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Der Führer.

Von Berta Maria Hofmann.

 

Der Führer Johann Muig war gerade mit den Touristen, die er begleitet hatte, an die Unterkunftshütte zurückgekommen, da trat schon ein Herr auf ihn zu, der seine Rückkehr ungeduldig erwartet hatte, um mit ihm eine Bergbesteigung für den folgenden Tag zu verabreden. Die mit Muig eingetroffenen Touristen saßen unterdessen auf der Bank vor der Hütte, um ihr Zeugnis in das Führerbuch einzutragen. Als sie fertig waren, winkte die Dame, die zuletzt geschrieben hatte, dem Loisl, dem etwa dreizehnjährigen Buben des Führers, der, an der Hüttentüre lehnend, gespannten Ohres und Auges die Unterredung seines Vaters verfolgte und reichte ihm das offene Büchlein: »Bring's deinem Vater und lies es nur, damit du siehst, wie stolz du auf ihn sein kannst!«

Des Buben braungebranntes Gesicht wurde noch dunkler, weil ihm eine Blutwelle zu Kopf stieg, als er einen Blick auf das Geschriebene geworfen hatte. Da stand zum Schluß: »Wer Johann Muig zum Führer hat, ist auf's beste versorgt. Muig setzt sich in der aufopferndsten und selbstlosesten Weise für die ein, die sich ihm anvertraut haben. Seine unbedingte Zuverlässigkeit, seine Treue in jeder Beziehung müssen rühmend hervorgehoben werden. Im Verein mit seiner hervorragenden bergsteigerischen Tüchtigkeit machen ihn diese Eigenschaften zu einem vorbildlichen Führer.«

Mit einem Aufleuchten in den Augen klappte Loisl das Büchlein zu und schob es seinem Vater, der eben die Unterredung beendet hatte, in die Tasche. »Vater,« bat er dabei, »ich habe gehört, daß du mit dem Herrn morgen auf die Wildspitze gehst; du hast mir versprochen, ich darf einmal mit, wenn du nur einen Touristen dabei hast. Laß mich morgen mit, ich bitte recht schön.«

Der Vater schüttelte den Kopf: »Es geht nicht, Loisl, morgen nicht. Du siehst ja selber, wieviel Touristen jetzt grad immer da sind, da wird die Mutter mit der Thresel allein nicht fertig. Du mußt schon bleiben und ihr helfen.«

Der Bub senkte den Kopf; es war schon richtig; wenn der Vater, der mit der Mutter zusammen die Unterkunftshütte bewirtschaftete, als Führer auf Touren unterwegs war, gab's in den schönsten Sommerwochen soviel zu tun, daß die Mutter mit der Thresel allein nicht alles schaffen konnte und seine Hilfe beim Bedienen der Gäste und bei allerlei Handreichungen sehr nötig brauchte. Richtig war, was der Vater sagte, aber ärgerlich und bitter war es, und der Bub brummelte etwas vor sich hin.

»Lassen Sie ihn halt mit, wenn sein Herz daran hängt« mischte sich der noch in der Nähe stehende Tourist ins Gespräch, »mir ist es ganz recht.«

»Ach ja, Vater, nimm mich doch mit« bettelte der Bub nochmals. Aber der Führer wehrte ab: »das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Fabrikdirektor Wengert; aber der Bub soll dableiben und nicht brummeln und nicht betteln. Gehorchen und schweigen heißt's bei mir. So hat's auch beim Militär geheißen. Wer Führer werden will, muß erst einmal das lernen: gehorchen und schweigen« und er wandte sich dem Hause zu.

