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Meisterwerke neuerer Novellistik. Erster Band
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Ludwig Anzengruber

»Ein österreichischer Dichter,« sagt Grillparzer, »sollte höher gehalten werden als jeder andere. Wer unter solchen Umständen den Mut nicht verliert, ist wahrlich eine Art Held« – eine bittere Wahrheit, die all das Lob aufwiegt, mit welchem der Dichter seine Heimat an anderer Stelle bedacht hat. Wie alle seine Landsleute, welche vor und nach Grillparzer die Feder führten und freiheitlicher Regungen fähig waren, hat auch Anzengruber diesen Satz an sich bestätigt gefunden. Dem schlichten und rechtschaffenen Manne, in dessen Brust ein Herz so warm für das Wohl des Vaterlandes schlug, der so mutig für alle geistigen Interessen eintrat, der die tiefste Tragik und den unwiderstehlichsten Humor im Drama und in der Erzählung gleich meisterhaft beherrschte, war es nicht beschieden, seine große Begabung unter angenehmen Lebensbedingungen zu Nutz und Frommen seiner Zeitgenossen auszuüben. Als ein echter österreichischer Dichter hat er alle Not und allen Kummer, welcher an diesem Ehrentitel zu haften pflegt, in reichstem Maße kennen gelernt; ihm, der durch seine Werke so vielen genußreiche Stunden bereitet hat, bot ein kurzes Leben deren nur sehr wenige.

Ludwig Anzengruber wurde am 29. November 1839 zu Wien geboren. Sein Vater, Johann Anzengruber, war ein oberösterreichischer Bauernsohn aus der Gegend von Ried, wo der Name eines Dörfchens Anzengrub noch heute an die Familie erinnert, die Mutter eine Wienerin. Vom Vater hat er die Lust zu fabulieren ererbt; denn Johann Anzengruber, wiewohl »Ingrossist bei der Gesällen- und Domänenbuchhaltung«, benutzte die Nächte zur Abfassung langatmiger Verstragödien, von welchen zwar keine im Druck erschien, aber eine, »Berthold Schwarz« 1840 nach dem Manuskript zu Ofen aufgeführt wurde. Als er 33 Jahre alt starb, ließ er die Mutter mit dem vierjährigen Söhnlein fast mittellos zurück. Sie mußte nun für sich und Ludwig mit der kargen Jahrespension von 166 Gulden 40 Kreuzern auskommen. Zeitweise betrieb sie ein Zwirngeschäft. Der Knabe besuchte die Volksschule, die Unterrealschule und die I. Klasse der Oberrealschule, aber, wie es scheint, zu niemandes besonderer Zufriedenheit. Er bekennt selbst, daß ihm aus den Schuljahren mehr Wissensdurst als Wissen blieb. Sein Vormund, der Dichter und Kritiker Andreas Schumacher, gab ihn daher zu einem Buchhändler in die Lehre. Hier erwies sich Anzengruber zwar als eifriger Leser, zeigte sich jedoch für das Geschäft wenig tauglich. Er las alle Bücher, deren er habhaft werden konnte, – »unendlich viel, und Dinge, die kein Knabe wohl sobald in die Hand bekommt« – aber mit der kaufmännischen Seite seines Berufes konnte er sich nicht befreunden. Er fand, es sei »nichts Ideales im Buchhändlerladen zu finden. Alle Geister hatten dort ihre Schubfächerchen, und von jedem galt es zu verdienen, die wurden genommen bar, fest oder in Rechnung.« Während Schiller, Shakespeare und die anderen Klassiker ihn zu keinen poetischen Versuchen anregten, sah er in einzelnen Volksstücken von Nestroy und Friedrich Kaiser nachahmenswerte Muster. Doch ist von diesen ersten dramatischen Versuchen nichts auf uns gekommen.

