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Des dritten Buches viertes Kapitel:
»Eltern.«

N'ayez pas peur, ma bonne Amie!« Von Moreau le Jeune.)

Katherina Krons Liebhaber.

An diesem feierlichen Tage hatte Katherina schon um neun Uhr früh im Salon zu tun. Es wurden so viele Blumen gebracht; man wußte gar nicht mehr, wo man sie hinlegen sollte. Dann kamen ein paar Lorbeerbäume, die stolz im hellen Zimmer standen. Champagnerkörbe kamen an, eine kostbare Kaminuhr, silberne Pokale, die mit einer Inschrift graviert waren, Meißner und Altwiener Porzellanfiguren. Auch eine goldene Leier hatte jemand gesendet, dann Manschettenknöpfe, Busennadeln, goldene und silberne Zigarettenetuis.

Katherina ordnete alles wie zu einer Ausstellung. Sie tat das ruhig, gleichmütig und las nicht einmal die gravierten Inschriften, noch die bedruckten Schleifen auf den Körben, Buketts und Bäumen. Sie las auch die vielen, vielen Briefe nicht, die gekommen waren, ließ Briefe und Depeschen uneröffnet, und schichtete sie nur auf dem Tisch zurecht.

In Wirklichkeit war sie ein wenig müde, fühlte sich unwohl und bekam von dem starken feuchten Duft, den die Blumen durch das Zimmer strömten, Kopfschmerzen. Das graue Seidenkleid preßte sie ein, beengte sie, und nahm ihr den Atem. Mit dem Atmen hatte sie jetzt überhaupt Schwierigkeiten. Sie war langsam stark und stärker geworden, litt an Blutwallungen und Herzklopfen. Die Jahre ... Der Arzt sagte, es seien die Jahre und hatte ihr geraten, nach dem Süden zu reisen. Das war vorläufig nicht möglich. Die Kinder brauchten sie. Max stand vor der ersten Staatsprüfung und mußte beaufsichtigt werden. Bettina konnte nicht mit der Miß allein in Gesellschaft und auf Bälle gehen. Und dann hätte ihr Mann es vielleicht doch übel genommen, wenn sie bei seinem Jubiläum nicht daheim gewesen wäre. Der Leute wegen.

Katherina ordnete alles wie zu einer Ausstellung und dachte: noch ein paar Tage, und dann bin ich wieder mit den Kindern allein ... dann wird es wieder still im Hause.

Max und Bettina traten in den Salon. Bettina roch zu allen Blumen. Max betrachtete die Geschenke. Bettina las die Inschrift einer Kranzschleife: »Dem unvergleichlichen Helden und Liebhaber, dem großen Künstler zu seinem fünfundzwanzigjährigem Jubiläum – Theresia Augusta.« Sie schaute die Mutter an: »Theresia Augusta ... wer ist das?« Katherina wendete sich ab. Max sagte unbefangen: »Das ist doch die Gräfin Westermark.«

Dann schwiegen alle drei und waren aufgeregt, denn sie erwarteten jetzt, daß der Vater hereinkomme.

Und die Tür öffnete sich, und Robert Kron stand auf der Schwelle. »Ach!« rief er melodisch, schaute mit erstaunten Augen umher, und rief nochmals: »Ach!« überwältigt, seufzend, melodisch. Als ob ihn ein ungeheurer Glanz blenden würde, hielt er die Hände vor die Augen und sagte: »Nein ... aber das ist doch ... nein ... Kinder ... was ist denn heute los? Herrgott ...« Plötzlich schlug er sich vor die Stirn: »Ach ja! ... Natürlich ... Hätt' ich's doch, weiß der liebe Himmel, beinahe vergessen ...« Seine Stimme kippte ein bißchen, wie von rasch aufsteigendem Schluchzen. Und er trat ins Zimmer.

Katherina sah ihm zu, wie er diese kleine Szene spielte. Sie nickte. Sie hatte es nicht anders erwartet.

Max und Bettina eilten ihm entgegen: »Papa, wir ... Papa ... ich ...«

Robert Kron machte eine außerordentlich runde Bewegung: »Nee ... laßt mal, Kinder ... nur einen Augenblick ... ich will doch zuerst ...« Er setzte sich, nahm die Briefe und Depeschen her und stöberte darin. »Ach,« rief er melodisch, »der Intendant von Meiningen schreibt mir ... einfach himmlisch, wie der Mann schreibt ... und da ... nein, das ist wirklich der alte Geheimrat Henkler ... 's ist ja rührend ...« Er machte eine Pause und entfaltete einen großen Brief. Auf einmal rief er mit voller, schwingender Stimme: »M ... mutter ...!«

Katherina fragte sanft: »Was ist's denn, Robert?«

»M ... mutter,« hauchte er, machte eine Pause und sagte tonlos: »Der Erzherzog schreibt mir, eigenhändig ... ein Handschreiben ...« Er war tief erschüttert.

Als er sein Taschentuch wieder von den Augen brachte, faltete er es zusammen, steckte es ein und stand mit einem Ruck auf. »Na,« schmetterte er, »in einer Viertelstunde kommt die Deputation aus dem Theater, für elf hat sich der Intendant angesagt ..., also vorwärts Kindings, was habt ihr mir zu sagen ...?«

Er trat strahlend vor die beiden hin. Max fing schüchtern zu sprechen an. Nach ihm gratulierte Bettina.

