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Von Fanny Stockhausen.
Uebers Feld blies der Lenzsturm. Er trompetete und posaunte. Aber strahlend schien dazu die Sonne, und deshalb war ein Jubilieren in der Luft von schmetternden Vogelstimmen, ja die Amsel trotzte wider den Sturm mit einem hellen Triumphlied. Auch der Feldlerchen Gezwitscher vermochte der machtvolle Sturm nicht zu übertönen, solange die Sonne vom blauen Himmel herab leuchtete.
Aber nach einer Weile türmte sich im Westen drohendes Gewölk. Schnell stieg es herauf. Unheimlicher heulte der Sturm. »Wo bist du Sonne blieben?« Auch die fröhlichen Sänger verstummten. Ein tolles Schneetreiben begann. Bald lag das grüne Feld wie begraben unter tiefem Schnee. Und morgen war doch das Osterfest, wenn auch ein frühes.
Die Menschen, die unterwegs waren, eilten unter ein schützendes Dach. Nur ein junges Mädchen hielt dem Wetter tapfer stand in rüstigem Vorwärtsschreiten. Der Sturm zauste in dem blonden krausen Haare, Schneegeflock wirbelte hinein, wie in den Strauß, den es in der Hand trug – ein rechter Osterstrauß. Goldgelbe Tazetten, Krokus, Anemonen, lockige Weidenkätzchen und Christrosen. Christrosen zu Ostern? Ja, grüne Weihnacht, weiße Ostern! Der Spruch hatte sich bewahrheitet. Zur Weihnacht stand die Christrose im grünen Blätterschmucke, da hatte sie nicht geblüht zu ihrer Zeit, und jetzt war sie in makelloser Reinheit hervorgesproßt, wetteifernd mit dem Glanze des Schnees.
Sinnend ruhten die Augen des jungen, schlanken Mädchens auf den Schneerosen, die es, zu seiner Ueberraschung, auf des Vaters Grabhügel blühend gefunden. War's nicht, als ob diese lichten Blütensterne flüsterten: »Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen?«
Das war ihr Spruch, Martha Walters Konfirmationsspruch, vom Palmsonntag her. Mit freudigem Zittern hatte sie ihn als ihr Eigentum empfangen, als eine Segensgabe fürs Leben, wie die fromme Mutter gesagt, als sie nach der Feierstunde ihr Kind daheim in die Arme geschlossen. Wohl war diese Mutter nur eine arme Witwe, die sich und ihre beiden Kinder von ihrer Hände Arbeit erhielt! Doch sie war reich in Gott. Es fiel ihr schwer, die eben konfirmierte Tochter, gleich nach Ostern, in die Stadt ziehen zu lassen. Doch es mußte sein. Martha sollte als Lehrmädchen in ein Weißwarengeschäft eintreten, dessen Inhaberin eine Jugendbekannte der Mutter war. Also eine beruhigende Aussicht für das sorgende Mutterherz. Nun durfte Martha noch zwei schöne Tage daheim verleben, die Osterfesttage, dazu der Mutter Geburtstag, dem zu Ehren sie den Strauß gepflückt. Zwei unvergeßliche Festtage lagen hinter ihr: Palmsonntag mit der feierlich schönen Konfirmation und Karfreitag mit dem heilig ernsten Abendmahlsgang. Voll seliger Eindrücke war ihr junges Herz, des Seelsorgers liebevoll mahnende Worte hafteten noch darin.
»Ewig soll er mir vor Augen stehen, wie er als ein stilles Lamm, dort so blutig und so bleich zu sehen, hängend an des Kreuzes Stamm« – so sang und klang es in ihr, und der Schneesturm mit seinem Gebraus war die begleitende Orgelstimme zu dem weihevollen Liede. »Ja, ewig!« versicherte sie sich selbst, im Gefühl der ersten, hochaufwallenden Jesusliebe. »Die gute Mutter sorgt sich zwar um meinen Wegzug in die große Stadt. Ihr bangt für meinen schwachen, noch ungeprüften Glauben. O, den soll mir keiner nehmen. Wenn alle untreu werden, ich bleibe gewißlich meinem Gott und Heilande getreu!«
Die jugendliche Christin meinte es ohne Zweifel ebenso ehrlich mit diesem Bekenntnisse, wie weiland St. Petrus, als er freudigen Mutes mit Jesu in den Tod gehen wollte. Aber Petrus, der Felsenmann, verleugnete seinen Herrn und Meister so bald und schmählich nach dem sieghaften Bekenntnisse. Daran dachte Martha nicht in ihrer gehobenen Stimmung. Die Mutter aber gedachte dieser Geschichte um so mehr und legte darum noch flehender ihr junges schwaches Kind dem Anfänger und Vollender des Glaubens ans treue Hirtenherz. Jedoch war ihr der stärkste Trost nicht das eigene Gebet, sondern das Heilandswort: »Ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre.«
Und trauend aus diese herrliche Verheißung, ließ sie am dritten Tage nach Ostern ihre Tochter ziehen.
*
Schon einen Monat lang war Martha nun von zu Hause fort. In den ersten Wochen kämpfte sie mit dem Heimweh. Doch Sonntags schrieb sie sich alles Schwere vom Herzen, und der Mutter treue Briefe trösteten sie von Grund aus.
