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Die Heimat.

Von Frieda Henning.

 

Endlich hatte der Winter ein Einsehen gehabt und hatte den deutschen und polnischen Kindern den heißersehnten Schnee geschickt, gerade als die Weihnachtsferien schon ganz in der Ferne als lockende Aussicht auftauchten. Schon seit Jahren hatten die Jungen und Mädchen auf diesen Schnee gewartet und gelauert. Im letzten und vorletzten Winter hatte es sich kaum gelohnt, daß man die Schlitten vom Speicher herunterholte, um der paar armseligen Flocken willen, die vom Himmel wirbelten, und sich grau und durchlöchert wie ein schlecht gewaschenes und schadhaftes Laken über die Felder legten.

Diesmal war es eine andere Sache. Blendendweiß und glänzend wie der Zuckerguß auf den Weihnachtspfefferkuchen, lag die Schneedecke über der weiten Ebene zwischen Schneidemühl und Bromberg.

Die Netzewiesen, die der über seine Ufer getretene Fluß kürzlich überschwemmt hatte, waren hart gefroren und schimmerten wie riesige Spiegel in der Sonne, und die Bäume des Waldes, der sich westlich vom Städtchen Kanowo an den Hügel lehnte, glitzerten im schönsten Silberschmuck.

Klaus, der zwölfjährige Sohn des Ansiedlers Schwarzhaupt, dessen kleines Gut sich rings um den Hügel breitete, war nicht wenig stolz auf diesen Wald, von dem ein kleiner Teil noch zum Besitz seines Vaters gehörte, denn außer diesem stattlichen Eichenforst und den Kiefernschonungen, die sich die umliegenden, großen Rittergüter des Wildes wegen angelegt hatten, gab es kaum Wälder in der etwas einförmigen Gegend.

Klaus Schwarzhaupt war überhaupt der Meinung, daß es nirgendwo in der ganzen Welt so schön sein könne, wie in Friedrichseichen, wo er seine glückliche Kindheit verlebte, und auch die übrige Familie hing mit allen Fasern ihres Herzens an der Heimat.

Vor fünfzehn Jahren war es Schwarzhaupt, der längere Zeit als Inspektor in der Nachbarschaft tätig gewesen war, gelungen, das eben feil werdende kleine Gut in seine Hände zu bringen. Kurze Zeit nachher war die junge Hausfrau mit den fröhlichen Augen und den emsigen Händen eingezogen und dann die vier Kinder, eins nach dem andern.

Rühren hatte man sich freilich müssen; aber das waren Schwarzhaupts beide gewöhnt von Jugend auf.

So war es ihnen mit eisernem Fleiß und umsichtiger Sparsamkeit allmählich gelungen, das Gütchen schuldenfrei zu machen.

Wie hatte man sich gefreut, als es infolge einer kleinen Erbschaft möglich geworden war, das Haus, das freilich zunächst von außen mehr einem Stall als einer menschlichen Wohnung ähnlich sah, von Grund auf neu aufzubauen.

Der Einzug war für alle ein wahres Fest gewesen.

Wie ganz anders hatten sich Frau Luisens blank gebohnte Möbel in den neu gestrichenen und sauber tapezierten Stuben ausgenommen. Ja sogar eine kleine, weinumrankte Veranda hatte sie durchgesetzt und Läden an den Fenstern, die sonst in der Gegend nicht gebräuchlich waren, und deren trauliches und wohnliches Aussehen sie seither, in Erinnerung an ihre Jugendheimat, vermißt hatte.

Es waren auch dunkle, sorgenschwere Zeiten gekommen. Einmal hatte eine große Dürre, ein anderes Mal ein schlimmer Hagelschlag fast die ganze Ernte zunichte gemacht.

Als bei einer Diphtherie, die in der Gegend viele Opfer forderte, auch der fünfjährige Gottfried für immer seine sonnigen blauen Augen schloß, da hatte auch die Mutter eine ganze Zeitlang nicht mehr fröhlich sein können.

Erst als es ihr auffiel, wie freudlos und finster Schwarzhaupt, der gerade an diesem frischen Knaben seine besondere Freude gehabt hatte, seiner Wege ging, hatte sie sich dazu aufgerafft, ihr Kind auch mit dem Herzen dem zurückzugeben, der es ihr einst geschenkt hatte.

So war sie über das dunkle Leid hinweggekommen und hatte auch ihrem Mann mit hinübergeholfen.

Sie war eine kindliche Seele und wußte ihren Knaben wohl aufgehoben in den Händen desselben Vaters, der auch über ihr und ihrem Hause wachte.

Von Anfang an war es ihr ein Kummer gewesen, daß ihr Mann den Aufblick zu diesen schützenden und segnenden Vaterhänden selten fand. Nicht als ob Schwarzhaupt ein Spötter oder Verächter gewesen wäre. Er hatte nichts gegen Christentum und Kirche und legte seiner Frau nie etwas in den Weg, wenn sie am Sonntag beim Glockenläuten mit den Kindern ins Städtchen hinunter der Kirche zuwanderte. Aber er selbst fand nur an hohen Feiertagen den Weg ins Gotteshaus. Er hatte eine harte Jugend gehabt, in der er arbeiten, aber nicht beten gelernt hatte.

Einmal, als die ältesten Kinder, die Zwillinge Klaus und Elsbeth, schon in die Schule gingen, hatten die Eltern Frau Schwarzhaupt zu Weihnachten ein Buch geschickt aus dem Nachlaß der alten, frommen Großmutter. Ein Andachtsbuch war es gewesen, in dem für jeden Tag des Jahres Text und Liedervers und eine kleine Betrachtung geschrieben stand.

Frau Luise hatte das Buch am Abend über den Tisch hin ihrem Mann zugeschoben.

»Wollen wir nicht von nun an zusammen den kleinen Abschnitt lesen?« hatte sie bittend gefragt. »Es ist mir eine liebe Gewohnheit. Der Vater hat es zu Haus auch so gehalten.«

Aber Schwarzhaupt war aufgestanden. »Ich muß noch in den Stall,« hatte er gesagt. »Zeit ist Geld. Ich meine, der Kirchgang am Sonntag, den du ja nie versäumst, und der Segen beim Abendläuten sollten für Unsereinen, der hart arbeiten muß, um durchzukommen, genügen.«

Da hatte sie geschwiegen und von da an die kleine Andacht abends vor dem Schlafengehen für sich gelesen, was ja nur wenige Minuten in Anspruch nahm. Sie war damit zufrieden, daß sich das verschlossene Gemüt des Mannes immer mehr dem fröhlichen und freundlichen Sonnenschein öffnete, den sie im Hause zu verbreiten wußte.

Sie hatte durch die offen stehende Tür mit Freuden beobachtet, daß er mit die Hände faltete, wenn sie am Abend die Kinder ihr Nachtgebet sprechen ließ und daraus die fröhliche Hoffnung geschöpft, daß auch er den Weg, den man sie in ihrem frommen Elternhaus gehen gelehrt hatte, allmählich finden würde.

Dann kam der Krieg. Schwarzhaupt zog nicht mit hinaus. Er hatte von Jugend auf einen etwas schwachen Fuß, der ihn nicht an der Arbeit, wohl aber an weiten Märschen hinderte. So ließ man ihn zu Hause, zumal es auch bedenklich schien, dieses gefährdete Grenzland aller wehrhaften Männer zu berauben.

Sorgenschwere Tage und Wochen folgten. Die Russengefahr lag wie eine dunkle Wolke auf den Gemütern.

Immer näher klang der Donner der Geschütze herüber; Tag und Nacht waren Wachtposten aufgestellt. Mehr als einmal hatten die Bewohner des Städtchens alle ihre tragbare Habe zusammengepackt, um im Schutze der Nacht ins Innere des Landes zu fliehen.

Man hätte ja gerne alles ertragen, alles auf sich genommen, wenn nur das letzte, schwerste nicht gekommen wäre, der Friede, der kein Friede war, die Loslösung vom alten Vaterland. Da quoll eine unendliche Bitterkeit in den Herzen der Männer empor. Preisgegeben fühlten sie sich, ausgeliefert an den Feind, wohl gar in der trügerischen Hoffnung, einen günstigeren Frieden zu erlangen!

In den ersten Wochen hatten manche freiwillig der Heimat den Rücken gekehrt, auf die der neue Besitzer, der Feind, wie man ihn im Herzen nannte, seine harte Faust gelegt hatte.

Viele hatte man mit Gewalt aus ihr vertrieben. Die wenigen Deutschen, die noch im Lande waren, mußten sich schließlich zähneknirschend unter das Joch beugen.

Auch Schwarzhaupts gehörten zu denen, die geblieben waren. Der Verkauf des Gutes, der in dieser Zeit kaum einen Ertrag abgeworfen hätte, wäre einer völligen Verarmung der Familie gleichgekommen. Ganz neu hätte man beginnen müssen. Das war in jenen Tagen für den Einzelstehenden schwer, für eine größere Familie aber fast unmöglich.

Der Winter stand vor der Tür. Wo in aller Welt hätte man auch nur ein Obdach finden sollen? Fast in jeder Zeitung, die man in die Hand nahm, konnte man Berichte von dem Elend der Wohnungsnot und der Flüchtlingslager lesen.

So hatte man denn die Zähne zusammengebissen und war auf seinem Posten geblieben. Nur Frau Luise ahnte, welche Opfer Schwarzhaupt dies Standhalten gekostet hatte.

Von dem Tage an, an dem die polnische Regierung eingezogen war, lag der finstere Ausdruck wieder auf seinem Gesicht, den sie mit Freuden von Jahr zu Jahr immer mehr hatte schwinden sehen.

Einst waren die Deutschen Herren im Lande gewesen. Jetzt galt es, sich vor dem übermütigen Polen zu beugen, wenn man nicht Haus und Hof aufs Spiel setzen wollte.

Es war eine furchtbare Sache.

Wenn Frau Schwarzhaupt ihren Mann im Schlaf schwer aufstöhnen hörte, dann wußte sie, daß ihn diese Gedanken bis in die Träume verfolgten.

Schließlich trat mit der Abstumpfung, die jeder länger andauernde Zustand mit sich bringt, eine gewisse Erleichterung ein.

Schwarzhaupt hatte auch früher nicht viel nach außen hin verkehrt. Jetzt verließ er nur noch selten, wenn es die Verhältnisse notwendig machten, Haus und Hof.

Enger noch als vorher schloß sich die Familie zusammen. Wenn man sich am Abend unter der Lampe sammelte, die Großen von ihren Schulerlebnissen berichteten und das dreijährige Mariechen durch sein munteres Geplauder auch auf dem Gesicht des Vaters ein Lächeln hervorrief, dann dachte Frau Luise in ihrem unerschütterlichen Vertrauen, daß doch noch alles gut werden könne.

Und nun war es ja auch bald Weihnachten. Die Kinder waren voller Erwartung. Was konnte es Schöneres geben, als Weihnachten im Schnee!

An einem hellen kalten Winternachmittag machten sich die Zwillinge, Klaus und Elsbeth, gleich nach der Schule zum Schlittenfahren auf. Die Bahn war gerade jetzt prächtig. Klaus hatte sogar den Vorschlag gemacht, auch Mariechen mitzunehmen, aber die Mutter wehrte erschrocken ab. Das zarte Kind war kürzlich durch eine schwere Lungenentzündung hart mitgenommen worden und mußte noch monatelang sorgfältig geschont werden.

Als die Geschwister sich dem Hügel näherten, schallten ihnen laute Stimmen entgegen. Fast die ganze Jugend des Städtchens hatte sich an dieser Stelle, der einzigen in der Gegend, wo man so herrlich bergabwärts sauste, zusammengefunden, um das seltene Vergnügen des Rodelns zu genießen. Doch sah man schon von weitem, daß sich die Kinder in zwei Lager geteilt hatten.

Der größere Haufen stürmte in diesem Augenblick den Berg hinauf, unter lautem Geschrei und Gelächter, aus dem man deutlich die eigentümlichen Zischlaute der polnischen Sprache heraushörte.

Seitwärts am Wege stand eine kleinere Zahl Jungen und Mädchen beieinander; das waren die Kinder der deutschen Schule.

Klaus, der seinen Bergschlitten über der Schulter trug, rannte auf die Gruppe los.

»Vorwärts, Erich!« rief er einem rothaarigen Jungen zu, der ihm etwas bedrückt entgegensah, »was steht ihr da herum? Warum fahrt ihr nicht?«

Der Rotkopf zuckte die Achseln. »Stanislaw Jagozinski sagt, wir dürften erst nach ihnen fahren,« murrte er, »und dann müßten wir fix machen, damit die Bahn frei ist, wenn die Polnischen den Berg wieder rauf gestiegen sind.«

»Und das laßt ihr euch gefallen?« rief Klaus empört.

»Man kann nichts machen,« sagte Erich ruhig und legte die Hände auf den Rücken.

»Stacho Abkürzung von Stanislaus. ist der Junge vom Starosten Landrat., den darf man nicht verhauen, und dann sind sie ja auch viel mehr als wir. Die Trude Gubalke ist schon oben auf dem Berg gewesen und hat mitfahren wollen, weil sie nicht gehört hat, was Stacho gesagt hat. Die haben sie auf die Seite gestoßen in den Schnee, daß sie fast erstickt ist. Wir müssen eben warten, bis die Polacken runter gefahren sind.«

»Das wollen wir einmal sehen,« sagte Klaus verbissen und der helle Zorn funkelte aus seinen braunen Augen. »Der Weg und der ganze Hügel gehört meinem Vater. Da soll einer kommen und mir verbieten zu fahren wann ich will. Kommt einmal alle mit, ich will dem Stanislaus schon Bescheid sagen.«

Klaus hatte seinen Schlitten wieder auf die Schulter genommen und lief nun, so schnell er konnte, den Berg hinauf, denn voranziehende, polnische Kinder hatten nun schon einen ziemlichen Vorsprung gewonnen. Dicht hinter Klaus drein keuchte seine Schwester Elsbeth; die kaum Schritt halten konnte.

Es kam ihr keinen Augenblick der Gedanke, daß sie ihm die Gefolgschaft verweigern könnte. Das blonde Mädchen hing mit großer Liebe an dem Zwillingsbruder, ja sie sah mit Bewunderung zu ihm auf. Klaus war ja auch viel stärker als sie und viel gescheiter in der Schule, wo er immer den ersten Platz einnahm.

Dann kamen die übrigen Kinder, eins nach dem andern, zuletzt der Rotkopf Erich. Er war von Natur vorsichtig; aber nun lockte es ihn doch auch zu sehen, was aus dieser Sache werden würde.

So kam die kleine Schar oben auf dem Berg an, gerade als die polnischen Kinder ihre Schlitten in Reih und Glied aufgestellt hatten.

An ihrer Spitze stand ein hübscher schlanker Junge von vielleicht zehn Jahren, dessen Kleidung man es ansah, daß er aus wohlhabendem Hause stammte. Auch war er der einzige von allen, der einen richtigen, fein lackierten Davoser Bergschlitten besaß.

Das war Stanislaw Jagozinski, der Sohn des neuen Starosten, der erst vor wenigen Wochen seinen Einzug in Kanowo gehalten hatte. Hinter ihm standen die Doktorsjungen Pawel und Franziszek Pluta, dann die Kinder des Lehrers der polnischen Realschule und einiger kleiner Gutsbesitzer, die kürzlich an Stelle der vertriebenen deutschen Ansiedler aus Galizien zugezogen waren.

Dann folgte ein langer Schwanz von Buben und Mädchen aus der polnischen Volksschule, einer ausgelassenen Gesellschaft, deren zerlumptes und teilweise recht schmutziges Aussehen ihrer Munterkeit keinen Eintrag zu tun schien.

Klaus drängte sich an der schreienden und lärmenden Schar vorüber. Jetzt stellte er seinen Schlitten gerade vor den von Stacho hin und sagte: »Ich fahre zuerst. Der Berg gehört meinem Vater!«

Stanislaw starrte den deutschen Buben in der derben Lodenjacke und der grauwollenen Pudelmütze verblüfft an.