Mißmutig trottete der Bube seinem Vater nach in die Gaststube. Da saßen auf den rundum laufenden Holzbänken vor den weißgescheuerten Tischen eine ganze Reihe von Touristen und Touristinnen; zwischen ihnen saß auch die Frau des Fabrikdirektors, der am nächsten Tag mit dem Führer gehen wollte, und ihr Junge, Herbert, ein Bube ungefähr im gleichen Alter wie Loisl. Der nickte dem Eintretenden eifrig und freundlich zu. Die Buben hatten sich schon am Nachmittag ein wenig miteinander unterhalten, und als Loisl später mit dem Ab- und Zutragen der Speisen und des Geschirrs fertig war und draußen auf dem Brunnentrog hockte und pfiff, kam Herbert heraus und setzte sich zu ihm. Er zog einen Karton aus der Joppentasche und schob ihn dem Kameraden zu:

»Nimm dir was!«

Der Loisl betrachtete zuerst umständlich und genau die Umhüllung mit dem lustig bunten Bild und der goldenen Aufschrift: »Bubi-Pralinen« ehe er aufmachte und zugriff. Sie waren nicht schlecht, die Bubi-Pralinen. »So was gibt's nicht bei uns heroben!« lobte der Loisl. »Dafür gibt's was andres bei euch, was mir gut gefällt und was ich haben möchte« rückte nun der Herbert mit seinem Anliegen heraus. »Das Edelweiß. Ist's wahr, daß es ganz da heroben welche gibt? am Seejöchl, haben sie drinnen erzählt, soll's geben, ist's wahr?«

»Freilich wohl«.

»Hast du selber schon eines gepflückt?«

»Grad genug«.

»Dann führ mich doch aufs Seejöchl, Loisl, morgen früh, wenn mein Vater mit deinem auf der Tour ist« bettelte Herbert. Aber Loisl schüttelte den Kopf: »Der Vater leidet's nicht, daß man einen an die Edelweißplätz hinführt; die Edelweiß sollen geschützt werden, sagt der Vater. Wenn einer sie selber findet, ist's gut, aber hinführen darf ich niemand. Und Zeit hätt' ich auch nicht.«

Herbert gab sein Spiel noch nicht verloren. Nach einiger Weile nahm er aus seiner Tasche ein schönes Taschenmesser und schob es Loisl hin: »Gefällt dir das Messer? Probier es mal!« Der Loisl musterte und prüfte sachverständig, ließ die Klingen aus- und einschnappen und probte am Brunnentrog, daß die Späne flogen; »elend gut schneidet's«, mußte er anerkennen.

»Ich schenk dir's«, lockte Herbert, »wenn du mich aufs Seejöchl führst.«

Da schob Loisl das Messer verächtlich von sich: »Wenn ich gesagt hab, ich geh nicht, dann geh ich nicht,« erklärte er großartig und stand auf.

»Dann geh ich allein!« murrte Herbert. »Das wirst du wohl bleiben lassen«, warnte Loisl, »das ist höchst gefährlich, da ist schon mancher abgestürzt beim Edelweißpflücken. Da darfst du nicht allein hin.«

»Du hast mir gar nichts zu sagen; wo du schon so ungefällig bist, brauchst du auch nicht meinen Vormund zu machen«, trotzte Herbert, »ich tu, was ich will, das geht dich gar nichts an.«

»Frag nur deinen Vater, ob er dir's erlaubt!« »Willst wohl den Angeber machen und mich verpetzen?«

»Angeben tu ich niemanden, gewarnt hab ich dich«, und Loisl wandte sich und verschwand im Unterkunftshaus, wo er in der Küche hantierte, bis es Schlafenszeit war. Den Herbert sah er am Abend nicht mehr, auch am nächsten Morgen nicht, als er in die Gaststube kam, um dem frühzeitig mit dem Direktor aufbrechenden Vater den Morgenkaffee zu bringen. Herbert und seine Mutter schliefen wohl noch, sie hatten ja den ganzen Tag nichts weiter zu tun, als auf die Rückkehr des Vaters zu warten.

Er aber, Loisl, mußte sich tüchtig tummeln, bis alle die zeitig ausrückenden Bergsteiger mit Frühstück und Wegzehrung versehen waren. Er hatte schon eine ganze Weile geschafft und war eben dabei, die mittlerweile leer gewordene Gaststube auszukehren, als seine Mutter mit einer Joppe überm Arm hereinkam.