Aber es hieß erwerben. Als er 1859 am Typhus erkrankte, konnte ihn die Mutter nicht daheim pflegen, so daß er die Krankheit im Wiedener Spitale unter täglich viermaligen Andachtsübungen und Beichtzwang überstehen mußte. Da ihn das Theater sehr anzog, beschloß er Schauspieler zu werden. Der zwanzigjährige Jüngling, welcher, seiner Schüchternheit wegen, als ein Weiberfeind galt, begann seine »Karriere« in der Wiener Vorstadt Meidling, wo Louis Groll eine Schmiere nach den Regeln dieser Art von Kunst leitete. Nebenbei schrieb er Witze und Anekdoten für O. F. Bergs Witzblatt »Kikeriki«, welches ihm die Zeile mit drei Kreuzern honorierte. In den Jahren 1860-1866 finden wir ihn als Mitglied wandernder Schauspielertruppen – »auf Kunstreisen, unter Verhältnissen, wo eben Reisen eine Kunst ist« – in österreichischen Provinzstädten, wie Krems, Wiener-Neustadt, Leoben, aber auch in den gottverlassensten ungarischen Dörfern, wie Apatin, Palanka, Kanisza und Czakathurn. Überallhin begleitete ihn seine treue Mutter, an welcher auch er mit der zärtlichsten Liebe hing. Er spielte zuerst Episoden-, später Charakterrollen, jedoch ohne besonderen Erfolg. Seine Monatsgage überstieg selten 30 Gulden. In Marburg wurde zu seinem Benefiz ein von ihm verfaßtes Stück » Der Versuchte« aufgeführt. Des Herumreisens müde ließ er sich 1867 am Wiener Harmonietheater mit 20 Gulden Monatsgage und 50 Kreuzern Spielhonorar pro Abend engagieren. Er war nun wenigstens wieder in der alten Kaiserstadt, wenn er auch mit seiner Mutter eine dürftige »Kammer« in einer engen Vorstadtgasse teilen mußte. Kurze Zeit später nahm er tagsüber Schreiberdienste bei der Polizei, des Abends aber saß er daheim und schrieb und schrieb – Novellen für Wiener Zeitschriften, das Paar um 15 Gulden, die wenig Beachtung fanden, und zahlreiche Theaterstücke für sein Pult. Alle Bemühungen, die Theaterdirektoren für sein dramatisches Gepäck zu interessieren, blieb erfolglos. »Man bringt eher einen Elefanten durch ein Nadelöhr, als einen Theatersekretär vom System des Wegwerfens neuer Produkte ab,« schreibt Anzengruber. Aber die bäuerische Hartnäckigkeit, die ihm im Blute saß, ließ seinen Mut nicht sinken. »Gußeisern ist mein Humor; es kommt die Zeit, wo ich's der Welt zeige, daß ohne Protektion ein Talent aufkommt – ich will mich protegieren – selbst!« Und die Zeit kam, »wo ward, was ich lange erstrebt, wo ich den Genius über mir schweben hatte, der alles Wasser aufrührt – den Erfolg, es war das erste Mal, daß ich mit einiger Rücksicht mich zu beachten anfing.«

Am 5. November 1870 wurde sein » Pfarrer von Kirchfeld« am Theater an der Wien mit durchschlagendem Erfolge aufgeführt. Nun holte Anzengruber im Vollbewußtsein seines Sieges die versäumte Tagebücherei von 31 Lebensjahren nach. (»Bis zum Fertigwerden.«) Dem »Pfarrer« folgten im nächsten Jahre der » Meineidbauer«, 1872 die » Kreuzelschreiber«, denen sich in rascher Folge eine Reihe von vortrefflichen Bauernkomödien und Sittenstücken aus dem Wiener Volksleben anschlossen. 1874 brachte den » G'wissenswurm«, 1875 den » Doppelselbstmord«, 1876 den » Ledigen Hof«, 1878 das » Vierte Gebot«, um nur seine bekanntesten Schöpfungen zu erwähnen. Nebenbei entfaltete er eine fruchtbare Tätigkeit als Erzähler in Romanen (» Der Sternsteinhof« 1874, » Der Schandfleck«, 1876) und Novellen. Seine materiellen Verhältnisse besserten sich nun ein wenig, so daß er sogar ein kleines Häuschen in der Nahe von Wien ankaufen konnte. 1873 vermählte er sich mit Adeline Lipka, der Schwester eines Jugendfreundes.

