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Wer lobsänge dem Süden mit ungeheuchelter Begeisterung, wenn nicht sein Widerpart der Norden wäre? Was hätte ein ewiger Frühling, über die ganze weite Erde gebreitet, noch Besonderes? Aber da kommen die Kinder des Südens zu uns und hauchen in die Hände und sagen: »O, welch trauriges Land! Ihr habt eigentlich nur eine Jahreszeit, sieben Monate weißen und fünf Monate grünen Winter. Wie ihr das nur aushalten könnt?« Und dann ziehen die Kinder des Nordens mitten im weißen Winter hinab nach dem Süden und sagen begeistert: »Ihr habt nur eine Jahreszeit, den Frühling. Wie glücklich seid ihr!«
Das ist wohl ein wenig übertrieben, der Norden weiß das ganz gut. Er sagte einmal: »Pah, ich will mir eine ordentliche vierte Jahreszeit anschaffen; ich kann mir diesen Luxus erlauben, das riesige Polarmeer habe ich zur Hand, und dort bekomme ich um billiges, was ich dazu brauche.« Sprach's und ließ sich einen ordentlichen Winter kommen.
Es ist das ein Patron, dem viel Übles nachgesagt wird, nicht mit Unrecht. Anfangs beginnt er die Leute mit dichten Nebeln zu necken, er verhängt ihnen die luftige Ferne, Wege und Stege, Gruben und Rinnen. »So, da findet euch zurecht!« Jeder hat seinen eigenen Schatten verloren und glaubt auf einen entlaufenen fremden zu stoßen, wenn aus dem dichten Grau ein anderer Mensch auf ihn vorsichtig zuschreitet. Dann wieder macht er glatte Wege, um alles zu Fall zu bringen, oder er sagt: »Wie wär's, wenn wir's mit einem trockenen Regen versuchten?« Und da ballt er die Regentropfen zu Sternchen, Kügelchen und Pelzchen und läßt sie herunterrieseln, und das legt sich auf die Hüte, je breiter die Krämpe, um so schwerer, auf die Ärmel, als legte der Winter selbst seine Hand auf unsern Arm, um uns recht freundschaftlich an seine Anwesenheit zu erinnern, was ihm jedoch niemand recht Dank wissen will.
Nebel, Eis und Schnee breitet er über Stadt und Land; aber in der ersteren macht er sich kleine Nebenpläsierchen. Da sieht er die großen Fabriksschlote rauchen. »Ach, das ist ja prächtig,« sagt er, »wie hübsch, wenn ich diese braunen Wolken unter meine Nebelmassen steckte.« Und er steckt sie darunter, daß den Leuten die Augen brennen und sie zu ersticken vermeinen. Oder er sieht das schöne Pflaster, ob Würfel oder Platten, Granit oder Klinker, das ist ihm ganz gleich. »Herrlich! Wie nett sich das übereisen läßt!« Er tut's und die Leute rennen aus den Häusern und streuen Asche und Sand auf die Wege.
Aber ganz unausstehlich will er sich doch nicht machen; oft nach einem tüchtigen Schneegestöber läßt er den Himmel hell und rein, die Luft klar und kalt und hält den Menschen die Schlittenbahn bereit. Da jagen diese über Land. Weit – weit liegt alles blendend weiß, ruhig, still, feierlich. Der tiefdunkle Tannenwald hält auf den Ästen weiße Streifen und an den Bärten schimmernde Zapfen, die Häuschen haben Hauben auf, der kleinste Pfahl im Zaune trägt eine solche, Weiher und Teiche sind mattsilberne Spiegel, an den Menschen schmiegt sich die Kälte, drängt das warme Leben mehr nach innen und schränkt es ein, als wollte sie nur die Wärme des Herzens gelten lassen, die man denn auch mit doppeltem Behagen verspürt, und da sagen alle: »Es ist doch schön!«
Es ist doch schön. Der Winter hat etwas Märchenhaftes. Die Welt liegt weit und klar, die Wege sind schmal und Wanderer darauf wenige, man erwartet daher in jedem etwas Besonderes, in jedem Häuschen, das man betritt, ein Abenteuer, denn außen liegt die Welt so still, innen schlägt das Herz so froh, so erwartungsvoll. Je nun, man kann sich täuschen, und man täuscht sich auch, bis zu der Zeit, wo der leuchtende Tannenbaum in die Stube kömmt, da lebt jeder ein Märchen. Selbst wenn er den Baum mit eigenen Händen geschmückt hat, wenn er ganz gut weiß, wieviel Taler, Groschen und Pfennige auf all die Herrlichkeiten daraufgegangen; der Baum rauscht mit seinen Schleifen gar geheimnisvoll, die Herrlichkeiten wollen nicht Ware werden, sie bleiben ganz ungewöhnliche Dinge, die erst im Kinderjubel lebendig werden wollen; in diesem Jubel aber erwacht das Kind noch einmal in jedem, auch der kälteste, trockenste Geselle lebt – für einen Augenblick ein Märchen – seine Kindheit noch einmal!
