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2. Die bildende Kunst

»Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst« sagt ein tiefes Dichterwort. Es handelt von der tragischen Kunst, die den Ernst des Lebens in das Reich der Phantasie emporhebt, und indem sie die Wirklichkeit in ein »heiteres« Spiel verwandelt, selbst über Tod und Vernichtung triumphiert. Das Ohr des Durchschnittsmenschen jedoch hört aus dem Worte Schillers nur den Gegensatz von Kunst und Leben in dem Sinne heraus, als ob die Kunst einzig dazu da sei, über den Ernst des Lebens hinwegzutäuschen. Es gehört für ihn nun einmal zum guten Ton, sein Heim mit marktgängiger Kunstware zu schmücken und nach des Tages Last und Hitze Erholung im Schauspiel oder in der Oper zu suchen, ein inneres Verhältnis zur Kunst hat er nicht. Selbst feineren Naturen ist die Kunst mitunter nur Dekoration, nicht eigentlich Herzenssache; wie sie ihr Heim schmückt, soll sie auch ihre Seele schmücken, sie im Reiche des Geistes gewissermaßen salonfähig machen. Auch diesen wird nie der wahre Wert der Kunst für das Leben aufgehen, Kunst und Leben werden auch ihnen zwei verschiedene Posten bleiben, die getrennt zu buchen sind. Und dennoch stehen beide in innigster Beziehung, ja Wechselwirkung: nur wenn wir erkennen, daß die Kunst der feinste Auszug des Lebens ist und rückwirkend dieses selbst gestaltet, verfeinert und erhöht, können wir ihrer beseligenden Kraft in unserem eigenen Leben inne werden.

Dazu bedarf es vor allem eines tieferen Einblickes in das Wesen der Kunst selbst. Seinem innersten Kerne nach freilich ist dieses ein Geheimnis, eines von den vielen offenbaren Geheimnissen, die uns Menschen umgeben, über die wir aber nicht mehr nachzudenken pflegen, weil sie uns alltäglich geworden sind. Um so mehr müssen wir uns bemühen, ihm näher zu kommen.

Am besten wird das geschehen, wenn wir den Wurzeln der künstlerischen Betätigung bei der werdenden Menschheit und dem werdenden Menschen nachgehen.

Heute im Zeitalter der Entwicklungslehre und der Biologie wäre es vielleicht angebracht, zunächst wenigstens einen Blick zu werfen auf das, was man Kunst in der Natur genannt hat. Da wäre zwar nicht von den oft überraschend kunstvollen Formen jener niederen Lebewesen zu reden, auf die Ernst Häckel die Aufmerksamkeit gelenkt hat, wohl aber etwa von dem Hochzeitskleid, womit die Natur manche Vögel, Fische und Reptilien ausstattet, von den australischen Laubenvögeln, die den Weibchen förmliche Lusthäuschen bauen und mit farbigen Steinen, Muscheln und Federn schmücken, von den Hochzeitstänzen der Männchen und dergleichen mehr. Doch so sehr sich darin gewisse Elemente erhöhten Lebensgefühls, des Wohlgefallens am Schönen, ja von Kunstsinn zeigen, so halten wir uns doch lieber an das Wort Goethes: »Wir wissen von keiner Welt, als in bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezuges ist«, oder an das Schillers: »Die Kunst, o Mensch, hast du allein!«

Und allerdings, vom Menschenwesen scheint, fast soweit wir es zurückverfolgen können, die Kunstbetätigung unzertrennlich zu sein. Zwar kann man zweifeln, ob der Schmucktrieb, der für die Menschen der älteren Steinzeit durch Funde von Ketten aus Tierzähnen, Muscheln und eigens aus Bein oder Stein gefertigten Zierstücken bezeugt ist, bereits in das Reich der Kunst gehört: die Schmückung und Bemalung des Körpers, denn auch diese ist durch Funde roter Farbe bezeugt, hatte für den Urmenschen zunächst wohl nur den Zweck, sich dem anderen Geschlechte begehrenswert oder auch dem Feinde furchtbar zu machen. Hand in Hand aber damit muß fast unmittelbar eine Steigerung und Erhöhung des eigenen Lebensgefühls gegangen sein, wie sie durchaus zu den psychologischen Voraussetzungen und Begleiterscheinungen der ausgebildeten Kunst gehört. Den Stempel echter Kunst aber tragen bereits die überraschenden Funde von Horn- und Steinzeichnungen aus der gleichen Periode, die ganz überwiegend Tiere darstellen, ja plastische Tiergestalten, wohl Dolchgriffe, aus dem gleichen Material. Da sehen wir das urweltliche Mammut, Renntiere, Wildpferde ruhig stehend, weidend oder laufend, mit Hilfe der Feuersteinspitze in Renntierhorn und -knochen oder in Stein mit sicherer Hand so lebenswahr eingegraben, wie sie in so früher Zeit nur der scharfe Blick eines Jäger- und Hirtenvolkes erfassen konnte: hier haben wir die unmittelbare Freude an dem Abbild der Natur, jenes »uninteressierte Wohlgefallen«, das nach Kant durch das Kunstschöne erregt wird. Motive aus der Pflanzenwelt fehlen dagegen ganz. Daneben tauchen schon in der älteren Steinzeit an Waffen und Geräten lineare Ziermuster auf, die sich in der jüngeren auf Tongefäßen zum eigentlichen geometrischen Ornament steigern; das hochentwickelte Kunstgewerbe der Bronzezeit endlich schwelgt in geometrischen Mustern, deren wichtigster Bestandteil die der Bronzetechnik so verwandte Spirale ist. So treten schon in diesen Urperioden der Menschheit, wer weiß durch welche Zeiträume getrennt und von welchen Kulturperioden getragen, zwei ganz verschiedene künstlerische Auffassungen hervor, eine realistische, naturnahe, und eine abstrakte, die ihr Schmuckgefühl auf rein geometrischem Wege befriedigt; wie bei jenen an ein Jäger- und Hirtenvolk, so möchte man bei diesen an eine vorwiegend bäuerliche Wirtschaftsform denken. Wurde ja auch die naturalistische sog. mykenische Kunst durch die geometrische der bäuerlichen dorischen Stämme über den Haufen geworfen.

Und mit diesen Momenten vorzeitlicher Kunstbetätigung stimmen Tatsachen aus dem Leben der heutigen Jäger- und Hirtenvölker überein, die Völkerkunde tritt in Parallele zur Urgeschichte. Der Bemalung des Urmenschen entspricht bei den Wilden die Tätowierung, die als atavistisches Merkmal auch heute noch in gewissen niederen Berufsklassen der Kulturvölker sich findet; kunstpsychologisch wird sie ebenso wie jene zu deuten sein. In Buschmannzeichnungen erscheint neben der Tierwelt auch der Mensch; sie beweisen aufs schlagendste, wie scharf der Blick dieses geschicktesten aller Jägervölker selbst auf stürmischste Bewegung von Mensch und Tier eingestellt ist. Die Knochen- und Hornschnitzerei der Eskimos scheint unmittelbar an die Bildschnitzerei der paläolithischen Epoche anzuschließen, während die australische Schmuckkunst sich in geometrischen Ziermustern ergeht. Also auch hier wie in der Urzeit der Gegensatz naturalistischer und geometrischer Kunst.

Aber außer der Kunstbetätigung dieser zeitlich oder räumlich entfernten primitiven Völker haben wir noch ein drittes inmitten unsrer Kultur gelegenes und täglich verfügbares Feld der Beobachtung für die Kunstregung des primitiven Menschen, das Kind. Sein Spiel trägt alle Merkmale des Künstlertums in typischer Form in sich. »Der Mensch wird als Künstler geboren,« sagt Albert Dresdner, »es gibt keinen vollkommneren Künstler als das Kind. Das Kind ist durch und durch schöpferisch; seine Sprache, seine Gebärden, seine Spiele zeugen von seiner Originalität, seiner Phantasie, seiner nie ermüdenden Gestaltungskraft. Kein Spiel, keine Beschäftigung gewährt ihm vollkommene Freude, wenn es sich dabei nicht selbst schaffend betätigen kann. Es nimmt die Welt als den Stoff, aus dem es sich eine neue Welt, seine eigne kleine, große, wunderliche, reizende, durch und durch belebte Welt bildet. Seine Phantasie, noch nicht durch die Erfahrungen von Jahrzehnten eingedämmt und gezügelt, belehrt und geläutert, entdeckt eine Fülle von Gestaltungs- und Schönheitsmöglichkeiten, die dem Erwachsenen verschlossen sind, und setzt sie in beglückende Wirklichkeiten um.« Die Formen dieser kindlichen Schöpfungen sind durchaus primitiv, so daß z. B. Kinderzeichnungen denen primitiver Völker oft zum Verwechseln ähnlich sind. So erobert sich das Kind auf nicht verstandesmäßigem Wege, im Spiel sie nachschaffend, die Außenwelt, es formt sich aus Bildern der Außenwelt mit Hilfe der Einbildungskraft eine innere Welt, die es endlich wieder in eine, allerdings nur ihm gehörige und verständliche Außenwelt umsetzt.

Das Entscheidende, das eigentlich Künstlerische hierbei – und das ist bedeutsam für die Erkenntnis des Wesens der Kunst – ist also nicht der Nachahmungstrieb, sondern die schöpferische Gestaltungskraft der Phantasie. Auch dem Affen eigen, führt der Nachahmungstrieb bei diesem zur geistlosen Karikatur, eben weil das fehlt, was ihn beim Kinde zu einer so mächtigen Triebfeder zur Eroberung des Weltbildes macht, die schöpferische Phantasie. Der Affe ahmt sklavisch, das Kind frei schöpferisch nach, indem es die charakteristischen Züge des Vorbildes unterstreicht und im gleichen Stile Neues hinzuerfindet; dort wirkt die Nachahmung niedrig-komisch, ist »Nachäffung«, während beim Spiel des Kindes der Erwachsene stets etwas von der Wahrheit des Dichterwortes empfinden wird, daß im kindischen Spiele oft ein tiefer Sinn liegt.

So wäre also die Umgestaltung des Weltbildes durch die schöpferische Phantasie Kind und Künstler gemeinsam. Auch der Künstler ist sich dessen wohl bewußt, daß in seinem Schaffen etwas von kindlichem Spieltrieb steckt. So scherzt mit feinem Humor Altmeister Hans Thoma, daß die Kunst doch eigentlich nur ein frohes geistiges Spiel sei, welches der Künstler zumeist für sich selber, zu seiner eignen Befriedigung ausführe. Was nun aber doch den Künstler vom Kinde scheidet, ist zunächst dies: das Kind spielt, wie es Thoma ja auch löblicherweise vom echten Künstler annimmt, zunächst nur zu seiner eignen Befriedigung, ohne Rücksicht auf die Außenstehenden. Damit dürfte sich aber der Künstler auf die Dauer nicht zufrieden geben, er will in die Welt, ins Leben wirken. Zweitens ist dem Kinde der Kampf mit der Form, dem »Spielstoff«, erspart, solange nicht die Selbstkritik erwacht oder das Zusammenspiel mit andern eine größere Annäherung an die Wirklichkeit und eine gewisse Planmäßigkeit erfordert. Aber gerade dieser Kampf mit dem Stoff um die Form, in welcher das Bild seiner Phantasie Gestalt gewinnen soll, gerade das Ringen um die Verwirklichung seiner Idee, damit sie auf andere wirke und neues Leben schaffe, ist es, was das Wesen des Künstlers ausmacht, was Kind und Künstler unterscheidet. So wird aus dem heitern Spiel schwerer Ernst, mit der Größe der Aufgabe wachsen die äußern Hemmnisse und innern Hemmungen, sie erfordert eine Weite und Tiefe des Blicks, eine Stärke des Willens, eine Anspannung aller Kräfte, gegen die das Spiel des Kindes Kinderspiel ist.

Und eben das erklärt es, warum nicht aus jedem Kind ein Künstler wird. Drängt sich doch hier zunächst die Frage auf, warum denn die schöpferischen Kräfte, die im kindlichen Spiele lebendig sind, statt sie unter dem Druck der Außenwelt verkümmern zu lassen, nicht planmäßig gestärkt und fortgebildet werden können, um so wieder etwas längst Verlorenes, ein neues künstlerisches Zeitalter, heraufzuführen. Die Erfahrung lehrt zweifellos, daß früh hervortretende Genialität durchhält und, wenn von starkem Lebenswillen getragen, selbst über die größten Hindernisse triumphiert. Für die weitaus meisten von uns jedoch gilt die Klage, daß wir »von Natur als Gestalter, Schöpfer, Künstler geschaffen, ins Leben tretend unsre Phantasie gelähmt, unsre Schöpferkraft verkümmert finden«, und man meint voreilig, dann müsse »es wohl in erster Linie die Erziehung, die Schule sein, die uns um diese göttlichen Gaben betrügt, statt sie zu läutern, zu organisieren und zur höchsten Leistungsfähigkeit zu entwickeln«. Zweifellos kann pedantische Schulfuchserei, wenn nicht schon die häusliche Umgebung, manchen zarten Trieb im Keime ersticken, und es fehlt nicht an Vorschlägen und Versuchen, jene künstlerische Ader geradezu als die eigentlich treibende Kraft in den Dienst der Erziehung und des Unterrichts zu stellen. Aber es ist doch wohl eine freundliche Täuschung, von einer solchen Pflege der Phantasie so Großes zu erwarten. Ihre Aufsaugung durch die harte Welt der Tatsachen ist eine notwendige psychologische Entwicklungserscheinung. Vollzieht im Spiel das Kind nach dem Willen der Natur die Eroberung der Außenwelt, so tritt, je älter der Mensch wird und je fortgeschrittener die Kultur ist, in der er aufwächst, mehr und mehr die verstandesmäßige Erfassung an die Stelle der phantasiemäßigen.

Nur einmal noch kehrt jener Paradieseszustand der Kindheit, wenn auch in andrer Form, wieder, in dem Lebensalter nämlich, wo der Knabe zum Jüngling, das Mädchen zur Jungfrau heranreift, und bringt zugleich eine Steigerung und Erweiterung der künstlerischen Fähigkeiten mit sich. Staunend erlebt der junge Mensch eine oft berauschende Erhöhung aller Lebensgefühle, deren physiologische Quelle ihm meist verschleiert ist. Aber mit dem Erwachen der elementaren Sinnlichkeit, des Triebes, reifen zugleich jene feineren Sinnesempfindungen, die wir ästhetische nennen, und damit erst ist die eigentliche Vorbedingung für Kunstschaffen und Kunstgenuß gegeben. Erst mit dem Eintritt in jenes Alter, welches den Menschen zum Vollmenschen macht, weil es ihn physisch und moralisch in den Vollbesitz seiner Kräfte setzt, entscheidet es sich darum auch, ob die Begabung stark genug ist, um ein Künstlertum von Gottes Gnaden zu zeitigen, oder ob auch dieser zweite Blütentraum wie eine richtige beauté du diable bald dahinwelkt. Jedenfalls aber darf dabei nicht übersehen werden, daß die Empfänglichkeit für ästhetische Eindrücke allein noch nicht das Gottesgnadentum des schaffenden Künstlers gewährleistet. Zu dem rezeptiven Vermögen muß, wie W. v. Oettingen hervorhebt, das jenem gewissermaßen entgegengesetzte produktive hinzukommen. Zeigt die Empfänglichkeit für Kunsteindrücke in der dankbaren Hingabe und in dem liebevollen Versenken in ihren Gegenstand gewissermaßen weiblichen Charakter, so kommen beim Kunstschaffen lauter männliche Züge in Frage, starker Wille, Wagemut, energische Arbeit, die Behauptung der Persönlichkeit. Nur wenn bei gewissenhafter Prüfung ohne Selbstüberschätzung und Selbsttäuschung – und gerade diese liegen der Eigenliebe hier sehr nahe – die männlichen Züge überwiegen, winkt dem Jüngling von fern der Lorbeer – oder auch die Dornenkrone echten Künstlertums.