Während die Kinder redeten, saß Katherina ein wenig abseits auf dem Sofa. Sie sah Vater und Sohn nebeneinander stehen, und auf einmal gewahrte sie, daß die beiden Männer dort wie Zwillingsbrüder aussahen. »Die beiden jungen Männer dort ...,« dachte sie, und gewahrte mit einer sonderbaren Verstörtheit, den Glanz von knabenhafter Tugend in ihres Mannes wie in ihres Sohnes Augen, auf ihres Mannes Antlitz und auf ihres Sohnes Wangen. Dann sah sie Bettina an, und erschaute, wie in einer plötzlichen Vision, sich selbst: So war sie einst vor ihrem Mann gestanden, einst, vor langer Zeit, schlank und duftig, mit frischen, roten Lippen, mit hellbraunen, schimmernden Haaren; biegsam und federnd in Hüften und Schultern; sie, die nun schwerfällig dasaß, gealtert, ergraut und müde, und hinübersah zu ihm, dessen Blühen noch kein Ende nahm. Ihre Blicke verdunkelten sich.

Da fiel er ihr um den Hals: »Wein' doch nicht, M . mutter ...,« rief er mit einer geräumigen, nicht sehr erfüllten Stimme: »Meine brave, gute Kath'rine ... Na ja ... du treue Seele du ... mußt nicht weinen, M ... Mutter.« Und er klopfte ihr den Rücken.

Nach ein paar Stunden waren die Deputationen und Ansprachen vorbei. Champagnergläser standen überall umher, und in das Duften der Blumen mischte sich der Weingeruch und der parfümierte Dampf von Zigaretten. Robert Kron ging jetzt auf und ab, machte ein nachdenkliches Gesicht, als ob er mit irgendeiner Schwierigkeit kämpfen würde.

Katherina half ihm: »Bist du heute Mittag nicht zu Hause ...?«

»Nein.« Er stieß es kurz hervor, und hatte sofort das trotzige Knabengesicht, das sie kannte. »Nimm mir's nicht übel, Kath'rine ... treue Seele ... es geht einmal nicht anders. Die ewigen Einladungen ..., 's ist ja zum Deibelholen!«

Katherina wußte, zu wem er ging. Sie saß allein mit den Kindern bei Tisch, wie jeden Tag. Sie sorgte dann dafür, daß Max seine Bücher vornahm. Sie besprach mit Bettina alle Angelegenheiten des Haushalts, war mit ihr an Stickereien und anderen Handarbeiten fleißig und schlich, als es vier Uhr schlug, auf den Fußspitzen in ihres Mannes Zimmer, um nachzuschauen, ob er schon da sei und seinen Nachmittagsschlaf halte. Er war pünktlich nach Hause gekommen, lag auf dem Sofa und schlummerte fest. Punkt fünf ging sie leise wieder zu ihm hinein und weckte ihn behutsam, denn er konnte es nicht vertragen, jählings aus dem Schlaf gescheucht zu werden. Er bekam, wenn solcher Frevel einmal geschah, zuerst einen Wutanfall, danach einen schweren Kopf, hatte den ganzen Abend eine geschnürte Stimme und war überhaupt »zugrunde gerichtet«, wie er sich ausdrückte.

Katherina verstand es, ihn sacht zu wecken, ihn gleichsam aus dem Schlaf zu locken, bis er freiwillig daraus hervorkam. Sie trat lautlos zu ihm, faßte behutsam seine Hand in die ihrige, rief zwei-, dreimal sachte: »Pst! Pst!« und begann zuletzt leise zu pfeifen.

Robert erwachte, lag mit offenen Augen eine Weile da, gähnte, rieb sich die Stirn und sprang endlich mit beiden Beinen von seinem Lager auf: »Na, denn man los!« Niemals verfehlte er zu sagen: »Na, denn man los!«

Katherina huschte aus dem Zimmer, aufatmend, weil eine der schwierigsten Aufgaben des Tages gelöst war.

Kurz nachher begann sie Toilette zu machen. Denn heute abend mußte sie ins Theater; zur Jubiläumsvorstellung.

* * *

Mit den Kindern saß sie in der Loge, in derselben Loge, in der sie heute vor fünfundzwanzig Jahren zum erstenmal gesessen hatte. Sie sah den Vorhang an. Es war derselbe Vorhang, dasselbe ruhige, dunkelfarbige Bild, war dieselbe bemalte Wand, die damals so viel rätselvolles Schicksal vor ihrer bangenden Erwartung verhüllte. Katharina wurde von einer stillen, langsam in ihr Herz tropfenden Rührung ergriffen. Damals war ihr Vater mit ihr in dieser Loge gesessen. Sie glaubte ihn plötzlich vor sich zu sehen, dieses gute, ernste, milde und strenge Antlitz, das so lange nicht mehr vor ihrer Erinnerung erschienen war. Ihr Vater ... Er hatte so besorgt, so liebevoll und so tief erregt gegen diese Heirat gesprochen. Vergebens. Katherina dachte damals: er ist ein nüchterner, kleinstädtischer Kaufmann, er weiß nicht, was die Kunst ist ... Ach, und die kleine Stadt da oben an der Ostsee, das warme, kleine bürgerliche Haus, in dessen Ordnung sie aufgewachsen war, das war ihr zu enge geworden, unerträglich und nichtig. Jetzt fühlte sie plötzlich eine so heiße Sehnsucht in sich aufwallen, daß sie beschloß: ich will nicht nach dem Süden fahren, ich will wieder einmal nach Hause ... Nun hörte sie ihren Vater mit seiner herben, verhaltenen Stimme sprechen: »Du brauchst ein zuverlässiges, langsames Glück, mein Kind ...« Hörte ihn zornig sagen: »Wirst ja seh'n, Katherina, wie weit du kommst mit deinem Komödianten.« Dann hat der Vater, als Robert diese Karriere machte und hierher gerufen wurde, doch nachgegeben, hatte selbst die Heirat in aller Eile betrieben, und war nur hierher gekommen, um mit eigenen Augen zu sehen, ob Roberts Stellung auch sicher sei. Welchen Erfolg hatte der Vater hier erlebt, in dieser Loge.

Unten auf der Bühne stand jetzt Robert, in goldenem Harnisch, mit goldenen Beinschienen, vom roten Helmbusch das schöne Haupt umflattert, stand mitten auf der Bühne im Halbkreis einer Schar von Gepanzerten, und wie eine Brandung warf sich ihm der schreiende, schallende Beifall entgegen, schwoll ihm wie Donner ringsumher, umhüllte ihn mit Brausen. »Komödiant«, mußte Katharina denken. Sie entsetzte sich vor diesem Einfall, vermochte ihn aber nicht abzuwehren. »Komödiant« mußte sie denken und schaute auf Robert, wie auf einen fremden Mann. Es erschien ihr, unversehens, widerwärtig, daß er geschminkt war. Sie sah die Kohlenstriche unter seinen Augen, den Puder auf seinem Nacken, sie sah die fleischfarbenen Trikots, die sich um seine Schenkel strafften, und sie empfand sein Dastehen im Harnisch und Helm als eine lächerliche Maskerade, empfand es als etwas Absurdes, daß er affektierte, auf Erhabenheit und Edelsinn abzielende Gebärden machte. Und daß er mit rollender Stimme hochtrabende Verse in den Saal schrie, war ihr wie eine gespenstische Tollheit.

Der Beifall erhob sich rauschender und stürmischer. Bettina und Max, die neben Katherina sahen, applaudierten. »Da geht er unten in einer Mummerei umher, verstellt sich vor Max und Bettina« mußte Katherina im Zwang ihres Einfalls denken. Sie sah gequält auf die Bühne, und eine jähe Scham warf ihr einen Nebel vor die Augen.

Robert konnte nicht anders: er mußte innehalten und sich verbeugen. Er neigte zweimal das Haupt und grüßte zur Loge hinauf. »Komödiant ...« dachte Katherina gepeinigt. »Er verbeugt sich vor seinen Kindern ...«

Sie sah die Kinder an, und es fiel ihr ein: Hat er jemals mit Max oder mit Bettina eine Stunde lang gesprochen? Hat er jemals etwas von ihnen gewußt, etwas mit ihnen durchlebt? Er kam, und spaßte mit ihnen. Kam, und beschenkte sie. Er liebkoste sie, wenn er sie in ihren Zimmern traf. Küßte sie und strich ihnen das Haar, wenn sie krank waren, und heiterte sie auf. Er war ihnen beiden etwas Seltenes, etwas Sonntagsmäßiges. Er war ihnen eine Festlichkeit und ein Entzücken, und sie warfen sich ihm in die Arme, sie gaben ihm ihre Begeisterung, sie applaudierten ihm zu Hause ebenso wie hier im Theater. Aber gelebt ... gelebt hatte er nie mit den Kindern. Gelebt hatten die Kinder mit ihr!

Katherina blickte im Saale umher. Da saßen die Frauen, die er einst geliebt hatte und die er jetzt eben liebte. Katherina kannte sie alle. Da waren welche, die jetzt mit glühenden Wangen seinem Wort lauschten, und die das Glück noch in ihren Mienen, in ihren Bewegungen hatten, das sie durch ihn genossen. Dort saß, in der Loge, die schöne Frau, bei der er jetzt immer zu Mittag war. Dort wieder die Frau, bei der er bis vor zwei Jahren noch seine Tage verbrachte. Junge Mädchen waren da, von denen Katherina wußte, daß er sie heimlich traf. Frauen, von denen sie wußte, daß sie auf ihn hofften, ihn begehrten, daß sie warteten, ungeduldig, bis die Reihe an sie kam. Dann waren Frauen da, die jetzt schon alt geworden waren, mütterlich und matronenhaft, die graue Haare bekommen hatten, wie Katherina, und die nun hier saßen, ergriffen von der Erinnerung an ihre Jugend, an ihre Liebe, an Roberts Zärtlichkeit. Er aber stand blühend auf der Bühne, funkelnd in seiner männlichen Pracht, und seine Leidenschaft wehte gleich einem Feuerhauch durch den Saal.

Katherina lauschte dieser gesanglich tönenden Erobererstimme, sie umfaßte diese wunderbar anmutige Männergestalt mit prüfenden Blicken, sie sah die Entrücktheit auf diesen edlen Zügen, und eine Sekunde lang war sie von dem Zauber angerührt, der die anderen alle hier im Banne hielt; eine Sekunde lang ward sie aus ihrem eigenen Dasein in eine andere, höhere Welt emporgerissen, und das leise Echo einer fernen Seligkeit, eines längst verflogenen Rausches begann in ihr zu klingen. Sie schaute zu dem goldgepanzerten, trikotumspannten schönen Mann hinunter wie auf eine märchenhafte Erscheinung, und begriff auf einmal mit seltsamer Ruhe, daß hier eine Kraft wirksam war, mit der sie nichts mehr zu schaffen hatte, daß unter der Gewalt, die diesen Dampf der Sehnsucht, der Wünsche und der Jugend hier aufsteigen ließ, ein einzeln Schicksal wie Schaum zerfließen muß.