Sie ist ein Märchen, wie nur eines sein soll. Vor den kaum erschlossenen Sinnen geschieht täglich, stündlich ganz Unerwartetes, immer Geheimnisvolles, aber das Kind beträgt sich, wie man von dem Helden eines Märchens billig erwarten kann, es wird leidvoll oder freudvoll überrascht – sei es auch nur, weil ihm ein böser Schrank eine Beule schlägt, oder weil ein ganz gewöhnliches Stück Holz plötzlich anheimelnde, zum Spielen einladende Gestalt gewinnt – aber es ist nie erstaunt darüber, daß sich irgend etwas ereignen kann, es vermag von den Wundern der Christnacht hingerissen zu werden, aber es wird sie ganz in der Ordnung finden; doch in dem brausenden Kinderjubel klingt in dem Herzen der Erwachsenen die verwandte Saite an.
Gewiß, Weihnachten ist eine frohe Zeit, und sie macht alle fröhlich. Alle? Viele, die meisten, alle wohl nicht. Ich kenne einen, der sie fürchtet.
Er hat seine Wohnung neben der meinen, ist noch ein ziemlich junger, hochaufgeschossener Mensch, den man immer gleich still, ernst und bescheiden seiner Wege gehen sieht. Auf einen freundlichen Gruß oder ein Scherzwort erwidert er wohl mit einem verbindlichen Lächeln, aber er scheint jede Annäherung zu vermeiden. Was seine Stellung anbelangt, so soll er in einer der vielen Teehandlungen Buch und Korrespondenz führen.
Jahrüber war er der gleich höfliche wie freundliche Nachbar, bis jenes Fest herankam, das man bezeichnend Christabend nennt, denn der Tag zählt nicht, alles bis zum Abende ist Erwartung, ungeduldige, still träumerische oder behaglich vorkostende, je nach Temperament, aber immer nur Erwartung; kam dieser Festabend heran, dann wich der Mann jeder Ansprache aus und bezeigte sich fast menschenscheu. Es ist früh am Morgen, fahles Licht fällt durch die Gangfenster, die Treppe, die in Krümmungen von Stockwerk zu Stockwerk läuft, liegt noch dunkel, der Nachbar steht vor seiner Tür und schließt sie eben hinter sich ab, neben ihm steht ein altes, ärmlich gekleidetes Weib, das Tag für Tag ihn bedienen kommt, das Frühstück kocht, die Kleider reinigt, das Essen holt; sie führt Bürste und Ausklopfstäbchen mit sich, schiebt sie von einer Hand in die andere, sie scheint etwas auf dem Herzen zu haben, aber einigermaßen verlegen zu sein, wie sie es vorbringe, endlich sagt sie leise: »Ich tät' bitten, schaffen der gnädige Herr heut' noch etwas?«
Im Kreise der Enkel wollte sie den heutigen Tag zubringen, das war's.
Der Gefragte schiebt den Quartierschlüssel in die Tasche, er blickt nicht auf, sondern antwortet in demselben halben Tone: »Nein, kommen Sie nur morgen früh rechtzeitig wieder.«
»Ich küss' die Hand,« sagte das Weib, »ich wünsch' recht« – vergnügte Feiertage, lag ihr wohl schon auf der Zunge, aber es schien sie zu gereuen, und da es schon halb heraus war, so wiederholte sie es und ergänzte es, wie es ihr unverfänglicher schien: »Ich wünsch' recht gute Unterhaltung!«
Der Mann nickte und schritt rasch der Treppe zu. Das alte Weib schüttelte den Kopf, wohl über sich selbst und sah ihm, wie bekümmert, nach. »Daß ich mir's nie ermerken kann! Immer rutscht es mir so heraus.«
Der Mann eilt in das Geschäft, hastig durchschreitet er schmutzige Nebengäßchen, biegt von allen belebten Straßen ab und erreicht auf einem Umwege die Handlung, in der er bedienstet ist, dort setzt er sich an sein Pult, nimmt die Feder zur Hand, rechnet, schreibt, blättert in den Büchern und sieht nicht auf, bis gegen Abend – früher als sonst an irgend einem Tage im Jahre – der Laden geschlossen werden soll, dann legt er seufzend die Feder hin, zieht den warmen Winterrock über, nimmt den Hut vom Haken und tritt hinaus in die Dämmerung.
Wieder nimmt er den Weg durch die Nebengäßchen; aber so menschenleer es dort auch ist, hie und da hüpft doch ein Kind mit munteren Äuglein über den Weg, hastet ein Erwachsener daher, der einen Pack halb versteckt trägt, oder rauscht gar ein Bäumchen vorbei, und die Goldstreifen knistern und die bunten Papierbänder flattern, unser Mann achtet nicht darauf, er drückt sich nur näher an die Mauer, um Platz zu machen.