Es waren außer Martha noch drei junge Mädchen in dem Geschäfte tätig, darunter eines, Aurelie mit Namen, eifrig um der Neueingetretenen Freundschaft warb. Immer fröhlich und gesprächig, voll Lebenslust und heiterer Einfälle, hatte dies Mädchen bald Marthas Zuneigung gewonnen, um so mehr, da sie gleichen Alters mit ihr war, während die beiden andern älteren Gehilfinnen sich sehr zurückhaltend gegen das Neuangekommene, schüchterne Landkind verhielten.
Aurelie war auch vom Lande, glückselig, aus ihrem Dorfe herausgekommen zu sein. Von Heimweh spürte sie nichts. Briefe von Hause erhielt sie auch nicht. »Weißt du, Martha, ich stehe mich nicht zum besten mit meiner Mutter. Hab's ihr nie recht machen können. Immer schalt sie gleich los, und ich bin froh, nun endlich frei zu sein.«
Martha erschrak über den Ton. Wie konnte man von einer Mutter nur so reden! Es war doch natürlich, daß einem die Mutter das Liebste und Schönste auf der Welt war.
Und das sagte sie auch Aurelien frei heraus. Die lachte aber nur und meinte: »Es gibt eben zweierlei Mütter auf der Welt, gute und schlechte. Freu' dich, daß du eine so gute hast.«
Ja, dafür dankte Martha auch Gott von Herzen. Desto mehr dauerte sie Aurelie, die offenbar wenig Mutterliebe erfahren hatte, denn sie versicherte der neuen Freundin in allen Tönen, sie sei immer nur das »Stiefkind« gewesen. Die andern Geschwister, sonderlich der jüngste Bruder, wären verzogen und ihr vorgezogen worden, hätten all ihren Willen gehabt. Das Aschenbrödel im Hause sei sie gewesen, jetzt aber läge die Aschenbrödelzeit auf Nimmerwiederkehr hinter ihr. Hier in dieser großen glänzenden Stadt warte sie auf eine Verwandlung, ähnlich jener, wie sie dem richtigen Aschenbrödel im Märchen gekommen sei.
»Nun,« sagte Martha, auf den scherzenden Ton eingehend, »auf einen Königssohn wirst du aber doch lange warten können.«
»Wer weiß,« warf Aurelie mit einem bedeutungsvollen Lächeln hin, indem sie eine Anzahl auf dem Ladentische liegender Stickereien in den Karton legte, wobei Martha ihr behülflich war. Denn sofort Ordnung schaffen nach Vorlegung der begehrten Artikel und nach Abschluß eines Kaufes, das war die erste Forderung der Herrin des Geschäfts.
Martha hatte Kost und Wohnung bei Frau Wallrat und war äußerlich aufs beste aufgehoben. Im übrigen kümmerte sich die Herrin wenig um die neue Ladengehilfin. Sonntags saß sie den ganzen Morgen hinter ihrem Kontobuch, und nachmittags ging sie in den Zoologischen Garten oder in eine Konzerthalle. Die Kirche war nicht für sie da. Natürlich hatte Martha bald nach ihrer Ankunft den Weg zur Kirche erkundet und war seitdem treulich jeden Sonntag hingegangen.
Im Gotteshause wehte Heimatluft für Leib und Seele. Doch wie bald waren die schönen Stunden dahin, und der übrige Teil des Sonntages ließ die ernsten Eindrücke nur zu schnell verwehen. Das junge, unerfahrene Mädchen hätte der Förderung ihres inneren Lebens in christlicher Gemeinschaft bedurft. Die Mutter hatte auch brieflich schon darnach geforscht. Frau Wallrat jedoch schnitt eine darauf bezügliche Frage kurzer Hand ab. Ihr paßte das hübsche Kind als eine willkommene Begleiterin zu ihren Vergnügungsfahrten, ja, sie forderte es geradezu als ihr Recht, um so mehr, als sie Martha mit einem neuen Sommerkleid und einem hochmodernen Hute beschenkt hatte. »Nun kann ich Staat mit dir machen!« rief sie, beim ersten Sonntagsausfluge, dem feingekleideten, bildhübschen Mädchen hocherfreut zu.
Allmählich gefiel Martha diese Art, den Sonntag zu verbringen. Schöne, rauschende Musik zu hören war doch ein Hochgenuß, und dabei auf der blumengeschmückten Terrasse zu sitzen bei Kaffee und Schlagsahne und Kuchen, mit dem farbenfrohen Bild einer fröhlichen Menschenmenge vor Augen und dem prickelnden Gesumme so vieler Stimmen in den Ohren. Da war man doch nicht einsam, wie auf seinem Stüblein am langen Sommersonntagnachmittage, wo man nichts zu lesen hatte, als Bibel und Gesangbuch, und darin konnte man doch nicht vom Mittag bis zum Abend lesen.