* * *

Katherina schickte ihrem Mann die Botschaft, er solle nach der Vorstellung nach Hause kommen. Sie müsse ihn sprechen, ehe er zu dem Bankett gehe, das ihm die Kollegen gaben. Niedergebeugt und von Ungeduld geschüttelt, schritt sie im Salon, inmitten der duftenden Blumen, der Geschenke, inmitten all der Festlichkeit zwischen den stolzen Lorbeerbäumen auf und nieder.

»Dies alles muß anders werden,« redete sie zu sich. »Mag sein, daß etwas in ihm ist, das nicht mir allein, das allen gehört. Mag sein ... Aber ich kann nicht völlig vernichtet werden, denn ich trage keine Schuld. Ich habe einen Anspruch ... einen Anspruch ...« grübelte sie. »Damals bin ich seine Geliebte gewesen ... zwei Jahre lang ... damals hat er mich geliebt ... Aber nicht davon ist jetzt die Rede. Auch davon nicht, daß ich nachher nur seine Bedienerin war. Daß er niemals danach gefragt hat, was ich tue, was ich denke, was ich fühle ... Obwohl ... ich könnte es ihm vielleicht sagen, es einmal wenigstens sagen, daß er sich so gar nicht um mich gekümmert hat, daß er mein Dasein nur bemerkte, weil das Hauswesen in Ordnung lief, weil die Kinder gepflegt und erzogen wurden, und weil ich ihn nachmittags so gut zu wecken verstand. Das alles ist nicht leicht gewesen. Es ist nicht leicht, wenn man immer so ganz allein bleibt. Was ist denn dabei aus mir geworden? Er hat ein einziges, langes, fröhliches Fest gefeiert und feiert heute wieder ein Fest. Ich habe manchmal zuschauen dürfen. Aber ich bin nicht fröhlich gewesen und habe keine Feste gehabt. Ich bin in der Wirtschaft hier, in der Aufmerksamkeit, die man für ihn braucht, ich bin in der Kinderstube, an den Krankenbetten von Max und Bettina alt geworden. Und in den Jahren ... Es ist der Lauf des Lebens ... Aber es ist nicht der Lauf des Lebens, daß man allein alt wird ... ganz allein ... und daß der andere jung bleibt, und kindlich und unversehrt ... Es ist wider die Natur ... es ist wider die Natur ... Ich verstehe jetzt meinen armen Vater, der mir gesagt hat: ›Du brauchst ein zuverlässiges, langsames Glück.‹ Damals habe ich ihn nicht verstanden. Aber jetzt weiß ich, was die wahre Glückseligkeit von zwei Menschen ausmacht, die einander verbunden sind: daß sie gemeinsam den Weg der Jahre gehen, daß sie gemeinsam die Spuren der Zeit an sich tragen, und daß die gleiche Stunde ihnen das gleiche Müdewerden bringt. Ich werde ihm sagen ...«

Robert Kron trat geräuschvoll herein, im Frack, heiter, sorglos und erfrischt vom Rausch des Spielens, vom Erfolg und von den Zurufen der jungen Leute, die seinen Wagen begleitet hatten.

»Was 's denn los, meine liebe, gute Kath'rine ...? Willst mich noch sehen vor'm Schlafengehen? ist ja reizend von dir, Mutter ...«

»Robert ... ich muß mit dir sprechen ...!«

»So feierlich ... Mutter?«

Katherina raffte sich zusammen und begann planlos: »Robert ... das sind nun fünfundzwanzig Jahre ...«

Er fiel schallend ein: »Dem lieben Gott sei Dank und Preis ... jetzt nochmal von vorne ...!«

»Robert,« fuhr sie fort, »du bist nun einundfünfzig Jahre alt ...«

»Aber Kind!« rief er aus, »ist das nett von dir, daß du mich daran erinnerst ...?«

Katherina zitterte: »Schau mich an, Robert,« sagte sie langsam, »weißt du, daß ich eine alte Frau geworden bin ... weißt du überhaupt was von mir, Robert?«

Er hatte sofort sein trotziges Knabengesicht: »Natürlich,« sagte er klagend, »natürlich ... mußt du mir diesen herrlich schönen Abend ruinieren und mir eine Szene machen ... ist das deine Güte?«

Katherina schaute ihm in die glänzenden Augen und schwieg. Er kam rasch zu ihr, legte ihr den Arm um die Schulter und sprach beschwichtigend: »Aber ... aber ... meine brave, gute Kath'rine ... was fällt dir denn ein ...? Treue Seele ... sei doch vergnügt ... es ist doch wundervoll gewesen, all die Jahre ... was?«

Er stand da, schaute sie mit einem unschuldigen Lächeln an und sprühte vor Lebenslust.

»Was sagst du, Kath'rine ... die Leute im Theater, das Publikum heute? ... toll einfach ... nicht wahr?« Er keuchte leise. Die Erinnerung an den Applaus schnürte ihm noch den Atem. Dann breitete er die Arme aus und rief: »Herrgott, jetzt soll ich aber gesund bleiben. Weißt du, Mutter! Jetzt spür' ich erst, was ich kann ... jetzt weih ich's erst ... nein, Mutier ... ich bin ja dem lieben Gott so dankbar ...« Plötzlich blickte er vergnügt umher und sagte mit einem knabenhaft arglosen Freudenton in der Stimme: »... 's ist ja fabelhaft, all der Kram, den mir die Leute geschenkt haben ... was? ... Na, aber es ist doch eine aufrichtige Sache ... man stellt doch was vor in der Welt!«

Die Geschenke schimmerten auf den Tischen, die Blumen glühten in allen Farben, die Lorbeerbäume ragten in ihrem dunklen grünen Laub, und Katherina war es, als schaue sie in dieses geschmückte Zimmer wie in eine Welt voll Pracht. Und mitten drin ihr Mann, Robert Kron ... Sie fühlte, daß dies alles nur durch ihn entstanden sei. Durch die Macht seines Daseins schimmerten die Kostbarkeiten auf den Tischen, blühten die Blumen und dufteten hier an allen Wänden, ragte der dunkelgrüne buschige Lorbeer.