Treten wir nun nach diesem Überblick über das Werden der Kunst in der Menschheit und im Menschen der Frage nach dem Wesen der Kunst näher, so sind wir zunächst gegen das Mißverständnis der alten Theorie des Aristoteles gefeit, daß die Kunst auf der Nachahmung beruhe. Wenn diese Theorie in unserm naturwissenschaftlichen Zeitalter zu der Behauptung geführt hat, die bildende Kunst habe die Nachahmung der Natur zur einzigen Aufgabe, so wissen wir jedenfalls, daß dabei nicht von einer mechanischen Wiedergabe der Natur die Rede sein kann – denn dann wäre die Photographie, insbesondere die Farbenphotographie oder gar der farbige Kinofilm, der Gipsabguß und das Wachsfigurenkabinett das Ideal. Und doch wie seelenlos, ja wie kalt und abschreckend das alles im Vergleich zum echten Kunstwerk! Und zwar gerade deshalb, weil es der Natur zum Verwechseln ähnlich sieht, weil es nicht die Distanz hält, welche die Kunst von der Natur halten muß, um Kunst zu sein und nicht Kunststück. Die Malerei rückt durch den Bildrahmen, die Plastik durch den Sockel deutlich von der Natur ab; beide zerstören die Täuschung, die sie schaffen, aufrichtig selbst. »Malerei ist das, was man nicht photographieren, Plastik das, was man nicht abformen kann«, sagt Stauffer-Bern. Gerade diese Herauslösung des Darzustellenden aus der Welt der Wirklichkeit und das Hineinstellen in die aller Wirklichkeit absolut fremde Sphäre der reinen ästhetischen Betrachtung bezeichnet Lips als das Wesen der künstlerischen Darstellung. Wohl gibt es künstlerische Photographien, aber was daran künstlerisch ist, gehört dem Menschen an, nicht der seelenlosen Linse; nur durch das Medium Mensch wird die Natur zur Kunst.

Und ebenso wissen wir, daß es nicht minder falsch ist, wenn andere Neuere der Kunst eine Stoffbeschränkung auferlegen wollen, indem sie das Recht der schöpferischen Phantasie leugnen: »Die bildende Kunst hat es mit der Darstellung der Wirklichkeit zu tun«, »der Künstler hat weder das Recht noch die Möglichkeit, etwas darzustellen, was er nicht gesehen und mit eigenen Augen studiert hat«. Die bockfüßigen Satyrn, die pferdeleibigen Kentauren und fischschwänzigen Najaden, alle jene Geschöpfe der antiken Phantasie hat Böcklins Kunst wieder aufleben lassen; sollen wir sie als Unkunst verwerfen, weil kein menschliches Auge sie jemals geschaut hat? Oder wollen wir etwa Adolf Menzel, durch den der große König für uns Fleisch und Blut gewonnen hat, ablehnen, weil er ihn nicht selbst sehen und studieren konnte? Nein, wir können, so sicher Böcklin und Menzel echte Künstler waren, die bildende Kunst nicht auf die Nachahmung des sichtbar Gegenwärtigen beschränken. Wir wollen das Recht der Phantasie am allerwenigsten unsrer deutschen Kunst verkümmern lassen, die von jeher gerade darin ihre Stärke fand. Es sei nur erinnert an Albrecht Dürers Apokalypse, an des jüngern Holbein und Alfred Rethels Totentanz, an Peter Cornelius' Freskenmalerei und Max Klingers gedankenreiche Griffelkunst. Das ganze Reich der Natur und des Menschenlebens, der Religion und Geschichte, der Phantasie und Phantastik stehe dem Künstler offen, sofern es für seine Kunst darstellbar ist; in geheimnisvoller Wechselwirkung seines rezeptiven und produktiven Vermögens wird er sich von dem am stärksten angezogen fühlen, was seiner Gestaltungskraft am angemessensten ist, und wenn er dabei in der Regel von der Nachahmung der Natur ausgeht, so ist ihm dies Anfang, nicht Ziel und Ende.

Denn die Natur ist nur der eine Pol der Kunst, der andre aber ist die Seele, der Geist, die Persönlichkeit des Künstlers oder wie man dies psychologische Moment benennen mag. Kein Wunder, daß den Verfechtern der Naturnachahmung gegenüber von jeher gerade dies Moment als das eigentlich maßgebende betont wird: »Die bildende Kunst hat die Aufgabe, den Abdruck des Zustandes einer Seele darzustellen« (Schinkel), »die Bedingungen zum Kunstwerk liegen einzig im Künstlergeiste, nicht in der Natur« (Bayersdörffer), »Kunst ist die Fähigkeit Menschen, seinen Gefühlen, Stimmungen und Gedanken aus schöpferischem Geiste heraus sinnfällige und ästhetisch wirkende Formen zu verleihen« (W. v. Oettingen). Andere wieder suchen zwischen den beiden Extremen zu vermitteln: »Jedes Kunstwerk muß von den Sinnen ausgehen, um bei der Idee anzukommen, gerade wie ein Baum seinen Gipfel im freien Himmel hat, während seine Wurzeln in der festen Erde stecken«, sagt Jules Dupré. Stauffer dagegen nähert sich in scharfer Formulierung mehr der andern Seite. »Das Kunstwerk ist die kristallisierte, individuelle Erkenntnis der sichtbaren Natur.« Auch Rodin redet keineswegs der simpeln Naturnachahmung das Wort: er, dem alles auf das künstlerische Sehen ankommt, gibt zu, daß das Auge des Künstlers in engster Verbindung mit seinem Herzen stehen muß, daß er, wenn er das Universum nach seiner Vorstellung schildert, den eignen Träumen Gestalt gibt und mit der Wiedergabe der Natur seine eigne Seele verherrlicht. Hält ein so feiner Kritiker wie Friedrich Naumann an der Forderung der Nachahmung fest, so ist er doch weit entfernt, das psychologische Moment auszuschalten, nur daß auch bei ihm die Natur die Dominante, die Menschenseele den Unterton bildet: »Das ist eben des Künstlers Werk, daß er die einfache seelische Macht, die in den Dingen ist, herausempfindet und wiedergibt. Der wirkliche Künstler denkt nicht an sich, sondern an die Innerlichkeit dessen, was er darstellt, und indem er sich verliert, wird sein größeres Ich aus den Dingen herausgeboren. Die bloße Korrektheit macht weder in der Religion noch in der Kunst selig; es muß ›Glaube‹ dabei sein, Innerlichkeit, Mitfreude, Hoffnung und Angst.«

Diese leicht zu vermehrende Reihe sich bestätigender, widersprechender und mannigfach sich durchkreuzender Aussprüche beweist wohl zur Genüge, daß eine einheitliche Kunstauffassung weder vorhanden, noch überhaupt möglich ist. Wie die Kunst ein höchst Persönliches ist, das wie alles Persönliche sich nur auf dem Boden völliger Freiheit entfalten kann, so muß es auch jedem einzelnen vollkommen freistehen, sich seiner Eigenart entsprechend zwischen jenen beiden Polen seinen Standpunkt zu wählen. Am entscheidendsten wird Charakter, Begabung und Temperament dem schaffenden Künstler seinen Platz anweisen, und auch dem Kunstfreund kann es nicht verwehrt sein, sich derjenigen Richtung mit Entschiedenheit anzuschließen und sich mit ihr eins zu fühlen, die sein ästhetisches Bedürfnis am meisten befriedigt. Verlangt man von dem Kunsthistoriker mit Recht eine unbefangene Würdigung der verschiedenen Kunstrichtungen in ihrer historischen Bedingtheit und relativen Berechtigung, so wird man sie auch dem Kunstfreund in seinem eigenen Interesse empfehlen dürfen – er verengt sich sonst ohne Not den Gesichtskreis, beschneidet sich die Freude an der unendlichen Fülle des Kunstschaffens aller Zeiten und Völker.

Und so werden wir alle die verschiedenen Kunstrichtungen, die sich als Idealismus, Realismus, Naturalismus usw. befehden, als berechtigt anerkennen können, sofern sie sich zwischen jenen beiden Polen einordnen lassen. Am einfachsten liegt der Fall beim Idealismus. Je idealistischer eine Kunst ist, d. h. je mehr sie von der Idee ausgeht, um so mehr wird sie sich dem »Seelenpol« nähern, wenn sie auch ihre Formen irgendwie aus der Natur schöpfen muß. Schwierigkeit bereitet dagegen die Unterscheidung von Realismus und Naturalismus, Begriffen, die sich eng berühren und vielfach unterschiedslos angewandt werden. Beide erstreben Lebenswahrheit. »Aber auch die Lebenswahrheit«, sagt Robert Saitschick, »besteht aus Körper und Seele, und wo es an Seele fehlt, dort kann auch das Körperliche nicht richtig zum Ausdruck kommen, denn es wird ohne inneren Zusammenhang mit der geistigen Welt dastehen.« Diese Kunst ohne Seele, die nur an der Oberfläche haftet, der es einerlei ist, ob sie einen Kohlkopf oder ein Menschengesicht malt, würden wir Naturalismus nennen, jene andre, die in der Wiedergabe der Wirklichkeit die in ihr enthaltenen seelischen Werte mitklingen läßt, Realismus. Wenn Courbet, zu der ersten Pariser Weltausstellung von l855 nicht zugelassen, seine Werke gegenüber dem Eingang derselben in einer Bretterbude mit der Aufschrift »Der Realismus« ausstellte, so wollte er damit dem schemenhaften Idealismus der damaligen akademischen Malerei den Fehdehandschuh hinwerfen; heute würden wir viele seiner Werke eher als naturalistisch empfinden. Sein Evangelium war das, was ist, was sinnlich wahrnehmbar existiert, »die wahre Wahrheit«; darüber hinaus kannte er schlechterdings nichts. So würde also der Naturalismus Courbets auf der Linie Seele-Natur schon über den Punkt hinausliegen, der von den letzten Ausstrahlungen der Seele getroffen wird. Dennoch werden wir vom historischen Standpunkt aus selbst ihm eine relative Berechtigung zugestehen, weil er eine Reaktion bedeutet gegen den abstrakten akademischen Idealismus, der jeden Zusammenhang mit dem wirklichen Leben verloren hatte. Und jede Reaktion schießt in der Regel über das Ziel hinaus. Fortan rückte der Naturalismus, dessen Fahne in der Literatur Emile Zola weithin sichtbar vorantrug, siegreich vor und erzeugte mit dem gleichfalls im Gegensatz zu akademischen Gepflogenheiten erwachsenen Pleinairismus eine neue Richtung, den Impressionismus, der heute bereits von extremeren Richtungen überholt ist. Insofern der Impressionismus darauf ausging, der Natur ganz neue Geheimnisse von Licht, Luft und Bewegung abzulauschen, haben er und verwandte Richtungen wie der Pointillismus ohne Zweifel die malerischen Mittel in ungeahnter Weise vermehrt. Aber indem sie in ihrer Entdeckerfreude vielfach Mittel und Zweck verwechselten, haben sie – ehrenvolle Ausnahmen abgerechnet – der Malerei die Seele ganz ausgetrieben. Und nun geschah etwas höchst Merkwürdiges. Man weiß, wie in der Mathematik gewisse Funktionswerte in der Unendlichkeit verschwinden, um mit umgekehrten Vorzeichen aus ihr wieder zurückzukehren. So ist in der neuesten Kunst der Impressionismus in den sog. Expressionismus umgeschlagen: es handelt sich bei ihm nicht mehr um Gestaltung eines äußeren Sinnen eindrucks, sondern um die eines inneren Erlebnisses, das in primitivem Stammeln nach Ausdruck ringt, und zwar durch Mittel, die jeder Naturnachahmung absichtlich aus dem Wege gehen: so weit der Impressionismus sich von der Seele entfernte, so weit entfernt sich der Expressionismus von der Natur. Ihre Berechtigung schöpfen alle diese Richtungen aus dem Schlagwort l'art pour l'art, die Kunst sei nur für die Kunst da, sie habe keinerlei Verpflichtung, irgendwelche Rücksichten zu nehmen, weder auf das Verständnis des Publikums noch auf sonst irgend etwas zwischen Himmel und Erde, sondern habe nur sich selbst auszuleben. Mag man diese aus Frankreich importierten Richtungen, den Expressionismus, Futurismus, Kubismus und wie sie alle heißen mögen und noch heißen werden, deren Produktionen die modernen Kunstsalons zu einem wahren »Pandämonium« malerischer Ungeheuerlichkeiten machen, als berechtigt ansehen oder als eine interessante Verirrung, Tatsache ist, daß sie mit dem Leben der Nation auch nicht die allergeringste Berührung haben. Besinnen wir uns solcher Unkunst gegenüber vielmehr auf Wesen und Wert der wahren Kunst, würdigen wir sie nicht bloß als einen Faktor, sondern auch als den höchsten Ausdruck der Kultur, damit sie wieder das werde, was sie vergangenen Kulturepochen gewesen ist, eine Führerin zu erhöhtem Menschentum.

Hatten wir die Kunst zunächst als reinste persönliche Angelegenheit des Kunstschaffenden und Kunstgenießenden betrachtet, so ist dieses Persönliche, zumal beim Kunstschöpfer, doch nicht dem Zufall anheimgegeben, von Zeit, Ort, sozialer Herkunft, Volkstum und Kulturepoche losgelöst; im Gegenteil, so unerklärlich im Grunde das Auftreten des Genies ist, so ist doch sein Zusammenhang mit all diesen Faktoren so offensichtlich, daß man das Genie geradezu als den zusammenfassenden Ausdruck, ja als die Blüte dieser historisch gegebenen Bedingungen ansprechen kann. So gewinnt das Genie eine über seinen Träger weit hinausgehende, ja zuweilen welthistorische Bedeutung. Ehe wir hierfür an die größten Namen der Kunstgeschichte erinnern, mögen zwei uns zeitlich näher liegende Namen, förmliche Schulbeispiele, die Wahrheit dieser Auffassung bezeugen, zwei Väter des Modernen Realismus, Jean François Millet und Constantin Meunier. Millet stammte aus einer normannischen Bauernfamilie und hatte in seiner Jugend die schwere Arbeit ums tägliche Brot mit den Seinen geteilt, Meunier aus ärmlichen Verhältnissen eines Brüsseler Industrievororts. Dies soziale Milieu blieb für die Kunst beider entscheidend, als nach mancherlei Hemmungen und Irrwegen der eigentliche Kern ihrer Persönlichkeit, wenn auch erst spät, zum Durchbruch kam: Millet schuf den Typus des ältesten Kulturarbeiters, des Bauern, Meunier den des modernen Industriearbeiters, der eine malerisch, der andre, für den die Malerei nur ein Durchgangspunkt war, plastisch. Aber was bei Millet das Neue, bis dahin Unerhörte war, daß er den Bauern, bisher für die Kunst nur ein Gegenstand des Spottes, ernst nahm, ihn bei seinem Schaffen aufsuchte und ihn zu monumentaler Größe erhob, es war doch nur möglich, nachdem die Französische Revolution den vierten Stand, den Bauernstand, emanzipiert hatte, so daß nun aus ihm selbst der künstlerische Erlöser hervorgehen konnte. Auch Meuniers monumentaler Arbeitertypus ist durchaus zeitlich bedingt; er wäre undenkbar ohne den gewaltigen Aufschwung der modernen Industrie, der den fünften Stand zu einer sozialen Macht ersten Ranges erhob. Doch auch durch die Stammeseigentümlichkeiten erscheint beider Genie bedingt. Schweres normannisches Blut spricht sich in Millets Malerei aus; nur dieses feite ihn innerlich gegen die Frivolität der gleichzeitigen französischen Kunst, der er nur vorübergehend künstlerisch erlag. Meunier stammte aus Belgien, dem damals nächst dem künstlerisch isolieren England größten Industrielande, das den Anregungen der französischen Kunst weit offen stand, auch er wohl von schwererem wallonischem Schlage, der sich langsam, aber sicher durchsetzt, und der Kohlenbezirk des Borinage, wo Zolas Germinal spielt, ward die Wiege seiner Kunst. Hatte Millet tiefes Mitleid mit dem harten Los des Bauernstandes, selbst auf die Gefahr hin, für einen Sozialisten gehalten zu werden, so sprüht aus den Augen des Meunierschen »Lastträgers« der Trotz des genossenschaftlich organisierten fünften Standes, der sich seiner Macht und seiner Ansprüche stolz bewußt ist und nur seiner Stunde wartet. So erscheinen diese beiden Bahnbrecher des Realismus gerade in dem, was ihre Genialität ausmacht, bedingt von dem Milieu ihrer Jugend und den großen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen ihrer Zeit, und darum eben selbst samt ihrem Werk als der typische Ausdruck ihrer besonderen Epoche.