Hin und wieder gesellten sich zu Frau Wallrat auch Bekannte, und dann war des Plauderns kein Ende. Man redete von Stadtneuigkeiten, vom Stande der Geschäfte, von Toiletten, Bällen, vom Theater, nur nicht von dem, was die Mutter daheim für ihr fernes Kind erhoffte und erflehte. Und blieb man an einem Regensonntage zu Hause, so mußte Martha stundenlang aus einer Romanzeitung vorlesen. Was für eine fremde, ungeahnte Welt sich ihr da auftat, eine Welt voll glühender Leidenschaften, die sie verwirrte, ihr den Kopf erhitzte – ach, da war's doch schöner draußen zwischen Bäumen und Blumenbeeten zu wandeln, reine Luft zu atmen, frohe Menschen zu sehen, Musik zu hören, und in der wirklichen Welt sich umzusehen, als in solcher unschönen der Bücher, gegen deren Unnatur ihr Innerstes sich auflehnte. Denn was waren das für Frauen, die in diesen Romanen geschildert wurden? Keine glich ihrer lieben ernsten Mutter. Sie hatten alle einen ganz anderen Geist, den »modernen«, wie Frau Wallrat beifällig bemerkte. Martha fragte zaghaft: Was denn »moderner Geist« sei. »Nun, Kind, doch das Gegenteil vom »alten« Geist, in dem man früher uns großzog, mit Bibel- und Katechismus glauben. Gebildete Leute fordern andre Kost. Seit ich die Vorlesungen der Wanderprofessoren besucht habe, ist das Alte abgestreift und überwunden. Mit der »alten Religion« geht's ja zu Ende. Eine »neue« wird und muß kommen, so sagen die, die es wissen müssen. Das Christentum ist eine Religion der Schwäche. Die Religion, die wir in unserem Zeitalter nötig haben, ist eine Religion der eigenen Kraft und Selbsterlösung.«
»Selbsterlösung?« fragte Martha erstaunt. »Ich weiß nur, daß Jesus uns von der Sünde erlöst hat und daß kein Mensch sonst uns erlösen kann. So habe ich's im Konfirmandenunterricht gelernt.«
Frau Wallrat lächelte überlegen: »Das ist ja eben der »alte Wahn«, den die Aufklärung uns gründlich benimmt, der Wahn von der Sünde und von einer notwendigen Versöhnung. Deshalb sagte ich schon, daß wir modernen Leute nicht mehr schwören auf Bibel- und Katechismusglauben, weil wir keinen Erlöser brauchen.«
Martha schwieg, aufs tiefste erschrocken. Zum ersten Male vernahm sie die Stimme des Unglaubens in so bestimmter, überlegener Weise. Ach, in welch eine kalte, fremde, unheimliche Welt war sie geraten! Wenn das ihre Mutter geahnt hätte! Sie nahm sich vor, heute abend dies alles zu schreiben. Doch nein – lieber nicht alles. Es würde sie doch nur betrüben. Sie würde hinfort nur voll Sorge an ihr Kind denken und hatte doch schon der Sorgen genug! Aber mehr als zuvor fühlte Martha ihre Vereinsamung. Wenn sie doch eine Seele nur in dieser großen Stadt fände, die Jesum liebte, mit der sie vom »alten« Glauben reden konnte. In ihrer Umgebung war ja alles »modern«. Auch die älteren Ladnerinnen gingen nicht zur Kirche. Am Montag morgen erzählten sie sich untereinander ihre Erlebnisse. Die eine hatte mit ihrem »Bräutigam« den Abend im Apollotheater zugebracht, die andre war mit einem »flotten« Begleiter bis in die späte Nacht hinein in einem Tanzlokal gewesen. Auch Aurelie hatte ihr kürzlich gestanden, daß sie die Sonntage nicht mehr allein verbringe; sie habe wirklich nun einen Freund gefunden. Er sei ein reizender Mensch und ganz »solide«; habe eine gute Stellung als Drogist, – in einigen Jahren werde er heiraten können. Bis dahin wollten sie ihre freie Zeit recht genießen. Das Leben und die Welt sei doch gar zu schön.
Martha unterdrückte einen Seufzer. Auch sie fand das Leben so schön, auch sie sehnte sich nach Glückseligkeit darin und nach einem Herzen, mit dem sie übereinstimmte. Aber dieses Glück mußte andrer Art sein als das, das Aurelie so nannte – es mußte ihrer Mutter Beifall haben und also auch Gott gefallen. Ein solches Glück aber schien ihr nicht beschieden zu sein.
Pfingsten kam heran. Frau Wallrat gedachte die Festtage bei einer Verwandten zuzubringen. Was aber derweil mit Martha beginnen? Eine Reise für so kurze Zeit zur Mutter war zu weit und zu kostspielig. So wurde überlegt, daß Martha dort, wo Aurelie in Kost und Logis war, für die paar Tage Unterkunft finden sollte.
Wie gerne wäre das Kind heimgereist zur Mutter, nach der sie sich so sehnte! Aurelie aber rief erfreut: »Nun kannst du auch mal die Freiheit genießen! Ich hab dich schon immer bedauert, wegen deiner langweiligen Sonntage mit Madame Wallrat. Jung und jung gesellt sich gern, wie du weißt. Wir – mein August und ich – den du nun endlich kennen lernen sollst, werden dir ein fröhliches Pfingsten verschaffen. Mit dem Schiffe fahren wir an einen hübschen Ort, da kannst du dir einen Pfingststrauß pflücken. Für so etwas schwärmst du ja!« –
Aurelie verschwieg Martha den eigentlichen Zweck der Fahrt zu dem hübschen Orte, der ein Tanzvergnügen war in einem Gartenlokal, von ihrem Liebhaber und dessen lustigen Freunden verabredet, dazu es natürlich sehr erwünscht war, Gäste einzuführen, junge Mädchen, besonders recht hübsche! Und Aurelie wußte, daß sie mit Martha Ehre einlegen würde.
