einfach mit den Worten berichten: er reiste.
Naomi saß im Zimmer bei Christian. Alles sagte ihr, wie lieb sie ihm war, und das machte, daß sie zum ersten Male einiges Interesse für ihn fühlte. Sie fragte, von wem er spielen gelernt habe.
»Von meinem Pathen, dem Norweger in Svendborg,« und nun erzählte er von den Eigenthümlichkeiten dieses Mannes. »Ich hörte einmal eine Geschichte von einem Zauberer, der in den Straßen geigte, und dem alle Kinder aus den Häusern nachliefen. Er ging in den Berg hinein und die Kinder verschwanden mit ihm. Gerade so schien mir auch mein Pathe spielen zu können. Er habe es von einem Nixen gelernt, sagte unser Nachbar. Ich habe auch schon daran gedacht, ob er es nicht selbst gewesen, von dem er mir einst erzählte. In Norwegen war ein armer Bauernjunge, der gar große Lust am Geigen hatte, aber sein Vater wollte es nicht leiden, sondern er sollte arbeiten; da stahl er sich eines Abends mit der Geige hinaus an den Bergstrom; der Nix kam herauf und versprach ihm, ihn noch schöner spielen zu lehren, nahm ihn bei den Fingern und drückte sie, daß das Blut herausdrang, aber von der Zeit an konnte Niemand prächtigere Musik machen als er. Alle wollten ihn hören; er verdiente viel Geld und deshalb gestattete ihm sein Vater zu spielen. Aber eines Morgens, als er von einer Hochzeit heimfuhr, saß der Nix an der Brücke und sagte, er solle jetzt mit ihm hinab ins Wasser kommen und bei ihm bleiben, denn er gehöre ihm. Da lief er rascher als die Pferde laufen konnten, und der Nix hinter ihm drein; er mußte in eine Kirche, bis zum Altare flüchten, sonst hätte ihn der Nix gepackt.«
»Aber vielleicht war dein Pathe der Nix selbst?« sagte Naomi lachend. Ihre Augen funkelten, das Blut glühte in ihren hübschen Wangen. Sie fragte immer mehr; es war ja ihr Vater, von dem sie sprechen hörte; Christian sah darin nur Theilnahme an seinem Schicksal und deshalb ergriff er gerne bei jedem neuen Besuch den Faden, um ihn fortzusetzen. Sie bekam von der Reise nach Thorseng zu hören, von der Begegnung bei Glorup und dem Morgen, wo der Pathe an einem Baumast hing, und Naomi lächelte seltsam und legte die Hand an die Stirne.
»Er ist ein ungewöhnlicher Mensch gewesen, aber unglücklich, doch das ist weit interessanter als ein glücklicher Alltagsmensch. Du hast schon früh ein ganzes Märchen erlebt; nun ist das Interessante vorbei mit dir; nun bist du in der langweiligen Ruh, wo der eine Tag natürlich aus dem andern hervorgeht. Etwas Ausgezeichnetes wird Niemand auf dem ebnen ruhigen Wege; wenigstens werden die Menschen dazu geformt, sie schießen nicht von selbst recht empor. Wär' ich an deiner Stelle, ich bände die Geige in mein Taschentuch und schliche mich fort von all' den langweiligen Menschen, die einander ganz genau ähnlich sehen, bis auf die Schleife am Rock und die Binde um den Hals.«
»Was sollte denn dann aus mir werden?« fragte Christian. »Ich bin arm.«
»O, das warst du ja noch weit mehr, als du das Haus deiner Eltern verließest. Da konntest du nicht spielen wie jetzt und die Wanderung wurde ja doch der Weg zu deinem Glück. Wenn du auch einen Tag hungern oder eine Nacht in einer Scheune übernachten müßtest, was wäre das? Das wäre gerade sehr interessant. Denke dir, wie glänzend es dir vorschweben müßte, wenn du, ein großer Mann geworden, daran zurückdächtest. Die Welt würde deinen kühnen Schritt bewundern und ich, ja ich glaube, ich könnte dich lieben. Aber sonst nicht, nein, nein! Du mußt etwas Ausgezeichnetes werden.« Sie ergriff seine Hand und malte ihm mehr und mehr ihre romantischen Anschauungen vom Leben aus, das sie nicht kannte. Es schmeichelte dem stolzen, eigenwilligen Kinde, einen Andern leiten zu können, Christian ersetzte ihr die Puppe. In ihm wollte sie ihre romantischen Träume verwirklichen. Es entstand in ihr ein ungestümes Gefühl, das doch ganz verschieden von Liebe war. Sie erzählte ihm von fremden Landen, von berühmten Männern und Frauen und seufzte darüber, daß sie ein Mädchen sei, »aber ich will wenigstens nicht den andern gleichen!«
Mehr und mehr schloß sich um Christian der Zauberkreis, in den sie ihn gezogen; alle seine Gedanken, alle seine Träume drehten sich nur um Märchen, Berühmtheit und Naomi.