Sie sah ihrem Mann ins Gesicht, halb verwirrt, halb versöhnt und bezwungen, und sie lächelte.

Robert lachte voll heraus: »Na, siehst du, Mutter ... so ist's recht ... Jetzt bist du wieder auf'm Damm ... also gut' Nacht ... ich bin doch froh, daß wir uns heute einmal gründlich ausgesprochen haben.«

Als er fort war, löschte Katherina die Lichter. »So ist es nun,« dachte sie, »ich habe einmal einen Liebhaber gehabt ... vor langer Zeit ...« Sie drehte noch die beiden Lampen auf dem Kamin ab. »Wenn er fort ist,« dachte sie, »müssen die Lichter gelöscht werden ... das ist nun einmal nicht anders.« Hierauf ging sie in ihr Zimmer.

Felix Salten.

 

Kinderreim.

Wenn wir Kinder die Mutter plagten,
Sie umdrängten und hundertmal fragten:
Was von all den ersehnten Dingen
Wird von der Reise der Vater uns bringen?
Sprach die Mutter: Jedem sein Teil.
Ein gläsernes Büchsel,
Ein silbernes Nixel
Und ein goldenes Warteineweil.

Aber in unserem Kinderglauben
Ließen wir nimmer die Hoffnung uns rauben.
Ach, unsre Seelen hofften zu glühend,
Ach, unsre Träume waren zu blühend!
Mutter scherzt nur: Jedem sein Teil.
Ein gläsernes Büchsel,
Ein silbernes Nixel
Und ein goldenes Warteineweil.

Und so stehen wir jetzt vor dem Leben,
Soll uns ernste Antwort geben:
Was von all den ersehnten Dingen
Hast du gebracht und wirst du uns bringen?
Spricht das Leben: Jedem sein Teil.
Ein gläsernes Büchsel,
Ein silbernes Nixel
Und ein goldenes Warteineweil.

Hugo Salus.

 

In der Hängematte.

Schwebend in der Hängematte
Wiegt dein liebes Leibchen sich,
Kosend spiel' ich mit dem Blatte,
Das ich leicht vom Zweige strich.

Glänzt dein Blick zu mir herüber,
Leucht' ich ihn mit Lust zurück,
Wallen Augen trunken über,
Zittert Seel' und Leib vor Glück.

Karl Henckell.

 

Der unverstandene Säugling.

Ich bin modern! Jawohl! Das bin ich leider!
Persönlich liegt mir das Moderne fern;
Bin's durch den Wahlspruch meiner Eltern! – Beider!
Was mich betrifft: ich wär' gern unmodern!
Mein Mütterchen wiegt vierzig Kilogramme,
Ist weiß und zart, wie leichter Märzenschnee;
Vor fünfzig Jahren nahm man eine Amme,
Vor zehn den Soxleth – heut ist das passé!
Es schmeckt mir miserabel! Wie gegohren!
Mama stillt selbst! Weil wir »Moderne« sind!
Ach wär' vor fünfzig Jahren ich geboren!
Ach war' ich doch ein unmodernes Kind
!

Ich bin modern! Was werde ich gebadet!
Ich armer, reiner, unschuldsvoller Wicht!
Begreift ihr Großen endlich, daß das schadet?
Ich schrei' es wütend, – sie versteh'n mich nicht!
Mein Dasein ist ein sieben Wochen altes,
Zweihundert Bäder gab man mir bereits!
Und dann das Wasser! Immer eisig kaltes!
Ich bin durchaus für warmes meinerseits!
Ich strample wild, ich schreie beide Ohren
Der Mutter voll, doch sie bleibt taub und blind –
Ach wär' vor fünfzig Jahren ich geboren!
Ach wär' ich doch ein unmodernes Kind
!

Ich bin modern! Hab' ich ein Kinderzimmer!
Die grellsten Bilder an der grellsten Wand!
Denk' ich an sie, durchwühlt mich ein Gewimmer
Erblick' ich sie, verlier' ich den Verstand!
Und wer versteht mich? Keiner, keines, keine –
Im harten Bett lieg' ich die Glieder wund!
Und wenn ich zum Zerbersten brüll' und weine,
Dann sagen sie: »Er schreit, – das ist gesund!«
O über euch zweimeterlange Toren!
Sie stehen wie die Ochsen vor dem Rind!
Ach wär' vor fünfzig Jahren ich geboren!
Ach wär' ich doch ein unmodernes Kind
!

Gustav Hochstetter.

 

Des Vaters Mahnung.

Komm her, mein Sohn, du trittst nun bald ins Leben,
Auf Kinderspiel folgt jetzt des Lebens Ernst,
Da heißt es denn, dir gute Mahnung geben,
Daß du dich nicht vom rechten Pfad entfernst.

Zwei Dinge sind es, die da draußen locken,
Sie sind dir Fallstrick, heißen Weib und Wein,
Den besten Vorsatz bringen sie zum Stocken,
Sie sind der Laster Urquell ganz allein. –

Mir sind sie auch nicht unbekannt geblieben,
Mich hat der Wein berauscht, das Weib umstrickt,
Glaub' mir, mein Junge, ich hab's toll getrieben
Und bin doch nicht im Lastersumpf erstickt.

Hat mancher Flasche wohl den Hals gekostet,
Wenn Leid und Qual mir eng das Herz umkrallt
Und, daß ich heut noch nicht ganz eingerostet,
Dank ich den Flaschen, die ich einst verknallt.

Und dann die Frauen – Junge – dann die Frauen –
Ja, schau mir nur verwundert ins Gesicht,
Du scheinst dem Alten gar nichts zuzutrauen –
Die Frauen, Junge, nein, das glaubst du nicht!

Soll ich sie einzeln dir beim Namen nennen?
Dann währt die Beichte bis nach Mitternacht –
Des Lebens Freuden lernst du erst erkennen,
Wenn's Weib dir lächelt, und der Wein dir lacht – – –

Doch du entsagst dem Weibe und dem Weine,
Denn sie sind aller Laster Urbeginn. –
Und bleibst du so der Keusche und der Reine – –
Dann schäm' ich mich, daß ich dein Vater bin!

Felix Josky.

 

Die kluge Tochter.

Mutter sprach, wie Mütter sind:
Kind, laß Vorsicht walten!
Wenn dein Herzchen Liebe spinnt,
Nimm dir keinen Alten;
Alter Mann ist wunderlich,
Blühst du auf, so ärgern dich
Weißes Haar und Falten.

Mutter sprach: Ach denke dran,
Willst dich einst nicht härmen –
Kommt ein junger Freiersmann,
Mußt nicht gleich erwärmen;
Junge Treu ist seltner Art;
Glücklich macht nicht schmucker Bart,
Noch verliebtes Schwärmen.

Ei das wär ein dummes Ding,
Mied' ich den und diesen!
Wenn es nach der Mutter ging,
Hätt' ich's wohl zu büßen!
Wen ich mag, der kann mich frein –
Müßt' ich immer Fräulein sein,
Sollt' es mich verdrießen.

Victor Blüthgen.

 

Triumphgeschrei.

Alle kleinen Kinder
Schrei'n Hurrah, Hurrah.
Mutterchen liegt still zu Bett,
Kindchen schreit Hurrah.

Vater steht daneben,
Guckt und brummt: ja, ja,
Ist ein schweres Leben.
Kindchen schreit Hurrah.

Mutterchen brummt gar nicht,
Selig liegt sie da.
Das kleine Menschenkind
Schreit Hurrah, Hurrah.

Richard Dehmel.

 

Die Mutter einer ganzen Stadt.

Wie Frau Cornelius selbst noch bestimmt hatte, wurde nach der Rede des Geistlichen mein Trauergesang für gemischten Chor Op. 23 zu Gehör gebracht, damit war die Feier beendet. Meine Töne klangen mir im Ohre nach, und ich stand noch eine Weile am Grab, während um mich her scharrende und patschende Schritte sich entfernten. Eine Hand legte sich auf meine Schulter.

»Wollen Sie mit mir in die Stadt zurückfahren, Brodersen?«

Ich blickte auf.

»Oh,« sagte ich verwirrt. »Gewiß. Gerne. Danke vielmals, Herr Medizinalrat.«

Er faßte mich leicht beim Arme, wir durchschritten die seitliche Allee, in der weiter oben meine Mutter begraben liegt, und stiegen draußen in den Doktorwagen.

Die Fenster waren heruntergelassen, und über die weiten unbebauten Flächen zu beiden Seiten der Straße blies der Märzwind herein. Ich sah, daß der Medizinalrat den Kopf in die Polster zurückgelehnt und die Augen geschlossen hielt; sein weißer Kinnbart und die weißen Strähnen über seiner Stirn bewegten sich. Den Zylinder hatte er, die Öffnung nach oben, auf den Rücksitz gestellt, und seine Hände lagen flach und schlaff über den Knien, ringlose Hände mit auffallend kurz beschnittenen Fingernägeln und mit dicken, grauen Adern. Warum hat er mich eingeladen? dachte ich, nun schläft er.

Meine Gedanken wendeten sich auf die alte Dame, von deren Bestattung wir heimfuhren, und ich empfand, daß sie mir fehlen würde. Freilich war die Zeit schon lange vorüber, da ich mir jede Woche oder jede zweite Woche von ihr hatte aus der Verlegenheit helfen lassen. Aber mit wem würde ich je so gut vierhändig spielen wie mit dieser siebzigjährigen Frau! Und wie traurig, ihr schönes altes Gesicht nun nie wieder zu sehen ... Wirklich, ich wußte, was ich verlor.

»Die Leute wissen ja nicht, was sie verlieren,« sagte der Medizinalrat plötzlich aus seiner Ecke. »Haben Sie gezählt, Brodersen, wieviele da waren? Es können noch nicht zwei Dutzend gewesen sein.«

»Ja,« entgegnete ich.

»Es ist ein sonderbares Schicksal für eine Mutter, wenn ihre vielen, vielen Kinder sie alle verleugnen, Brodersen.«

Ich erschrak und sagte in sanftem Ton: »Sprechen Sie von Frau Cornelius, Herr Medizinalrat?«

»In der Tat, mein Lieber,« – er blickte mich an und hatte die Stirn gefaltet – »von ihr und ihren Kindern. Geschickten Kindern, klugen, starken, oh ... Nun, kein Wunder bei einer solchen Mutter.«

»In der Tat,« wiederholte ich betreten. Frau Cornelius war vierzig Jahre lang Witwe gewesen und kinderlos gestorben.