Martha freute sich wirklich auf die Fahrt. Es klang so heimatlich: Blumen pflücken, zwischen Wiesen und Hecken wandern im goldenen Sonnenschein!
Aurelie hatte recht, das war verlockender, als an Frau Wallrats Seite immer dieselben bekannten Spaziergänge zu den Stadtgärten zu machen. –
*
Pfingsten kam im lieblichsten Maienglanz. Ueber der Stadt lachte ein tiefblauer Himmel. Wie mußte er draußen erst über Strom und Wiesenflur lachen, dachte Martha, die sich zum Kirchgang rüstete. Sie freute sich, aus der ihr unliebsamen Umgebung herauszukommen. Nein, Aurelie wohnte bei keinen netten Leuten. –
»O heil'ger Geist, kehr bei uns ein«, sang die Pfingstgemeinde. Darnach die Predigt mit dem Texte: »Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Zucht.«
Nach Schluß des Gottesdienstes überkam Martha ein Gefühl der Bangigkeit. Der Prediger hatte gewarnt vor den Lockungen der Welt, vor der Gefahr, die der Jugend drohe, sonderlich in gegenwärtiger Zeit. Da weile manch junges Blut des Morgens im Gotteshause, das Herz voll frommer Regungen; des Nachmittags aber eile es an die Stätten der Lust, wo kein heiliger Geist, sondern der Geist der Zuchtlosigkeit weile. Und Martha sah sich selbst in dem Bilde gemalt.
Doch – war es denn Sünde, sich in Gottes herrlicher Schöpfung seines jungen Lebens zu freuen? Hatte ihr Aurelie nicht von Blumenpflücken und harmlosen Freuden geredet? Weshalb also die Angst? Wozu dieser Geist der Furcht? War der nicht sogar verwerflich nach dem Textworte?
Sie durfte ganz getrost mit hinausfahren. Und was blieb ihr auch sonst übrig? Ganz allein konnte sie doch nicht den langen, schönen Pfingstnachmittag im Hause, dazu in einem fremden, sitzen.
Unter solchen Gedanken wich das Gefühl der Angst dem der erwartungsvollen Freude, und einige Stunden später befand sie sich mit Aurelie auf dem Wege zur Abfahrtstelle des kleinen Vergnügungsdampfers. Dicht gedrängt standen die Menschen am Anlegeplatze, darunter eine besonders lustige Gesellschaft junger Leute, aus deren Mitte soeben ein Jüngling, den Hut schwenkend, hervortrat, ein wohlfrisierter und parfümierter junger Herr, mit eingeklemmtem Augenglas, August, Aureliens Verehrer!
Die Vorstellung erfolgte, und da die Schiffsglocke noch nicht zum Einsteigen läutete, ward Martha sogleich in den Kreis gezogen und der übrigen Gesellschaft vorgestellt. Welch eine Menge von fremden Namen und Gesichtern. Aurelie hatte doch nur von »einigen« gesprochen, die mitfahren sollten. Da regte sich die Bangigkeit schon wieder, die sich steigerte, als sie laute, übermütige Bemerkungen rechts und links hörte. Ganz verwirrt folgte sie dem sich jetzt langsam vorwärts bewegenden Zug auf dem schmalen Landungssteg zum Schiff hinab, dessen energisches Signal eben ertönte. Nun saß Martha mitten unter der ausgelassen lustigen Gesellschaft; dicht neben ihr ein junger Fant, der sich mit faden Witzen sofort bemühte, seiner hübschen Nachbarin zu imponieren. Er prahlte mit einer bevorzugten Stellung, die er in dem großen, weltberühmten Importgeschäft van Kraus & Co. einnehme. Martha war froh, als das Schiff mit dem üblichen Gestampfe des Maschinenrades sich in Bewegung setzte. Sie wendete sich um und blickte in die aufschäumende Flut, glücklich, durch das Getöse einer Antwort enthoben zu sein. Ihr Nachbar hatte jedoch nicht die Absicht, die angefangene Unterhaltung abzubrechen.
»Sind Fräulein schon mal hier hinaus gefahren?« frage er.
»Nein, ich bin hier fremd.«
»Da werden Fräulein aber Augen machen, wenn wir bei der »schönen Aussicht« absteigen. Solch famoses Lokal! Nirgend tanzt sich's schöner. Ich erbitte mir schon jetzt von Fräulein die Ehre.«
»Was, tanzen? heute?« entfuhr es der erschrockenen Martha.
»Warum nicht heute?« lachte der Handlungsgehülfe. »Heut doch erst recht, weil Pfingsten ist!«
»Na, Anton, was für Spaß treibst du denn mit Fräulein Walter?« rief August herüber.
»Das schöne Fräulein ist auf den Tod erschrocken, daß wir heute tanzen wollen. Ist das nicht zum Lachen?« –
»Gibt's denn so was bei Ihnen nicht, Fräulein?« fragte Herr August mit einem Seitenblick auf Aurelie, die ihn aber mit dem Ellenbogen anstieß.
»Laßt mir die Martha doch in Ruhe!« rief sie ärgerlich. »Sie ist ein liebes, frommes Kind!«
»Was? fromm sogar sind Sie, mein Fräulein?« sagte Herr Anton gedehnt.
Martha stieg das Blut in die Wangen. Stumm blickte sie vor sich hin.
»Also heut wohl auch zur Kirche gewesen?« spöttelte der Handlungsgehülfe.
Martha verhielt sich schweigend.
»Pah, zur Kirche!« rief ein auffallend herausgeputztes Dämchen, das an Herrn Antons rechter Seite saß – »wer geht heutzutage noch dahin? Doch gewiß niemand aus unserm Kreise hier!«
Martha pochte das Herz zum Zerspringen. Sie wollte antworten: »Ich aber gehe jeden Sonntag zur Kirche!«
Doch es lag ihr wie ein Bann auf den Lippen. War es Menschenfurcht, die sie schweigen hieß? Aurelie blickte die Freundin verwundert an. Sie war aufrichtig und gradeaus. »Warum sagt Martha nicht, daß sie die einzige Kirchengängerin hier ist?« dachte sie, »ob sie sich schämt?«
Es flogen noch spöttelnde Bemerkungen hin und her über Pfaffen und Betschwestern. Wenn überhaupt ein Gott im Himmel sei, so wolle der die Leute fröhlich haben und nicht kopfhängerisch.
»Freut euch des Lebens,« hob einer zu pfeifen an, ein anderer fiel ein, und bald sangen alle das lustige Lied.
Martha ward es immer beklommener zu Mut. Der Geist der Furcht, ihr eigener Geist, hatte sie völlig übermannt. Von dem heiligen Geiste der Kraft regte sich nichts in ihrer betrübten Seele. Die Freude an dem Ausflug war ihr vergällt. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie jetzt an Frau Wallrats Seite einen jener langweiligen Spaziergänge, wie Aurelie sie nannte, hätte machen können!
Herr Anton behelligte sie nicht mehr mit Fragen. Er war jetzt im lebhaften Gespräch mit der andern Nachbarin, die sich augenscheinlich des Triumphs über »das junge alberne Ding« freute und dem Uebermütigen in demselben Tone Antwort gab.
Martha aber schaute traurig in die blitzenden, sanft rauschenden Wogen. Sie gedachte ihrer Einsegnung, ihres Treugelübdes, an der Mutter Sorge um ihren noch ungeprüften Glauben. Jetzt eben war er geprüft worden. O, wie schlecht hatte sie in der Prüfung bestanden! Sie hatte sich doch im Grunde nur geschämt, sich frei zu Jesu zu bekennen, um sich nicht auslachen zu lassen von diesen fremden Leuten. War Schweigen in diesem Fall nicht auch ein Verleugnen gewesen? O, wie schwer ist es, ein Christ zu sein in unchristlicher Gemeinschaft! dachte sie seufzend.
Um dieselbe Zeit saß Marthas Mutter in ihrem kleinen sauberen Stübchen, den Kopf in die Hand gestützt, an dem Schreibtisch ihres seligen Mannes, versenkt in Sorge um ihr fernes Kind. Vor ihr lag Marthas Sonntagsbrief, der der Mutter mitteilte, wie sie Pfingsten verleben würde. Der Brief enthielt eigentlich nichts, was ihr mütterliches Herz mit Sorge erfüllen konnte. Im Gegenteil. Sollte sie sich nicht mit Martha freuen, daß ihr ein so hübscher Pfingstausflug winkte? Und schrieb das Kind nicht selbst in heller Freude darüber? Trotzdem, mit der Ahnung der Liebe, las sie zwischen den Zeilen ein Entbehren, ein Sehnen nach gleichgesinntem Umgang. Alles, was Martha von dieser Aurelie schrieb, die doch ihr einziger Umgang war, gefiel ihr nicht. – Nach längerem Nachdenken stand Frau Walter auf, steckte den Brief ein und verließ ihre Wohnung.
Einige Gassen weit, in einem hübschen Garten, unfern der Kirche, lag das Pfarrhaus. Ob sie den Herrn Pastor zu Hause traf? Wie sie es hoffte, wirklich, er war daheim. Keine seelsorgerische Pflicht hatte ihn abgerufen. Inmitten seiner Familie saß er in der duftenden Geißblattlaube am festlichen Kaffeetische. Frau Walter, des Dorfschullehrers seligen Angedenkens hochgeachtete Witwe, wurde freundlich willkommen geheißen, zum Niedersitzen und Teilnehmen am Nachmittagkaffee genötigt. Der Pastor merkte wohl, daß sie etwas auf dem Herzen hatte. Aber erst, nachdem sie eine Tasse Kaffee getrunken und von der Frau Pfarrer schön geratenem Pfingstkuchen ein Stück gegessen, fragte der Pastor nach Martha. Hoffentlich habe sie heute Gutes von ihr gehört.