»Loisl«, sagte sie, »jetzt hab ich etwas Schönes angestellt. Ich hab mich alleweil geärgert die letzten Tag, daß der Vater den zerrissenen Janker anzieht und nicht unten laßt, bis ich Zeit hab ihn zu flicken. Jetzt hab ich ihm heut heimlich, wie er den Rucksack schon auf dem Buckel gehabt hat, den guten Janker über den Rucksack gehängt, statt den alten: und wie ich jetzt dabei bin, den alten Janker zu flicken, da seh ich, daß dem Vater sein Pfeiferl und der Tabak in der Joppentasche steckt, statt in der Westentasche, wie ich gedacht habe. Jetzt hat der Vater heut den ganzen Tag auf der Tour sein Pfeiferl nit; das wird was geben, Bub, wenn er heimkommt.«

Loisl schaute bedenklich. Aber dann hellte sich seine Miene auf. »Ich weiß was, Mutter. Der Vater macht mit dem Herrn den Umweg über den Mahnkopf, weil da eine schöne Aussicht ist, und weil auf dem direkten Weg zur Wildspitz, auf dem Gamssteig, ein paar Sicherungen an den gefährlichen Stellen losgebrochen sind. Auf dem Umweg über den Mahnkopf brauchen sie eine gute Stunde länger zum Hohlecksattel, wo der weitere und der nähere Weg wieder zusammenkommen. Wenn ich gleich über den Gamssteig hinaufsteig, treff ich sie leicht noch am Hohlecksattel und bring dem Vater das Pfeiferl.«

Die Mutter atmete auf. »Das tu, Bub, und wenn der Vater dich mitnimmt, kannst mit auf die Wildspitz; ich schau schon, daß ich allein fertig werd.«

Loisl strahlte; er rannte in die Kammer, um seine Joppe zu holen; da fiel sein Blick auf das zweite Seil, das der Vater dagelassen hatte, weil er nur mit einem Herrn ging. Wenn er nun doch mitdurfte, konnte man's brauchen. Kunstgerecht schlang er sich's um die Schulter, stopfte Pfeife und Tabak in die Tasche und sprang eilend davon. Ihn kümmerte es nicht, daß Drahtseil und Eisenstifte gerade an den gefährlichsten Stellen des Gamssteiges fehlten; er war ja selber eine Gams, so leichtfüßig, behende und schwindelfrei sprang und kletterte er; richtig gerechnet hatte er auch: sogar noch eher als der Vater mit dem Herrn war er oben am Hohleck; er konnte den Emporsteigenden von oben zuwinken und rufen: »s Pfeiferl ist da!«

Als er dann dem herankommenden Vater das geliebte Pfeiferl hinstreckte, setzte er bittend hinzu: »darf ich jetzt mit? die Mutter erlaubt's!«

Aber der Vater ließ sich nicht erweichen: »Es ist zuviel für die Mutter, bis Mittag ist bei dem schönen Wetter die Hütte wieder voller Leut. Schau nur, daß du schnell hinunterkommst, aber nicht den Gamssteig, der ist hinunter noch schlimmer; gehst auch über den Mahnkopf, da kannst du laufen, dann geht's abwärts grad so schnell wie über den Gamssteig, wo du langsam tun mußt mit den schlechten Stellen.«

Der Bub machte ein langes Gesicht, als er sich umwandte, um sich heimwärts zu trollen. Aber dann fühlte er, wie Vater und Tourist ihm nachsahen; er setzte sich in Trab und sprang dann mit mächtigen Sätzen ins Geröllfeld hinein, daß er bei jedem Sprung mit Steinen und Brocken prasselnd ein Stückchen talwärts fuhr, das langweilige Zickzack des Serpentinenwegs durch die Geröllhalde mußte doch abgekürzt werden. Sein Vater und der Fabrikdirektor sahen ihm in der Tat nach, und Herr Wengert meinte anerkennend: »Da können Sie wirklich stolz sein auf Ihren Jungen, das ist ja ein ganz famoser Bengel.«

Der Vater hatte sein Pfeiflein in Brand gesteckt und tat schmunzelnd den ersten Zug: »Ich hoff, er wird recht!« sagte er einfach.