Sein Blut fieberte. Die Nachtlampe, die an seinem Bette brannte, war am Erlöschen; die Flamme zeichnete sich wie ein festumrissener Punkt aus der Wand ab.
»Kann ich jetzt mein Vaterunser zu Ende beten, ehe die Lampe erlischt, so bekomme ich einst einen berühmten Namen und Naomi wird meine Frau, erlischt sie aber, so bin ich hier und dort verloren.« Er faltete seine Hände und sprach mechanisch das Gebet. Das Auge war fest auf die Lampe geheftet; die Flamme zitierte, er betete rascher. Das Gebet war zu Ende und die Lampe brannte noch.
»Aber ich habe die Bitte übersprungen: erlöse uns vom Uebel; deshalb gilt es nichts. Noch einmal muß ich das Gebet beten, es gilt dann doppelt.« Und er betete und die Lampe brannte. »Ich werde glücklich!« jubelte er und die Lampe erlosch.
Das war mitten in der Woche.
»Am Sonntag verläßt du uns!« sagte Naomi. »Der Arzt meint, du werdest bald so gesund sein, wie wir Alle. Denk an dein Gelübde. Ich weiß wohl, du liebst mich, aber einen gewöhnlichen Menschen kann ich nicht lieben und du wirst etwas ganz Gewöhnliches in dem spießbürgerlichen Odense bei dem närrischen Herrn Knepus. Thu' einen kühnen Schritt in die Welt hinaus. Da hast du, was Niemand weiß und wovon Niemand wissen darf, hundert Reichsthaler von meinen Sparpfennigen. Erinnere dich, wie du mir erzählt hast, unsrer ersten Begegnung im Garten, als ich deine Augen und deinen Mund zum Pfand nahm: du gehörst mir noch, ich habe Theil an dir. Sobald du dich vollständig gesund fühlst, dann wagst du einen kecken Schritt! Unterrichte mich davon und in jener Nacht, wenn du dich auf die Wanderung begibst, will ich wachen und an dich denken!«
»Alles will ich!« rief er und schlang seinen Arm um ihren Hals; sie aber hielt stille mit dem stolzen Lächeln und ließ ihn ihre glühende Wange küssen.
Wie die Lebensfarbe vom Herzen kommt, so spiegelt sich darin auch die Welt. Hätten wir an diesem Abend Christian, Naomi und zum Beispiel die Gräfin gefragt, so würde Jedes sein bestimmtes, aber höchst verschiedenes Urtheil über dieselbe abgegeben haben. Für Christian war sie ein Tempel Gottes, wo die Herzen sich für Liebe und für Gott öffnen, wo das Vertrauen wächst und die Ueberzeugung Wurzel faßt. Naomi's Kuß war seine Taufe, der Töne Macht der Orgelklang, der seiner Seele Schwingen lieh.
»Die Welt ist eine große Maskerade,« meinte Naomi. »Man muß seine Rolle mit Würde zu spielen wissen; man muß imponiren. Nur das, was man recht zu repräsentiren weiß, das ist man. Ich will eine Amazone sein, eine Staël-Holstein, eine Charlotte Corday, wie es die Umstände gerade am meisten begünstigen.«
»Die Welt ist ein Hospital!« meinte die alte Gräfin. »Mit der Geburt beginnt unsere Krankheit, mit jeder Stunde kommen wir dem Tode näher. Man kann sich in den medicinischen Büchern noch kränker lesen. In einem unschuldigen Glase Wasser kann man ein kleines Thier finden, das in uns wächst. Man kann den Krebs, den Brand, die Cachexie und die schrecklichsten Krankheiten bekommen, die mit dem Tode enden und dafür lebt man nun. Alles ist krank, aber Viele verbergen ihre Krankheit, Andere verachten sie und »verpümpelte« Menschen ohne Nerven, mit ungesundem Blut, das die Wangen röthet, gehen mit dem Wahne umher, daß sie gesund seien!«