»Ja, Herr Pastor, es geht ihr ja äußerlich gut – und doch, im stillen habe ich so meine Sorgen um das Kind. Im Hause meiner ehemaligen Jugendbekannten herrscht kein christlicher Geist, wie ich merke. Martha hat keinen rechten Anschluß. Ihre Seele darbt, trotzdem sie Sonntags zur Kirche geht. Außerdem hat sie keine geistliche Nahrung, und sie ist noch zu jung und unbefestigt, um dies unbehütete Leben ohne Schaden für ihren inneren Menschen ertragen zu können.«
Teilnehmend hatte der Pastor zugehört. Dann sprang er auf und rief: »Ich muß mich selbst anklagen wegen eines Versäumnisses. Ich hätte Martha irgend jemand in der Stadt ans Herz legen sollen oder hätte ihr einen Brief mitgeben sollen an eine Vorstandsdame vom Jungfrauenverein oder vom Verein junger Mädchen. Freilich mußte ich denken, daß Ihr Kind wohl behütet sei unter dem Dach Ihrer Freundin.«
»Das habe ich auch gedacht. Wir wurden ja zusammen eingesegnet. Ein Jahr lang schrieben wir uns regelmäßig. Aus diesen Briefen mutete mich der alte Geist an. Nachher, als wir beide uns verheirateten, schlief der Briefwechsel ein. Jetzt scheint Frau Wallrat auf einem anderen Standpunkte zu stehen, wie ich etlichen Andeutungen Marthas entnehmen muß. Anstatt der Kirche besucht sie die Vorlesungen ungläubiger Wanderprofessoren, und was das schlimmste ist, sie macht sich über den »sogenannten einfältigen Kinderglauben« lustig. Das bedrückt mein Herz schwer, und die Sorge um mein Kind trieb mich zu Ihnen, Herr Pastor.«
»Es freut mich, herzlich, daß Sie kamen und mir dies alles sagten. Heute noch soll ein Brief an eine Freundin meiner Frau abgehen in Sachen meiner lieben Konfirmandin. Sagen Sie mir nur Straße und Hausnummer der Frau Wallrat. Ich zweifle nicht, daß jene Dame sofort Schritte tun wird, um Martha aus ihrer Vereinsamung zu Gleichgesinnten zu führen. So mögen Sie beruhigt heimgehen, liebe Frau Walter. Gott wird sein schutzloses Kind in die sicheren Hände geleiten.«
Mit einem freundlichen Händedrucke verabschiedete sich der Pastor von der ihm herzlich dankenden Witwe. Noch ein Viertelstündchen verplauderte die gemütvolle Pfarrfrau mit der jetzt beruhigten Mutter, indem sie mit ihr in dem duftenden Blumengarten auf- und abwandelte.
Darnach ging Frau Walter heim. Sie hatte noch etliche Feierstunden vor sich, die sollten Martha gewidmet sein durch einen Brief. Ihr zwölfjähriger Knabe war mit seinem Lehrer und dessen Sohne, seinem Schulgenossen, auf einer Wanderung durch den maiengrünen Wald in bester Gesellschaft wohl aufgehoben!
*
In dem Gartenlokal »Zur schönen Aussicht« hatte sich ein lustiger Nachmittag, nach leiblichen Genüssen, bei automatischer Musik, mit Kegelschieben, Lotteriespiel und dergleichen Abwechslungen bis in die Dämmerung des Abends gedehnt. Zur Eröffnung hatte Herr August eine schwungvolle Rede gehalten, die in der Hoffnung gipfelte, daß sich ein jeder und eine jede nach Kräften amüsieren möge, und daß man nicht die Stunden zähle, sondern bis in den neuen Tag hinein fröhlich bei Tanz und Scherz vereint bleibe. Nach welcher Rede sich Martha mit unverhohlenem Schrecken an Aurelie gewandt, mit den geflüsterten Worten: »Warum hast du mir das alles verheimlicht? Nur von einem hübschen Spaziergang in die Wiesen hast du mir geredet.«
»Den wir auch sofort machen wollen!« war Aurelie ihr ins Wort gefallen und hatte Martha mit sich fortgezogen in die nahen Wiesen am Fluß, die voll Blumen standen.
»Siehst du wohl, daß ich dir nichts vorgespiegelt habe?« rief Aurelie triumphierend. »Hier kannst du pflücken, was dein Herz begehrt – schau, auch Vergißmeinnicht in Mengen, um der Mutter, als Pfingstgruß, ein Blaublümlein in den Brief zu legen.«
Ja, hier war's schön und still. Ach, wenn Martha nur hier hätte verweilen können. Aurelie aber trieb schon nach Verlauf einer halben Stunde zur Umkehr, und Martha sah ein, daß sie leider folgen mußte. Doch bat sie Aurelie inständigst, ihr behülflich zu sein, vor Beginn des Tanzes allein heimzufahren.
»Närrchen, das geht keinesfalls. Meine Hausleute kehren auch nicht vor Mitternacht heim. Da kämst du schön an, fändest die Türen verschlossen. Tanz nur fröhlich mit, es wird dir nicht an der Seele schaden, und du wirst es nicht bereuen. Man ist doch nur einmal jung!«
»Aber ich habe nie getanzt, kann gar nicht tanzen!« warf Martha ein.
»Man tanzt einfach nach der Musik, das kann doch jedes Mädchen, hast es doch als Kind auf der Straße ebenso gemacht, wenn der Drehorgelmann aufgespielt hat.«
Das mußte Martha zugeben und sich also fügen.