Was wir hier, zeitlich uns noch so nah, fast mit Händen greifen können, findet seine Bestätigung in den großen Künstlern aller Zeiten. Sie alle sind aus ihrer Zeit erwachsen, sie alle stellen in ihren Kunstwerken einen Idealtypus auf, der aus dem, was ihre eigne Zeit bewegte, herausgewachsen, den Geist der Epoche, von den Schlacken der Menschlichkeit gereinigt, ihren Zeitgenossen vor Augen stellt, die in ihm sich wiedererkennen und fortan nach ihm sich zu bilden trachten. Dies ist darum möglich, weil in jedem Zeitalter wahrer Kultur die Kunst nicht abseits vom Leben steht, von ihm losgelöst, sondern sein erhöhter, geläuterter Ausdruck ist. Vielleicht tritt dies nirgends deutlicher hervor, als in der wunderbaren Epoche der Renaissance. Wenn unser Auge auf ihren Meisterwerken ruht, auf Lionardos Mona Lisa (366) Auf Wunsch des Herausgebers ist, so weit tunlich, verwiesen auf die Abbildungen in des Verf. Buch »Sehen und Erkennen«, Eine Anleitung zu vergleichender Kunstbetrachtung, 2. Aufl., 11.-18. Tausend, Leipzig 1913., auf Verrocchios Colleoni (243), auf Botticellis Madonnen (307), denken wir da noch daran, daß alle diese Wunderwerke erwuchsen aus dem Chaos kleinstaatlicher Ränke, aus der macchiavellistischen Gesellschaft, die mit Gift und Dolch, Verrat und Intrige sich ihren Weg bahnte? Gerade die wilde, unbezähmbare Leidenschaft dieser Zeit – darauf hat Hippolyte Taine mit Recht hingewiesen –, da jeder die Stunde bis zur Neige auszukosten sich beeilt, weil er ihrer keinen Augenblick sicher ist, da jeder jeden Augenblick bereit sein muß, sein Leben mit dem Degen zu verteidigen, stählte die Hand, schärfte die Sinne für Form und Bewegung, steigerte und erhöhte das Lebensgefühl und zwang die Menschen, sich trotzig auf sich selbst zu stellen. So wird Donatellos h. Georg und Verrochios Colleoni der ideale Ausdruck dieses leidenschaftlich Auf-sich-selbst-gestellt-seins. Und was ist der rätselhafte Reiz der Mona Lisa, die Süßigkeit der Madonnen Boticellis und Raffaels anders als das Widerspiel und die Ergänzung dieses nach Schönheit dürstenden männlichen Ideals? In Tizians edlen Patriziern und schönen Frauen sah das aristokratische Venedig, in Rubens' kraftstrotzenden Gestalten das lebensfrohe und genußfreudige Flandern das Ideal, das man nun auch im eignen Leben zu verwirklichen trachtete.

Die großen Kunstwerke ziehen aber auch gewissermaßen das Fazit der Geschichte; in dem unablässig sich drängenden Strom der Zeiten sind sie für uns hinfort Mark- und Merksteine der Entwicklung, an denen wir den Wandel der Zeiten abmessen können, auf die wir nur einen Blick zu werfen brauchen, um mit einem Schlage eine ganze Zeitperiode vor uns auftauchen zu sehen. Wir erblicken die Pyramiden, und das Reich der Pharaonen steigt in seiner ganzen Größe und Starrheit vor uns auf, wir stehen vor dem Parthenon, und es kommt die einzig große Epoche des Perikles und Phidias wie eine Offenbarung über uns; der Machtwille Roms steckt noch in den Ruinen seiner kaiserlichen Bauten, wie die Wucht der Germanenherrschaft in Italien in dem einsamen Grabmal Theoderichs draußen vor Ravenna; längst ist die Herrschaft der Mauren aus Spanien weggefegt, und noch zeugt die phantasievolle Alhambra von der Pracht und Herrlichkeit ihres Reichs. Die erhabenen rheinischen Kaiserdome umschwebt noch der Glanz des hohen Mittelalters, wie die stolzen Hallen und Giebel der norddeutschen Rathäuser die Macht der Hanse.

Wie aus ihrer Zeit, so wachsen Künstler, Kunstwerke vor allem aus dem Volkstum heraus, sind dessen Verkörperungen, die es in seiner durch Jahrhunderte bewahrten Eigenart darstellen. So tritt uns sogleich die ägyptische Kunst als der geschlossene Ausdruck eines Volkstums entgegen, dem der Herrscherwille der Pharaonen seinen Stempel aufgedrückt hat. Über der gleichmäßigen Masse des unglaublich werktätigen Volkes thront der Herrscher, der das Leben seiner Untertanen durch eine bis ins kleinste geordnete Verwaltung regelt, und diese Gleichförmigkeit der Masse einerseits, die über ihr thronende dynastische Spitze andrerseits, sie haben sich in der ägyptischen Kunst so packend verkörpert, daß sie noch heute wie für die Ewigkeit berechnet erscheint. Die bunten Bilderchroniken der Wände haben etwas Stereotypes, die Bewegungen erscheinen automatisch, wie ein aufgezogenes Uhrwerk läuft alles ab, eine seelenlose Bilderschrift. Und anderseits die Stand- und Sitzbilder der Pharaonen: auch wo der menschliche Gedanke von ihrer Stirne leuchtet, die Seele ist wie festgebannt in dem Kerker des durch den Kanon zur Starrheit verurteilten Körpers, die sog. Frontalität, die mit Ausnahme von Händen und Füßen keine Abweichung von der geradeausgerichteten Körperhaltung gestattet, ist unverbrüchliches Gesetz, nicht aus Mangel an Können, sondern aus Grundsatz, um der Würde der dargestellten Person nichts zu vergeben. Und nun gegenüber dieser überwältigenden, fast erschreckenden Regelhaftigkeit der Ägypter das kleine Volk der Griechen, in eine große Zahl Stämme zersplittert, durch Meere und Gebirge getrennt, beweglich, phantasievoll, schöpferisch, auf allen Gebieten der Kultur tonangebend, welch ein Gegensatz! Aus diesem Volkstum wurde, nachdem die Blüte der altachäischen sog. mykenischen Kultur, die vielfach nach dem Ausland wies, zerschlagen war, eine Kunst geboren, so mannigfaltig und doch in ihrer Entwicklung so folgerichtig, so fremde Anregung nutzend und doch sie weit hinter sich lassend, so göttlich und doch so seelenvoll menschlich, daß Goethe mit Recht sagen konnte, die Griechen hätten von allen Völkern den Traum des Lebens am schönsten geträumt. Dem spröden römischen Volkstum fehlte nach der ästhetischen Seite hin das eigentlich Schöpferische; es lebte von hellenischem und hellenistischem Gut, das seinem Herrscherwillen die großartigen Formen darbot, die wir noch heute bestaunen, und in dieser Rolle ward es zum segensreichen Vermittler des griechischen Kulturguts an das gesamte Abendland.

Als dann aber die jugendlichen Germanenstämme sich in der Völkerwanderung in die südlichen Länder bis nach Spanien und Afrika ergossen, unterlag ihre junge, vielfach noch primitive Kultur doch nicht so ohne weiteres und unbedingt der alten griechisch-römischen. Es bewährt sich auch hier der Satz, daß die kolonisierenden Stämme dem Mutterland in der Kultur weit voraneilen. Während in Deutschland selbst noch alles schlief, mußten diese jungen staatengründenden Völker, die Ost- und Westgoten, Vandalen, Franken, Langobarden, Angelsachsen auch auf altem römischen Kulturboden nach dem Ausdruck des eignen Volkstums verlangen und es ihren Neuschöpfungen aufprägen. Freilich müssen wir deren Reste in Oberitalien und Spanien, in Frankreich, Deutschland und England mühsam zusammensuchen, aber das Gesamtbild ist doch ein einheitlich germanisches, das der Kultur der südlichen Länder stracks zuwiderläuft. Der Geist dieser Nordlandssöhne erfaßt das Weltbild nicht in äußeren organischen Formen wie die Völker eines glücklicheren Himmels, sondern mehr nach innen gewandt, grüblerisch, mit den auf ihn einstürmenden Problemen phantastisch ringend, und daneben macht sich in seinem Gestalten ein praktischer, man kann sagen handwerklich-bäuerlicher Sinn geltend, der das Notwendige werkgerecht schafft, um es dann mit den Ausgeburten seiner Phantasie zu schmücken. Der Grieche sieht den Gebrauchsgegenstand oder das Schmuckstück von vornherein organisch geformt vor sich, dem Dreifuß gibt er Rehfüße, dem Ruhebett Löwenklauen, die Seitenlehnen des Thrones stützen Sphinxe, den Standspiegel trägt eine aufrechtstehende, von Amoretten umschwebte Liebesgöttin, und eine schier unerschöpfliche Fülle von überraschenden figürlichen Motiven belebt die Bronzelampen. Dagegen die germanische Schmuckkunst! Wir besitzen zahllose nordische Spangen von fast gleicher Form, nur unterschieden durch die Verzierung. Die Form führt ein handwerkliches Dasein für sich, die Verzierung kommt erst nachträglich hinzu. Dies ist im Grunde das Prinzip des in den germanischen Ländern vordem allein herrschenden Holz- und Zimmermannsstils: er gibt jedes Ding handwerklich als das, was es ist, ohne es hinter fremden Formen zu verbergen, und verziert es nur insoweit, als die Ehrlichkeit nicht darunter leidet, vor allem mit Flächenmustern, die, mit dem Meißel leicht eingeritzt und flach ausgehoben, durch farbige Abtönung malerisches Leben gewinnen. Die Übertragung dieser Technik auf Metall ergibt jene kostbare Füll- und Schmelzornamentik der germanischen Kunst. Auch deren Motive sind ursprünglich nicht figürlicher, sondern durchaus abstrakter Art, neben geometrischen Mustern jenes eigentümliche, vielfach durcheinandergeflochtene und in sich zurücklaufende Band- und Riemengeschlinge, das für die nordische Kunst so bezeichnend ist, und wenn darin Köpfe von Vögeln und Vierfüßlern auftauchen, so sind sie nicht natürlichen Vorbildern entlehnt, sondern der ornamentalen Phantasie entsprungen und in willkürliche Formen hineingesehen, ein Nachklang höchstens der figürlichen Verwendung von Tierformen, der wir in der Steinzeit begegneten und die in der Bronzezeit fortlebte. Materialechtheit und -gerechtigkeit, diese von Ruskin in England zuerst aufgestellten und in unserm modernen deutschen Kunstgewerbe verwirklichten Forderungen, sie sind altes Erbgut des Germanentums. Aus der Kreuzung des Holzstils mit dem römischen Steinstil, kann man sagen, erwuchs der deutsche sog. romanische Stil. Das für diesen charakteristische Würfelkapitell erklärt sich technisch am leichtesten aus dem Holzstil, es ist ein abgedrehter Balken von quadratischem Querschnitt. Den Rundpfeiler selbst, bei den viereckigen Pfeilern die Abfasung, Auskantung und das Einsetzen von Ecksäulchen, den Kerbschnitt, allerlei arabeskenartige Fries- und Bandmotive hat der germanische Holzbau dem romanischen Stil zugebracht. So bedeutet der romanische Stil eine erste Vermählung germanischen und antikrömischen Geistes. Wohl ist der hohe Schwung des römischen Vorbildes anfangs durch das Ungewohnte der Steintechnik gedämpft, die Formengebung einfach und gedrückt, aber nur um sich allmählich bis zu den glorreichsten Ausgestaltungen mittelalterlich-deutschen Volkstums, den Kaiserdomen, zu steigern. Aber wenn auch die romanische Vieltürmigkeit schon ein erhabenes Streben andeutet, die Baumassen bleiben doch im ganzen schwer horizontal gelagert, der deutsche Volksgeist ist noch materiell wie ideell durch den Feudalismus gebunden und in einer universalen Weltanschauung befangen, die den einzelnen nur als Glied seines Standes, nicht als Persönlichkeit wertete.

Diese Befangenheit sprengte erst die gotische Periode, die man als den Durchbrach der deutschen Innerlichkeit gegenüber dem Universalismus der romanischen Zeit bezeichnen könnte. Seine stärksten Wurzeln hatte er in den aufblühenden Städten, wo sich in Überwindung des feudalen Wirtschaftssystems die Form der Geldwirtschaft mit einer tief innerlichen, ja zuweilen mystischen Frömmigkeit verband: so sehr man versucht ist, die Stilgesetze der Gotik aus rein technischen Neuerungen abzuleiten, die Einheit der Entwicklung zeigt sich doch gerade darin, daß die Entfesselung der Vertikale, das unendliche Streben und Drängen nach oben, welches den gotischen Stil kennzeichnet, innersten Gemütsbedürfnissen entsprach. Auf nordfranzösischem, ehemals fränkischem Boden entsprungen, hat die Gotik ihren Siegeslauf ausgedehnt, so weit die Sturmflut der germanischen Herrschaft ehedem Europa überschwemmt hatte; nur Italien, wo die steinernen Zeugen der Antike doch eine zu deutliche Sprache redeten, widerstand wenigstens in seinem Kerne, Rom, dem neuen Stil; war doch selbst dessen Name von Haus aus ein Scheltwort im Munde der Italiener. Die Gotik erst bricht völlig mit der Antike, sie entfernt sich zugleich am weitesten von der Natur, der die Antike immer nahe geblieben war, indem sie technisch ein System entwickelt, das an Stelle der Natur die Mathematik von Kraftlinien setzte (65), das die menschliche Figur vergewaltigte, indem sie dieselbe in den vertikalen Trieb ihrer Baumassen mit emporriß (218/9), das innerhalb der rein abstrakten, fast bis ins Unendliche sich wiederholenden Zierformen in den Wasserspeiern auch die alten phantastischen Tierformen, wenn auch mit symbolischer Umdeutung, wieder aufleben ließ. Freilich treten in Plastik und Malerei neben den deutschen Tugenden einer starken Innerlichkeit, der strengen Wahrhaftigkeit, der liebevollen Versenkung ins Einzelne, der unnachsichtlichen Konsequenz auch deren Kehrseiten in die Erscheinung, die Überfüllung mit Einzelheiten, ein dem deutschen Partikularismus verwandter Mangel an Sinn für Einheit und Maß, die Vernachlässigung der formalen Schönheit, der oft bis ins Tendenziöse gesteigerte Gedankeninhalt, sofern auch dies der Schatten einer Tugend ist. So wird die Gotik in allem und jedem das Widerspiel der Antike und des von ihr abgeleiteten römischen Volksgeistes; erst jetzt scheiden sich deutsches und italienisches Wesen wie Öl und Wasser. Und so mannigfach auch die Wurzeln jener wundersamen Erscheinung der italienischen Renaissance sind, welche im Grunde weniger eine Wiedergeburt klassisch-antiker Formen als eine geistige Erneuerung, die Geburt des Individuums bedeutet, man kann sie nach einer Seite hin auch auffassen als die Auflehnung des im italienischen Volkstum steckenden antiken Geistes gegen die Vergewaltigung durch die germanische Gotik. Nicht in dem der Gotik stets feindlichen Rom, sondern in dem völlig gotischen Florenz ist diese Bewegung aufgekommen, um dann, nach Rom verpflanzt und dort zur Vollreife gediehen, in wuchtigem Gegenstoß ihre Wellenkreise mit Ausnahme des britischen Inselreiches über ganz Europa auszudehnen.