Es war, als ahnte der Loisl, daß die da oben lobend von ihm sprachen, so unverdrossen und rüstig sprang er talabwärts. Nach kaum einer halben Stunde war er an der Stelle angelangt, wo der markierte Steig nach dem Seejöchl von dem Steig nach dem Mahnkopf abzweigt. Ärgerlich blieb er stehen: Apfelsinenschalen, Pfirsichkerne und Papier lagen mitten auf dem Weg. »Das ist keine Macherei«, brummte er. »Dreiviertel Stunden von der Hütten fort schon hinsitzen und füttern und alles verdrecken,« und ärgerlich stieß er mit dem Fuß Schalen und Kerne beiseite, daß sie zwischen die Steine am Abhang kollerten. Dabei flog ein Papier in die Höhe und flatterte langsam vor ihm nieder; er sah ein buntes Bild und wie er stutzte und schärfer hinsah, las er deutlich ein Stück des Aufdrucks: »Bubi-Pral –

So, also Herbert hatte hier gerastet und alles herumgeworfen. Was hatte er hier gewollt, wo war er hingegangen? Loisl kletterte ein Stück aufwärts; von dem Felsenvorsprung aus konnte man fast den ganzen Weg nach der Hütte hinab überblicken, aber nirgends war ein sich bewegender Punkt zu sehen. War Herbert am Ende doch, wie er gesagt hatte, allein zum Seejöchl gegangen, um Edelweiß zu suchen? Das konnte schlimm ausgehen.

Loisl mußte sich schnell Gewißheit verschaffen; in einer halben Stunde scharfen Steigens konnte er die Scharte erreichen, von der aus man freien Blick hatte auf die Ostseite des Seejöchls, an der sich die schmalen Grasbänder mit den Edelweißstellen hinzogen. Da konnte er mit seinen Luchsaugen gut sehen, ob jemand in der Wand herumkletterte oder nicht. Er sputete sich, so sehr er konnte; so schnell stieg er, daß er fast außer Atem war, als er an der Scharte anlangte.

Rasch und spähend ließ er seine Augen über die steile Felswand gleiten. War irgendwo ein dunkler, beweglicher Punkt zu sehen? Nun hatte er auch wieder Atem genug, um zu rufen: »Hallo, hallo!« schrie er laut und immer lauter, während seine Augen rastlos jedes schmale Grasband überflogen, jedes Stück der Wand absuchten.

Er glaubte schon umkehren zu können, als er hinter einem Felsvorsprung einen dunklen Strich hervortauchen sah, der sich rasch auf und ab bewegte; etwas Weißes flatterte an seinem Ende. Da an dem Felsen, an einer üblen Stelle der Wand kauerte jemand und winkte.

»Herbert! Herbert!« schrie Loisl mit aller Macht und der schwarze Strich bewegte sich immer rascher und aufgeregter auf und ab, während zugleich dem nun angestrengt Lauschenden ein schwacher Laut wie: Hilfe, Hilfe! ans Ohr tönte.

Gewiß, es war Herbert, der an dieser bösen Stelle festsaß; da galt kein Zaudern.

»Ich komm, ich komm!« brüllte Loisl, während er anfing, an der Felswand emporzusteigen, dem dunklen Strich zu. »Hallo, hallo, ich komme!« schrie er jedesmal, wenn er einen Augenblick rastete, um die nächsten Griffe und Tritte zu überlegen. Endlich konnte er auch den Verstiegenen sehen: hinter einem Felsblock kauerte er auf einem schmalen Grasband, ängstlich an die Wand gedrückt, mit der einen Hand sich krampfhaft am Gestein anklammernd, den andern Arm noch immer fast mechanisch auf und ab bewegend.

»Bleib sitzen, bleib stad« rief der Kletternde, »ich bins, der Loisl, ich komm gleich, ich hol dich gleich!« und er arbeitete sich unverdrossen vorwärts.

»Loisl, Loisl! Gott sei Dank!« Herbert weinte fast, als sein Retter neben ihm auf dem schmalen Vorsprung stand.

Loisl wunderte sich: »daß du soweit kommen kannst, hätt' ich gar nicht gedacht. Schneid hast gehabt, daß du bis daher gekommen bist.«

Aber Herbert hatte keine Schneid mehr: »Ich kann nicht mehr zurück«, jammerte er; »erst hab ich keine Angst gehabt, weil ich Edelweiß gesehen hab, aber jetzt hab ich Angst.«

Loisl tröstete: »Ich seil dich an, dann hast keine Angst mehr, ich bring dich leicht zurück;« und eifrig schlang er das Seil um sich und den Kameraden. Aber so leicht, wie er dachte, ging das Zurückbringen nicht. Herbert war von Angst und Aufregung zu sehr mitgenommen, er hatte zu lang hinter dem Felsen gekauert und umsonst geschrien und gewinkt; er traute sich nichts mehr zu; Loisl mußte ziehen und halten und stützen und trösten und ermuntern und es dauerte lang, bis sie endlich wieder bei der Scharte angelangt waren.

Da war die Gefahr vorbei; ganz erleichtert und stolz knüpfte Loisl das Seil los, rollte es zusammen und warf es neben sich auf den Boden, denn nun hatte er sich wirklich ein paar Minuten Rast verdient. Nun das Schlimmste überstanden war, beruhigte sich auch Herbert bald. Nach einer Weile suchte er in seinen Taschen und reichte dem Kameraden sein Taschenmesser. »Nimm's bitte, weil du mir geholfen hast.«

Loisl wog das Messer nachdenklich in der Hand: »Das braucht's nicht, das gehört sich so, daß man einem hilft, wenn's fehlt, da braucht's keinen großen Dank nicht.«

»Behalt's doch,« bat Herbert, »aber sag dafür meiner Mutter und meinem Vater ja nicht, daß ich beim Edelweißpflücken war; ich hab der Mutter gesagt, ich geh aus die Hochalm, weil mir das der Vater erlaubt hat, und dann bin ich heut früh gleich nach dem Vater heimlich fort. Wenn der Vater erfährt, daß ich bei den Edelweiß war, wird er furchtbar bös; er hat mir's verboten und er hat mir gesagt, wenn ich im Gebirg einmal nicht folge, schickt er mich gleich heim; gelt versprich mir, sag auch, daß ich auf der Hochalm war, damit mich der Vater nicht heimschickt.«

Loisl war aufgestanden; er warf das Messer zornig hin: »So,« sagte er, »lügen soll ich für das Messer, da kannst es behalten.« Und er wandte sich zornig ab und fing an abwärts zu steigen.

Er sagte kein Wort mehr und wandte sich nicht einmal nach dem kleinlaut Nachschleichenden um. Aber als dann doch die eine oder die andere Wegstelle kam, die für den Aufgeregten und Ermüdeten schwierig sein konnte, kämpfte er den Zorn nieder. Er war nun doch Herberts Führer; was hatte in Vaters Zeugnis gestanden? Etwas von selbstlos und aufopferungsvoll und unbedingter Treue? er wollte doch ein rechter Führer sein. Schweigend wandte er sich um, streckte die Hand aus und half dem Eingeschüchterten über die schlechten Stellen.

So kamen sie ohne ein Wort zu reden zur Hütte zurück. Es war Mittag geworden. Die Frau Fabrikdirektor stand vor der Hütte und winkte ihnen zu; die Hüttenwirtin stand gerade am Brunnentrog und füllte Wasserflaschen. Herbert ließ sich auf einmal keine Müdigkeit mehr anmerken, er sprang auf seine Mutter zu.