Bei den ersten Tänzen ging's auch ganz ordentlich zu. Sie fand es sogar hübsch, so dahinzufliegen. Jedoch nach Ablauf einer Stunde schon hatte sich das Bild geändert. Die Tänzer, durch zu reichlichen Alkoholgenuß berauscht, wurden unangenehm und zudringlich. und die Tänzerinnen hatten hochrote Köpfe und gebärdeten sich ganz ausgelassen. Dies Gebaren grenzte schon an Zuchtlosigkeit. Martha war's, als müsse sie vor Scham in den Boden versinken. Ach, wäre sie weit weg von hier! Sie sah sich nach einem Schlupfwinkel um, den sie hinter dem Musikautomat fand.
Niemand achtete ihrer. Selbst Aurelie schien in diesem wüsten Taumel und sinnverwirrenden Lärm Marthas Anwesenheit vergessen zu haben. Dem geängstigten jungen Mädchen schien die Zeit stille zu stehn. Nahm denn diese wilde Freude gar kein Ende? Mitternacht mußte doch längst vorüber sein. Endlich schwieg die Musik, – man schien aufbrechen zu wollen.
»Gottlob!« dachte Martha.
»Es ist die höchste Zeit!« hörte sie durcheinander rufen – »nur schnell, das Schiff wartet nicht!«
Ein Tumult entstand. Alles beeilte sich, fortzukommen, auch Martha, die vorsorglich Hut und Jacke schon mit in ihr Versteck genommen hatte.
Mit Lärmen und Singen begab man sich auf den Weg zur Landungsbrücke. Es war eine klare wonnige Maiennacht. Martha hielt sich in Aureliens Nähe, die am Arm ihres bedenklich schwankenden Freundes hing. Erst auf dem Schiffe stieß Aurelie auf Martha.
»Na, du wirst dich freuen, daß wir auf der Heimfahrt sind,« sagte sie mit einer Art von Beschämung.
»Gott sei Dank, daß wir's endlich sind!« entgegnete Martha.
Sie suchte sich ein Plätzchen im Schutze der Brüstung, abseits von der lachenden und schreienden Gesellschaft, die sich eben den Kellner herbeitrommelte, daß er Wein und Bier auftrage.
»O Mutter,« dachte Martha, »wenn du dein Kind in dieser Umgebung wüßtest!« Sie schaute hinauf in die mild leuchtende Herrlichkeit des gestirnten Himmels.
»Du Himmelslicht, laß deinen Schein
Bei uns und in uns kräftig sein
Zu steter Freud und Wonne.«
so kam es ihr plötzlich tröstend in den Sinn, beim Aufblick in jene stille, reine Welt. Das war Gottes heiliger Geist, der ihr beistand – ja ganz fühlbar beistand in diesem Augenblicke. Sie wußte sich geborgen unter Gottes Schutz und Schirm, auch unter dem Toben dieser leichtfertigen Schar, die seiner spottete. Sie gedachte des Hohnes, den sie am Nachmittag über die Kirchgänger ausgeschüttet, gedachte aber auch mit Scham und Betrübnis ihres Schweigens, das so gut wie eine Verleugnung gewesen.
Und sie bat Gott aus geängstigtem Herzen um Beistand und Hülfe in den Gefahren, die ihr unbeschütztes Leben von allen Seiten umgaben.
*
Am zweiten Pfingsttage nach dem Gottesdienste ging Martha zu Frau Wallrats Wohnung. Vielleicht enthielt deren Briefkasten auch eine Post für sie. Wirklich hatte ihre Hoffnung sie nicht getäuscht, es fand sich ein Brief der Mutter darin vor. Freudig öffnete sie ihn und blieb lesend im Flur stehen, so vertieft, daß sie nicht auf eine Dame achtete, die an der offenstehenden Korridortüre soeben vorüberging und noch eine Treppe höher stieg.
Nach einer Weile kam die Dame zurück, blieb bei dem lesenden Mädchen stehen und fragte: »Wohnt eine Frau Wallrat in diesem Stockwerk?«
»Jawohl,« erwiderte Martha, »doch sie ist für die Pfingsttage verreist.«
»Ich suche ein junges Mädchen, das bei ihr in Stellung ist. Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich es finde. Martha Walter ist sein Name.«
»O, das bin ich ja selbst!« rief Martha mit freudiger Ueberraschung.
»Nun, besser hätte ich's nicht treffen können,« sagte die Dame, gleichfalls überrascht, »das nenne ich eine freundliche Fügung. Ein Brief des Herrn Pastors nämlich, der Sie konfirmiert hat, enthielt die Bitte an mich, Sie aufzusuchen. Heute morgen erhielt ich den Brief. Da ich nicht gern eine Pflicht aufschiebe, bin ich dem Wunsche des Pfarrers sofort nachgekommen. Zudem haben wir heute nachmittag Freundinnenverein, verbunden mit einer kleinen Frühlingsfeier im Garten. Wir singen, lesen und unterhalten uns da aufs beste. Ich höre, Sie haben hier noch keinen passenden Anschluß gefunden. Wir bieten jeden Sonntag nachmittag – auch am Mittwoch abend – jungen alleinstehenden Mädchen eine christliche Geselligkeit. Wollen Sie daran teilnehmen, mein liebes Kind?«
»Wie gern!« rief Martha. »O wie soll ich Ihnen danken! Ach, ich fühlte mich ja so schrecklich einsam hier!« Dabei füllten sich ihre Augen mit Tränen.