Was fiel dem Bengel ein? Stacho erinnerte sich nicht, ihn je gesehen zu haben. Auch verstand er nicht, was der andere sagte, da er der deutschen Sprache nicht mächtig war.

Da sah Stanislaw, daß Klaus Miene machte, abzufahren und plötzlich schoß ihm das Blut in das schmale, von dunklen Locken umringelte Gesicht.

Mit einem Satz sprang er vorwärts und legte die Hand auf Klaus Schlitten.

»Mach, daß du fortkommst, Bettelbube,« schrie er in polnischer Sprache und warf den Kopf hochmütig in den Nacken. »Das ist mein Platz!«

Aber Klaus hatte in keiner Weise vor, nachzugeben. Er war fast einen Kopf größer als der feingliedrige, kleine Pole und hatte Bärenkräfte. Mit einem einzigen Ruck riß er Stanislaws Hand vom Schlitten los und rief noch einmal: »Der Berg gehört uns. Ohne meines Vaters Erlaubnis darf hier niemand fahren!«

Stanislaw verstand nichts, wollte auch nichts verstehen. So etwas war ihm noch nicht vorgekommen.

Die Doktorsjungen drängten ihn zurück und flüsterten ihm zu, was Klaus gesagt habe, und daß der Hügel wirklich zum Gut seines Vaters gehöre.

Aber der kleine Starost wollte nicht nachgeben. Hochmut und Zorn nahmen ihm jede Besinnung. Er stürmte mit geballten Fäusten vorwärts.

Da warf ihn Klaus mit einer einzigen Handbewegung kopfüber in den Schnee, daß die feine Pelzmütze in einem weiten Bogen den Hügel hinunterrollte.

Unter den polnischen Kindern erhob sich ein drohendes Gemurmel. Aber irgend etwas in Klaus Aussehen warnte sie, mit ihm anzubinden. Fast gleichmütig stand er da. Nur in seinen braunen Augen flackerte es seltsam.

Mit dem da war nicht zu spaßen. Klaus galt als der stärkste Junge im ganzen Städtchen. Und nun waren auch die deutschen Kinder alle herangekommen. Es war trotz der polnischen Überzahl doch wohl sicherer, wenn man sich darauf beschränkte, dem vor Wut und Scham heulenden Stacho wieder aus dem Schnee aufzuhelfen und dazu zu schimpfen, wie eben nur polnische Kinder schimpfen können.

Wenige Minuten nachher zog die ganze Polengesellschaft ab, dem den Hügel hinunterrasenden Stanislaw nach.

Als der Starostensohn fast unten war, wendete er sich noch einmal um.

» Psha krew nimiec« Verfluchter Deutscher. schrie er hinauf und dann noch einige polnische Sätze.

Klaus hatte nur das Schimpfwort verstanden, das man zur Zeit auf allen Gassen hörte.

Aber Erich Braun, der eben seinen Schlitten neben Klaus aufstellte, konnte polnisch. Er hatte eine zeitlang in einer Gegend gewohnt, wo fast kein Deutsch mehr gesprochen wurde.

»Das hättest du nicht machen sollen,« sagte er bedenklich und zog die Augenbrauen hoch. »Der Stacho ist eben doch der Junge vom Starosten. Grad hat er geschrien, ihr müßtet aus dem Land heraus. Sein Vater hätte es heute beim Mittagessen gesagt. Na, es kann ja sein, daß er dir nur hat Angst machen wollen, weil du ihn in den Schnee geschmissen hast«.

Klaus murmelte etwas Undeutliches vor sich hin. Er hatte eben noch das Gefühl gehabt, daß er ganz im Recht sei. Aber nun konnte er sich seines Sieges auf einmal nicht mehr freuen.

Wenn Stanislaw nun die Wahrheit gesagt hatte? Aber es konnte ja nicht sein, es war ja unmöglich. Klaus konnte sich eigentlich überhaupt nicht vorstellen, daß man irgendwo anders leben könne als in Friedrichseichen. Freilich, es hatten schon viele aus der Heimat fort gemußt, und die Ansiedlungsgüter waren besonders in Gefahr, enteignet zu werden.

Die Polen haßten diese Niederlassungen, welche vormals eigens zu dem Zweck gegründet worden waren, um deutsches Leben in der Provinz zu wecken und zu pflegen.

Klaus griff nach dem Leitseil und gab dem Schlitten einen Ruck, daß er wie der Blitz den Berg hinunter sauste. Elsbeth und die andern Kinder konnten kaum nachkommen.

Dann stieg man wieder den Berg hinauf und fuhr von neuem hinunter. Aber es war, als ob die polnischen Kinder das fröhliche Geplauder und Lachen mitgenommen hätten. Es lag wie ein Druck auf der kleinen Schar.

Klaus, der sonst bei allen Spielen der Anführer war, machte ein finsteres Gesicht. Daran war das böse Wort des Starostensohnes schuld.

Frühzeitig, noch ehe die Sonne hinter dem Hügel verschwand, nahm Klaus seinen Schlitten wieder über die Schulter, und auch die übrigen hatten für diesmal genug.

Schweigsam wanderten die Geschwister, nachdem sie sich am Kreuzweg von den übrigen getrennt hatten, ihres Weges, der Heimat zu. Wie ganz anders waren sie am Nachmittag ausgezogen!

Plötzlich wandte Klaus den Kopf nach der Schwester um, die dicht hinter ihm trübsinnig durch den Schnee stapfte.

»Du Elsbeth,« sagte er, »wenn wir fort müssen von zu Hause, das halt ich nicht aus. Da möcht ich lieber gleich tot sein! Und nun hab ich auch noch den Stacho in den Schnee geworfen und bin vielleicht an allem Schuld.«

Elsbeth schluckte, als wenn sie Tränen hinunter würgen wollte.

»Ach Klaus,« sagte sie, »Stanislaw hat das gewiß nur aus Zorn gesagt, um uns bange zu machen. Vielleicht hat ihn der Erich auch nicht recht verstanden. Und Schuld kannst du doch auf gar keinen Fall sein, wenn es der Starost schon beim Mittagessen gesagt hat, daß wir fort müssen.«

Dann gingen sie wieder vorwärts mit gesenkten Köpfen, ohne ein Wort zu reden. Als sie um den Hügel herumbogen, sahen sie das Wohnhaus mit seinen weißen Mauern und grünen Fensterläden in der Talmulde liegen. Aus dem Schornstein, auf dem eine dicke Schneekappe lag, kräuselten sich blaue Rauchwölkchen in den goldüberhauchten Abendhimmel hinein, auf dem sich in der Ferne die dunklen Flügel einer Windmühle abzeichneten.

Da sah Klaus, daß Elsbeth die hellen Tränen über die Backen liefen.

»Ach, Klaus,« schluchzte sie, »es kann ja nicht sein. Wir können doch nicht fort. Wo sollten wir denn hin? Und denk nur all die schönen Obstbäume, die Vater gepflanzt hat! Und den Spitz und die Katze könnten wir gewiß auch nicht mitnehmen und die Puten und Perlhühner, die Mutter im Sommer gezogen hat, und alle die Rosen im Garten!«

Elsbeth schlug plötzlich beide Hände vors Gesicht, als könnte sie damit ihre Augen verschließen vor all dem Jammer, der vor ihr aufstieg.

»Das Flennen hat keinen Wert,« sagte Klaus rauh. »Die Blumen und die Hühner sind noch lange nicht das Schlimmste; aber all das Andere! Und daß man sich so etwas muß gefallen lassen!«

Plötzlich brach er los: »Wie ich sie hasse, die Polen! Und der Stanislaw ist der allerschlimmste, der hochmütige Affe! Wenn er jetzt daherkäme, ich wüßte nicht, was ich täte!«

Elsbeth war stehen geblieben. »O, Klaus,« sagte sie ganz erschrocken, »so mußt du nicht reden. Die Mutter hat einmal gesagt, Haß wäre das Allerärgste. Weißt du, damals, als sie uns die Geschichte vom Kain und Abel aus der großen Bilderbibel vorgelesen hat. Da hat sie am Schluß gesagt, mit Haß hätte es angefangen und mit Mord geendet. Und der Haß wäre wie ein kalter Frost im Frühling, der alles Schöne und Frohe und Freundliche erstarren läßt.«

»So komm jetzt nach Hause,« sagte Klaus mürrisch. »Gib mir deinen Schlitten, ich will ihn an der Schnur hinter mir drein ziehen, daß wir schneller vorwärts kommen!«

Als die Zwillinge zu Hause anlangten, fanden sie Mariechen schon zu Bett und die Mutter in einiger Sorge um die Kleine, die am Nachmittag wieder gehustet hatte. So fiel es ihr nicht auf, daß sich ihre beiden Großen, ohne wie sonst von der Schlittenfahrt zu erzählen, mit ihren Schulbüchern an den Tisch setzten. Gerade vor dem Haus hatte Klaus seiner Schwester noch zugeflüstert, daß man der Mutter nichts von dem Erlebnis auf dem Hügel sagen wolle. Er hatte kein ganz reines Gewissen bei der Sache.

Da trat Vater Schwarzhaupt, der noch draußen zu tun gehabt hatte, mit einem Brief in der Hand zur Tür herein.

»Was die nur immer wollen?« sagte er unwirsch. »Da schickt der Starost schon wieder einen Landjäger herüber. Könnte er nicht in der Küche Kaffee bekommen, Luise? Man darf nichts versäumen.«

Frau Schwarzhaupt war von ihrer Näharbeit aufgestanden. Da sah sie, daß ihr Mann, der mit dem Schreiben unter die Lampe getreten war, plötzlich ganz bleich im Gesicht wurde. Ohne ein Wort zu reden, schob er ihr das Blatt über den Tisch hin.

Sie las die wenigen Zeilen und sah dann zu ihm herüber, als wenn sie ihren Sinn nicht verstünde.

»Was soll das bedeuten?« fragte sie.

»Das bedeutet, daß wir ruiniert sind,« stieß er dumpf hervor, »und daß wir in drei Wochen mit Kind und Kegel über die Grenze müssen.«

»Aber das kann doch gar nicht sein,« sagte sie mit zitternder Stimme. »Wir haben doch immer unsere Steuern bezahlt und alles getan. Und nun mitten im Winter und gerade vor Weihnachten!«

»Was kümmert die Unmenschen das Fest?« rief Schwarzhaupt verzweifelt. »Ich hab schon vor acht Tagen gehört, daß wieder ein Schub über die Grenze soll. Ich hab dich nur nicht ängstigen wollen, weil es ja auch manchmal leere Gerüchte waren. Aber nun hat es uns eben getroffen wie so viele andere vor uns.«

»Vielleicht ist es doch noch ein Mißverständnis, oder der Befehl kann zurückgenommen werden,« sagte Frau Luise, krampfhaft nach einem Trost suchend. »Man hat schon öfter so etwas gehört. Vielleicht finden wir jemand, der sich für uns verwendet. Wir wollen tun, was wir können, und Gott vertrauen.«

Schwarzhaupt hatte sich schwer auf einen Stuhl fallen lassen. Er stützte den Kopf in die Hand und zwang seine aufgeregten Gedanken zur Ruhe.