Vor seiner Wohnung angelangt, zieht er bedächtig den Schlüssel aus der Tasche, öffnet, tritt ein, sperrt hinter sich ab und geht nach dem im Halbdunkel liegenden Zimmer. Helle Streifen von der Straßenbeleuchtung fallen durch die Fenster, liegen über der Wand und zittern an der Decke. In dem dämmernden Raume geht er in kurzen und hastigen Schritten ein paarmal auf und nieder, dann, als versagten ihm die Füße, wirft er sich müde auf den Diwan. Er deckt die Augen mit den Händen und stützt den Kopf darein und seufzt tief auf.
Vor vier Jahren war es gewesen, da leuchtete in seiner Stube ein Baum, ein übermütiger Knirps kutschierte mit einem Wägelchen rasselnd auf und nieder, und auf dem Arme einer kleinen niedlichen Frau guckte ein Kleinstes mit groß, gar groß aufgerissenen Augen in die Lichter, es streckte die Ärmchen danach und zog sie lächelnd wieder zurück.
Und vor drei Jahren, da tollte der Knirps wieder durchs Zimmer, aber die Frau saß neben dem Manne auf dem Diwan und sie drückte seine Hand und sie sah mit feuchten Augen lächelnd nach dem Kleinen. »Unser Einziger! Der ist ja noch da!«
Und wieder ein Jahr, da leuchtete kein Baum in der Stube, da war es düster wie heute; aber in seiner Hand lag eine andere, an seiner Wange lehnte eine andere Wange, er fühlte die Wimpern des nahen Auges seine Schläfe streifen und feucht rann ein Tropfen nieder. »O liebes Weib –«
Und noch ein Jahr – ja, da war es ganz wie heute, – es überkommt ihn, als sollte er sich über das Kissen des Diwans werfen, die Hände vors Gesicht geschlagen ... aber er erhebt sich langsam, tritt an das Fenster, er schiebt die Riegel zurück, er öffnet einen Flügel und lehnt sich hinaus in die stille Nacht.
Draußen liegt die Straße. Langsam wie durch einen zündenden Funken, der die Häuserzeile entlang läuft, glimmen die Fenster an, da, dort, nah, näher wird es Licht. Nicht alle Leute sind so neidisch gegen die Nacht und die andern Menschen außen, daß sie ihre Fenster mit Tüchern verhängen, nein, manche lassen die Lichter hell und ungedämpft hinausleuchten auf die Straße.
Und der Mann am Fenster blickt hinein in das Leben und Treiben der nahen Stuben – lange, lange; dann zieht er leise das Fenster an sich, und bevor er es schließt, nickt er hinaus und sagt still und wehmütig: »Fröhliche Weihnacht!«
Fröhliche Weihnacht!
Das Fenster drückt sich in den Rahmen, er wendet sich zurück. Was ist das? Will es nicht in seiner eigenen Stube aufleuchten? Es ist ihm, als laste ihm etwas gar leicht auf seinem rechten Arme, als wäre etwas rasch herangekommen und schmiege sich an sein linkes Knie.
Nichts! Im Auge wirken ja grelle Lichteindrücke für eine kurze Weile noch im Dunkeln nach, und als er aus dem Fenster sah, da hatte er auf dem rechten Arme gelegen und das linke Knie gegen das Sims gestemmt. Es erklärt sich das so natürlich, aber er senkte doch sachte den Arm herab, er rückte leise den Fuß vor, wie um nichts fallen zu lassen oder umzustoßen, – was es auch sei.
Dann verläßt er eilig die Wohnung. Jetzt war es auf den Straßen wie ausgestorben, er durchschreitet sie hastig; wo er in einem öffentlichen Lokale eine Zechgesellschaft lärmen hört, da tritt er ein, setzt sich in eine Ecke und sieht stille dem Treiben zu, er fühlt eine Art Behagen, wie unter seinesgleichen. Vereinsamte, Ausgeschlossene und Ausgestoßene. Je lärmender die Gesellschaft, je besser; die hatten nie, was er besaß und selbst verloren nicht in der Erinnerung missen möchte, oder sie hatten's verspielt, sie waren elender wie er, dem die heilige Nacht noch heiligen Schmerz weckte.
Kalt und nüchtern, bleigrau liegt der Morgen über der Stadt, wenn der Mann heimkehrt. Es ist vorbei, wieder auf ein Jahr vorbei, was ihn im dämmernden Zimmer überkommt, als sollte er sich über das Kissen des Diwans werfen, die Hände vors Gesicht geschlagen – was ihn hinaustreibt in die Nacht, gleich Vereinsamten nachzuspüren, nachdem er vorher den Glücklichen still und wehmütig zugerufen: