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Lou Andreas-Salomé:
Eine Nacht

Lou Andreas-Salomé gehört zu den geistreichen Erzählerinnen der heutigen Literatur. In Empfindung und Geschmack eine echt weibliche Natur, besitzt sie in geistiger Beziehung einen männlich geschulten Verstand. So verbinden sich in ihr scheinbare Gegensätze und geben uns das Bild einer künstlerisch interessanten Persönlichkeit.

In Petersburg 1861 als Tochter des Generals französischer Abstammung von Salomé geboren, verbrachte sie ihre Kindheit zum größten Teil in Rußland. Später studierte sie in Zürich und lebte längere Zeit in der Schweiz, in Italien und Deutschland. Seit 1887 ist sie mit dem Professor F. C. Andreas verheiratet und lebt jetzt in Göttingen. Das Leben in der Fremde gab ihrem Wesen den Reiz und den Reichtum des Weltbürgertums, der auch ihren Werken jenes besondere Gepräge verleiht.

Aus den Erinnerungen an ihren Aufenthalt in Rußland hat sie uns einige ihrer liebenswürdigsten Bücher geschenkt. Von besonderer Feinheit sind ihre Erzählungen » Im Zwischenland«. Es ist das Seelenzwischenland des jungen Mädchens, das den Kinderfreuden und -leiden bereits entwachsen ist und sich noch nicht recht zu den »Erwachsenen« hinüberfinden kann. Nur das Land der Träume und Ahnungen ist sein eigen. In diesem Sinnen und Hoffen, im Zurückfühlen und Vorwärtsstreben fühlt es sich unverstanden und vereinsamt, bis auf einmal, durch ein oft zufälliges Erleben, die Brücke gefunden wird, die hinüber in das eigentliche, das »erwachsene« Leben führt, und die junge Seele nun hinaustritt aus dem Dämmerzwischenland in den hellen Tag bewußten Fühlens.

Wie dann die Dichterin selbst ins Leben hinaustritt, wie das Drängen des vorwärtsstrebenden Geistes altes Vorurteil und enge heimatliche Bande überwindet, spiegelt sich eigenstes Erleben in künstlerisch geläuterter Form in ihren Werken wieder. So in der Erzählung » Ma«: ein feinsinniges Verstehen und Verzichten auf der einen Seite, Befreiung und Zukunftsfreudigkeit auf der andern. Und später, als das reife Leben die reife Frau umfängt, klingt immer wieder ein Ton der eigenen Seele in die Dichtung hinein; am gesteigertsten und geläutertsten in » Ruth«, das wohl ihr bestes Werk ist.

Außer Novellen und Erzählungen hat Lou Andreas-Salomé auch wertvolle Abhandlungen und Studien geschrieben: z. B. das Buch »Friedrich Nietzsche in seinen Werken«, durch das ihr Name zuerst in außerliterarischen Kreisen bekannt geworden ist.

Die hier folgende Novelle » Eine Nacht« ist als besonders bezeichnend für die Kunst der Verfasserin gewählt worden. Das Aufdämmern eines reiferen Frauensinnes in der Seele des jungen Mädchens, und das aus diesem Reisen gewonnene Selbstgefühl, wird zur lebensvollen Darstellung gebracht.

Berlin.
Nina Mardon-Holzamer.

Eine Nacht.

Ein junges, schlicht gekleidetes Mädchen tritt in den Haupteingang zum Allgemeinen städtischen Krankenhause.

Das lange gelbe Spitalgebäude nimmt sich, von der Straße aus betrachtet, recht trübselig aus, drinnen aber, im großen ersten Hof, stehen die mächtigen alten Kastanien in voller Maiblüte, und auf den Bänken unter den tiefhängenden Zweigen sieht man in der Dämmerung Rekonvaleszenten im hellen Spitalanzug dasitzen und friedlich miteinander plaudern. Im warmen Lufthauch sinken die Blüten matt von den Bäumen und nach längeren Regentagen verbreiten sie doppelt süß ihren Duft mitten im Geruch von Jodoform und Karbol, der hie und da aus einem der weitgeöffneten Fenster dringt.

Das junge Mädchen geht an der Pförtnerloge vorüber und quer durch die Baumanlagen dem Direktionsgebäude zu, ohne daß der dicke Portier mit seinem würdevollen Ernst an sie die übliche Frage richtet, zu wem sie wolle. Denn er kennt sie, vor einiger Zeit hat sie hier am Scharlachfieber krank gelegen und darauf wiederholt einen der Ärzte in der Abteilung zu sprechen gehabt. Nur die Gasflammen, die im Treppenraum des Direktionsgebäudes schon angezündet sind, leuchten grell und neugierig in das feine Gesichtchen, auf dem ein zugleich schalkhaftes und furchtsames Lächeln steht – furchtsam gemacht durch jeden leichten Tritt, der so sonderbar deutlich widerhallt in dieser fast feierlichen Stille.

Dann kommt von den oberen Stockwerken eine ältliche Wärterin in weißer Schürze und Haube und mit ernster, beschäftigter Miene; auch sie stellt keine Fragen; auch ihr scheint es natürlich, daß niemand hier aus und eingehen kann, als wer dazu gehört, – leidend oder handelnd in diesen Klosterfrieden eines Krankenhauses gehört.

Zwei Treppen hoch bleibt das Mädchen vor einer der dick ausgepolsterten Doppeltüren stehen, hinter denen die Einzelzimmer der jungen Sekundärärzte liegen, blickt sich scheu nach allen Seiten um, dreht leise den Schlüssel im Schloß, zieht ihn wieder heraus und öffnet behutsam.

Im kleinen, quadratischen Raum mit dem hochgelegenen breiten Erkerfenster brennt eine Lampe auf dem Schreibtisch dem Bett gegenüber.

Niemand ist im Zimmer. Aber während sie ihren dunklen Strohhut ablegt, klopft es von außen an die Tür. Sie hält erschrocken inne, behält den Hut in der Hand, hält den Atem an. Da klopft es wieder und wieder, jetzt stärker. Und noch einmal. Eine weibliche Stimme, dicht an der Türritze, sagt flehend: »Herr Doktor, ich bitt' Sie, um Gottes und aller Heiligen willen, – kommen Sie zu uns! Wir warten in Ängsten auf Sie! Herr Doktor, ich bitt' Sie!«

Dann eine Pause. Ein tiefer Seufzer. Jemand kratzt mit dem Griffel auf der kleinen bei der Tür ausgehängten Schiefertafel herum. Endlich entfernen sich die Schritte den Gang hinunter, – zögernd, widerwillig.

Nach ein paar Minuten kommen andere Schritte die Treppe herauf, – sie springen sie herauf, – immer über zwei Stufen auf einmal. Ein leises besonderes Klopfzeichen an der Tür, und sie wird vom Mädchen geöffnet.

Ein junger Mensch tritt ein, ein langer, blonder Mensch mit sehnigem Hals und noch schmalem Brustkasten, beide Arme voll papierumwickelter Bierflaschen und kleiner Tüten. Er wirft alles von sich, auf den Tisch, auf den alten lederbezogenen Diwan – wo es gerade hinfallen mag –, und faßt mit beiden Armen nach dem Mädchen, und drückt es fest – fest an sich.

»Endlich! endlich!« murmelt er, vom raschen Gange noch atemlos, »– du Liebstes! mein liebster Mensch du! Wie ein Stück Glück steht sie da in meinem Zimmer. Hundert – hunderttausendmal hast du mir gefehlt.«

Er schaut so frisch und gut und lebensfroh aus mit seinem jungen, beinah noch bartlosen Gesicht.

Aber sie sieht ihm verwirrt in die frohen Augen, – etwas ängstlich.

»– Berthold, es hat geklopft. Jemand kam nach dir.«

»Nun? – und? – hat man dich im Zimmer gehört, bemerkt?«

»Mich, nein. Aber es war so dringend – Bist du ihr nicht draußen begegnet?«

»Nein. Wem? Wer war es?«

»Eine Frau. Sie klopfte immer wieder. Sie flehte, daß du kommen möchtest. Sie sagte: um Gottes und aller Heiligen willen –«

Er hat sie aus dem Arm gelassen. Seine Züge sind gespannt und peinvoll. Alle Freude ist aus ihnen gewichen. »Die Marie!« murmelt er; »die Magd von ihnen. In der Querstraße 21.«

»Sie hat etwas auf die Schiefertafel geschrieben, Berthold. Willst du nicht nachschauen, damit du weißt, zu wem du sollst –«

»Zu wem? Ja, glaubst du denn, ich bekomme hier Privatpraxis oder was? Ich, der eben erst fertig studiert hat, der eben erst praktisch weiter lernt? Nein, du. Es ist immer dieselbe, die kommt.«

»Aber was ist es denn, Berthold?«

»Nichts, wobei ich helfen kann. Den besten Arzt haben sie, – alles. es ist ihnen nur darum zu tun, einen ihnen vertrauten Menschen da zu haben, einen Freund, Freundeshilfe, beim – Schrecklichsten. – Mich kennen sie von Kindesbeinen an. Wir sind sogar entfernt verwandt. Aber das ist es nicht allein, – gern haben sie mich, und ich – ich auch sie.«

»Und dort ist jemand schwer krank?«

»Sehr schwer. Er, – der Mann. Und wie diese Frau an ihm hängt! Niemand konnte ahnen, daß es so schnell zu Ende ginge, – grad jetzt, heute oder morgen. Es konnte noch Wochen dauern. Drum haben wir's ihr ausgeredet, – sie hätt's ja nie im Leben ausgehalten, wochenlang es zu wissen. Hat erst kürzlich geboren, – das erste Kind.«

Er steht noch immer mitten im Zimmer, während er spricht, als lausche er dabei noch auf was.

Sie schmiegt sich an ihn. »– Berthold! Hättest du dann nicht lieber hingehen müssen? Müßtest du nicht jetzt gleich –«

Er zieht langsam einen Stuhl an den Tisch heran. Sein Gesicht ist entschlossen und finster geworden. »Nein. Ich hab' doch dich erwartet, Elly. – Und jetzt, wo du hier bist – und so schwer, wie du abkommen kannst, – und so lange, wie wir drauf gewartet haben, – sag's selbst? Zu bloßem Vergnügen ist's doch nicht, daß wir uns endlich wieder ungestört sprechen mußten, uns aussprechen über unser Wichtigstes. Ist unsere Zukunft nicht das Wichtigste –? Und unter Tags, während meiner Dienststunden, da kann ich doch nicht.«

Und er nimmt ihren Kopf leise und zärtlich zwischen seine beiden Hände und küßt sie auf den Mund und in das seit der Krankheit noch kurzverschnittene, schwachgelockte blonde Haar.

Sie erwidert seine Küsse, und alles lacht an ihr und leuchtet vor Glück. »Setz dich her!« sagt sie dann, »laß mich zusehen, was du mitgebracht hast. Hast du nicht schon deinen großmächtigen Hunger? – wie du nur zum Küssen noch Geduld hast?!«

Und vor sich hin singend öffnet sie den schmalen Schrank, wo sie zwischen Kragen, Krawatten und Taschentüchern eine Tischserviette herauskramt und zwei dahinter verborgene Teller und Bestecke, um auf dem einen Ende des Schreibtisches die Abendmahlzeit zu ordnen.

Da bemerkt sie, daß er den Kopf in die Hand gestützt hat und vor sich hin starrt. Seinen Blick kann sie nicht erhaschen, das Lampenlicht bescheint nur die lange, schmale, gepflegte Hand, die er vorgeschoben hält.

»Du!« sagt sie plötzlich und läßt die Gabel fallen, mit der sie den kalten Aufschnitt aus den aufgewickelten Papierumhüllungen aufspießen wollte, um ihn in dem einen der beiden Teller aufzuschichten, »– ich bitte dich, geh hin! Ruh' hättest du doch keine. Und wenn's wegen mir ist, – mir wär's so schon lieber, du gingst.«

Er macht sich fast barsch von der Hand frei, die sie ihm bittend auf den Arm gelegt hat. »– Wenn ich dir doch sage, daß ich nicht geh'! Kannst du's etwa wollen, wenn ich dir doch sage, daß ich nicht will? – Nein? – Also! das will ich mir auch ausgebeten haben!«

Er zieht sie zu sich auf seine Kniee nieder und fährt ihr mit liebkosenden Fingern durch das gewellte Haar. »Also komm. Bleib hier sitzen und red' nicht in einem fort davon, hab' die Güte. Warum auch grad davon?! – Noch nichts hast du mir erzählt, – sag, wie war es denn? Hat deine Tante gutwillig erlaubt, daß du heute bei deiner Freundin übernachtest?«

Sie nickt. »Ja, das hat sie. Die Tante ist gut, – wirklich lieb und gut. Wenn sie nur die Angst nicht hätte bei allem, – besonders, daß die Mannsleute es nicht recht ehrlich meinen, – wieviel lieber möcht' ich ihr dann alles erzählen! Alles, ganz so, wie es ist. Nicht wahr? Aber es geht nicht, sie würd' es nicht zulassen, daß zwei so junge Menschen wie wir zusammenhalten, zwei, die beide noch nichts sind und nichts haben. – – Vielleicht ist sie nur so streng, weil sie ein altes Fräulein ist, meinst du nicht?«

Er stürzt ein Glas von dem lauschäumenden Bier hinunter und schüttelt den Kopf. »Deine Tante hat im allgemeinen ganz recht, Elly, ganz recht, wenn sie dich nach Kräften hütet. So viele Laffen und Müßiggänger wie hier auf den Straßen Herumlaufen, – und noch dazu bist du nicht aus der Gegend, bist nicht stadtgewöhnt, – würdest dich nicht auskennen mit ihnen.«

Sie lacht, während sie sich von ihm mit kaltem Fleisch und mit Brotschnittchen füttern läßt wie ein kleiner Vogel. »Mir kann so ein Laffe nichts anhaben,« sagt sie; »ich bin doch schon über ein Jahr hier, und auf dem täglichen Gang zum Kindergarten bin ich oft genug angesprochen worden. Mir hat noch keiner gefallen – noch nie, – außer nur du. Du allein.«

Er drückt sie an sich. »Und zu mir hattest du da auch gleich das richtige Vertrauen, gelt? Und auch du hast mir gleich so gut gefallen, wie du da im Spitalbettchen lagst. Gleich hatt' ich dich lieb. – – Und dann: daß wir beide nicht von hier sind, beide Provinzkinder aus demselben Nest, und auch beide elternlos, besonders das. Ein bissel Leid verbindet auch, meinst du nicht?«

Sie nickt nur. Ein warmer Wind streicht durch das offene Erkerfenster über die beiden hin und weht von Zeit zu Zeit von Ellys losem Haar eine Strähne an des Mannes Wange. Sie hören auf zu reden und zu essen. Das Lieblingsgespräch, über die Entstehung ihrer gegenseitigen Liebe und über deren mutmaßlich ewige Dauer, erreicht schließlich sein natürliches Ende in innigen Küssen und zärtlichen Schwüren.

Die Tüten und Papiere vor ihnen liegen geleert um den Teller herum, von dem sie gemeinsam gespeist haben; nur einige Krachmandeln und Schokoladenbonbons sind noch übriggeblieben. Er hat nicht vergessen, Süßigkeiten mitzubringen, denn er nascht selbst gern. Aber heute fehlt ihm der Sinn dafür, und er leert Glas um Glas.

Ein Falter verirrt sich in das Zimmer und umflattert die Lampe, deren Porzellanbehälter schon mit winzigen Mottenleichen beklebt ist. Draußen ist es ganz still, totenstill geworden. Und stärker, berauschender als zuvor strömt die Baumblüte ihren Duft in die Nacht aus.

Elly sitzt noch auf seinen Knieen. Ihre Hand hat sich in seine Hände geschlichen, ihr Kopf schmiegt sich an seine Schulter. Hin und wieder flüstert er etwas, leise wie im Traum, – wie das Flattern des Falters um das ruhig brennende Licht, – irgend ein Wort, irgend ein leeres Wort, ein unwillkürliches Überfließen von dem, wovon in diesem Augenblick ihre Seelen voll sind. Oder sie murmelt einen halb verständlichen Laut, der, nur ein sehnsüchtiger Seufzer, von den heißen Lippen erstickt wird, die sich schmachtend auf die ihren pressen.

Auch jetzt noch wollen sie die wenigen Stunden, die ihnen vergönnt sind, wahrnehmen, um ernsthaft verständig alles Wichtige der Zukunft zu besprechen, – aber später, – nur ein wenig, ein ganz klein wenig später, – denn in diesen Minuten fehlt ihnen die Kraft dazu. Es ist ihre erste, gänzlich sichere, gänzlich unbedrohte Einsamkeit, die sie berauscht. Zum erstenmal ist die störende Welt um sie ausgelöscht, hinweggewischt, zum erstenmal sind sie allein auf der Welt. – – –

Da klopft es.

Er fährt zusammen, und dann umfaßt er sie fester. Den Kopf beugt er tiefer, tief hinab zu ihr, als wolle er sich bei ihr bergen.

Es klopft wieder, ungestümer, dringender. So rücksichtslos laut klopft es in die vorangegangene Stille hinein, daß es wie eine körperliche Gewalt wirkt, welche die beiden auseinanderzerrt.

Elly sucht sich aus den sie umfassenden Armen zu lösen und starrt ratlos nach der Tür. »Kannst du dich denn abwesend stellen, – wenn nun jemand weiß, daß du drin bist?« fragt sie kaum hörbar.