Wie ergreifend die Tragik, wie gesund der Humor seiner Volksstücke war, und wie treffliche Interpreten er in Wien fand – der Erfolg sollte ihm nicht treu bleiben. Die Wiener der siebziger Jahre wußten Anzengruber bald nicht mehr zu schätzen. Die Operette verdrängte das Schauspiel, die derbe Posse die feinere Komödie, das unsittliche »Sittenstück« die bessere, poetische Arbeit. Anzengruber mußte erfahren, daß in Wien kein Raum mehr für ihn sei. 1873 schreibt er anläßlich des Mißerfolges der » Tochter des Wucherers«: »Feinheit paßt nicht auf den Wiener Boden, nur in höchst seltenen Fällen, und es darf sich da der Dichter schon gar nicht auf das Publikum verlassen, er muß mit der ›Scheibtruhen‹ kommen.« Fast schien es, als ob er seinen eigenen Ruhm überlebt hätte. Mit Betrübnis sieht er, wie jede der Possen von Costa und O. F. Berg mehr trägt, als vier seiner Stücke zusammengenommen, und wie das Publikum der minderwertigen Ware zujubelt. Abermals muß er arbeiten, um sich und die Seinen zu erhalten. (Seine Ehe war mit drei Kindern gesegnet.) Er beneidet Richard Wagner und Johann Strauß. »Diese Leute,« schreibt er, »sind so situiert, daß sie nur tun müssen, was sie nicht lassen können, aber was sie lassen wollen, das müssen sie nicht tun. Bei mir ist das just nicht der Fall, ich muß manches, was ich lassen möchte.« Seine Zuflucht in der Zeit, da ihm die Bühne verschlossen blieb, war die Erzählung; da er aber auch auf diesem Gebiete nur wenig verdienen konnte, übernahm er die Leitung des Familienblattes » Die Heimat«, welches als Konkurrenz für die »Gartenlaube« gedacht war, 1884 jene des humoristischen Wochenblattes » Figaro« – Aufgaben, welche mit seinem Dichterberufe nur schlecht vereinbar waren. Noch kurz vor seinem Tode schreibt er: »Der Lessing ist auch so ein Schwindler, sagt da irgendwo, kein Mensch muß müssen, und wie viele müssen müssen, was sie nicht wollen wollen.« 1884 wurde er als Dramaturg für das Theater an der Wien engagiert. Er hatte die Verpflichtung, jährlich ein Stück zu liefern, und sollte außer einer Monatsgage von 190 Gulden eine Tantieme beziehen. Das Engagement währte zwei Jahre, und Anzengruber schrieb in dieser Zeit für dieses Theater die Weihnachtskomödie » Heimg´funden« und das Schauspiel » Stahl und Stein« (eine Dramatisierung der Novelle » Der Einsam«), aber Direktor Jauner führte keines derselben auf. Es heißt, daß er mit dem Engagement den Dichter bloß den anderen Theatern entziehen wollte. » Hand und Herz« wurde zwar 1879 mit dem Schillerpreise ausgezeichnet, und » Der Fleck auf der Ehr'«, mit welchem im September 1889 das deutsche Volkstheater in Wien eröffnet wurde, war ein ganzer Erfolg – aber die wenigen Schwalben machten keinen Sommer.

Je näher der Lebensabend rückte, desto trauriger wurde es. Nachdem Anzengruber 1875 seine geliebte Mutter begraben hatte, mußte 1889 seine Ehe nach sechzehnjährigem Bestande ohne das geringste Verschulden von seiner Seite getrennt werden. Er überlebte diesen schweren Schlag nicht lange. Er begann zu kränkeln, und während er sich selbst nicht die geringste Schonung gönnte, griff eine tückische Zellgewebsvereiterung in seinem Organismus immer mehr um sich. Am 10. Dezember 1889 erlag er, 50 Jahre alt, diesem Leiden. Charakteristisch sind die Worte, mit welchen er, als er den Tod nahen fühlte, die Sorge für die nächste Nummer des »Figaro« zweien seiner Freunde übertrug: »Mir fallt nix ein – ich bin ein armes Hunderl.« So konnte er mit Fug und Recht sagen:

»Wie vieler deiner Freuden
Hab' ich umsonst geharrt,
Wie wenig deiner Leiden
Hast du mir, Welt, erspart!«

Das Lebenswerk Anzengrubers sichert ihm einen der ersten Plätze in der Literatur der jüngsten Vergangenheit. Wie schon andere vor ihm, hat er die Stoffe seiner Dramen und Erzählungen fast ausschließlich aus dem Leben des Volkes, speziell der Landbevölkerung genommen. Er hat den Bauern zum Gegenstand seines eingehenden Studiums gemacht und sein Tun und Denken bis in die kleinsten Details durchforscht. Anzengrubers Bauern sind keine »Salontiroler«, wie sie z. B. in den Schriften Auerbachs auftreten, sondern Bauern von echtem Schrot und Korn, wie sie nur der wirkliche Kenner schildern kann. Niemand hat die Leidenschaften, welche fernab von der Großstadt die Herzen regieren, so zu schildern verstanden wie er, kein anderer hat die guten Seiten, aber auch die Fehler und Laster unserer lieben Landleute so drastisch dargestellt. Warum er sich als Dichter gerade in diesen Kreisen bewegte, sagt er selbst im Nachworte zum »Sternsteinhof«: »Der eingeschränkte Wirkungskreis des ländlichen Lebens beeinflußt die Charaktere weniger in ihrer Ursprünglichkeit und Natürlichkeit, und der Aufweis, wie Charaktere unter dem Einfluß der Geschicke werden oder verderben, ist klarer zu erbringen an einem Mechanismus, der gleichsam am Tage liegt, als an einem, den ein doppeltes Gehäuse umschließt, wie denn auch in den ältesten, einfachsten, wirksamsten Geschichten die Helden und Fürsten Herdenzüchter und Großgrundbesitzer waren, und Sauhirten ihre Hausminister und Kanzler.« Anzengruber ist jedoch nicht bei der bloßen Schilderung stehen geblieben, er hat stets eine bessernde, reformatorische Absicht. Er zeigt, zu welchen schlimmen Konsequenzen es führt, wenn kritiklos an dem alten Zopfe festgehalten wird, und er will dem Fortschritte die Wege ebnen. So ist er nicht nur ein bedeutender Poet, sondern auch ein Pionier geistiger Freiheit, ein Aufklärer in des Wortes vornehmster Bedeutung geworden.

In einem inhaltsreichen Briefe an Dr. Julius Duboc (1876) legt Anzengruber dar, wie er zum Volksdichter wurde. Er schreibt: »Ich sah dem Volke nackten Unsinn bieten, oft mit krausester Tendenz verquickt, Handlung, Charaktere, alles unwahrscheinlich, unwahr, nicht überzeugend, so daß der guten Sache der Volksaufklärung mehr geschadet als genützt wurde. Es war kein Ankämpfen gegen die Gegner, es war nur ein Beleidigen, ein Beschimpfen derselben – und rings lagen doch so goldene, so prächtige und mächtige Gedankenschätze ausgestreut von den Geistesheroen aller Völker und Zeiten. Wie wenig all dieser großen, erhabenen, vernünftigen Gedanken, all dieser fördernden, fruchtbaren, segensreichen Ideen waren auch nur den sogenannten Halbgebildeten geläufig?! Alles das mußte sich in kleiner Münze unter das Volk bringen lassen, von der Bühne herab, aus dem Buch heraus ... Ein anderer wollte sich nicht finden, welcher der Zeit von der Bühne herab das Wort redete, und einer mußte es tun, also mußte ich es sein!«

Anzengruber war nicht nur dem inhaltlichen, sondern auch dem formellen Teil seiner Aufgabe vollkommen gewachsen. Sehr wenige Dichter verfügen bei solcher Gedankentiefe auch über solche Bühnenroutine. Er war eben nicht nur bei den Klassikern, sondern auch bei den Meistern dramatischer Technik nicht umsonst in die Schule gegangen. Seine Sprache ist kräftig, wenn es die Situation erfordert höchst poetisch, und stets volkstümlich. Es ist zwar bemerkt worden, daß der Dialekt, welchen Anzengruber seine Bauern sprechen läßt, eigentlich bloß eine Konstruktion sei, und nirgends gesprochen werde. Aber gibt die schriftdeutsche Orthographie unsere Aussprache besser wieder, und wäre es überhaupt möglich, die Laute der Bauernsprache durch unsere Buchstaben wiederzugeben?