»Wie gut also, daß ich gerade zur rechten Zeit kam,« sagte das Fräulein.
Martha dachte bei sich: Und wie ein Engel vom lieben Gott gesandt!
Sie sprach den Gedanken nicht aus – sie fand ja keine Worte vor lauter Freude. Ihrer neuen Freundin jedoch sagte ihr bewegliches Schweigen genug, samt der Glückseligkeit, die aus des jungen Mädchens Augen strahlte.
»Auf Wiedersehen also heut nachmittag Punkt 3 Uhr in unserem Heim, Fürstenstraße 200. Finden Sie den Weg dahin, liebes Kind?«
»Ich habe in der Straße schon eine Bestellung ausrichten müssen und kenne den Weg,« entgegnete Martha.
»So wäre alles in Ordnung. Sie gehören also von heute an zu uns, und Gott gebe seinen Segen zu dem Bunde.«
Herzlich reichte die freundliche Beschützerin Martha die Hand und schied von dem beglückten Mädchen, dem es wundersam zu Mute war – so feierlich und selig, als hätte Gott selbst zu ihr gesprochen: »Nun sei getrost und fürchte dich nicht mehr in dieser großen Stadt. Das fremde Vöglein hat ein Haus gefunden, darin es heimisch werden darf.«
*
»Hast du einen Glücksfund unterwegs gemacht, Martha,« rief Aurelie der eintretenden Stubengenossin zu. »Gerade so stehst du aus!«
»Ja,« entgegnete die Gefragte. »Du hast's getroffen, einen Glücksfund hab ich gemacht, das ist das richtige Wort!«
»Nun bin ich aber gespannt,« neckte Aurelie. »Schnell heraus mit der Sprache! Welcher Art ist dein Glücksfund?«
»Wohl nicht nach deinem Geschmack!« Und Martha erzählte Aurelien ihr Erlebnis. Die zog ein langes Gesicht.
»Na, zu beneiden braucht man dich eben nicht. Mir wäre so etwas langweilig. Doch der Geschmack ist verschieden. Schade, daß du nun schon »versagt« bist. Wir wollten dich für heut nachmittag zu einem wirklich hübschen Ausflug auffordern, auch um dich für gestern, weißt du, ein wenig zu entschädigen. Es ging mir selbst etwas zu wild und wüst her,« fügte sie mit einem Anflug von Beschämung hinzu.
»Ach, Aurelie, du solltest dich los machen von solchem Umgang!« bat Martha mutig. »Man bringt sich um Glück und Frieden, wenn man mit solchen Spöttern umgeht und immer in leichtfertiger Gesellschaft weilt. Ich bitte dich, brich diesen Umgang ab. Komm mit mir in den Verein. Versuche es nur einmal. Wir vergnügen uns dort auch. Nur auf eine edlere Weise!«
»Wo denkst du hin! Als ob mein August mir das erlaubte! Er würde mich laufen lassen! Und dann – ich mag auch nicht! Mir behagt dies Leben nun einmal!« fügte sie entschieden hinzu.
Darob schwieg Martha denn freilich. Sie sah, ihr Wünschen und Bitten war vergeblich, wenigstens für's erste. Vielleicht würde für das arme, betörte Mädchen noch eine Stunde der Umkehr schlagen. Gottlob, daß vor ihr selbst nun ein gerader Weg lag, ein freundlicher und friedlicher, den sie heute nachmittag zum erstenmal gehen sollte. Mit froh pochendem Herzen eilte sie an den bezeichneten Versammlungsort und wußte sich von Stund an geborgen.
So war Pfingsten auch ihr, trotz des gestrigen traurigen Erlebnisses, noch zu einem lieblichen Feste geworden.
Zwar nahm Frau Wallrat am nächsten Tage die Mitteilung ungnädig auf. Doch da sie keinen Zwang ausüben konnte, begnügte sie sich mit einer hämischen Bemerkung über pietistische Konventikel und beschränkte Lebensansichten. Sie nahm jetzt einen strengen, unfreundlichen Ton gegen ihre jüngste Gehilfin an. Doch Martha befleißigte sich der pünktlichsten Pflichterfüllung und ließ sich durch unverdienten Tadel nicht erbittern. Wie ein freundlicher Sonnenstrahl winkte ihr ja von nun an der schöne Sonntagnachmittag in dem lieben Freundinnenverein.
Fröhliche Briefe beglückten hinfort die Mutter daheim mit hübschen kleinen Berichten von Festen und Ausflügen, vor allem mit der beruhigenden Kunde, daß die zarte Pflanze von Marthas Glaubensleben Halt und Behütung gefunden.
Und als Martha Weihnachten daheim feiern durfte, da gab es wohl keine glückseligere Mutter als Frau Walter. Ihres Kindes Herz lag aufgeschlagen vor ihr wie ein Buch; freudig durfte sie auf jeder Seite lesen vom Glauben, daß er kräftiger, von der Liebe zu Jesu, daß sie inniger geworden. Und über dem allen lag ein leuchtender Glanz einer wachsenden Hoffnung, die Erfüllung von Marthas Konfirmationsspruch: »Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!«