Wir fuhren eine schnurgerade Landstraße, immer den Gleisen der elektrischen Bahn entlang. Vor fünf oder sechs Jahren hatte die Stadt, den neuesten Prinzipien gemäß, ihre Friedhöfe weit hinaus verlegt. Nicht früher als eben jetzt kam unser Wagen an den ersten Baulichkeiten vorüber, Lagerhallen zumeist und roten Fabriken.

»Wissen Sie zufällig, Brodersen, wem die Cellulosefabrik da gehört – ja, das Etablissement mit den riesigen Holzstapeln ...? Dem jungen Moorberg, nicht wahr, Kommerzienrat Moorberg? Nun und wie alt ist der junge Moorberg heute? Fünfunddreißig schätze ich. Sehen Sie, das ist so ein Kind. Alles was hier bei uns im letzten Jahrzehnt in die Höhe gekommen ist, mit Elan in die Höhe gekommen meine ich, nicht so auf die alte, filzige, verhockte Art, – das sind lauter Kinder von Frau Cornelius ... Nun, sagen Sie etwas!«

Ich schwieg in Verwirrung.

Er kehrte sich mir ganz zu und sah mich gütig an. »Wissen Sie wohl, Brodersen, daß Ihre alte Freundin seinerzeit die schönste Frau war, die ... nun also: die schönste Frau. Aber Sie können es ja nicht wissen. Wahrscheinlich haben Sie nie ein Jugendbild von ihr zu Gesicht bekommen?«

»Nein allerdings ...«

»Sie liebte ihre Schönheit nicht, Brodersen. Sie hatte nicht viel Gutes davon gehabt ...«

»Die Ehe war wohl nicht glücklich gewesen?« fragte ich zaghaft.

»Ganz recht, nicht glücklich. Sie hatte völlig die Lust verloren an diesen Dingen. Und überhaupt war sie vielleicht nur darum in unsere Stadt gezogen, weil wir berühmt waren für unsere Krähwinkelei, weil sie sicher sein konnte, bei uns keine eleganten und geistreichen Männer zu finden, nichts Gefährliches, wissen Sie, Brodersen, keine Löwen. Sie hatte genug.«

Seine Stimme war stärker geworden. Flüchtig versuchte ich mir vorzustellen, wie er selbst in jungen Jahren ausgesehen haben mochte – stattlich zweifellos, sehr stattlich –, aber ich hatte keine Zeit, schon waren mir offenbar einige von seinen Worten verloren gegangen.

Er rief jetzt: »Meistens saß sie ja zu Hause und spielte ihren Bach, und fast niemand hatte die Gelegenheit, sich ihr zu nähern, aber alle dachten doch an sie – das ja! Man sah sie wohl einmal ausfahren in ihrer Equipage – es war die erste Equipage bei uns damals. Und mitunter sah man sie auch gehen, selten freilich, doch es kam vor ...«

»Ach, ihr Gang!« sagte er nach einer Weile mit wiederum veränderter Stimme. »Und immer hatte sie schwarze Kleider zu ihren blonden Haaren ... Aber was die Leute vollends toll machte, Brodersen: sie trug den Hals bloß, immer bloß, obgleich es gegen die Mode war. Niemand konnte diese Biegung vom Kinn gegen die Brust hin ansehen, ohne zu zittern. Da war ein junger Kerl, irgend ein Student oder Kandidat, oder was er vorstellte, – er kommt eilfertig aus einem Haustor heraus und fällt buchstäblich gegen die Mauer, mit offenem Mund und plötzlich ausgehöhlten Wangen ... Ich habe es selbst gesehen.«

Mir in meiner Wagenecke lief ein Schauer über den Rücken, denn es war mir nicht anders zu Mute, denn als hörte ich ein Gespenst von einem zweiten schwärmen.

Der alte Herr machte eine Geste zu mir herüber, doch ohne mich anzublicken.

»Die Stadt war ein Nest damals, ein Provinzschlupf, rein gar nichts. Die Leute träge und stumpf an Geist – Pack. Gleichgültig, aus Gewohnheit, brachte eine Generation die andere hervor. Da floh diese Frau zu uns her und verbesserte die ganze matte Rasse.

Sie ging vorüber, und die Männer blieben stehen auf dem Weg zu ihren Geschäften; sie setzten den Weg rascher fort und dachten nicht mehr so ganz ausschließlich an ihre Geschäfte. Sie hatten eine fördernde Unruhe im Blut, sie saßen ein bißchen weniger ängstlich auf ihren Drehstühlen, reckten die Arme, lachten, verspürten leichtsinnige Gefühle von der Herrlichkeit des Daseins und Freude am Risiko, und schlossen ein Geschäft ab, bei dem es gleich einmal um ein paar Tausende ging. Aber das war das Wenigste, nicht wahr?

Man begegnete ihr ja auch sonst. Sie kehrte vielleicht an einem Sommerabend von ihrer Spazierfahrt zurück, und man sah sie aufrecht im Wagen sitzen, mit leuchtenden grauen Augen und ganz ungebeugt unter der Last ihrer goldenen Krone ... Alle aber, die sie so erblickten, wurden ja zu derselben Stunde irgendwo erwartet: die Bürger zu Hause von ihren Frauen und die jungen Leute da und dort. Und alle setzten wiederum ihren Weg rascher fort, mit entzündetem Blut und verändertem Herzen. Die Frauen daheim waren an diesem Abend nicht weniger häßlich als sonst, und die jungen Mädchen gewöhnlich wie immer, aber sie mochten sich verwundern ... Nur hätten sie alle miteinander unrecht gehabt, stolz zu sein; man trug ein Feuer zu ihnen, das sich anderswo entfacht hatte. Nicht sie wurden umarmt, nicht sie ... Doch was sonst aus langer Weile entstanden war, das entstand jetzt in frischen Impulsen, gesegnet von Ihr ...«

Wir waren mitten in der Stadt. Der Medizinalrat beugte sich zum Fenster hinaus und schrie seinem Kutscher zu: »Durch die Badallee!« Dies war ein Umweg.