Schon im »Pfarrer von Kirchfeld« zeigen sich diese Vorzüge, wenn auch noch nicht vollkommen entwickelt. Der »Pfarrer« ist die Tragödie eines »josefinischen« Priesters, eines Friedensapostels, dem echte Moral und Menschenliebe mehr gelten als orthodoxe Unduldsamkeit, der aber gegen die Feinde seines edlen Waltens machtlos bleibt. Anzengruber legte in diesem Stücke – Laube nennt es »ästhetisch und politisch merkwürdig« – den Finger auf manche Wunde in dem System der alleinseligmachenden Kirche, welches auch nach dem interkonfessionellen Gesetz noch verbesserungsfähig war. Scheinheiligkeit und Duckmäuserei geißelt er im »Meineidbauer«, der, bald auf den Pfarrer folgend, gleichwohl sein dramatisches Können schon auf der Höhe zeigt. Mit atemloser Spannung folgt der Zuschauer dem Beginnen dieses ländlichen Tartüff, welcher das Testament seines Bruders vernichtet und dessen Nichtvorhandensein beschwört, um sich die Habe des Verstorbenen zuzueignen, und den diese erste Tat von Verbrechen zu Verbrechen führt, bis er schließlich zum Sohnesmörder wird. Neben diesen beiden gewaltigen Bühnenwerken steht als drittes das Wiener Volksstück »Das vierte Gebot«, in welchem sich Anzengruber gegen die verfehlte Erziehung wendet, welche den Charakter, statt ihn zu bilden, verdirbt. »Es ist für manche Kinder das größte Unglück, von ihren eigenen Eltern erzogen zu werden,« sagt Anzengruber, und er beweist dies an den Kindern der unteren Volksklassen ebenso wie an jenen des besitzenden Bürgerstandes. Verbrechen, Laster und unverdientes Unglück sind die Früchte solcher Erziehung. Ein ideales Gegenstück finden diese Elemente in einem alten Mütterchen, dessen Name Herwig keinen Zweifel darüber läßt, daß dem Dichter bei ihm die Erinnerung an seine Mutter (geborene Herbich) vorschwebte. Unter allen seinen Dramen weist »Das vierte Gebot« die krassesten Effekte auf, aber es ist auch das wirksamste. Dennoch fiel es 1878 bei der Aufführung im Theater in der Josefstadt ab, und erst nach des Dichters Tode verhalf ihm die Berliner »Freie Bühne« zu dem verdienten Erfolge und der ihm gebührenden Stellung in dem modernen Repertoire.

Mehr Glück hatten die »Kreuzelschreiber« (1872), eine seiner witzigsten Komödien, aus welcher besonders die Figur des Steinklopferhans, eine philosophische Bauernnatur nach Art des oberösterreichischen Bauernphilosophen Konrad Deubler, populär wurde. Ein heiteres Pendant zum »Meineidbauer« bildet »Der G'wissenswurm« (1874), in dessen Mittelpunkt der Erbschleicher Dusterer steht. Das Lügengewebe, mit welchem der Heuchler seinen Schwager umgibt, wird jedoch zu schanden, ehe er einen Erfolg erzielen konnte. Im »Doppelselbstmord« (1875) geben zwei Liebende, deren Väter Erbfeinde sind, vor, gemeinsam in den Tod zu gehen. Die Freude darüber, daß sie doch leben, bewirkt, daß sich die Väter versöhnen. »'s Jungferngift« (1878) zeigt mit viel Humor, wie man einen Verlobten davon abbringt, seine Braut zu heiraten, indem man ihm einredet, daß sie eine weiße Leber habe und daher ihrem Gatten in kürzester Zeit den Tod bringen müsse. Er gibt darum gerne zu, daß sie ein anderer heimführe, und tröstet sich damit, in acht Tagen um die Witwe werben zu können. Alle diese Werke übertrifft an poetischem Gehalt »Der ledige Hof« (1876), wo eine Bäuerin, von Eifersucht hingerissen, den Großknecht, welchen sie liebt, einer Lebensgefahr preisgibt. Er entgeht dieser zwar wie durch ein Wunder, ihre Wege aber bleiben fortan getrennt.

Wiederholt hat Anzengruber, dem Zuge der Zeit huldigend, den Boden des Volksstückes verlassen. Er schrieb Possen, soziale Tendenzstücke, aber es ist ihm nie gelungen, sein Talent in andere als die ihm von Natur vorgezeichneten Bahnen zu lenken. Auch der Versuch, mit seiner » Elfriede« (1873) im Burgtheater heimisch zu werden, mißlang. Er war und blieb ein Volksdichter.

Begreiflich ist, daß man ihn in dem reaktionären Österreich seine Weisheit nicht ungestört »von der Bühne herab, aus dem Buche heraus« predigen ließ. Wohl keines seiner Stücke hat die Zensur unbeanstandet passiert, oft machte ihm diese recht unliebsame, unkünstlerische Korrekturen in seinem Manuskripte. »Das vierte Gebot« durfte nicht einmal unter diesem Titel aufgeführt werden, es durfte bloß »Ein Volksstück von L. A.« heißen – »so mißhandelt man,« schreibt der Dichter, »Werke besseren Genres, oder sagen wir, damit ich bescheidener spreche, besseren Wollens, in Österreich.« Als ihm die Zensur das »Jungferngift« verunstaltete, klagt er seinem Freunde Bolin (1878): »Diese Behörde erbarmt einem, die Dürftigkeit der Motive! Es ist unter Umständen für einen, der ein Österreicher sein will, sehr schwer, das zustande zu bringen. Soll er sich schämen oder nicht? Man tut hier gerade den besten Patrioten weh, das Gesindel kann sich seines Lebens freuen, nur dem Honetten macht man's sauer.« Oder (1879): »Sanfte Reaktion hier zu Lande, sanfte in dem geeinigten Deutschland, oh, es ist doch zu erbärmlich! Es herrscht kein Verständnis für die höchsten und besten Interessen der Menschheit. Wir wollen, nachdem wir zwei Schritte vorgetan, wieder drei zurücktun, aber sachte, fein sachte, und da stehen, wo unsere Großeltern gestanden. Ach, ständen wir lieber da, wo unsere Urureltern gestanden haben, die sich mit den Rollschwänzen köpflings an den Palmen aufhingen, und mit dieser ›gestürzten‹ Weltanschauung vielleicht das Richtige trafen!«