Endlich stand er auf. »Du hast recht«, sagte er, »wir müssen alles versuchen. Ich will morgen selbst zum Starosten. Vielleicht kann ich doch wenigstens einen Aufschub bis über die kälteste Zeit erlangen. Damit wäre viel erreicht. Bis zum Frühjahr können neue Bestimmungen herauskommen. Sie verhandeln jetzt wieder mit der deutschen Regierung. Ich will noch schnell den großen Truthahn schlachten lassen. Der Kommissar Niederer Beamter. läßt mit sich reden, wenn man nicht mit leeren Händen kommt. Vielleicht legt er ein gutes Wort beim Starosten für mich ein.«

Am nächsten Morgen stand Frau Luise mit dem kleinen Mariechen, das heute schon wieder munterer aus seinen blauen Augen schaute, am Fenster und sah zu, wie Schwarzhaupt unten im Hof in den Wagen stieg. Neben ihm auf dem Sitz lag der wohlverpackte und verschnürte Truthahn. Seit die Polen im Lande waren, hatte man sich daran gewöhnen müssen, sich die Gunst der Beamten mit solchen Geschenken zu erkaufen.

Es war auch bei so geringer Entfernung nicht Sitte in der Gegend, daß die Landwirte zu Fuß in die Stadt gingen. Auch legte Schwarzhaupt Wert darauf, nicht als Bettler vor dem Starosten zu erscheinen. Frau Schwarzhaupt sah es der umwölkten Stirn ihres Mannes wohl an, wie schwer ihm dieser Gang wurde. Aber es mußte nun einmal sein.

Gegen Mittag rollte der Wagen wieder in den Hof. Die Zwillinge, die vor einer halben Stunde aus der Schule gekommen waren, hatten an der Scheunenecke Posten gestanden und nicht zu fragen gewagt, als sie das finstere Gesicht des Vaters erblickten.

Frau Schwarzhaupt kam ihrem Mann mit dem Kinde auf dem Arm entgegen. Auch sie sah auf den ersten Blick, daß er einen Fehlgang getan hatte.

»Es ist natürlich alles umsonst gewesen,« sagte er bitter. »Der Kommissar hat den Truthahn schmunzelnd in seine Küche getragen und hat mich dann zu dem neuen Starosten geschickt. Das ist ein großer Herr, der unsereinen kaum zu Wort kommen läßt. Der Befehl von oben wäre da, hat er gesagt. Alle Besitzer von Ansiedlungsgütern im Bezirk müßten noch im alten Jahr über die Grenze. Und damit basta. Wie ich dann meinen Geldbeutel gezogen und gefragt habe, ob man nicht durch eine Abgabe einen Aufschub über die kälteste Zeit erreichen könnte, hat er geflucht wie ein Türke auf polnisch und auf deutsch und hat geschrien, ein polnischer Beamter täte seine Pflicht, und er würde in Zukunft jeden, der ihm mit Bestechungsversuchen käme, einsperren lassen.«

Mariechen fing an zu weinen. Die Stimme des Vaters, die so ganz anders klang als sonst, hatte sie erschreckt.

Er fuhr ihr sachte mit der Hand über das blonde Köpfchen. »Armes, kleines Ding,« sagte er, »wie soll so ein Zartes die Kälte und Not im Flüchtlingslager aushalten, bis wir nur wieder anderswo ein Unterkommen gefunden haben?«

Da kamen auch Frau Luise die Tränen; denn dieselbe Sorge hatte sie den ganzen Morgen über nicht verlassen.

Dann folgten Tage, die wie eine schwere, atembeklemmende Bürde auf den Gemütern der Familie lasteten. Schwarzhaupt selbst war fast alle Tage auswärts, um einen Käufer für das Gut zu suchen. Eile tat not, denn wenn der polnische Staat die Sache in die Hand nahm, so blieb kaum ein Notgroschen für die Familie übrig.

Aber die Angebote, die gemacht wurden, waren so niedrig, daß Schwarzhaupt sich nicht entschließen konnte, darauf einzugehen. Es war zur Zeit wenig Geld im Land. Auch dachten die Leute wohl, daß sie am billigsten kaufen würden, wenn die Polen am Schluß die Enteignung selbst vornehmen würden.

Frau Luise ging wie in einem bösen Traum im Haus umher. Immer wieder nahm sie sich vor, mit dem Einpacken der Bücher und Bilder, des Geschirrs und der hundert Kleinigkeiten zu beginnen, welche die bescheidene Wohnung so traulich gemacht halten, und immer wieder ließ sie die Hände sinken. Wenn sie vom Fenster aus über den Garten mit den neu gepflanzten, prächtig gedeihenden Obstbäumen oder weiterhin über die Felder blickte, die so friedlich unter der Schneedecke ruhten, dann konnte sie es immer noch nicht glauben, daß all dem fröhlichen Pflanzen und Säen keine fröhliche Ernte für sie und die Ihren folgen sollte.

Und dann das Grab, das Kindergrab auf dem kleinen Friedhof am Berg, das mußte man auch zurücklassen.