So kommt es zu einer zweiten Kreuzung germanischen und antiken Geistes in der sog. deutschen Renaissance. Aber während der sog. romanische Stil in seiner Struktur römisch blieb und nur einzelne germanische Schmuckelemente in sich aufnahm, bleibt jetzt der konstruktive Kern gotisch, und die »antikischen« Formen werden, wenigstens anfangs, ganz naiv an Stelle der gotischen übernommen, ein Mischstil also, der für den Mangel an Einheit durch reiche Phantasie entschädigte (87). Zu einem fast tragischen Konflikt aber führte das Ringen deutschen und italienischen Wesens in der Seele des gotischsten und deutschesten aller Künstler, Albrecht Dürers. Wie eine Offenbarung kam über ihn das in der Renaissance wieder aufgelebte Formgefühl der Antike für den nackten, aus seinen Gliedern und Gelenken heraus verstandenen menschlichen Körper, den die Gotik so schwer mißhandelt hatte. Die ganze Kunst des Meisters seit seiner ersten italienischen Reise ist ein Ringen um die Versöhnung dieser Gegensätze, die sich gerade in seiner gedankentiefen Künstlerseele am schwersten befehden mußten; so gewann er der deutschen Kunst viel von dem, was ihr fehlte, von der Größe, der übersichtlichen Einheit und formalen Schönheit der italienischen, ohne doch die besonderen Vorzüge der deutsch-gotischen aufzugeben. Leichter vollzog sich der Ausgleich in dem weniger tiefen, aber nach Seite der äußeren Form geschmeidigeren jüngeren Holbein sowie in einigen Werken der Dürer nahestehenden Gießerwerkstätte Peter Vischers. Dieser Kampf, der sich in der kritischsten Zeit der deutschen Kunst in ihren größten Meistern abspielte, er blieb ihr Schicksal auf Jahrhunderte hinaus. Durch die beklagenswerten Religionskriege in ihrer Widerstandskraft geschwächt, mußte sie die Nachwehen der großen Renaissancebewegung in immer neuen Wellen über sich ergehen lassen: es kam vom italienischen Süden, durch die siegreiche Gegenreformation getragen, die Tochter der Renaissance, das üppige Barock, vom französischen Westen deren Enkelin, das graziöse, galante Rokoko, und beide, anfangs von Fremden ausgeübt, fanden bald geradezu hervorragend schöpferische einheimische Meister, die alle die geheimnisvollen Kräfte der deutschen Phantasie in die neuen Formen einströmen ließen (112 f.). Wohl hatte man sich bei großen monumentalen Aufgaben wiederholt auf reinere klassische Formen besonnen (109 ff.), aber das Verhängnis ging seinen Weg: das Spiel mit gekünstelten Formen, selbst nur auf eine sich künstlich haltende soziale Oberschicht berechnet und echtem deutschen Wesen im Grunde fremd, war durch den von Winckelmann und Lessing angebahnten Klassizismus schon längst in Frage gestellt, ehe es in der Französischen Revolution endgültig zusammenbrach: von jenen angeregt, spielte sich in Goethes Seele der gleiche Kampf ab, wie einst in Albrecht Dürer, hier Germanentum, dort die romanisierte Antike, hier Götz und Faust, dort Tasso, bis er in der Iphigenie, in Hermann und Dorothea den Ausgleich der Gegensätze fand, deutsches Fühlen in klassischer Form.

In der bildenden Kunst ward die klassische Marmorkälte Bertel Thorwaldsens (152, 304 f.) der weinerlichen Rührseligkeit des Rokoko gegenüber geradezu als Wohltat empfunden: das Germanentum rettete sich aus der Unnatur des Franzosentums zum Griechentum. Auch Goethe faßte die griechische Kunst als eine für die Menschheit ein für allemal und allein gültige auf, und für Wilhelm von Humboldt war das Altertum »eine wahre und die einzig echte Heimat«. Von einer solchen Überspannung des klassizistischen Gedankens abgestoßen, flüchtete sich die unbefriedigte deutsche Innerlichkeit bekanntlich in die Romantik des Mittelalters und brachte in Poesie und Malerei ungeahnte Schätze ans Tageslicht; in Cornelius' Freskostil (348) feierte die deutsche Kunst Triumphe, Schadows und Rauchs gesunder Realismus kehrte in den Standbildern der deutschen Freiheitshelden mehr und mehr zur deutschen Wirklichkeit zurück. Die nach den unerhörten Opfern des Befreiungskampfes im bürgerlichen Leben eintretende allgemeine Ernüchterung, für die man den Namen Biedermeierzeit geprägt hat, begnügte sich künstlerisch mit einfachen, aus dem Empire abgeleiteten Formen, und nur das Porträt fand liebevolle Pflege und anerkannt tüchtige Meister. Die Biedermeierzeit fand durch die Erschütterungen der 48er Revolution ihr Ende. Hier setzt dann mit aller Macht der nie unterbrochene französische Einfluß wieder ein, der von dem bereits geschilderten Naturalismus zum Impressionismus und so weiter führte; Paris, nicht mehr Rom ist von jetzt an das Mekka der deutschen Künstler. Und es ist kein Zweifel: die Hermannsschlacht hat den Germanen Freiheit, Sprache und Eigenart gerettet und sie vor der Romanisierung bewahrt, aber dafür ging ihnen auch der ungeheure Schatz griechisch-römischer Kultur nicht unmittelbar ins Blut über, sie konnten sich ihn im Laufe der Jahrhunderte nur geistig aneignen; die Leichtigkeit, mit der der Italiener und Franzose im Leben und in der Kunst die Form beherrscht, ist ihnen dauernd versagt geblieben. Der Deutsche achtet wenig darauf, wie er sich äußerlich gibt, er vernachlässigt nur zu leicht die äußere Kultur auf Kosten der inneren, er versteht nicht sich selbst plastisch darzustellen, während der Italiener selbst mit einem zerlumpten Mantel sich malerisch als antiker Togaträger zu drapieren weiß. So bleiben diese leichtblütigen Erben antiker Kultur gemeinhin vor jener Tragik bewahrt, die dem Deutschen aus seinem schwereren Blute fließt: eine tiefe Gedankenwelt, die nach Ausdruck ringt, ohne die Leichtigkeit der Formgebung. Bleibt er im Innerlichen stecken, so ist die äußere Form unbefriedigend, wird er dieser Meister, so läuft er Gefahr, das Beste, die Seele, preiszugeben. Indem die deutsche Kunst das sucht, was ihr fehlt, gerät sie leicht in Versuchung, sich an fremdes Volkstum zu verlieren, an die bestechende Glätte und Eleganz der Franzosen, an die italienische Renaissance, und – das Ungefährlichste – an das Griechentum. Am schlimmsten lastet auf der deutschen Malerei die unzweifelhafte technische Überlegenheit der französischen: nicht jedem gelingt es, wie Fritz von Uhde, mit der Hingabe an die fremden Mittel nicht auch seine deutsche Seele zu verlieren. Ein solcher wird dann vielleicht für den Augenblick großen Anhang und klingenden Erfolg finden, dem Herzen des Volkes aber bleibt er fremd, und die Kunstgeschichte wird ihn dereinst zu den Nachbetern und Nachtretern fremder Kunst rechnen, nicht zu den bahnbrechenden Meistern der deutschen. Und anderseits vor der ganzen großartigen Entwicklung, welche die europäische Kunst seit unsern altdeutschen Meistern durchgemacht hat, die Augen zu schließen, an diese wieder anknüpfen, in ihrer Sprache reden zu wollen, geht nicht minder an, ist jedenfalls ein gewagter Versuch, der vielleicht den Kenner befriedigen, beim Volke aber auf kein Verständnis rechnen könnte. Denn aus dem Gegenwartsleben der Nation muß die Kunst erwachsen, wenn sie auf das Leben der Nation wirken will. Und so wird weder in der Altertümelei, noch in der Ent- und Internationalisierung das Heil der deutschen Kunst zu suchen sein, sondern in der innerlichen Verarbeitung und Überwindung des Romanentums, um alsdann mit vollendeter Freiheit aus deutschem Geiste heraus zu schaffen.

Haben wir bisher immer wieder von diesem Gegensatz germanischen und romanischen Volkstums und der aus ihnen erwachsenden Stile gesprochen, so wurde doch dabei zugleich deutlich, daß die Ausbreitung dieser Stile sich keineswegs mit irgendwelchen politischen oder Sprachgrenzen deckt. Der Stil ist der formale Ausdruck einer ganzen Kulturperiode und nicht auf die bildenden Künste und das Kunstgewerbe beschränkt; er erfaßt das gesamte Leben in allen seinen Äußerungen, in Wohnung und Kleidung, Sitte und Umgangsformen, in Poesie, Literatur, Musik, in mündlicher Rede wie in brieflicher Aussprache. Aus einem Kulturzentrum, das in der Regel zugleich ein politisches Machtzentrum ist, herausgeboren, breitet er sich konzentrisch, oft auch sprungweise aus; überall Wurzel schlagend, wo er einen geeigneten Nährboden findet, wirft er altersschwach gewordene Lebensformen über den Haufen und leiht unverbrauchter, aufstrebender Kraft eine Form, in der sie sich auswirken kann. Freilich nicht, ohne von dem neuen Nährboden selbst umgeformt zu werden: die Gotik ist eine andere in England als in Frankreich, in Deutschland als in Spanien, die deutsche Renaissance eine andre, je nachdem sie unmittelbar aus Norditalien oder mittelbar über Holland in Deutschland Eingang gefunden hat.

Aber die Stile haben auch in sich selbst eine Triebkraft, die zur weiteren Entwicklung drängt. Ein Stil kann so wenig stille stehn, wie die Erde auf ihrer Bahn. Es liegt das begründet in dem allgemeinen Gesetz von der Abstumpfung der Sinne gegen häufig wiederholte Reize. Um den Reiz in gleicher Stärke zu empfinden, muß er gesteigert werden: man sehe, mit welch zart, fast dürftig geschwungenen Voluten ein führender Meister der Frührenaissance, Leo Battista Alberti, die Pultdächer der Seitenschiffe von Sta. Maria Novella in Florenz verkleidet (92), wie diese Volute in Gesù in Rom (97) an Kraft und Fülle gewinnt, wie sie dann im sog. Jesuitenstil schwülstig und gequetscht erscheint und endlich im Empire gar ins Geradlinige übersetzt wird. So trägt jede Blüte den Verfall in sich: nicht bloß die Renaissance, auch die Antike und die Gotik hat ihre Barockperiode gehabt, eine Ausartung in spielerische Formlosigkeit: dann aber ist ein Stil jedesmal reif, von einer neu aufstrebenden Formensprache abgelöst zu werden, wie die Spätgotik von der Renaissance, das Rokoko vom Klassizismus.

Aus der Bedeutung des Stils als des formalen Ausdrucks einer Kulturperiode ergibt sich auch, daß es ein Unding ist, historisch gewordene Vergangenheitsstile künstlerisch aufwärmen zu wollen. Noch in aller Erinnerung lebendig ist die Zeit, wo nach Aufrichtung des neuen Deutschen Reiches jene Stiljagd begann, die, bei der deutschen Renaissance einsetzend, uns bis zum Empire durchhetzte. Da man selbst keinen Lebensstil mehr besaß, so meinte man, wie es seinerzeit bereits Schinkel getan hatte, man brauche nur in den Topf der Vergangenheitsstile zu greifen, um das Nötige daraus hervorzuholen. Weil jedoch deren keiner der Ausdruck modernen Lebens war und es auch nicht sein konnte, so probierte man sie der Reihe nach alle durch, um sie enttäuscht wieder wegzuwerfen. Auch der sog. Jugend- und Sezessionsstil ging bald an sich selbst zugrunde; übertrug er doch seine der Graphik und dem Kunstgewerbe entlehnten geschwungenen Liniengebilde nun gar in Stuck auf unsre Häuserfronten: wo die statischen Gesetze des Materials walten sollten, machte sich kraftlose Linienphantastik breit. Bis dann endlich die Anregungen Ruskins auch bei unserm Kunstgewerbe auf fruchtbaren Boden fielen. Er bevorzugte, echt germanisch, die konstruktive Form auf Kosten der dekorativen, drang auf Zweckmäßigkeit, Materialechtheit und -gerechtheit. Von den festen Formen des englischen Einzelwohnhauses ging auch unsre neue Raumkunst aus, die die Innenräume und ihre Einrichtung den Anforderungen des modernen Lebens gemäß zu gestalten sucht, teilweise in Anlehnung an die zwar nüchternen, aber materialgerechten Formen der Biedermeierzeit. Auch im Außenbau, der nun von inneren Notwendigkeiten diktiert wurde, kehrte man wieder zu der schlichten und ehrlichen Bauweise der Biedermeierzeit zurück, knüpfte auch wohl an das Bauernhaus und örtliche Traditionen an, wenn auch der Monumentalbau noch nicht der klassischen Formen, insbesondere des dekorativen Säulen- und Pilasterstils, ganz entraten konnte. Neue Aufgaben, wie das Warenhaus, der Bahnhof, der Brückenbau, fanden neue Lösungen, zum Teil unter Ausbildung eines neuen Eisenstils, der die konstruktiven Notwendigkeiten nicht mehr zu verhüllen strebte, sondern offen zur Schau trug. In der Plastik kam es nicht durch Nachahmung der Antike, sondern durch Belauschung der ihr zugrunde liegenden Formgesetze zu einer Erneuerung aus deutschem Geiste heraus durch Adolf Hildebrand und die Münchner Schule, die sich namentlich der dekorativen Plastik zuwandte, und Hugo Lederers Hamburger Bismarckdenkmal gab der neuen Zeit vollwertigeren Ausdruck als alle Kaiser- und Nationaldenkmäler an den Ufern des Rheins und der Spree. So regt sich überall der Drang, aus der Zeit heraus einen neuen Stil zu schaffen, wenn sich der gärende Most auch manchmal noch absurd geberdet. Und nun sehen wir auch unsern Irrtum ein: der ästhetische Stoffwechsel vollzieht sich nicht so rasch wie der politische und volkswirtschaftliche: die Generation, die das neue Reich geschaffen, mußte untergehen, erst die folgende durfte das gelobte Land des neuen Stils schauen und es zum Teil schon betreten. Die Malerei, das ist schon oben deutlich geworden, liegt einstweilen noch zu sehr in fremden Banden; hier herrscht vorderhand noch das Chaos.

Sehen wir so überall den engen Zusammenhang zwischen Kunst und Leben bestätigt, wie sie Ausdruck dessen ist, was die einzelnen Zeiten und Völker bestimmt und bewegt, so wird dieser Zusammenhang besonders deutlich, wenn wir das Verhältnis der Kunst zu einer der größten Lebensmächte aller Zeiten und Völker, der Religion, betrachten. Sie erscheint als eine der ursprünglichsten und vielleicht als die stärkste Triebfeder künstlerischer Betätigung, ja als die eigentliche Nährmutter der Künste. Dies enge Verhältnis von Kunst und Religion kann nicht allein davon herrühren, daß die Religion der Kunst von jeher die größten und höchsten Aufgaben gestellt hat, es muß in dem Wesen beider tief begründet sein. Indem der Mensch sich von höhern Mächten abhängig fühlt, bei ihnen Hilfe, Rat und Trost sucht, muß er sich diese in irgendeiner Form vorstellen, und so entzünden die stärksten und erhabensten Gemeinschaftsgefühle, die religiösen, die Einbildungskraft, die ja in dem künstlerischen Schöpfungsprozeß eine so entscheidende Rolle spielt. Vorerst freilich bewegte sich diese religiöse Phantasie selbst bei einem so hochbegabten Volke wie den Griechen in den niederen Formen des Fetischismus, der sich die Gottheit in angeblich vom Himmel gefallenen Steinen u. dgl., oder des Theriomorphismus, der sie sich in reißenden Tieren oder Raubvögeln verkörpert dachte und verehrte. So wurden z. B. in Orchomenos selbst noch in späteren Zeiten die Göttinnen der Anmut, die Chariten, in heiligen Steinen verehrt, Zeus in Kreta als Stier, im Peloponnes als Wolf angesehen, und die eulenäugige Athens, die kuhäugige Hera bewahren in diesen homerischen Beiworten noch eine Spur ihrer frühsten Erscheinungsform. Auch die Mischgestalten von Mensch und Tier wie der stierköpfige Minotaurus (auch dies der kretische Zeus), oder die Vervielfältigung der Leiber oder Glieder wie bei dem dreileibigen Geryoneus und dem hundertarmigen Giganten Gyas sind Überbleibsel solcher uralter Vorstellungen. Doch während die ägyptische und indische Kunst an diesen Vorstufen festhielt, überwand der Genius des griechischen Volkes kraft seines Triebes zu freiem Menschentum sie früh und schuf zuerst in der homerischen Poesie, dann Jahrhunderte später in plastischen Gestalten ein von allen Mängeln der Menschlichkeit gereinigtes, erhöhtes Menschentum, den olympischen Götterkreis. Und diese Götter freuten sich der Kraft und Schönheit der Menschen, die Sieger in den Wettkämpfen durften ihnen ihr eignes Bild darbringen: ein neuer, wichtiger Anstoß für die plastische Kunst. Wie aber die Götter selbst nach dem Bilde der Menschen geformt waren, so baute man ihnen ein Haus nach dem Muster des menschlichen Hauses, nur größer, prachtvoller, das wundervolle Gebilde des griechischen Tempels. Und bedarf es weiterer Ausführung, wie dann das Christentum, aus dem bildlosen Judentum hervorgegangen, nun doch zu einem christlichen Olymp erhabener, göttlicher Gestalten kam, die in dem aus der antiken Basilika herausentwickelten Gemeindehaus vom Altar her in mystischem Schimmer auf die Gläubigen herabschauten, wie die Kirche den Analphabeten die biblischen Geschichten und die Heiligenlegenden in Bildern erzählte und damit der Kunst einen wertvollen Typenschatz schenkte, wie das christliche Gotteshaus in steter Umformung dem sich wandelnden Glaubensideal in den romanischen und gotischen Domen hinreißenden Ausdruck verlieh, wie als Gegenstoß gegen die deutsche Reformation die römische Kuppel von St. Peter zusammen mit der Plastik und Malerei des Barock ihren Triumphzug durch die Welt antrat? Wohin wir blicken, stellte die Religion, als der höchsten Idee geweiht, der Kunst die höchsten Aufgaben und erfüllte die Künstler mit einer Hingabe, einem Ernst, einer Innigkeit, einem Schwung der Phantasie, deren sie zu profanen Zwecken nie fähig gewesen wären. So war die religiöse Kunst von fast universeller Bedeutung; langsam löste sich von ihr erst eine profane Kunst ab. Auf die Dauer können die Künstler ihre Augen vor der realen Welt nicht verschließen: der landschaftliche Hintergrund gewinnt größere Bedeutung, der beblümte Rasen des Vordergrundes wird naturgetreu bis ins einzelne wiedergegeben, und merkt man zunächst nur, daß das Herz des Künstlers nicht bei den heiligen Figuren, sondern bei der landschaftlichen Umgebung ist, so sinken sie weiter zur bloßen Staffage herab, bis sie schließlich ganz verschwinden. Auch das Sittenbild wie sein Gegenteil, das Repräsentationsbild, hat sich auf diese Weise von der religiösen Kunst abgezweigt, indem an die Stelle des Religiösen das einfach oder anspruchsvoll Menschliche trat. Wie weit dem Porträt der fromme Brauch, sich als Stifter auf Votivbildern verewigen zu lassen, um sich dadurch der besonderen Obhut der Heiligen zu empfehlen, vorgearbeitet hat, mag dahingestellt bleiben. Die Darstellung des nackten Körpers hat sich an Adam und Eva, an David dem Goliathtöter, am heiligen Sebastian, an Auferstehungs- und Weltgerichtsszenen emporgerankt: Michelangelos jüngstes Gericht ist undenkbar ohne Signorellis Fresken im Dom von Orvieto (255). Das gleiche gilt von den Problemen des Lichts und der Perspektive; sie tauchen zuerst auf, werden in Angriff genommen und schließlich bezwungen an biblischen Stoffen, um dann erst auf profane Stoffe übertragen zu werden.

In der Wirkung aber auf den Beschauer kann sich keine profane Kunst mit der religiösen auch nur entfernt messen. Die tiefsten Schauer der Ehrfurcht und Verzückung mußte eine Kunst auslösen, die der unstillbaren Sehnsucht des Menschenherzens durch die sichtbare, ja greifbare Vergegenwärtigung des Göttlichen Genüge tat oder Räume und Stätten der Gottesverehrung schuf, wo man sich der Gottheit unmittelbar nahe fühlte. Mag wie bei den sogenannten Gnadenbildern die kirchliche Tradition an der Wirkung größeren Anteil haben, als ihr künstlerischer Wert, so ist anderseits die erhebende Wirkung selbst da nicht ausgeschlossen, wo die besonderen religiösen Vorbedingungen fehlen. Zum Zeus des Phidias, wäre er auf uns gekommen, würden wir noch heute wallfahrten wie einst die Alten, um in seinem Anblick alles Erdenleid zu vergessen; auch ein Andersgläubiger vermag die Heiligenbilder einer glaubensinnigen Kunst in gewisser Weise religiös zu genießen, und in den gewaltigen Raumeinheiten der Basiliken und Dome wehen selbst den Ungläubigen Schauer des Ewigen an.

Die Kunst stellt den Niederschlag alles dessen dar, was schöpferische Naturen der verschiedensten Völker und Zeiten tief innerlich erlebt und geschaffen haben, uns zum nachschaffenden Genuß. So zeigt uns die religiöse Kunst besonders deutlich auch den andern Zusammenhang, der zwischen Kunst und Leben besteht, – wie sie nicht nur aus ihm hervorgeht, sondern auch wie sie wiederum auf dieses zurückwirkt. Jedes echte Kunstwerk, das den Geist und Charakter seiner Epoche restlos ausspricht, stellt an den Beschauer eine kulturelle Forderung. Nicht mehr um das Wohlgefallen am Schönen allein handelt es sich, um ein ästhetisches Genießen: das Kunstwerk gibt unserm Sein eine bestimmte Richtung, es wirkt auf den Willen. »Das beste Kunstwerk«, sagt Goethe, »fesselt die Gefühle und die Einbildungskraft, es nimmt uns unsre Willkür, wir können mit dem Vollkommenen nicht schalten, wie wir wollen, wir sind genötigt, uns ihm hinzugeben, um uns selbst von ihm erhöht und verbessert zurückzuerhalten.« In diesem Sinne ist auch das Wort Michelangelos zu verstehen: »Wenn wir recht erwägen, was wir in diesem Leben tun, so werden wir finden, daß ein jeder an der Welt malt.« Die großen Künstler sind Deuter und Führer auf dem Wege der Weltkultur. Was sie, ein jeder von seiner Zeit, empfangen, geben sie zu reinem Gold geläutert zurück, als feinsten Auszug ihrer geistigen Kräfte und bringen dadurch der Menschheit Ewigkeitswerte zu. Indem wir ihren Werken uns verständnisvoll hingeben und damit ihr Erlebnis nacherleben, fassen wir die durch Temperament und Begabung, soziale und nationale Herkunft, religiöse Anschauungen und Zeitcharakter tausendfältig gebrochenen Strahlen des Genies wieder zu einem einheitlichen Weltbild zusammen, erweitern aber auch anderseits unser eigenes, durch die gleichen Bedingungen beschränktes Leben in sinnlich anschaulicher Form, indem wir die Welt mit andern Augen als den unsern sehen lernen, nämlich mit den Augen von Menschen, denen die Wundergabe verliehen ist, tief in das Wesen der Dinge hineinzuschauen, in die Natur, in das Menschenleben, in sich selbst. Hat uns der Künstler die Augen geöffnet für das, was das Leben lebenswert macht, so erkennen wir es auch in unserm eigenen Leben. So bereichert die Kunst unser Dasein, erweitert, indem die Schranken von Zeit und Raum fallen, in anschaulichem Nacherleben unser eignes Selbst zum Universum, und indem sie uns über die sichtbare Welt in die dahinterstehende unsichtbare, ewige emporhebt, deutet sie uns ahnungsvoll den rätselhaften Sinn des Lebens. Mit tiefer Sympathie fühlen wir uns zu den Werken hingezogen, die wir als den Ausdruck unsrer eignen Persönlichkeit erkennen, aus denen unser eignes bessres Selbst uns anspricht, fühlen uns beseligt im Genuß des eignen Wertes, der Größe und Einheit der Welt, der Erhabenheit des Göttlichen. So wird Kunstgenuß zum Selbstgenuß, zur Stärkung und Befestigung in dem, was bei rechter Selbstbesinnung den Wert unsres Lebens ausmacht. Auf diese Weise führt die Kunst, wie sie aus dem Leben quillt, so auch wieder zum Leben zurück, beide Male das Wort Leben im eigentlichen, wie in höherem, idealem Sinne genommen.

Es ist also eine ernste Sache um die Kunst, wenn wir uns nicht mit oberflächlicher Bekanntschaft oder mit einem seichten Ästhetentum begnügen, sondern ihre Werte uns innerlich zueignen wollen. Aber wie erziehen wir uns selbst zur Empfänglichkeit für sie? Das Kunstwerk, sagten wir, ist Natur, geschaut durch das Medium einer Künstlerseele. Von der Natur also werden wir ausgehen müssen, um ein Verhältnis zur Kunst zu gewinnen. Darum hinaus in die Natur mit Zeichenstift und Skizzenbuch, unter Umständen auch mit der photographischen Kamera, vor allem aber mit der uns von Gott verliehenen natürlichen Kamera, mit offenem, für die ganze Schönheit des uns umgebenden Weltbildes empfänglichen Auge! Doch nicht der großartigen Naturformen, die auch ein stumpfes Auge in staunende Bewunderung versetzen, bedürfen wir, um Auge und Seele künstlerisch zu bilden; den leisen Ton des einfachen Naturbildes muß unser Sinn vernehmen können, in seine Formen und Farben müssen wir uns in liebender Betrachtung versenken, gewissermaßen ein inneres, persönliches, menschliches Verhältnis zu ihm gewinnen, es innerlich erleben. Wandern wir lieber in ein einsames Tal, durch den stillen Buchenforst, über die träumerische, birkenbestandene Heide oder am Strom entlang, wo seine von Pappeln und Weiden umsäumten Ufer noch nicht zu sehr die pflegende Menschenhand verraten, wo die Möwe taucht und der Fischer seine Netze stellt. Bald wird man bei einiger Aufmerksamkeit Punkte herausfinden, von wo sich die für die Landschaft bezeichnenden Linien wie von selbst zum einheitlichen Bilde ordnen, wo die Vegetation zu Gruppen wirksam zusammentritt, wo die einzelnen Objekte sich in die Tiefe zu gesammelter Bildwirkung hintereinander reihen, kurz wo die charakteristischen Züge zu einer als lebensvoll empfundenen Einheit sich zusammenschließen, so daß vielleicht wenige Striche genügen, um das »Gesicht« der Landschaft festzuhalten. Nicht auf ein buntes Vielerlei, wie die älteren niederländischen Landschafter meinten, kommt es an, sondern auf möglichste Einheitlichkeit und Geschlossenheit weniger Objekte, wie sie Jakob von Ruisdael in die Landschaftsmalerei der Niederländer einführte. Oder wir gehen in den winterlichen Abendhimmel hinaus. Wie scharf hebt sich von ihm die Silhouette der laubentkleideten Bäume ab, wie enthüllen sie da dem sinnenden Auge gleichsam ihr innerstes Wesen! Wie reckt der gedrungene Eichstamm seine knorrigen Äste in zackigen Linien luft- und lichtheischend zum Firmament empor, wie der glatte Buchenstamm seine geschmeidigen Arme! Wie Strebende, Wollende erscheinen sie uns, wir leihen ihnen unsern eignen Willen, unser, sei es trotziges, sei es geschmeidiges Streben nach allseitiger Ausbreitung und Entwicklung unsrer Kräfte. Und nun schaue man, wie Albrecht Dürer in seinen großen Holzschnittfolgen das Leben der Vegetation wiedergibt, wie in diesen gewundenen, sich selbst quälenden Formen die leidenschaftlich erregte große Seele des Meisters nachzittert, als ob die Natur menschlichen Anteil nähme an den Vorgängen des Marienlebens, an den Leiden des Gottessohnes. Oder ist vielleicht diese Aufgabe der künstlerischen Selbsterziehung für den Anfänger noch zu schwer, die Forderung, der unbeseelten Natur die eigne Seele zu leihen, noch zu hoch, so wird sie leichter, wenn wir in das Leben der Natur das Naturleben des Menschen hineintragen, etwa im Sinne von Schillers Spaziergang:

Nachbarlich wohnet der Mensch noch mit dem Acker zusammen,
Seine Felder umruhn friedlich sein ländliches Dach;
Traulich rankt sich die Reb' empor an dem niedrigen Fenster,
Einen umarmenden Zweig schlingt um die Hütte der Baum.

Warum wird es uns hier so leicht, uns in die ländliche Natur einzufühlen, in die niedrigen Hütten mit ihrem Lehmfachwerk, dessen herabfallender Bewurf uns das Flechtwerk der Füllungen verrät, mit ihrem Blumenflor auf den Fenstergesimsen, mit dem ganzen ländlichen Wirtschaftsbedarf, der sich scheinbar in wirrem Durcheinander, und doch ein jedes an seinem Platz, um die Hütte herum ausbreitet? Weil alles so deutlich seinen Zweck verrät und mit den einfachsten, natürlichsten und darum dem Verständnis ohne weiteres zugänglichen Mitteln hergestellt ist, weil wir ihnen darum unsre eigne Seele einhauchen können. Und begegnen wir dann im Kunstwerk einer solchen ganz auf die ländliche Natur gestimmten Erscheinung, so werden wir sie um so voller nachempfinden können.

Und nun zu dem Naturleben das des Menschen selbst! Siehe da, der Ackerer, der hinter den kräftigen Rossen herschreitend die schwere Scholle umbricht, der Sämann, der den lebenspendenden Samen in die Furchen streut! Muten sie uns nicht an wie ein leibhaftiger Hans Thoma oder Millet? Oder du wanderst über die kahle Heide: die Sonne steht dir entgegen, und auf dich zu kommt, einem langsam vorrückenden Heerhaufen gleichend, dichtgeschart eine Schafherde, voran der Hirt mit dem treuen Wächter. Wie sich das Sonnenlicht auf den zusammengedrängten Fließen bricht, wie die flimmernde Luft alle Umrisse weich verschwimmen läßt! Ein solches Erlebnis hat Millet zum ersten Freilichtmaler gemacht.

Wenn wir dann von diesem Naturleben weiter aufsteigen zum Kulturleben, das uns täglich umfängt, so rät hier Ludwig Volkmann, nicht hastig und genußlos durch die uns umbrandende Welt der Erscheinungen zu eilen, sondern das angestrengte Gehirn einmal ausruhen zu lassen und zeitweilig ganz Auge zu sein, alles lediglich auf seine Erscheinung zu prüfen, Jagd zu machen auf Formen und Farben, auf Bewegung, auf Licht und Schatten, auf die Veränderung der Farben bei verschiedener Beleuchtung, zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, beim Übergang von Licht und Schatten und umgekehrt. Zu achten ist auch auf die besondere Stimmung, die sich bei Regen, bei Nebel, am Abend allen Gegenständen mitteilt, wie Häuser und Bäume, jetzt nur durch ihre Silhouette wirkend, riesenhaft erscheinen, wie denn auch Innenräume, etwa St. Peter in Rom, erst wenn die Dämmerung die Details verschlingt, ihre erhabene Raumwirkung ganz offenbaren.

Auch das Gebiet der modernen Arbeit enthält besondere künstlerische Werte. Gehen wir nicht achtlos vorüber an Pflasterern oder Zuschlägern, die in gleichmäßigem Wechsel die interessantesten Bewegungsbilder bieten, oder an Arbeitsgruppen, die wie Steinbrecher oder Lastträger rottenweise dasselbe Arbeitsmotiv zu gleicher Zeit abwandeln. Vergessen wir auch nicht, die gigantischen Bauten der modernen Technik und Industrie unter dem künstlerischen Gesichtspunkt zu betrachten, nicht bloß ihre fertigen Werke, ihre hochragenden Eisentürme und kühngeschwungenen Eisenbrücken, sondern auch die Stätten der modernen Arbeit selbst, die Hochöfen, Laufkranen, Förderungstürme und Rauchschlote in ihrer äußern, von Qualm und Dampf umwitterten Silhouette wie in ihrer innern feuersprühenden Werkarbeit, oder ein Hafenbild mit seinem Gewirr von Schiffsmasten und Schloten, in seinem regen Hin und Her der Kutter und Leichter. Auch hier wird das Auge durch die Wirklichkeit für das Kunstwerk geschult, und das Kunstwerk gibt ihr den Liebesdienst zurück, indem es unsre optische Auffassung verfeinert. Soweit der Kunstfreund; der Künstler freilich wird – das hat unsre Betrachtung ja schon erwiesen – noch einen Schritt weiter gehen, um den Natureindruck zum Kunstwerk zu gestalten. Er wird das Naturvorbild vereinfachen, die charakteristischen Züge verstärken, das Störende entfernen, die Massen im Bildrahmen gegeneinander abwägen und zur Einheit zusammenschließen, für die Tiefenwirkung Sorge tragen, um so die zerstreuten Züge der Natur zu einem typischen Gesamteindruck zusammenzufassen.

So wäre also mit der Erziehung des Auges zum Sehen füglich alles getan, was wir zum Erfassen und Nacherleben eines Kunstwerks brauchen? Kein Zweifel – das Kunstwerk, das aus der Zeit herausgeboren ist, sollte der eignen Zeit unmittelbar verständlich sein und keiner Einführung bedürfen. »So wenig man Blumen und Sonnenschein verstehen lernen muß,« sagt Carl Spitteler, »so wenig es Vorstudien braucht, um eine Aussicht herrlich oder ein Fräulein schön zu finden, so wenig ist es nötig, die Kunst zu studieren.« Die einfache jugendliche Empfänglichkeit habe sich zu allen Zeiten in dem Gebiete der Kunst urteilsfähiger erwiesen als die eingehendste und gehäufteste Gelehrsamkeit. Allerdings verbürgt keine Gelehrsamkeit den Kunstgenuß, ja man könnte Gelehrsamkeit und Kunstgenuß sogar als Gegner bezeichnen, die einander bekämpfen. Wer also nur naiv genießen will, mag alles, was ihn nicht anspricht, ruhig beiseite liegen lassen. Wer aber jene tieferen Werte, die in der Kunst stecken, ausschöpfen und sein eignes Selbst dadurch erweitern will, der muß sich bemühen, die Sprache der Kunst verstehen zu lernen. Man braucht nicht einmal an exotische Kunst wie die der Japaner zu denken; auch unserer deutschen Kunst aus der romanischen und gotischen Periode würde ein Augenmensch von heute, und sei er noch so sehr für das Schöne empfänglich, vielfach verständnislos und darum genußlos gegenüberstehen. Nicht also um Kunstgelehrsamkeit handelt es sich, sondern um einen Weg, solchen Kunstwerken beizukommen, die sich dem naiven Sinn nicht ohne weiteres erschließen. Ein Wort Goethes aus den Maximen und Reflexionen mag uns weiter helfen. Er sagt dort: »Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu tun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.« Er legt in diesem Ausspruch allerdings das größte Gewicht auf die Form; sie ist das eigentlich Künstlerische, während der Stoff nur das ist, was sein Name besagt, nämlich das Rohmaterial. Und doch begnügen sich die meisten beim Betrachten eines Kunstwerkes mit der Beantwortung der Frage, was es bedeutet, was es »vorstellt«, und springen dann gleich, wenn sie es nicht überhaupt dabei bewenden lassen, zu dem Dritten über, zu dem, was Goethe den Gehalt nennt, falls sie nämlich »etwas dazu zu tun« haben; die Form bleibt ihnen verborgen, ein »Geheimnis«. Infolgedessen kommt gerade das Wesentlichste, das eigentlich Künstlerische, nicht zur Geltung, wenigstens nicht zum Bewußtsein, so daß von einer Erkenntnis des Kunstwerks als solchen keine Rede sein kann. Nehmen wir ein ganz bekanntes Beispiel aus der bildenden Kunst, Raffaels Sixtinische Madonna (314). Welche überirdische Hoheit im Blick der Mutter, welche Unergründlichkeit in den ins Unendliche schauenden Augen des göttlichen Lohnes! Und daneben die Würde der assistierenden Heiligen, des heiligen Sixtus und der heiligen Barbara, schließlich das schelmisch träumende, vorn an der Brüstung unbekümmert um den Ton der guten Gesellschaft hingerekelte Engelpaar. Der »Blickführung«, wie sie Raffael nach dem Vorbild seines Lehrers Perugino hier meisterhaft anwendet, wird sich kein Empfänglicher entziehen können: unwillkürlich wird das Auge von Sixtus empor zu der Mutter mit dem göttlichen Knaben, von da herab zur heiligen Barbara und weiter zu den beiden Engelknaben geleitet, um von diesen unfehlbar wieder nach oben geführt zu werden: dafür bedarf es keines Hinweises. Aber man beachte auch, wie Haltung und Bewegung der Gottesträgerin für den Gesamtaufbau bestimmend sind. Die Asymmetrie der Hauptgruppe wird durch den vom Haupte der Jungfrau wallenden Mantel, in dem ihr Vorwärtsschreiten nachklingt, ausgeglichen, wir verstehen jetzt auch, warum auf dieser in gewissem Sinne toten Seite der Vorhang nicht soweit zurückgezogen ist wie auf der Gegenseite, wo er die freie Wirkung der nahe aneinander gedrängten Häupter zu sehr beengt hätte. Jene Asymmetrie ist auch für die Verteilung der Blickführung zwischen die beiden Assistenten entscheidend. Der dem Kern der Hauptgruppe nähere Papst blickt zu ihr empor, während die heilige Babara auf der »toten« Seite es wagen kann, die übrigens genau parallele Augenverbindung mit der Engelgruppe aufzunehmen. Was die Bewegung der Jungfrau anbetrifft, so wandelt sie mit ihrer teuren Last gewissermaßen durch einen vom rechten Knie der heiligen Barbara besonders fühlbar gemachten Engpaß zwischen den beiden Heiligen hindurch. Während der umgeschlagene Mantelzipfel uns sagt, daß sie eben noch den rechten Fuß vorgesetzt hatte, ist die Bewegung der Füße, jenes Vorgebirge sozusagen umsegelnd, jetzt nach der Seite gerichtet, wohin auch die sprechende Linke des Papstes weist. Die größere Entfaltung der Stoffmassen rechts oben wird in der Diagonale durch den bis zur dreifachen Krone herabreichenden Papstmantel aufgewogen; hierdurch gewinnt auch die Gesamtkomposition, die sonst zu sehr in der Luft schweben würde, für das Auge einen festen Halt an der wirklichen Welt. Auch die aufsteigende Linie der Engelgruppe gravitiert nach dieser Seite und gibt dafür die andre frei. Schließlich stelle man noch folgenden Versuch an: man teile die ganze Bildfläche in Höhe und Breite durch je zwei Linien, so daß sie die einzelnen Figuren oder Gruppen voneinander trennen, in neun Teile, so wird man die wundersame Entdeckung machen, wie dieses geometrische Liniennetz uns innere Beziehungen aufdeckt, auf denen im Grunde die ganze Harmonie der Komposition beruht, ja die gewissermaßen das Gesetz dieser Komposition sind. Der mittlere vertikale Streifen enthält die göttlichen Personen, die beiden äußeren die menschlichen. Mustern wir aber die horizontalen Streifen, so erhalten wir eine andre Rangordnung: hier ist nicht die menschliche oder göttliche Natur maßgebend, sondern gewissermaßen die Einsicht in den Erlösungsplan, die natürlich bei den menschlichen Assistenten zwar geringer ist als bei Mutter und Kind, aber größer als bei diesen Himmelsbübchen, für die das ganze doch nicht viel mehr ist als ein unverstandenes schönes Schauspiel. So enthüllt uns also diese Liniengeometrie das der Komposition zugrunde liegende Formgesetz; wer wollte behaupten, daß dadurch der Genuß des Werks beeinträchtigt und nicht vielmehr vertieft werde?

Freilich liegt in der Erkenntnis der immer mit Worten genau zu umschreibenden Form noch nicht das Letzte, Höchste, ja, nach einem Worte von Goethe selbst, Unaussprechliche: der Gehalt, den nur der findet, der »etwas dazu zu tun hat«. Damit sind natürlich nicht irgendwelche Kenntnisse aus Geschichte, Natur und Menschenleben oder aus sonstigen Quellen der Wissenschaft gemeint, denn diese würden alle dem Stofflichen zugute kommen. Hinter dem rein Künstlerischen steht beim Künstler und darum auch beim Kunstwerk das rein Menschliche, das der künstlerischen Form erst jenes schwer zu umschreibende Etwas mitgibt, das die eigentliche Seele des Kunstwerks ausmacht. Wenn Zola ein Kunstwerk definiert als ein Stück Welt, gesehen durch ein Temperament, so ist es eben dieses, im fertigen Kunstwerk mitschwingende Temperament, das nun, um zu wirken, auch die Seele des Beschauers in Schwingungen versetzen muß. Treffen diese Schwingungen nicht auf gleichgestimmte Saiten, so mangelt dem Werke die rechte Resonanz, es erfüllt die Seele nicht mit jener Fülle, Stärke und Tiefe seelischer Energien, wie sie allein von dem echten Kunstwerk ausstrahlen. Fehlt daher diese tiefste und letzte Wirkung, so liegt es entweder am Künstler oder am Beschauer. Sind aber jene seelischen Energien vorhanden, so schlummern sie bei beiden im Unbewußten, und werden dort im Schaffen, hier im Genießen ins gefühlsmäßig Bewußte emporgehoben. In dieser ihrer seelischen Natur liegt es auch begründet, daß sie von der formalen Seite der Kunst fast unabhängig sind. Man halte des technisch weit überlegenen Ghirlandajo Exequien des heiligen Franz neben sein Vorbild Giotto (249, 250) oder die Anbetung der heiligen Drei Könige von Hans von Kulmbach (Kaiser Friedrich Museum, Berlin) gegen den primitiven, aber innigen Geertgen von Haarlem (Amsterdam, Reichsmuseum) oder etwa Andrea del Sartos majestätische Gruppe der Madonna del Sacco (295) gegen irgendeinen der primitiven Florentiner, so wird unmittelbar klar, daß der Gehalt eines Kunstwerks einzig von dem Anteil abhängig ist, den der Künstler seelisch an seinem Stoffe nimmt. Ist sein Herz leer, kommt der Stoff für ihn nur in Betracht als Gegenstand seiner Kunstfertigkeit, so zwingt uns sein Werk zwar Bewunderung, aber nicht warme Teilnahme ab. Ähnliches wird man wahrnehmen bei gleichzeitigen Künstlern, so bei einem Vergleich der Konkurrenzarbeiten Ghibertis und Brunellescos vom Jahre 1401 über das Thema Isaaks Opferung (729/30), oder von Rubens und Rembrandts Kreuzabnahme (357/8), ja sogar bei ein und demselben Künstler, wenn schwere Erlebnisse ihn innerlich umgewandelt haben, wie bei Rembrandt, wo die anspruchslose Radierung »Isaaks Opferung« vom Jahre 1655 das glänzende gleichnamige Gemälde vom Jahre 1635 an seelischem Gehalt weit überragt (359 f ). Oder nehmen wir zwei moderne Antipoden wie Max Liebermann und Hans Thoma. Die feine Kunst Liebermanns geht ganz in der schlichten Wahrhaftigkeit der Darstellung auf, so z. B. in der Schusterwerkstätte (415) oder in den Flachsspinnerinnen; eine über das rein Künstlerische hinausgehende innere Teilnahme für den Gegenstand ist nicht erkennbar, sicherlich ein ganz gesunder Rückschlag gegen die Rührseligkeit und Effekthascherei in Sittenbild und Anekdote, die sich in der deutschen Kunst seit langem breit gemacht hatte. Dagegen Hans Thoma! Bei ihm schaut aus jedem Baum und jedem Grashalm, aus dem schäumenden Bach und den ziehenden Wolken die Gemütstiefe des Meisters heraus. Und daß es nicht der Gegenstand, auch nicht die Form ist, sondern wirklich ein Drittes, was den Gehalt eines Kunstwerks ausmacht, beweist Liebermanns Freilichtgenosse Fritz von Uhde. Sein Heideprinzeßchen, sein Kind mit den zwei Puppen u. a. haben denselben treuherzigen, wenn auch etwas humoristischen Unterton wie die Schöpfungen Thomas: das ist eben das, was nicht der Gegenstand, nicht die größere oder geringere Kunst, nicht diese oder jene Malweise dem Kunstwerk mitgibt, sondern was vom Künstler bleibt, wenn man die Kunst in Abzug bringt, der Mensch!

Aber das, was wir mit Goethe den Gehalt des Kunstwerks nennen, liegt nicht immer in der vertieften Auffassung des Gegenstandes, sondern geht oft noch weit darüber hinaus. Was stellt das Grabmal der Hegeso (145) draußen vor dem Dipyplontore in Athen dar? Eine schöne junge Frau, der die Dienerin ein Kästchen reicht, woraus sie zur Vervollständigung ihrer Toilette eine Halskette entnimmt. Wahrlich eine Szene, die an nichts weniger denken läßt, als an Tod und Verwesung. Und doch umwittert das anspruchslose Werk der Hauch der Tragik. Das Bild der schönen jungen Frau an dieser Stätte des Todes, es sagt uns: auch das Schöne muß sterben! Aber liegt diese tiefe Wirkung nur in dem Kontrast von Gegenstand und Bestimmung, liegt sie nicht auch in der Form? Man denke sich dieselbe Frau im Stil des Barock oder Rokoko, aufgeregt und wehleidig, und der tragische Hauch verfliegt. Es ist die ruhige Gehaltenheit der Form, die »edle Einfalt und stille Größe«, die Harmonie zwischen Form und Inhalt, die diesem Werke jenen Ewigkeitsgehalt mitteilt; predigt das Barock (z. B. 124-126) Auflehnung gegen das Schicksal, so werden wir hier tief religiös gestimmt zu stummer, wehmütiger Ergebung. Von den Neueren ist es vor allem Böcklin, der seinen Schöpfungen diesen Ewigkeitsgehalt mitzuteilen vermag – man denke etwa an sein »Burggemäuer am Meer«, an die »Villa am Meer«, an die »Toteninsel« (408). Es ist, als ob die Tragik der Vergänglichkeit mit ehernem Fuß durch diese Bilder schritte, vor allem ist es ja die Landschaft, der die Malerei des 19. Jahrhunderts einen Stimmungsgehalt mitzugeben weiß, der alle Regungen der modernen Seele widerspiegelt. Mit Händen zu greifen ist sie, wo der sinnende Mensch selbst noch mit in die Landschaft aufgenommen wird, wie bei Moritz von Schwinds »Jüngling auf der Wanderschaft« (396), in Hans Thomas »Taunuslandschaft« (397), in seinem »Mondscheingeiger«, in Feuerbachs »Iphigenie«, mehr ins Weite und Große gehend bei der, Landschaft und Figuren zur Einheit verschmelzenden dekorativen Monumentalmalerei eines Hans von Marées und eines Puvis de Chavannes (409). Böcklin verkörpert die Naturstimmung gar in Neuschöpfungen, die an das reine Naturgefühl der Antike anklingen, die schwüle Glut eines heißen Sommertages in dem sog. »Panischen Schrecken«, das geheimnisvoll Schreckhafte der Waldeinsamkeit in seinem »Schweigen im Walde« (405), das Spiel der Meereswellen in seinen von Najaden und Tritonen belebten Seebildern (406). Aber das moderne Naturgefühl bedarf auch dieser figürlichen Hilfen nicht mehr. Ein Sonnenstrahl, der sich in einen Waldwinkel verirrt, gibt Wilhelm Steinhausen das Thema zu einem tiefste Seelenstimmung atmenden Bilde, Leistikow weiß den Havelseen, die Worpsweder der niederdeutschen, die Dachauer wie Ludwig Dill der oberdeutschen Moorlandschaft eigentümlich schwermütige Stimmungsreize abzugewinnen, während Karl Haider und Edmund Steppes uns gern die herbere Welt der Voralpen in ihrer Eigenart zeigen.

So liegt denn in diesem Stimmungsgehalt das eigentliche Geheimnis, das Unaussprechliche der Kunst. Wohl müssen wir versuchen, die Grenze des Unaussprechlichen möglichst weit hinaufzurücken, aber das Letzte, Höchste, Innerste muß jeder für sich allein ausmachen; Worte sind, um mit Friedrich Naumann zu reden, hier nichts als Stäbe, an denen der Wanderer erkennt, wo der Weg ins Gebirge geht; steigen muß jeder selbst.

Höhenluft also ist es, was wir letzten Endes im Reiche der Kunst atmen wollen. Aber steigt die Kunst nicht bisweilen auch in die sumpfigen Niederungen des Lebens hinab, aus denen giftige Dünste sich erheben, lockt sie nicht öfters durch schlüpfrige Darstellung zur Lüsternheit oder peitscht die Massen zur Begehrlichkeit, ja zur Empörung auf? Und wenn sie das tut, ist sie dann noch Kunst? Wir werden der Lösung dieser ernsten Frage näher kommen, wenn wir uns erinnern, daß wir auf dem Wege der Kunst drei Stufen zu unterscheiden haben: die Lebenswirklichkeit, aus der der Künstler schöpft, die künstlerische Darstellung und endlich die Wirkung auf den Beschauer, denn erst in dieser Wirkung vollendet sich das Kunstwerk. Durch die künstlerische Darstellung rückt nun zunächst der dargestellte Gegenstand von der Lebenswirklichkeit ab, der sinnliche Eindruck wird in die Sphäre des ästhetischen erhoben, das Bild ist nicht die Wirklichkeit. Es ist etwas ganz anderes, ob ich einen Mord oder eine Verführungsszene im Leben sehe oder auf der Bühne, im Bilde: was dort mein Entsetzen und meinen Abscheu erregen würde, kann hier zu einer Quelle des ästhetischen Genusses werden. Nur ganz grob eingestellte Illusion wird von der Galerie zur Bühne herabrufen: Schieß nicht, er ist unschuldig! Im Gegenteil, wenn die altdeutschen Meister die Schergen in der Leidensgeschichte Christi in ihrer ganzen abstoßenden Roheit darstellen, so ist dies ästhetisch unter Umständen ein höherer Genuß, als wenn Fra Angelico sie von Mitleid zerfließen läßt. So kann uns die Kunst in Abgründe der Leidenschaft, ja der Sünde hinabschauen lassen, deren wirkliches Erleben uns vielleicht vergiften würde, sie kann uns Sinnengenuß von solcher Glut vorzaubern, daß in Wirklichkeit große Charakterstärke dazu gehören würde, rein aus der Versuchung hervorzugehen. Im künstlerischen Abbild brauchen wir weder jener Unlust noch dieser Lust zu erliegen, wir werden vielmehr, um mit Gerhard Hilbert zu reden, dieser Gefühle und damit auch der Welt, insofern sie diese Gefühle uns abnötigt, erst völlig Herr durch die Kunst und verdanken ihr so auf ästhetischem Wege eine Erweiterung unsrer inneren Erfahrung, wo die äußere Erfahrung unsern sittlichen Charakter gefährden oder zerstören könnte. In diesem Sinne darf die Kunst sagen: »Alles ist euer.« Wenn uns – und damit kommen wir vorerst zu der dritten der obengenannten Stufen, zu dem Beschauer selbst – ein Kunstwerk unsittlich erscheint, so müssen wir uns fragen, ob es dann am Ende nicht unsre eigne Schuld ist, weil wir eben unsre sinnlichen Gefühle von dem Gegenstande noch nicht so ablösen können, daß sie zu ästhetischen werden. Freilich darf – und das ist endlich der zweite Punkt – der darstellende Künstler nicht selbst für den unsittlichen Vorgang Partei ergreifen, die Art der Darstellung nicht selbst unsittlich sein. Franz Stuck hat die Sünde als ein verführerisches, von einer blauschillernden Schlange umringeltes Weib mit langem rabenschwarzem Haar gemalt, das gleich der Schlange, die ihr über die rechte Schulter sieht, mit kalten, stechenden Augen den Beschauer anblickt. Hier bezeugt allein schon die Zugabe der Schlange des Sündenfalls die sittliche Stellungnahme des Künstlers, aber selbst, wenn diese Zugabe wegfiele, würde der eiskalte Blick der Verführerin uns darüber nicht in Zweifel lassen: wir würden auch dann nicht unsittliche, sondern sittliche Kunst vor uns haben. Die sittliche oder unsittliche Stellungnahme des Künstlers also ist es, die sein Werk sittlich oder unsittlich macht. Aber, so wird man fragen müssen, wenn ein Künstler die Sünde so verführerisch malt, daß all und jede Andeutung einer moralischen Warnung fehlt, ist dann sein Kunstwerk unsittlich? Handelt er nicht vielmehr ganz richtig, wenn er die Verführung als Verführung ohne jeden Hintergedanken wiedergibt? Und dennoch wird sein Werk in irgendeiner Weise, ihm selbst vielleicht unbewußt, ja sogar gegen seinen Willen, seine innere Stellungnahme zu dem Gegenstand verraten. Jedenfalls werden wir uns so lange hüten müssen, den sittlichen Ernst des Künstlers anzuzweifeln, als sich die Absicht der Verführung nicht aus der geistigen Form des Kunstwerks offensichtlich ergibt. Jedenfalls liegt der Angelpunkt der Frage, ob sittliche oder unsittliche Kunst, in der Seele des Künstlers. Der Gehalt seines Werkes, sagten wir, ist das, was vom Künstler übrigbleibt, wenn man die Kunst abzieht, und das ist der Mensch. Und dieser Mensch ist wie jeder andre für sein Tun der sittlichen Beurteilung unterworfen. Es ist also nichts mit der oft gehörten Behauptung, die Kunst brauche sich um die Moral nicht zu kümmern, sie stehe über der Moral, neben den ästhetischen Gesetzen hätten die ethischen keine Geltung. Nicht mehr die sittliche Persönlichkeit, sondern die ästhetische würde dann unser Ideal sein müssen, an Stelle der Pflicht würde die Neigung oberster Grundsatz der Lebensführung werden. Freilich hat auch der Idealist Schiller, der von der Strenge der sittlichen Forderung weder sich selbst noch andern je etwas nachließ, an der Härte von Kants kategorischem Imperativ Anstoß genommen und die Kluft zwischen Pflicht und Neigung eben durch die Kunst zu überbrücken gesucht. Da für ihn das Wahre, das Gute und das Schöne letzten Endes eins sind, so soll das Wohlgefallen am Schönen den Menschen zur sittlichen Freiheit leiten; »sieh, wie schön ich bin,« soll gleichsam das Gute zu uns sagen, »möchtest du mir nicht um meiner Schönheit willen folgen?« In diesem Sinne werden wir Schillers Weisung gern beherzigen, aber auch die Warnung seines großen Freundes nicht überhören, »daß die Muse zu geleiten, doch zu leiten nicht versteht«, daß der sittliche Ernst der Lebensführung nicht durch die Hingabe an rein ästhetische Werte in Frage gestellt werden darf. Die enge für das künstlerische Schaffen nötige Hingabe der Phantasie an die sinnliche Erscheinung der Welt legt insbesondere dem ausübenden Künstlertum die Auffassung gefährlich nahe, daß die Kunst der Sinnlichkeit einen Freibrief gegenüber der Sittlichkeit verleihe, wie anderseits der Kunstfreund dadurch in ein schwächliches Ästhetentum zu versinken droht. Beide Gefahren können nur überwunden werden durch den Ernst sittlichen Wollens, der über die Verlockungen der künstlerischen Phantasie triumphiert, die Erzeugnisse aber einer auf die gemeinen Instinkte der Masse spekulierenden Kunstindustrie als volksvergiftende Schundware und Unkunst nicht bloß ablehnt, sondern auch unerbittlich bekämpft.

Erleidet so die Führerrolle der Kunst zum Leben eine heilsame Einschränkung, so werden wir ihr doch in allem, was die Formen betrifft, in denen unser Leben sich auswirkt, bedingungslos trauen dürfen. Es ist eine alte, aber berechtigte Klage, daß der künstlerische Geschmack in den Linien des äußeren Lebens gerade bei uns Deutschen zu wenig ausgebildet ist, und so ist die Frage der künstlerischen Kultur mit Recht im neuen Deutschland eine brennende geworden. Es kommt für uns darauf an, wieder einen großen Lebensstil zu finden, der ein Ausdruck unsres modernen deutschen Geistes ist. Dies kann aber – nach dem, was uns der Einblick in Wesen und Werden der Kunst gelehrt hat – nicht durch äußerliche Nachahmung erreicht werden, indem wir uns etwa in der Kleidung die Franzosen oder Engländer, in der Art unsres äußeren Gehabens, in Gang, Geste und Mienenspiel etwa die Italiener zum Vorbild nehmen, sondern durch eine Erneuerung unsrer Lebensformen von innen heraus auf Grund eines uns vorschwebenden, vorerst noch der festen Umrisse entbehrenden Ideals. Jede Erziehung fängt bei dem Körper an, und hier hat im letzten Jahrzehnt jene große Bewegung zur Befreiung und Entwicklung dieses kostbaren Trägers und Gefäßes unsrer Seele eingesetzt, die für unser gesamtes Volksleben von der weitgehendsten Bedeutung zu werden verspricht. Das Volk der Dichter und Denker hatte allzu lange den Körper auf Kosten des Geistes vernachlässigt, es hatte, so sehr es für die Schönheit des alten Griechentums schwärmte, vergessen, daß sie vor allem auf der durch die Gymnastik vermittelten Harmonie von Seele und Leib beruhte. Mit Riesenschritten ist die jüngste Zeit bemüht, das Versäumte nachzuholen, eine reiche Tätigkeit wird allerseits entfaltet, Wettkämpfe und Schaustellungen sind zur Angelegenheit des ganzen Volkes geworden und finden nach dem Muster der Alten in großartig angelegten Stadien ihren Höhenpunkt. Wie viel Anregungen in dieser Richtung von dem klassischen Lande des Sports, von England, wie viel von Schweden oder Amerika uns zugekommen, wie viele endlich aus der vorbildlichen Gymnastik der Griechen geschöpft sein mögen, die Hauptsache ist, daß wir sie uns in deutschem Geiste zu eigen machen und den deutschen Leib endlich von der falschen Scham erlösen, womit er, des eignen Mangels bewußt, sich vor der öffentlichen Schau versteckt hielt. Nur auf diese Weise gewinnen wir eine gesunde Grundlage für den Aufbau unsrer künstlerischen Kultur. Indem wir durch allseitige Körperausbildung wieder der in uns schlummernden Kräfte inne und ihrer Herr werden, erobern wir uns das Gefühl für den Wert und damit die Freude an plastischer Selbstdarstellung, und wie einst bei den Griechen, so kann dies auch bei uns zu einem neuen Aufschwung der Plastik führen. Nicht nur zum Schaffen, sondern auch zum Genuß des plastischen Kunstwerks bedürfen wir eines vollentwickelten eignen Körpergefühls; an Stelle des bezahlten Modells würden wie einst im Altertum die Spiel- und Sportplätze mit ihrer Fülle plastischer Motive und Erinnerungsbilder die Phantasie der Künstler befruchten, wenn es gelänge, die durch das Spiel gebotene Entkleidung noch weiter durchzuführen und durch die Sitte zu heiligen.

Ein so durch die Gymnastik geläutertes Selbstgefühl wird sich auch im gewöhnlichen Leben unter der durch unser Klima gebotenen Kleidung nicht verleugnen. Wer die ästhetischen Werte der Selbstdarstellung kennt, wird nicht in Haltung und Bewegung sich vernachlässigen, mit schleppendem Gang, die Hände in den Hosentaschen, einherlatschen, sich auf den Sitz hinflegeln, sondern auch in seiner äußeren Gebarung den natürlichen Anstand beobachten, bis er ihm zur zweiten Natur wird. Gerade darum ist ja auch der Militärdienst eine so vortreffliche Schule männlicher Haltung und selbstsicheren Auftretens. Das weibliche Geschlecht hält, so sehr auch der Sport hier schon befreiend gewirkt hat, in seinem überwiegenden Teile noch an der die inneren Organe wie die äußeren Formen vergewaltigenden Schnürung fest. Der äußeren Unfreiheit entspricht da in der Regel die innere. Wer seinen Leib widerstandslos den Fesseln einer oft unsinnigen Mode unterwirft, hat kein Recht auf Befreiung von den teils wirklichen, teils eingebildeten Fesseln, die ihm Gesetz und Sitte auferlegt. Es soll damit über die Mode der Stab nicht ganz gebrochen werden. Die Mode ist sozusagen eine psychologische Erscheinung. Die großen Stilwandlungen wurden oben auf die Notwendigkeit zurückgeführt, die durch stets sich wiederholende Reize abgestumpften Sinne durch stärkere oder kontrastierende Reize zu befriedigen. Die Schnelligkeit dieses Ablaufs ist in erster Linie von dem Stoff abhängig, der zu diesen Reizen verarbeitet wird. Je dauerhafter er ist und je schwerer zu formen, um so langsamer, je leichter und vergänglicher, um so rascher vollzieht sich der Ablauf der Veränderungen. Wollte man in dieser Beziehung Architektur, Kunstgewerbe und Mode vergleichen, so würden sie der Reihe nach dem Stunden-, Minuten- und Sekundenzeiger entsprechen. Jedenfalls arbeitet die Mode mit den bildsamsten und vergänglichsten Stoffen, und weil ihre Gebote unweigerlich befolgt werden, so wiederholen sich ihre Reizungen zu gleicher Zeit so tausend- und abertausendfach, daß das Heute der Feind des Gestern, das Morgen der Feind des Heute werden muß. Diese Überreizung würde wegfallen, wenn jede Frau darauf bedacht wäre, die für ihre Selbstdarstellung gemäße Form der Kleidung zu finden und sie in dauerhaftem Stoff zu verwirklichen, nicht überladen mit den überall käuflichen Modezieraten, sondern dem künstlerischen Geschmack auch in Stickerei und Ausputz Raum gebend. Freilich auch dann würde die Mode nicht stillstehen, aber ihre Wandlungen würden sich mit größerer Ruhe und Stetigkeit und aus deutschen Bedürfnissen heraus vollziehen, nicht in dem überhasteten Tempo, wie es der bisher führenden Pariser Welt und Halbwelt durch ihre Eitelkeit und das Interesse der großen Schneiderateliers vorgeschrieben wird.

Der Kleidsamkeit der Männertracht hat die Einführung der häßlichen Röhrenbeinkleider den Todesstoß versetzt; wie unkünstlerisch sie sind, kann der Vergleich vieler moderner Denkmalsfiguren mit den Standbildern der großen Dichter und Musiker des 18. Jahrhunderts lehren. Wie viel klarer und überzeugender baut sich in jener Tracht die männliche Figur auf! Darum ist es ein Gewinn für die Selbstdarstellung, daß der Sport hier Wandel geschaffen hat. In Kniehose und Kniestrümpfen wandert es sich noch einmal so gut, leicht und frei setzt der Fuß auf. Auch jede andre zweckentsprechende Abweichung von der modischen Gesellschaftskleidung ist ein künstlerischer Gewinn, so lange die schützende Kleidung zugleich der natürlichen Formensprache des Körpers dient. Außerdem mag der Eintönigkeit der dunkeln Männertracht, ohne in Geckentum zu verfallen, durch bunte Westen, farbige Selbstbinder u. dgl. abgeholfen werden. Wie weit hier der einzelne gehen darf, ist durchaus Sache der persönlichen Ausdruckskultur; bezeichnend ist, daß hier gerade den Künstlern weitgehende Bewegungsfreiheit eingeräumt wird. Die künstlerische Selbstdarstellung verlangt aber auch jedesmal die der besonderen Gelegenheit gemäße Tracht. Frack und Gesellschaftskleid gehören nicht auf die Straße. Geschmacklos ist, wenn Männlein und Weiblein glaubt, auf der Reise statt eines praktischen und kleidsamen Reiseanzugs altes Zeug austragen zu können. Mit Lackschuhen und himmelhohen Stehkragen sich aufs Gletschereis zu wagen, ist nicht nur Torheit, sondern auch lebensgefährlich. Aber es gibt auch ein Zuviel: dem Bergsteiger wird man es schon ansehen, ob er Höhenstürmer ist oder Salontiroler. In der Lodenjoppe verlangt man keinen Platz an der Gasthofstafel, sondern nimmt seitab oder in der »Schwemme« vorlieb.