Was von dem Dramatiker Anzengruber gesagt wurde, gilt auch von dem Erzähler. In seinen beiden Romanen sowie in seinen Novellen und Skizzen kommen seine stilistische Eigenart, seine feine Beobachtungsgabe, poetische Auffassung und urwüchsiger Humor ebenso zur Geltung wie in seinen Dramen. »Der Sternsteinhof« (1874) und »Der Schandfleck« (1876) zählen längst zu den klassischen Werken deutscher Erzählungskunst. Schreitet dort eine ehrsüchtige Bäuerin über Leichen hinweg ihrem hochgesteckten Ziele zu, so zeigt der letztere die Folgen eines Ehebruchs und seinen Fluch bis in die nächste Generation. Da der zweite, in der Stadt spielende Teil des »Schandfleck« gegen den ersten, ländlichen stark abfiel, entschloß sich Anzengruber sieben Jahre später (1883) zu einer Neubearbeitung desselben; aus dem städtischen Teile wurde nun ein eigener Roman »Die Kameradin«. Der Erfolg beider Romane war entschieden unter ihrem Werte. Von den 2000 Exemplaren der ersten Auflage des »Schandfleck« waren 1883 noch zirka 800 unverkauft.

Die kleinen Erzählungen, unter welchen sich wahre Perlen finden, erschienen zuerst in verschiedenen Zeitschriften. Die älteste im Druck nachgewiesene betitelt sich » Tod und Teufel« und stand 1872 in der Wiener Zeitschrift »Der Gemeindebote«. Sie ist von der Vollkommenheit späterer Novellen Anzengrubers noch ziemlich weit entfernt, zeigt aber schon die Klaue des Löwen und gipfelt bezeichnenderweise in einer Verherrlichung Josefs II. Viele seiner Erzählungen gab Anzengruber später in Sammlungen heraus. (So » Dorfgänge«, 1879, 2 Bde., » Kalendergeschichten«, 1882, u. a.) Die in dem vorliegenden Bändchen vereinigten erschienen nebst einigen Gedichten 1883 unter dem Titel » Kleiner Markt«. Geschrieben sind sie in den Jahren 1877 bis 1881. Entstanden in einer für den Dichter traurigen Zeit, entbehren sie allerdings fast gänzlich des ihm früher eigenen Humors; die melancholische Stimmung, in welcher sich Anzengruber damals befand, spiegelt sich in ihnen nur allzudeutlich wider. Dennoch tragen sie den unverkennbaren Stempel seines Geistes. Wie trefflich » Allerseelen« dem Wiener Volksleben abgelauscht ist, welcher Reiz in den düsteren Gemälden » Vereinsamt« und » Sein Spielzeug« liegt, wie gelungen man das Capriccio » Aus der Spielzeugwelt« finden wird, wie geistvoll sich der Philosoph, der Denker und Sprachkünstler in » Jaggernaut« offenbart – die Palme unter allen gebührt unstreitig der Bauerngeschichte » Hartingers alte Sixtin«; da zeigt jeder Satz, wie Anzengruber in seinem ursprünglichen Element ist.

Darum hat der Künstler mit Recht die trauernde Volksmuse an das Grab des Dichters gestellt. In tiefem Schmerze umfaßt das Bauerndirndel den Grabstein, welchen sein Bildnis schmückt, als wollte sie den zu früh Dahingeschiedenen zurückhalten. Ihr zu Füßen aber liegen Bündel und Wanderstab, denn auch ihres Bleibens ist nun nicht länger.

Wien, im Juni 1904.

Dr. Wolfgang v. Wurzbach.


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