Die Zwillinge gingen verstört und trübselig ihrer Wege. Keines dachte mehr daran, den Schlitten aus dem Schuppen zu ziehen.

Der Vater hatte Klaus, weil er selbst jetzt so häufig abwesend sein mußte, für diese letzten Wochen beim Lehrer der deutschen Schule Ferien erwirkt, damit er der Mutter besser zur Hand gehen könne.

Der kräftige Junge arbeitete wie ein Pferd; aber sein Gesicht war so finster dabei, daß die Mutter davor erschrak. War das nicht das Schlimmste von allem, wenn sich Haß und Groll wie ein tödliches Gift in die Seelen ihrer Kinder senkte?

Nur das kleine Mariechen lachte und zwitscherte durchs Haus wie ein Singvögelchen, das sich ins warme Zimmer geflüchtet hat, und das nicht ahnt, wie kalt der Sturm draußen weht.

An einem unfreundlichen Winternachmittag, kurz vor Dämmerung, machte sich Klaus auf den Weg zu dem einzigen deutschen Nachbarn, der Schwarzhaupts noch geblieben war. Die Familien hatten besonders in letzter Zeit fest zusammengehalten, und Klaus hoffte dort ein gutes Plätzchen für den Spitz, den treuen Kameraden, zu finden.

Müllenkamps hatten mehr Glück als Schwarzhaupts gehabt. Sie waren, da ihr Gut ursprünglich nicht zu der Ansiedlung gehört hatte, nicht mit unter den Ausgewiesenen.

Klaus war es übel zu Mut. Er hatte den Hund mitgenommen, um ihn, wenn Müllenkamps auf seinen Vorschlag eingehen würden, gleich drüben zu lassen.

Klaus konnte sich ein Leben ohne den Spitz eigentlich gar nicht vorstellen. Der Hund war im Haus aufgezogen worden und nun schon sechs Jahre. Wenn ihn Heinz Müllenkamp nur auch haben wollte! Ganz rasseecht war er nicht und auch nicht besonders schön.

Klaus fing an, schneller auszuschreiten. Die Entfernung betrug immerhin dreiviertel Stunden. Er mußte sich eilen, wenn er noch vor Dunkelheit wieder zu Hause sein wollte.

Als er ungefähr die Hälfte des Weges hinter sich hatte, kam er an einer Windmühle vorbei, die im letzten Jahr auch in polnischen Besitz übergegangen war. Da rief er dem Hund und nahm ihn an die Leine. Der Spitz war nicht ganz hasenrein, und die Polen machten kurzen Prozeß, wenn sie einen wildernden fremden Hund auf ihrem Grund und Boden antrafen.

Plötzlich horchte Klaus erstaunt auf. Nicht weit hinter der Windmühle lag eine ziemlich umfangreiche Lehmkuhle, die im Umkreis fast die einzige Gelegenheit zum Schlittschuhlaufen bot. Als die Windmühle noch in deutschen Händen gewesen war, hatten Klaus und seine Schwester Elsbeth auch zuweilen die Stahlschuhe an diesem Ort probiert. Aber nun war seit gestern Tauwetter eingetreten. Der Schnee hatte seine schimmernde Pracht verloren und verwandelte sich unter den Füßen in eine schmutzige, graue, wässrige Masse. Der Vater hatte Klaus beim Mittagessen verboten, den Ententeich zu betreten, weil das Eis nicht mehr sicher sei. – War es möglich, daß sich immer noch Kinder auf der Kuhle umhertrieben, die viel tiefer war, als der Weiher in Friedrichseichen?

Klaus bog jetzt um das Buschwerk herum, das die Windmühle umgab, und sah die Kuhle vor sich liegen. Es befand sich nur ein einziger Junge auf dem Eis. Er hatte Schlittschuhe an den Füßen und bemühte sich offenbar, den Kindern des Windmühlenbesitzers, einem Mädchen und einem jüngeren Knaben, die Kunst des Bogenlaufens in Wort und Beispiel vorzuführen.

Klaus durchfuhr es plötzlich. Er kannte diesen seinen rot und grünen Sweater und diese Fuchspelzmütze. Noch ganz kürzlich hatte er sie den Berg hinunterwirbeln sehen.

Das war Stacho Jagozinski, der Sohn des Starosten.

Klaus nahm einen Anlauf. Er mochte den Jungen nicht sehen. Er konnte den Gedanken immer noch nicht los werden, daß Stanislaw mit an dem Unglück schuld sei, das die Familie getroffen hatte.

Elsbeth hatte freilich gemeint, daß der Brief des Starosten gewiß schon vor Stachos Heimkehr geschrieben worden sei, und Klaus mußte ihr im Grund recht geben. Aber war es nicht doch möglich, daß des Vaters Bitte um Aufschub eher Erfolg gehabt haben würde, wenn damals der Streit auf dem Hügel nicht stattgefunden hätte?

Klaus fühlte das Blut in seinen Adern kochen, während er vorwärts stürmte.

Da hörte er plötzlich einen durchdringenden Schrei. Klaus wollte weiter, aber nun fingen auch die Kinder am Ufer laut an zu schreien und zu jammern.

Da blieb er stehen, drehte den Kopf und sah, daß in der Mitte der Kuhle ein breiter Spalt klaffte, und daß Stanislaw vom Eis verschwunden war.

Klaus hatte sich nun ganz umgewendet. Es brauste ihm in den Ohren, und er zitterte an allen Gliedern. Irgend etwas Furchtbares stieg in seinem Innern auf und nahm ihm fast den Atem.

Eingebrochen war er, der Stacho! Sterben würde er, ertrinken im Wasser! Furchtbar war es und doch wie ein Triumph über den Feind. Aber zu gleicher Zeit hörte Klaus ganz deutlich die Stimme der Elsbeth:

»Mit Haß hat es angefangen und mit Mord geendet.« Das hatte sie damals gesagt beim heimgehen von der Schlittenfahrt am Hügel.

Da ertönte ein neuer Schrei, und Klaus sah, daß ein Kopf in der Spalte austauchte und zwei Hände sich am Rande des Eises anklammerten.

Klaus stürzte zurück.

Dorthin mußte er! Helfen!

Plötzlich hatte er alles andere vergessen. Jetzt hatte er den Rand der Kuhle erreicht. Vorsichtig, einen Fuß vor den andern setzend, schritt er voran. Als er in die Nähe des Spaltes kam, warf er sich flach auf dem Eise nieder und streckte die Arme aus.

»Halt fest,« rief er mit lauter Stimme, »halt dich an mir!«

Da fühlte er auch schon die umklammernden Hände. Langsam, behutsam schob Klaus den Körper etwas zurück und richtete sich auf die Knie auf. Nun waren auch Stanislaws Arme aus dem Wasser heraus. Noch ein Ruck!

»Wirf dich flach hin, sonst bricht's,« schrie Klaus dem kleinen Polen zu, der nun aufrecht stand. »Das Eis trägt uns nicht beide; wir müssen zurückkriechen!«

Aber Stanislaw hörte nicht, vielleicht hatte er Klaus Worte auch nicht verstanden. Er stieß ab und flog auf den Schlittschuhen dem Ufer zu.

In demselben Augenblick, in dem er auf die Böschung hinübersprang, krachte das Eis. Der Spalt erweiterte sich. Klaus, der noch verschiedene Meter vom Ufer entfernt war, verschwand in der Tiefe.

Klaus konnte nicht schwimmen. Als er es im letzten Sommer hier in der Lehmkuhle hatte lernen wollen, hatte ihn der polnische Besitzer der Windmühle fortgejagt.

Er fühlte, daß er tiefer und tiefer sank, machte eine krampfhafte Bewegung nach oben und tauchte wieder auf.

Aber da war nichts, an dem er sich halten konnte. Der Eisrand, an dem sich Stacho vorhin angeklammert hatte, war verschwunden.

»Ich muß ertrinken,« dachte Klaus verzweifelt, indem er wieder zu sinken anfing. Da fühlte er plötzlich etwas Weiches, Wolliges; irgend jemand packte ihn am Kittel und riß ihn nach oben. Jetzt konnte er wieder atmen. »Spitz,« schrie Klaus und klammerte sich an den Hund, der dem Ufer zu schwamm.

Nun waren sie auf dem Trocknen. Der Spitz schüttelte sich, daß die Tropfen flogen. Klaus sah nur noch undeutlich, daß die beiden Kinder weinend am Ufer standen, und daß von der Windmühle her Leute gelaufen kamen; dann stürzte er vorwärts, hinter dem vorausstürmenden Hunde her, der Heimat zu.

Frau Schwarzhaupt war nicht wenig erschrocken, als sie die zwei vom Fenster aus triefend und atemlos in den Hof rennen sah.

»Aber Klaus,« sagte sie vorwurfsvoll, als sie ihm an der Treppe entgegenkam, »Vater hatte dir doch verboten, aufs Eis zu gehen.«

»Ich mußte nur einen Buben herausziehen,« sagte er mürrisch. »Gib mir trockene Kleider, damit ich mich am Ofen wärmen kann.«

Da fragte sie zunächst nicht weiter, sondern ging, um das Verlangte zu holen und in der Küche Tee für Klaus und eine warme Milch für den Spitz herzurichten.

Am Abend desselben Tages, als die Familie beim Abendbrot um den Tisch saß, schellte es draußen an der Haustür. Schwarzhaupt ging hinaus und kam mit einem Brief wieder. »Schon wieder vom Starosten,« sagte er grimmig, indem er ans Licht trat.

Plötzlich ging er um den Tisch herum und legte das Blatt vor seine Frau nieder.

»Lies,« sagte er, und seine Stimme hatte einen anderen Klang als sonst.

Da las sie die beiden kurzen Sätze einmal und dann noch einmal, halblaut, so daß auch die Kinder sie hören konnten.^

»Ihr Sohn hat dem meinen das Leben gerettet. So lange ich hier Starost bin, wird Sie und die Ihrigen niemand von Ihrem Besitz vertreiben.«

Der Name des Starosten stand darunter.

Frau Luise hatte sich Klaus zugewendet und sah, daß dem Jungen die Tränen über die Wangen stürzten.

»Mutter«, flüsterte er, »Mutter, fast ... fast hätte ich ihn ertrinken lassen, aber dann ...«

»Gott sei Lob und Dank,« sagte sie ganz leise und schloß ihn in die Arme.

Da nahm Schwarzhaupt das Buch der Großmutter vom Brett über der Tür und nickte seiner Frau über den Tisch hin zu. »Von heute an wollen wir jeden Abend zusammen lesen,« sagte er.

Dann schlug er das Buch an der Stelle auf, wo die Mutter am vergangenen Tag das Zeichen eingelegt hatte und las: »Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.«


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