»Das weiß nur die Wärterin aus meiner Abteilung,« entgegnet er ebenso und steht geräuschlos auf.

Beide stehen regungslos. Das Klopfen läßt nach, aber jemand drängt sich dicht an die Tür.

»Sie merkt, daß hier Licht brennt!« murmelt er, und, wie in Angst, macht er auf dem Teppich einige Schritte vorwärts, aber nicht um zu öffnen, sondern seitwärts geht er, unwillkürlich bis ganz hinter die Tür, bis hinten an den Schrank, – gerade als ob die Tür von Glas und durchsichtig sei und er sich in einem Winkel verstecken müsse.

Elly schaut verständnislos mit großen Augen seinem törichten Beginnen zu. Da ertönt die weibliche Stimme von vorhin, eindringlich und hilfeflehend: »Kommen Sie, Herr Doktor, bitte, kommen Sie! Lassen Sie uns nicht im großen Jammer allein! Unser Herr liegt im Sterben und kann nicht sterben, und unsere Frau liegt in Lachkrämpfen und kann's und will's nicht glauben und will's von Ihnen hören, ob es wahr ist. Haben Sie Barmherzigkeit, Herr Doktor, und kommen Sie!«

Die schrecklichen Worte schallen durch das ganze Zimmer, bis in den hintersten Winkel, so daß kein Versteck vor ihnen möglich ist, – erfüllen das ganze Zimmer, als ob sie von allen Wänden tausendfach widerhallten, und verklingen erst, als von innen der Schlüssel ins Schloß gesteckt und umgedreht wird.

Mit einem Ruck reißt Berthold die Tür auf. Er tritt hinaus auf den Vorplatz. Elly kann die halblaut geführte kurze Verhandlung draußen nicht hören.

Da kommt er in die Stube zurück. »Ich muß hin!« sagt er und sieht verstört und angstvoll aus, »ich muß hin, Elly.«

Und wie sie in sein Gesicht blickt, begreift sie plötzlich, daß es nicht nur das Zusammensein mit ihr ist, was ihn vom Fortgehen zurückgehalten hat. – Noch etwas anderes, Stärkeres, – etwas, das sie nicht kennt.

Schweigend sieht sie zu, wie er in seinen Mantel fährt, wie er verschiedenes noch zu sich steckt. »– Es ist gewiß viel besser, daß du gehst,« bemerkt sie endlich leise, »du hättest es vielleicht nicht verwunden – später.«

Er hört nicht auf das, was sie sagt. »Bleib hier!« sagt er hastig, »verriegle dich gut von innen. Mach keinem auf, – hörst du: keinem.«

»– Hier?! – ich soll hierbleiben –?« fragt sie erschrocken, »– denke nur, wie spät es werden kann, und –«

»Nein, nein,« unterbricht er sie schnell, »es dauert ganz kurz, – ich hab' ihr gesagt, daß ich heute Nachtdienst hätte und nicht fortbleiben kann. Also wird's nur auf einen Sprung sein, – und nur ein paar Häuser weit, – gelt, du bleibst?«

»Ich weiß nicht, –« murmelt sie ungewiß.

»Ich bitte dich darum! laß mich dich nicht entbehren, wenn ich heimkomme; laß mich nicht ins leere Zimmer heimkommen! Ich könnt's nie verwinden, daß ich das verloren habe, – diesen Abend mit dir. Und jetzt in der Eile, wo wir absolut nichts verabreden können, – sollen wir so auseinandergehen und uns lang, lang nicht wiedersehen? Schau, das ist unmöglich! Also du bleibst, – ja?« Und er ergreift ihre Hände und hält sie fest. Seine Blicke haften mit banger Innigkeit an den ihren.

»Ja!« sagt sie überwunden.

»Dank dir! – – Und verzeih mir, du Liebstes, was ich habe, daß ich von dir geh'.« Er küßt rasch und heftig ihre Hände und ihr Gesicht. Jetzt ist sie es, die den Säumenden zur Tür drängt.

Endlich ist er aus dem Zimmer. Man hört seinen Schritt den Gang hinunter. Nun eilt er, er läuft fast. –

Elly lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tür und hat Lust zu weinen. So viel Schmerz, Sehnsucht, Liebe und eine süße heiße Erregung drücken ihr die Brust zusammen. Was liegt ihr am rechtzeitigen Heimgehen zur Freundin! Aber diese kostbaren, unwiederbringlichen Minuten, die erst nach vielen Hindernissen und mißglückten Kämpfen errungen worden sind, – ist es nicht unerträglich, sie nun einsam, ohne ihn hinzubringen, – ohne ihn, der eben noch seinen Arm um ihren Nacken schlang, – ohne ihn, den jeder ihrer Nerven zurückruft? –

Elly stampft leicht mit dem Fuß auf, und ihr Blick überfliegt voll zorniger, sehnsüchtiger Ungeduld das hellerleuchtete kleine Gemach. Auf dem Schreibtisch liegen noch die fettbefleckten Tütenpapiere, die Apfelschalen und Krachmandeln herum. Mit einem Seufzer beginnt sie mit hausfraulichem Instinkt das benutzte Geschirr fortzuräumen, schüttelt die Serviette am Ofen aus, stellt die geleerten Bierflaschen hinter den Diwan. Dabei betrachtet sie fast ehrfürchtig alle einzelnen Gebrauchsgegenstände im Zimmer, die Bücher und Instrumente, mit denen Berthold arbeitet. Er kommt ihr so kenntnisreich und hochstehend vor neben den Männern der simplen praktischen Berufe, die sie früher, als Pächterskind, daheim gekannt hat! Und sein Äußeres gehört für sie ganz unmittelbar dazu, – dieses sicherlich nicht schöne, aber gepflegte Äußere des Sohnes aus gutem Hause, der sich auch bei der größten Knappheit der Geldmittel und beim härtesten Vorwärtsstreben nicht vernachlässigt. –

Elly steigt den Tritt zum hochgelegenen Erkerfenster hinauf, setzt sich auf das Fenstersims und schaut über die dunklen Baumwipfel weg in den Himmel hinein, der ganz sternenbesäet ist. Schräg gegenüber leuchtet die große runde Spitalkirchenuhr zu ihr herüber gleich einem riesigen Mond. Und der schmeichelnde Frühsommer wogt und duftet zu ihr ins Zimmer und erfüllt sie ganz, bis zum Herzensrande, mit ihrer jungen, jauchzenden, innigen Liebe. – – Was diese Liebe eigentlich liebt, das ist ihr selber nicht bewußt, ob sie am Manne liebt, was gut und tüchtig ist, oder den Mann, der feinere Wäsche und feinere Formen besitzt, oder ob nur das in ihm, was sich in erster, ehrlicher Jugendglut verlangend und glutweckend zum Weibe neigt, – sie liebt urteilslos und unterscheidungslos, aber sie liebt mit ganzer Hingebung in diesen nächtlichen Stunden des Harrens und Sehnens.

Sie drückt den Kopf gegen das Fensterkreuz und blinzelt müde und verträumt.

Wenn man so dem monotonen leisen Rauschen der blühenden Baumwipfel zuhört, tönt das wie einschläferndes Wiegenlied. Und gern hört sie dem zu, denn Baum und Wipfelrauschen, Wind und Blüte sind ihr vertraut und entführen sie ins Traumland der Kindheitserinnerung, – nach dem kleinen Pachthof an der bayrischen Grenze, den ihr Vater damals innehatte, und auf den einsamen, birkenumstandenen Schulweg zum Lehrer des nächsten Dorfes, der sie so Vieles und Gutes gelehrt hat, und in die große Gesindestube unten im Gutshaus, wo am Feierabend die müden Leute beim Klang der Mundharmonika zusammensaßen.

.

Die Zeiger auf der runden Spitaluhr rücken Viertelstunde um Viertelstunde vor. Wie es ein Uhr schlägt, fährt Elly aus ihrem Halbschlaf so plötzlich empor, als ob eine Hand sie an der Schulter berührt habe. Vornübergebeugt sitzt sie auf der Fensterbrüstung, eine einzige Bewegung noch, und sie hätte hinabgleiten können, mitten im Traum, und jetzt daliegen auf den regenfeuchten Steinfliesen vor dem Direktionsgebäude als eine zerschmetterte, unkenntlich gewordene Masse.

Es schaudert sie. Sie springt vom Fenstersims ab, und erstaunt und ungläubig heften sich ihre Augen auf das schimmernde Zifferblatt der Uhr drüben. Ein Uhr! Es ist kein Traum gewesen, in dem sie es wie einen Weckruf schlagen hörte, es ist ein Uhr!

Jetzt ist es viel zu spät, um überhaupt noch zur Freundin zu gehen. Da kann sie unter keinem Vorwand mehr hin. Besser wäre es noch, hier zu bleiben, abzuwarten, bis es in den Spitalhöfen in frühester Morgenstunde lebendig wird, denn dann kann sie sich unter den Kranken, die oft schon sehr zeitig vorsprechen, und unter dem in Anspruch genommenen Personal ganz unauffällig entfernen. Sie selbst ist schon einmal so früh hier gewesen, als ihre Tante des Nachts unerwartet krank wurde.

Noch steht sie erschrocken, schwankend, überlegend, als ein Schlüssel sich von außen in der Tür dreht.

Sie läuft hin, sie entriegelt die Tür, und mit einem Freudenlaut will sie ihm entgegenstürzen, ihm, der sie endlich erlöst aus der unheimlichen Einsamkeit des Zimmers.

Aber er blickt sie zerstreut an, wie wenn er erst jetzt eben, bei ihrem Anblick, gewaltsam zu ihr zurückgekehrt wäre. Blaß und erschöpft sieht er aus.

»– Ja, es ist spät, entsetzlich späte Nacht ist es geworden, arme Elly, nicht wahr? Fast unmöglich, dich noch herauszulassen und heimzubringen; – wenn man dich sieht – –! und der Portier müßte uns doch öffnen.«

»Wäre es nur noch später, viel später!« sagt sie gedrückt, »– am liebsten heller Morgen. Man geht hier so früh schon aus und ein. Ich glaube, das beste ist noch, wenn ich die Sonne abwarte.«

»– Die Sonne –? – ja –« Er sagt es, ohne recht zugehört zu haben. Er will den Mantel ablegen und hält mitten drin inne. Dann wirft er ihn achtlos in eine Ecke des alten Diwans und spitzt die Lippen, wie jemand, der pfeifen will. Aber er pfeift nicht. Er setzt nur dazu an und fährt sich dann mit der Hand wieder und wieder nervös durch sein kurzgeschorenes Kopfhaar.

Elly starrt ihn an, mit Augen, denen man noch den unterbrochenen Schlaf ansieht. »– – Ist er tot?« fragt sie scheu.

»– Tot? – – Ja, jetzt ist er's. – Endlich ist er tot. Schließlich: wir müssen ja alle sterben, keiner kommt drum herum. Was ist denn auch schließlich dabei,« bemerkt er in leichtem, achtlosem Ton. Dann plötzlich: »– So ein Blödsinn! Eine solche blödsinnige Krankheit! Blödsinnig, sag' ich dir! Und ein solcher Mann im kräftigsten Alter, – hatte er denn nicht ein Recht, noch zu leben, ja grad jetzt zu leben? – Er hat nie viel vom Leben erwartet, – nein, das kann niemand behaupten. Ihm ging's auch meistens schlecht, oft miserabel, mußte dazu noch seine Eltern unterstützen, – sich herumschinden mußte er, das Leben puffte ihn sozusagen. – Da erringt er sich diese kleine liebe Frau, erringt sich diese kleine, bescheidene Lebensstellung, sein bißchen Glück, – und glücklich war er!! Denn nun mußte es ja ein Weilchen besser gehen. Letzthin sagte er mir noch einmal: ›Denk nicht, daß ich was Besonderes erwarte, nichts will ich, nichts, nicht Erfolg, nicht Glückszufälle, – nur in Ruh' lassen sollen alle Zufälle mich, nur abseits mich stehen lassen, mich vergessen, – daß ich behalte, was ich hab'.‹ – Herrgott, mir gellt's jetzt in die Ohren, wie er das so sagte!«

»Und was sagte er denn dazu, daß er so sterbenskrank wurde?« fragt sie mit bestürztem, mitleidigem Gesicht.

»– Dazu –? Was er dazu sagte –?« murmelt Berthold und schaut sie an und sieht doch kaum, daß sie da vor ihm steht; es ist unterdrückter Zorn in seiner Stimme und in seinen Augen, und sie hört, wie seine Zähne übereinanderknirschen. »– – Nichts hat er dazu gesagt, nichts, kein Sterbenswort hat er gesprochen. Stumm hat er dagelegen, stumm und empört, – ja empört, im Innersten aufgebracht war er über seinen Tod. Wut lag in seinem Blick, – manchmal ein dumpfer Haß, wenn er seine Ärzte anblickte, auch mich, – und quälen ließ er sich nach allen Regeln der Kunst, bis zum Todeskampf, dem langen, gräßlichen, der gar nicht enden wollte und ihn schließlich erdrosselte und damit alles, – auch seinen Zorn, den ohnmächtigen, fürchterlichen.«

Er spricht mit gesenkter Stimme, gedämpft; sie sieht, daß er die rechte Hand zusammenkrampft und die Nägel in die innere Handfläche drückt, – vielleicht um Tränen zu wehren. Dann geht er langsam auf den Diwan zu und setzt sich auf das Fußende, – schaut auf und streckt den Arm nach ihr aus. Er zieht sie an sich und beugt den Kopf; er küßt sie nicht, aber sie fühlt doch, daß er erst jetzt wieder bei ihr ist.

»Schau, ich hatte Angst,« gesteht er und lächelt flüchtig über seine eigene Verstörung und Erschöpfung, »– ganz einfache Angst hinzugehen, dabei zu sein. – Ich mußte ja der Frau die Wahrheit sagen, als sie da in Lachkrämpfen lag, während er im Nebenzimmer so qualvoll verröchelte. – Es ist grausig, so etwas. So hilflos, so elend hilflos ist man.«

Sie streicht ihm sanft, scheu über das kurzgeschorene Haar, das feucht von Schweiß ist. »– Seid ihr's nicht alle schon ein wenig gewöhnt – vom Spital her?« bemerkt sie schüchtern.

»Vom Spital? Das ist ja ganz etwas anderes. Meistens ein fremder Mensch, ein bloßer Fall, – das medizinische Interesse überwiegt weit, stumpft die aufkommende Weichheit gleich ab. – Nur wenn sie länger daliegen, man sie gut kennen lernt, dann ist es schon schwerer, aber es geht immer noch –. Nur wenn's dann so kommt, – außerhalb des Spitals, wo sozusagen Krankheit und Tod hineingehören, – und wenn man dabei nur so Schlachtopfer des Zuschauens ist, ohne wirkliche Aktivität, – und dazu liebe Menschen, Freunde, und ein Schicksal, das man kennt –. Und nun dieser würgende Tod in solchem bescheidenen Leben –«

»Du Armer!« sagt sie erschüttert, und ihr kommen die Tränen, gegen die er sich sträubt, »– vielleicht macht ihr's alle durch im Anfang – oder du bist besser, mitleidsvoller als die anderen.«

»Mitleidsvoller?!« fragt er höhnisch.

Er hat sie schon wieder losgelassen und ist aufgestanden. Er beginnt unruhig im engen Zimmerchen auf und ab zu gehen.

»Nein, du! Mitleid ist das nicht! Alles, nur kein Mitleid ist das! Wie kommst du nur auf Mitleid? Denn der Tod – der kommt ja auch zu uns. Ja, das tut er wahrhaftig, etwas früher oder etwas später, aber ganz sicher, – absolut sicher. Begreifst du das?! – – Nein, sag nicht, daß du es begreifst, denn das ist es ja eben, das Schauerliche, daß man es in solchen Augenblicken und Stunden erst ganz plötzlich begreift, gleichsam den Tod betastet und anfühlt, während er sonst nur so von fern dasteht, – ein undeutliches Etwas. Er ist aber durchaus nicht fern, durchaus nicht; es sieht nur so aus, er dreht uns sozusagen nur den Rücken zu, bis – bis er sich herumdreht –«

»Lieber Gott, wie viel er redet und wie schnell nacheinander,« denkt sie bei sich. Sie entgegnet ihm nichts. Ein feines Gefühl hindert sie daran, irgendeine banale Entgegnung in seine schwere Stimmung zu werfen.

Da reißt er sie plötzlich an sich, – wild, heftig.

»Elly, hör nicht, was ich rede, – was beschwere ich Nichtsnutziger dich damit! Aber sieh, Kind: – an dich und mich denk' ich dabei. Ich möcht' dich doch halten, dich schützen, – war das nicht unsere Zukunft, unser Traum? – – und bin doch ohnmächtig, – ohnmächtig dagegen, daß der Tod in der Welt ist, der dich hat und mich.«

Er murmelt das letzte nur, sie immer fester an sich ziehend, und küßt sie mit ausbrechender Leidenschaftlichkeit. Dann läßt er ebenso jäh von ihr ab. Seine Augen werden finster. »Es vergessen, es beieinander vergessen, ja, das kann man auf Zeiten und möchte man. Aber man soll damit fertig werden und es durchkämpfen und Stellung dazu nehmen, – man muß! Da reißt man dann alle lebendigen Kräfte zusammen und flucht und betet, – und – und ich werde nicht damit fertig.« –

Sie schaut ratlos zu ihm auf; er sieht, daß sie weint.

Erschöpft setzt er sich nieder. »Komm her!« sagt er in verändertem, freundlichem Ton, »setz dich zu mir. Ich habe die ganze vorige Nacht in der Abteilung durchwachen müssen und hatte die Nacht davor Journaldienst, – ich glaube, alles kommt von dieser rasenden Müdigkeit.«

Er macht ihr Platz und legt sich weit hintenüber, fast ausgestreckt, und nimmt ihre Hand in die seinen. Aber gleich darauf blickt er nicht mehr auf sie, sondern zur Zimmerdecke hinauf, und seine Augen wandern unstet hin und her, ohne einen Ruhepunkt zu finden.

»Wenn du doch ruhen könntest!« sagt sie und blickt mitleidig auf seine gespannten, nervösen Züge nieder.

Es macht ihn ungeduldig, daß sie so beharrlich auf ihn hinsieht. »Wieso: ruhen? was kann denn das helfen, ich bin doch kein Pferd!« versetzt er gereizt.

Sie schweigt verletzt. Wie ganz anders hat sie sich den heutigen Abend vorgestellt! Mit wieviel Sehnsucht und Jubel hat sie ihn erwartet! Und nun wird sie überhaupt nicht beachtet, – es ist fast so, als ob sie noch allein hier säße. Mit ihrem Verstand ist sie wohl seinen erregten Auseinandersetzungen gefolgt, aber ihr Gefühl vermag ihm nicht ganz bis zu diesen unglücklichen Menschen zu folgen, nicht ganz bis in die Schauer des Todes – –.

Ihr Gefühl ist absorbiert von Sehnsucht und getäuschter Hoffnung und gekränkter Liebe, und dies Gefühl ist mächtiger als der blasse, unbegreifliche Tod, der ihr »noch den Rücken zukehrt«, wie Berthold sagte –. Aber er hat auch die Nacht an einem Sterbelager verbracht, während sie nur da am Fensterkreuz gesessen hat, hineingeschmiegt in Blütenduft und Wipfelrauschen, träumend.

Die Lampe auf dem Schreibtisch brennt trüb. Von Zeit zu Zeit knistert ihre kleine Flamme, als ob sie nächstens erlöschen wollte. Von der gegenüberliegenden Wand schimmert das schmale Bett im Eisengestell weiß herüber. Eine große, dicke Fliege schwirrt mit Gesurr zwischen Tisch und Lampe und läßt sich begehrlich auf ein Stückchen vergessener Apfelschale nieder.

Wie einsam, wie toteinsam ist es in dem kleinen Zimmerchen! Elly starrt auf die naschende Fliege und kommt sich so verlassen vor, wie noch nie in ihrem ganzen Leben. Große Tränen drängen sich in ihre Augen und tropfen auf ihr Kleid nieder – andere, schwerere Tränen als zuvor. – –

Mitten aus den trüben Gedanken weckt sie ein seltsamer Ton. Berthold ist der Urheber dieses Tons. Er liegt unbequem ausgestreckt auf dem Rücken und schnarcht. Er hat wirklich die Augen geschlossen und schläft und schnarcht.

Ihre Tränen versiegen in der Verblüffung. Warum hat er denn nun behauptet, er sei kein Pferd? Er verschläft seine seelische Erschöpfung genau wie eine körperliche Ermüdung.

Seine rechte Hand hängt schlaff über den Rand des Diwans herab, die linke, die noch Ellys Finger gefaßt hält, ist kalt und feucht. Sein Gesicht sieht fahl aus; die Stiefel, die über den Diwan hinausragen, starren von Straßenschmutz. In diesem Augenblick entbehrt er jedes ästhetischen Reizes, jedes persönlichen Zaubers, der ihn in Ellys Augen von gesellschaftlich tieferstehenden Männern unterschied. Und zu der seelischen Entfernung, in die seine scheinbare Nichtbeachtung und Benommenheit sie momentan von ihm gerückt hat, gesellt sich jene plötzliche körperliche Entfremdung, die den geringfügigsten Anlässen am liebsten entspringt. In diesem Augenblick ist es, als ob Elly ihn ganz aus ihrem Herzen und aus ihren Sinnen verloren habe. Oder steigen nur aus seinen vorangegangenen düsteren Worten lauter schwarze Schatten auf, die alles verfinstern und auch ihrer Liebe den Glanz nehmen? Friert sie nur aus Übermüdung und Kränkung und Langeweile, oder kriechen aus allen Ecken dunkle, unfaßbare Gespenster an sie heran und machen sie schaudern? Was ist es denn auch mit aller Liebe und Freude, wenn sie schon von dem leisesten Hauch aus dem Reiche des Todes verblaßt, – was ist es mit aller Liebe und Freude, wenn doch so bald und so sicher alles zerfallen und vermodern muß? –

Sie denkt den Gedanken zuerst nur mit trotziger Bitterkeit, mit dem verzweifelten Verlangen, in ihm recht herumzuwühlen, in ihm recht unglücklich zu sein, – dann aber denkt sie ihn mit Grausen und sucht vergeblich, von ihm loszukommen. Wieder meint sie das Gespräch von vorhin zu vernehmen, aber diesmal folgt nicht nur ihr Verstand den Worten, – die ganze Todesstimmung gleitet auf sie über und packt sie. Ihr ist, als ob sie hinausgeschleudert würde aus einem Rosengarten auf ein nacktes Felsenriff in wildbrandendem Meer. Aber nicht nur sie allein, sondern mit ihr alle Menschen, – der Mensch überhaupt, – jeder einzelne, der auch lebt, auch liebt, auch stirbt. Sie fühlt sich im großen Allleid alles Daseins leidvoll mitverschlungen, ihr kleines, vereinzeltes Liebesleid zerrinnt darin und taucht unter. Sie hätte jetzt nicht küssen können und nicht schlafen. Sie sitzt, die Hände um das Knie geschlungen, und starrt mit heißen, offenen Augen in die Nacht.

In der Lampe schwelt der Docht. Leise steht sie auf und löscht ihn aus. Der Himmel über dem Spitalhof beginnt sich ganz zart zu röten. Weiße dunstige Morgenwolken ziehen darunter hin. Aus den Wipfeln der Kastanien, die wie eine schwarze, kompakte Masse gen Himmel ragen, wird ein kleiner verschlafener Vogellaut hörbar. Hie und da wirft ein erhelltes Fenster in den Seitengebäuden seinen Schein in die dunkle Blätterwirrnis, und ein schwerbeladener Blütenzweig hebt sich neigend heraus.

Berthold schläft noch immer. Den Kopf weit zurückgelehnt liegt er da und schläft so fest, so tief, so hingegeben an seine große, traumselige Müdigkeit.

Elly kniet bei ihm nieder, und im unsicher aufdämmernden Morgenlicht beugt sie sich über sein bleiches Gesicht mit den stillen, sanft gewordenen Zügen und dem tiefen Frieden über der Stirn, die vorhin in nervöser Pein gezuckt und sich gefurcht hat.

Er liegt da wie ein Schlafender, oder wie ein Sterbender. Irgendwann einmal wird auch er im Tode so daliegen, – er wird ihr entrissen werden oder sie ihm. – Und heiß quillt wieder die Liebe für ihn in ihrem Herzen auf, – Liebe ohne Grenzen, ohne Rückhalt, als wäre sie selbst eben erst dem Tode entronnen, nur um ihn zu lieben. Aber neue, neu gewordene Liebe, – nicht zum Liebenden allein, sondern zum Menschen, den Not und Tod, den das unbegreifliche, gewaltige Leben selbst, mit seinem Entstehen und Vergehen, in den geheimnisvollsten Tiefen ihr verband. Und eine neue, neugewordene Sehnsucht, – nicht nur ihn zu küssen, sondern das Leben mit ihm zu leben bis zur Stunde des Todes.

Bis zur Stunde des Todes. – Würden die Lust und die Freude ihrer zärtlichen Stunden ihnen bis dahin durchhelfen, durch alles hindurch lebendig und wirksam bleiben – bis dahin?

Elly atmet tief auf, und tiefer, mit einem Anflug von Lächeln um ihre Lippen, beugt sie sich über den Schlummernden.

Nein, – die Zärtlichkeit allein vielleicht nicht.

Vielleicht noch oft würde der Lebensernst die Liebeständelei zertreten wie heute, vielleicht noch oft würde in den schmerzlichen, verworrenen Tönen, die ihm durchs Herz gehen, das kleine Liebeslied unbeachtet verklingen, wie heute. – Aber mit glücklichem Gesicht will sie fortan ihre Arme aufheben zu ihm, zum Dank dafür, daß er so ist, – dafür, daß er sie nicht nur streichelt und den Ernst bei ihr vergißt, sondern mit dem Leben ringt – für sich und sie. Und in ihren Schoß soll er seinen Kopf legen, wenn er leidet. Vielleicht steigt dann ein zärtlicher Traum immer wieder neu herauf, – in einer Nacht wie heute, – und spinnt heimlich, im Dunkeln, immer wieder neue Liebe ums Leben. – – –

Elly erhebt sich geräuschlos und macht sich leise fertig, um fortzugehen. Noch einen fast mütterlich sorgenden Blick wirft sie auf ihn. Gern würde sie ihm die schweren beschmutzten Stiefel ausziehen, damit er besser ruhen könne. Aber davon müßte er gewiß aufwachen. Deshalb zieht sie nur seinen Mantel aus der Diwanecke heraus und breitet ihn über seine Knies. Dann schleicht sie sich behutsam aus dem Zimmer.

Auf den Gängen und Treppen ist es noch nachtstill. Die Gasflammen brennen noch wie am Abend vorher, als sei es eben erst gewesen, daß sie hier heraufstieg.

Draußen im Hof aber umfängt sie schon die gleichmäßige, farblose Helle des Frühmorgens, in der die lichterhellten Fenster sich ganz wunderlich gespenstisch auf den Steinfliesen abzeichnen, die besäet sind mit welken, zertretenen Kastanienblüten.

Ein Arzt, aus dem zweiten Hof des Krankenhauses kommend, durchquert die Baumanlagen. Wie er eine weibliche Gestalt auf den Hauptausgang zugehen sieht, hält er inne und schaut ihr aufmerksam nach.

Irgendwo wird eine Tür geöffnet. Zwei Wärterinnen huschen in leisem, übrigens ganz vergnügtem Gespräch vorüber. Auch sie wenden die Köpfe und stutzen.

Elly bemerkt es nicht. Sie steht vor der Portierloge im großen Torbogen und klingelt, bis endlich der dicke Portier in Hemdsärmeln, völlig bar seiner gewöhnlichen Würde, mit verschlafenem Gebrumm heraussteigt und ihr gähnend das Tor aufschließt.

Sie hat ganz vergessen, daß, um fortzugehen, sie die volle Sonne abwarten wollte und das offene Tor und das beginnende Leben in den Höfen. Sie denkt auch jetzt nicht daran, daß sie sich vielleicht kompromittiert. –

In diesem Augenblick sind für sie die Menschen nicht gefährliche Späher oder neugierige Verleumder, sondern einfach Brüder und Schwestern, – sie fühlt sich so herzlich geeint mit ihnen, so weitab von allem kleinlichen Getriebe, – mit ihnen gemeinsam umfangen vom gleichen Leben – und vom gleichen Tode.

So tritt sie arglos hinaus auf die einsam im Morgengrauen träumende Straße und eilt heimwärts mit raschen, elastischen Schritten, die vom Steindamm längs der schlafenden Häuser fast fröhlich widerhallen. Ihr ist hell und jung und gesund zu Mute, ein grundloser Jubel erfüllt sie ganz.

Und glutrot geht hinter ihr, in dampfenden Frühnebeln, die Sonne groß und still auf und umspinnt die hineilende Gestalt mit feierlichem Licht.

Anmerkungen.eingearbeitet. joe_ebc für Gutenberg

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