»Du warst aber lang fort«, meinte diese, »ich war schon in Sorge; warst du auf der Hochalm, wie der Vater gesagt hat?« Herbert nickte: »Ja, ich war auf der Hochalm, und da hab ich mich etwas verlaufen und da ist der Loisl gekommen und hat mir zurecht geholfen, das war schön vom Loisl.«

»Das war freilich schön«, lobte Frau Wengert; »und es war ein Glück, daß der Loisl grad nach der Hochalm gegangen ist! Ich danke dir Loisl« und sie streckte dem Buben freundlich die Hand hin.

Aber Loisl machte ein wildes Gesicht und tat, als sähe er die Hand nicht.

»Loisl, was ist«, mahnte die Hüttenwirtin, die alles mit angesehen hatte, »sei nicht so wild, bist wohl bös, daß dich der Vater nicht doch mitgenommen hat auf die Wildspitz? Laß gut sein, dafür hast doch einen freien Vormittag gehabt. Die Arbeit hab ich jetzt allein geschafft, geh nur in die Küche und iß.«

Loisl verzog sich mit finsterem Gesicht; aber im Lauf der Stunden verflog sein Unmut und am Spätnachmittag half er der Mutter ganz munter beim Aufhängen grober Leintücher auf dem Platz neben der Hütte. Er war so eifrig bei der Arbeit, daß er gar nicht gemerkt hatte, daß sein Vater mit dem Fabrikdirektor zurückgekommen war und dicht hinter ihm stand.

Er schaute erst um, als er Herrn Wengert sagen hörte: »da ist er ja schon wieder fleißig, und heut früh ist er schon gestiegen und gelaufen, daß es eine Freude war.«

»Ja«, er ist brav gelaufen, bestätigte der Führer; »wann war er denn wieder in der Hütte«, setzte er, an seine Frau gewandt, fragend hinzu.

»Bald nach Mittag«, gab die Hüttenwirtin Bescheid, er hat bei der Hochalm den Herbert getroffen und hat ihn zurechtgewiesen, weil der sich nicht mehr ausgekannt hat.«

Schwapp, hatte der Loisl eine Ohrfeige sitzen.

»Hab ich dir nicht angeschafft, du sollst gleich nach Haus?« zürnte der Vater. »Liegt die Hochalm auf dem Weg vom Hohleck nach der Hütte? Hast wohl deinen Freund, den Sennerbuben, besuchen müssen, statt daß du gehorcht hast, Malefizbub.«

Der Herbert hatte alles gesehen und gehört, er war mit seiner Mutter zur Begrüßung der Heimkehrenden herbeigeeilt; er stand, in den Arm seines Vaters eingehängt und das Blut schoß ihm dunkelrot zu Kopf.

Die Blicke der Buben kreuzten sich einen Augenblick, aus Loisls Augen blitzte ein Strahl halb Verachtung, halb Stolz, dann beugte sich der Bub über das nächste Leintuch und reichte es der Mutter zu. Während die andern hineingingen, arbeitete er draußen weiter, und dann in der Küche. Erst als es schon ganz dämmerig war, kam er in die Gaststube. Herbert saß dort zwischen Vater und Mutter und der Hüttenwirt daneben. Sie unterhielten sich ganz eifrig.

Als Loisl eintrat, blickte der Vater auf: »Wo hast du denn mein zweites Seil hin, du hast es doch dabei gehabt am Hohleck. Hast du's vielleicht liegen lassen auf der Hochalm, bei deinem Freund?« fügte er stirnrunzelnd hinzu, als er sah, wie der Bub über seine Frage erschrak. Freilich war er erschrocken, der Loisl. Das Seil, das Seil; wo war es? Siedeheiß fiel's ihm ein; droben an der Seejöchlscharte hatte er es liegen lassen, als er das Messer hingeworfen hatte und schnell davongegangen war.

»Ich hab's liegen lassen, ich hol's gleich«, stammelte er. »Das will ich dir raten,« murrte der Vater, »auf der Stelle gehst du und schaffst es mir wieder.«

Der Loisl schaute den Herbert gar nicht mehr an; der war ihm viel zu verächtlich. Er machte kehrt und verließ die Stube. So konnte er nicht sehen und wissen, wie Herbert bald rot, bald blaß in tödlicher Aufregung auf seiner Bank herumrutschte und sich innerlich abquälte. Den Weg zur Seejöchlscharte sollte Loisl jetzt in der Dunkelheit gehen, den Weg, der ganz schlimme Stellen hatte, der ihm am hellen Tag Schwierigkeiten gemacht hatte! Wenn er nun einen Fehltritt tat in der Nacht, der Loisl! Wenn er, sein Lebensretter, der um seinetwillen so viel getan und ausgehalten hatte, abstürzte? Die Minuten dehnten sich ihm zu qualvollen Ewigkeiten.

Er hielt es nicht mehr aus in der Stube; er rutschte von der Bank und schlupfte aus dem Gastzimmer. Die Hüttentür stand offen; draußen war es Nacht. Ein unheimliches Rauschen drang aus dem Dunkel. War es nicht ein fernes Jammern und Rufen?

Herbert stürzte in die Küche: »Frau Muig,« schrie er außer sich, »sagen Sie schnell dem Herrn Muig, er soll herauskommen, schnell, schnell, aber nur er, sonst gibt's ein Unglück mit dem Loisl.«

Die Hüttenwirtin sah den ganz verstörten Buben und war auch schon drin in der Stube.

Einen Augenblick später stand der Führer im dunklen Vorraum; da klammerten sich zwei Hände an seinen Arm und eine ganz heisere Stimme stammelte: »Rufen Sie schnell den Loisl zurück; er läuft nach der Seejöchlscharte. Ich bin allein Schuld, ich hab Edelweiß pflücken wollen; der Loisl hat mich gerettet am Seejöchl, da liegt das Seil.

Da stürmte Johann Muig auch schon aus der Hütte in die Nacht hinaus; zum Seejöchl rannte sein Bub, jetzt in der Nacht! »Loisl, Loisl«, rief er und rannte bergauf. »Loisl, Loisl«, rief Herbert, der hinter ihm drein keuchte. Es war dunkel draußen und ein Sturm hatte sich erhoben, der Ruf drang nicht weit. Wer weiß, wie weit der tollköpfige Bube schon gestürmt war. Wer weiß, ob er umkehrte, wenn er seinen Namen rufen hörte, es war ihm heute schon genug Leid und Unrecht geschehen. Vielleicht rannte er nur schneller davon, wenn man ihm rief. Herbert stolperte noch immer hinter dem Führer her, sein Herz klopfte zum Zerspringen; einen Augenblick stand er still, einen Augenblick verstummte der Sturm.

»Hilfe, Hilfe!« schrie Herbert. »Hilfe, Hilfe!« Durchdringend, verzweifelt gellte sein Schrei. Johann Muig blieb erstarrt stehen, verstummt. War der Junge verrückt geworden? »Hilfe, Hilfe!« gellte von neuem sein Schrei.

Aber da, von oben, aus dem Dunkel ein antwortender Ruf: »Hallo, hallo, ich komme!«

»Hilfe, Hilfe!« kreischte Herbert.

»Hallo, ich komme!« tönte es näher oben. Steine polterten, aus dem dunklen Schatten löste sich allmählich etwas wie ein dunklerer Schatten; näher polterten Steine, deutlicher wurde der dunkle Umriß.

»Loisl!« schrie Johann Muig vorspringend und umklammerte seinen Buben mit beiden Armen.

»Ja«, machte Loisl ganz erschrocken, »wer schreit denn dann so, wenn du da bist?«

»Ich weiß nicht, warum er schreit«, flüsterte Muig, »der Herbert ist's; vielleicht ist er verrückt vor Angst und Aufregung.«

Aber schon stand Herbert neben ihnen. »Nein, nicht verrückt, nicht verrückt,« schrie er wieder und wieder und umklammerte auch den Loisl mit beiden Armen, bis er endlich herausgebracht hatte zwischen Lachen und Weinen, er habe Hilfe, Hilfe geschrien, weil er gewußt habe, wenn man Hilfe schreie, dann kehre der Loisl um und käme gleich, wenn er es höre; wenn man nur seinen Namen riefe, wäre er vielleicht nur schneller fortgelaufen, weil er denke, man wolle ihm wieder Unrecht tun.