»Sehen Sie hin,« sagte er beinahe heftig zu mir und wies auf die städtischen Gebäude und Anlagen, an denen wir vorbeirollten, »sehen Sie, was da alles steht! Kurbad, Kurpark, Großes Kasino, Neues Schauspielhaus. Seit wann ist das alles da? Es sind ihre Kinder, die es hingestellt haben.«

Er hielt einen Augenblick inne. »Ich weiß ganz gut, Brodersen,« sagte er dann mit einer Art von Lachen, »daß Sie mir jetzt den Ruf ruinieren können. Wenn Sie es wollen, bin ich in ein paar Stunden erstens ein Narr und zweitens ein ... Aber sehen Sie, was ist in meinen Jahren der gute Ruf! Die Würmer nehmen sogar den, der aus gewissen Gründen ohne Kopf bei ihnen ankommt ... Und übrigens, ich glaube, Sie sind gar nicht so.«

Ich entgegnete etwas.

»Eben, Brodersen, eben. Und da werden Sie vielleicht auch begreifen, warum ich das alles erzähle. Ich habe mich geärgert, – es war doch recht niederschlagend da draußen. Fast kein Mensch außer den Lieferanten.«

»Das ist wahr.«

»Ich meine übrigens auch, jedermann muß einverstanden mit mir sein. Woher stammt denn die so unermeßlich erhöhte Betriebskraft in diesen letzten Jahren, das Verlassen aller kleinlichen Traditionen im Gewerbe und im Handel, der Zug ins Weltbürgerliche? Etwa vom allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung? Aber das ist ja das Seltsame, daß die Stadt nie teilgenommen hatte an der allgemeinen Entwicklung, daß sie vor fünfzehn Jahren noch ein Stiefkind war, beinahe lächerlich ... Und heute, – sie ist beinahe eine Metropolis. Wo anders als bei uns entsprangen zum Beispiel die Kanalpläne, die für die ganze Provinz und für halb Norddeutschland von so ungeheuerem Nutzen zu sein versprechen? Es ist nicht »der Zug der Zeit«, es sind die Kinder von Frau Cornelius, die nun erwachsen sind ...«

Er lächelte mich an.

»Das ist nicht alles, Brodersen. Hat man je davon gehört, daß diese Stadt einen »Geist« hervorgebracht hätte, einen selbständigen Gelehrten, meine ich, einen Künstler, einen Autor von Ruf? Ja, Eberhard Hengstenberg war hier ansässig, der alte Silhouettenschneider. Nun, ich habe nichts von ihm gesehen ... Und dann hat ein schwindsüchtiger Schulmeister bei uns gelebt, mit Namen Krummholz, der anno 1747, als das Sterben war, ein Carmen auf die Pest verfaßte, fünfundneunzig lateinische Strophen. Das waren unsere großen Söhne.

Und nun, seit ein paar Jahren! Da haben wir den jungen Tieffenbach. Er ist noch keine dreißig, aber seinen Dichtungen gesteht man heute schon den höchsten Rang zu, überall. Ich will ja nicht tun, als verstünde ich etwas von diesen Dingen, aber er hat Liebeslieder, die wahrhaftig etwas vollkommen Neues sagen ... Und dann Hugo Steinhart, der Seemaler, das ist doch ein Genie, nicht wahr, – ich denke, Sie müssen mir beistimmen ... Ah, wir sind vor Ihrem Hause – Franz!!«

Der Wagen hielt. Ich öffnete den Schlag und schickte mich an, zu danken.

»Bitte, gar keine Ursache. Übrigens, daß ich es nicht vergesse, – Ihr Trauerchor draußen hat mir Eindruck gemacht. Wirklich stimmungsvoll, wirklich feierlich ... Wie alt sind Sie jetzt, Brodersen? Neunundzwanzig? Ah! Auf Wiedersehen also, und empfehlen Sie mich bestens Ihrem Herrn Vater.«

Bruno Frank.

 

Liebesheirat.

Der Baron war sechzig Jahre,
Auf dem Schädel ohne Haare
Leuchtete der Mondenschein;
Elschen, die erst achtzehn zählte,
War's, mit der er sich vermählte ...
Wie gesagt – es war zum Schrei'n!

Doch die Sache ging vom Stapel:
Hochzeitsreise nach Neapel,
Blühender Orangenhain!
Der Vesuv, der runterguckte,
Höhnte, lachte, rauchte, spuckte ...
Wie gesagt – es war zum Schrei'n!

Herrlich war der Lenz erschienen,
Und sie aßen Apfelsinen,
Tranken auch Falerner Wein ...
Aber nachts – Gitarrenständchen,
Italienisches Studentchen ...
Wie gesagt – es war zum Schrei'n!

Schnelle Heimkehr ... stille Pflege ...
Seltsam scheinen oft die Wege
Menschlicher Natur zu sein ...
Wie der Herbstwind da gelacht hat,
Als der Storch ein Kind gebracht hat ...
Wie gesagt – es war zum Schrei'n!

Leo Leipziger.

 


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