»Ist das wahr?« fragte der Vater und preßte seinen Buben fest an sich; »und war alles, weil du den Herbert nicht hast im Stich lassen wollen?«

»Ja, alles hat er für mich getan«, antwortete Herbert an seiner Stelle und erklärte mit übersprudelnder Eile, wie sich alles zugetragen hatte.

»Brav warst du, Bub,« lobte der Vater und preßte die Hand seines Jungen zwischen seinen beiden.

»Ich war doch sein Führer, da darf ich ihn nicht verlassen,« wehrte Loisl ab, »es steht doch in deinem Bücherl, daß man's so machen muß – daß du es so machst«, setzte er scheu und leis hinzu!

»Und ich hab dir eine Ohrfeige gegeben«, murmelte Muig.

»Schadet nichts, die hab ich gut für ein andermal«, lachte Loisl.

So kamen sie ganz glücklich zur Hütte zurück.

»Nimmst du jetzt mein Messer?« bat Herbert schüchtern.

»Ja, jetzt nehm ich's – und deinem Vater sag ich kein Sterbenswörtlein,« versicherte Loisl, »ich laß mich nimmer sehen vor ihm.«

Das konnte er leicht ausführen, denn am andern Morgen in aller Frühe marschierte Fabrikdirektor Wengert mit seiner Frau und seinem Jungen ab.

Eine Woche später aber brachte ein Träger, der mit Proviant vom Tal heraufkam, ein eingeschriebenes Paket mit für Herrn Johann Muig. Es war ein Sonntag, der Hüttenwirt war zu Hause; seine Frau und Loisl standen bei ihm und schauten erwartungsvoll zu, wie er auspackte. Ein Paket war eine Seltenheit, eine sehr erfreuliche. Und sehr erfreulich in der Tat war, was aus der Schachtel zum Vorschein kam: eine große und eine kleine Joppe mit dicken Hirschhornknöpfen, eine silberbeschlagene Meerschaumpfeife, eine ganze Reihe von Päckchen schönsten, feinsten Rauchtabaks; und ein großer Karton mit Bubi-Pralinen. Dabei lag ein Brief, der war vom Fabrikdirektor Wengert und es stand darin, Herbert habe seinen Eltern am Tag ihres Abmarsches von der Hütte alles eingestanden und selbst gebeten, der Vater möge ihn nach Hause schicken und das Geld, das er dadurch spare, seinem kleinen Lebensretter und getreuen Kameraden schenken. Es waren auch richtig 200 Schilling beigelegt und überdies schrieb Herr Wengert noch nach vielen Worten des Dankes und der Anerkennung, er habe viele Beziehungen in der Geschäftswelt und bei Handwerkern, wenn Loisl in den nächsten Jahren daran denke, sich einen Beruf zu wählen, so solle er sich nur vertrauensvoll an ihn wenden, er werde ihm nach besten Kräften mit Rat und Tat beistehen; denn einen so zuverlässigen, treuen Jungen könne man mit bestem Gewissen überallhin empfehlen.

Der Hüttenwirt schmunzelte: »Schau, schau, was du mit der einen Führung verdient hast; bist ein ganz wohlhabender junger Mann geworden. Und die Welt steht dir offen. Kannst dir allerhand ausdenken, was du am liebsten werden willst. Jetzt heißt's nur grad alleweil überlegen.«

»Da braucht's kein Überlegen,« sagte der Junge trocken, »das weiß ich gleich, was ich werden will.«

»So, so«, wunderte sich der Vater, »das geht aber schnell, das Überlegen. Was willst denn nachher werden, Bub?«

»Ein Führer halt – wie du!« sagte der Bub.


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