Ein wichtiger Teil der künstlerischen Selbstdarstellung ist auch das eigene Heim. Freilich ist in der Zeit der Mietskasernen ein »Eigenheim« ein teurer Luxus. Aber wenn auch nur in einem solchen die künstlerische Selbstdarstellung eine vollendete sein kann, wenn das auf Grund der neuen Raumkunst selbstgeschaffene Haus keinen Sonderwunsch unerfüllt zu lassen braucht, so ist es doch auch möglich, Durchschnittsmietsräumen jene besondere Note zu geben, die der Ausdruck der Persönlichkeit ist. Freilich leiden wir noch immer unter den armseligen Protzenbauten der drei Jahrzehnte nach dem letzten Kriege, wo man eine stucküberladene Palastarchitektur vor ein Innenhaus klebte, dessen Einteilung durch das Schema der Schauseite bestimmt wurde. Doch auch hier wird sich bei den oft überhohen Räumen durch Herabziehen der Decke, durch geschmackvolle, mit dem Mobiliar zusammenstimmende Wahl von Tapeten und Teppichen, durch helle, lichtdurchlässige Vorhänge, lebendes Grün und auserlesenen Wandschmuck Behaglichkeit erreichen und individuelle Kultur aussprechen lassen. Nicht dagegen ist dies möglich durch eine Unzahl von Nippes und sog. Hausgreueln, Staubfängern ersten Ranges, die der Hausfrau die Zeit stehlen, vielmehr durch eine kleinere Auswahl künstlerisch bedeutsamer Stücke, die keineswegs kostbar zu sein brauchen, immer aber das geistige Wesen der Bewohner umschreiben müssen. Freilich wird man hier zwischen den einzelnen Räumen einen Unterschied machen; Empfangsräume stattet man zurückhaltender aus, als die eigentlichen Wohnzimmer, von besonderer Bedeutung ist der Bilderschmuck. Die heutige künstlerische Technik gibt hier reiche Möglichkeiten an die Hand, den eignen Geschmack mit verhältnismäßig geringen Mitteln zur Geltung zu bringen. Insbesondere sei hier der farbigen Künstlersteinzeichnungen gedacht, die ja keine Reproduktionen eines Originals, sondern Blatt für Blatt selbst Originale sind. Bei der Verteilung der Bilder auf die Wandfläche wird oft der Fehler gemacht, daß man ihren Platz rein äußerlich nach Größe und Format des Rahmens bestimmt, statt nach dem Bildcharakter. Auf diese Weise werden oft Darstellungen mit vielen Einzelheiten durch zu hohe Aufhängung der mühelosen Betrachtung entzogen; braucht man bei großen Wandflächen ein die Wand teilendes, raumbeherrschendes Bild, so muß auch die Darstellung auf Fernwirkung berechnet sein. Ein so ausgestattetes Heim, welches das Wesen seiner Bewohner unaufdringlich ausspricht, wird auch den besten Rahmen für eine zwanglose, in mäßigen Grenzen sich haltende Geselligkeit abgeben. Je mehr erlogener Prunk, die Sucht etwas vorstellen zu wollen, was man nicht ist, gemieden, dagegen Schlichtheit und Gediegenheit bevorzugt wird, um so behaglicher werden sich auch die Gäste der Bewohner in solchen Räumen fühlen.

Diese schlichte und gediegene Sprache müssen aber nicht nur unsere Innenräume, sondern auch unsre Straßenbilder reden, wenn wir uns in ihnen nicht wie geliehen vorkommen, sondern heimisch fühlen wollen. Die gewaltige Bevölkerungszunahme unserer Städte hat überall um den Kern der Altstadt große Häusermassen angehäuft, die, durch gradlinige Straßen in der Regel rechtwinklig durchzogen, dem Auge nirgends einen Ruhepunkt bieten, weil in den langen Straßenzeilen nicht ein Haus seinem Nachbar sein Eigenleben gönnt, sondern alle, künstlich emporgetrieben, einander durch geräuschvolle Architektur zu überschreien suchen. Auch ist es ganz einerlei, in welcher Stadt man sich befindet, alle sind über den gleichen Leisten geschlagen, der besondere Ortscharakter ist völlig verwischt. Erst wenn wir uns der Altstadt nähern, bekommt das Straßenbild in der Regel wieder eine eigne Physiognomie. Die Straßen sind nicht mehr mit dem Lineal gezogen, sondern haben gewissermaßen Naturcharakter bewahrt, sie krümmen sich, so daß die Häuser sich dem Blick in einer übersichtlichen Kurve darstellen; sie erweitern sich zum giebelumsäumten Markt, bilden Gassen und lauschige, malerische Winkel – kurz, historisch erwachsen sprechen sie die Eigenart des Ortes und ihrer Bewohner deutlich aus. Besonders die alten Plätze lassen durch ihre Abgeschlossenheit ein wirkliches Raumgefühl aufkommen, da die Zugangsstraßen nicht die Seiten des Platzes mitten durchbrechen, sondern so in den Ecken einmünden, daß sich dem Auge nirgends eine Lücke zeigt. Auf diese und andre Weisheit unsrer Altvordern hat sich der Städtebau in neuester Zeit wieder besonnen und läßt sie in großartigen Schöpfungen unter Rücksicht auf die Erfordernisse des modernen Verkehrs und die Hygiene neu aufleben. Auch die immer mächtiger anwachsende Bewegung des Heimatschutzes geht mit Erfolg darauf aus, der herkömmlichen Verunstaltung der alten Städtebilder Einhalt zu gebieten. Die Gegenüberstellung von Beispiel und Gegenbeispiel, wie sie namentlich die Bücher von Schulze-Naumburg und der Kunstwart von Ferdinand Avenarius bringen, ist hier das wirksamste Mittel gegen Unverstand und Gewinnsucht, indem sie die Augen für die charakteristische Schönheit der alten Bauweise und Baugruppierung öffnet und den Schutz der öffentlichen Meinung für sie aufruft. Hand in Hand damit geht die staatliche und provinziale Denkmalspflege, die mit erheblichen Mitteln geschichtlich bedeutsame Bauten in Stadt und Land zu erhalten und zu sichern sucht. Ja, der Staat gibt den Gemeinden durch ein zu errichtendes Ortsstatut ein Mittel in die Hand, sich gegen die Verschandelung historischer Straßen und Plätze erfolgreich zu wehren. So ist die Hoffnung berechtigt, daß man in Dorf und Stadt je länger desto mehr dazu zurückkehrt, seine Eigenart wieder kräftig zu betonen. Die örtliche Bauweise, die doch nicht willkürlich ist, sondern aus natürlichen Bedingungen, aus der Bodenbeschaffenheit, aus den an Ort und Stelle gegebenen Baustoffen, aus dem Stammescharakter und den Bedürfnissen der Bewohner sich entwickelt hat, gibt Anhaltspunkte genug, auch Neubauten in den alten Rahmen einzuordnen, ohne in sklavische Nachahmung und damit wieder in Unwahrheit zu verfallen. Daß der Heimatschutz auch auf die Erhaltung der Naturschönheiten und Naturmerkwürdigkeiten, auf unsre Berge und Wälder, auf unsre Seen und Moore, auf vereinzelte Bäume und Findlingssteine, auf unsre einheimische Tier- und Pflanzenwelt ausgedehnt worden ist, sei in diesem Zusammenhang nur angedeutet. Überall bietet sich hier dem Vaterlandsfreund ein dankbares und fruchtbares Feld, durch Vorbild und Lehre segensreich zu wirken, damit die Grundbedingung aller Schönheit, die Harmonie äußeren und inneren Lebens, im weiten deutschen Vaterland nach Stammesart und Bodencharakter in tausendfältigen Strahlen gebrochen, Zeugnis ablege von dem Reichtum, der Vielseitigkeit und der Wahrhaftigkeit deutschen Wesens.

Nachdem wir in unsern bisherigen Erörterungen die bildende Kunst als ein Ganzes aufgefaßt und nur die Belege für unsre Behauptungen aus ihren drei Hauptgebieten, der Architektur, Plastik und Malerei, entnommen haben, nachdem wir dann noch gezeigt haben, wie Rücksicht auf künstlerische Selbstdarstellung auch das Alltagsleben beherrschen soll, bleibt uns noch die Pflicht, jene drei Hauptgebiete in ihrer eignen Sphäre aufzusuchen und zu sehen, welche Aufgaben der besondere Charakter einer jeden an uns stellt. Schon die Reihenfolge, in der wir sie aufzählen, entspricht nicht der historischen Entwicklung, denn als jenes erste Mammut von der sichern Hand des Jägers so lebendig in den Stein geritzt wurde, konnte selbst von Anfängen der Baukunst wohl noch keine Rede sein. Jene Reihenfolge entspricht vielmehr der größeren oder geringeren Gebundenheit der Form an andere als rein ästhetische Bedingungen. Bei der Baukunst steht der praktische Zweck im Vordergrunde, die Form ist ganz dem Stoff und den in ihm schlummernden Gesetzen der Kohäsion, Statik und Mechanik unterworfen, deren Vernachlässigung sich bitter rächen würde. Die Zwecke der Plastik sind in der Regel rein ästhetisch, aber die Form bleibt an den Stoff und seine Gesetze gebunden; eine freischwebende plastische Figur ist ein Ding der Unmöglichkeit. Die Malerei endlich arbeitet nicht mehr wie Architektur und Plastik aus einem Stoff, der Stoff ist nur Unterlage und Mittel der Darstellung; die Form erkennt keine andern Gesetze mehr über sich an als die rein ästhetischen.

Die Baukunst

Die Baukunst übertrifft, obwohl in der Regel an äußere Zwecke gebunden, durch die Erhabenheit ihrer Wirkungen oft die freieren Schwesterkünste. Und zwar nicht nur vermöge der hohen religiösen, kulturellen, sozialen und patriotischen Ideale, die sie verkörpert; indem sie die Masse durch die Form bezwingt, triumphiert sie über das Gesetz der Schwere dadurch, daß sie sich ihm unterwirft, und vereinigt so in ihren Schöpfungen zwei ganz entgegengesetzte Prinzipien, Notwendigkeit und Freiheit. Doch noch mehr: ihre Schönheit besteht nicht zum wenigsten darin, daß sie sich den Gesetzen der Statik nicht bloß fügt, sondern sie auch für unser Gefühl zur Darstellung bringt. Dies Gefühl ist zunächst unser eignes Körpergefühl, denn so gut wie jene von der Baukunst aufgetürmten Massen ist auch unser Körper dem Gesetz der Schwere unterworfen. Eine Säule, die noch der Aufrichtung harrt, erscheint uns wie tot; wird sie aufgerichtet, so ersteht sie für unsre Empfindung zum Leben, denn auch wir müssen den aufrechten Stand dem Gesetz der Schwere abringen. Aber wir heben, stemmen uns auch gegen Lasten und regeln den eignen Widerstand nach dem der Masse: so können wir der tragenden Säule den Zusammenstoß zwischen Stütze und Last nachempfinden, ihn ästhetisch genießen. Wenn nun auch in der Form dies Lebensgefühl zum Ausdruck kommt, wenn die dorische Säule, gleich einem emporgereckten Arme leicht anschwellend und dann sich verjüngend, schließlich im Kapitell ihre Kraft zusammenfaßt, um den Architrav aufzunehmen, so wird die tote Masse zu lebendig gefühlter Form. Kühn streckt der gotische Strebepfeiler den Strebebogen wie einen Arm über das Seitenschiff aus, um den Schub des Hauptgewölbes abzufangen, gastlich öffnet das treppenförmig eingetiefte romanische und gotische Portal seine Arme, um die Scharen der Gläubigen aufzunehmen und wieder zu entlassen. Wo aber das Körpergefühl versagt, hilft unserm ästhetischen Empfinden die Natur aus. Der hart aufeinanderstoßende, wenn auch aufs feinste vermittelte Gegensatz zwischen vertikaler Stütze und horizontaler Last im griechischen Tempelbau (20; farb. Taf.), findet im römischen Rundbogen seinen völligen Ausgleich: die Last geht in die Stütze, die Stütze in die Last über, es gibt weder Sieger noch Besiegte. Aber doch nur dann, wenn durch Glättung der Keilsteine und ihre Profilierung nach Art des dreigeteilten ionischen Architravs, also durch den Archivolt, die Fugen der Keilsteine verneint werden: dann wölbt sich der Bogen leicht und kühn, gleich dem Regenbogen am Gewitterhimmel. Werden aber die einzelnen Keilsteine durch tiefe Furchen in ihrem Sonderdasein betont, so tritt an Stelle der Harmonie wieder der Kampf aller gegen alle (79). Den griechischen Konflikt zwischen Stütze und Last und den römischen Ausgleich vereinigt die Kombination beider, wie sie, auch für die Renaissance vorbildlich (86), am Kolosseum (43) auftritt; dabei fällt dem Bogen die praktische, der Säulenarchitektur die dekorative Aufgabe zu. Die majestätische Kuppel ist ein Bild des Himmelsgewölbes. Aber auch die Natur versagt schließlich. Der selbstgenügsamen Geschlossenheit des Rundbogens steht der Spitzbogen gegenüber; wir werden seine unbefriedigt nach oben strebende Triebkraft nicht dem deutschen Buchenwalde nachzufühlen brauchen, sondern aus dem eigenen Innern schöpfen können. Daß die Funktion konstruktiver Glieder ungeschwächt zur Geltung kommen muß und nicht durch dekoratives Formenspiel überwuchert werden darf, leuchtet ein: die Metopen und Giebelfelder des dorischen Tempels, der Fries des ionischen, die Lünetten des romanischen, gotischen und Renaissanceportals, die dreieckigen Zwickel, die Füllungen der Türen, Altäre und Kanzeln halten dies Gesetz unverbrüchlich; erst im Barock und vollends im Rokoko überwuchert das Dekorative das Konstruktive und führt zu dessen völliger Auflösung. Umgekehrt verdrängt die Gotik in ihrer strengen Folgerichtigkeit gewisse althergebrachte dekorative Elemente allmählich ganz. Das Kapitell war in der antiken wie in der romanischen Kunst ein bedeutsames, den Zusammenstoß zwischen Stütze und Last verkörperndes, dekorativ umschriebenes Bauglied gewesen. In der Gotik verliert es diese Bedeutung mehr und mehr und wird schließlich, indem der Pfeiler ohne Zwischenglied in den Bogen übergeht, mitsamt dem lockeren, der Natur abgelauschten Blätterkranz völlig verbannt.

Verfolgt man so die historische Entwicklung der Bauformen, so gewinnen sie, wenn man zugleich das eigene Lebensgefühl in sie einströmen läßt, gewissermaßen biologisches Interesse. Das lehrreichste Beispiel hierfür ist die Entwicklung des christlichen Gotteshauses von der altchristlichen Basilika durch die erst flachgedeckte, dann eingewölbte romanische Kirche zum gotischen Dom (50 ff.). Mag man dem Säulen- und Pfeilerproblem nachgehen oder der allmählichen Differenzierung von Haupt- und Arkadenpfeilern, bis diese Ungleichheit in der Hochgotik wieder ausgeglichen wird, oder dem Zusammenhang dieses Stützenproblems mit der erst flachen, später gewölbten Eindeckung; mag man den Einfluß verfolgen, den in Verbindung damit das Vierungsquadrat auf den Grundriß gewonnen hat: überall finden wir ein reges Streben der Glieder nach Ausgleichung und Einheit, bis diese im gotischen Dom völlig erreicht ist. Und so abstrakt dieser im konstruktiven Aufbau wie in seinen von der »Zirkelgerechtigkeit« beherrschten dekorativen Elementen auch ist, wir wissen ihn in seiner Umwertung und Auflösung der lastenden Massen zu unablässigem Emporstreben dennoch mit einem teils sinnlichen, teils mystischen Lebensgefühl zu durchdringen. Oder ein anderes Beispiel für die gewissermaßen in der Architektur selbst lebendigen Kräfte der Entwicklung. Maderna plante als Krönung seiner Vorhalle von St. Peter beiderseits einen Uhrturm; er so wenig wie später Bernini konnten ihn ausführen, weil die Fundamente nicht ausreichten (103 f.). Aber der Gedanke einer von zwei Türmen flankierten Kuppel, einmal gefaßt, setzt sich durch, und zwar auf Kosten des Langschiffs, das, zwischen Türme und Kuppel eingeschoben, ihren Zusammenschluß hinderte. So fühlen sich denn in St. Agnese in Rom beide Teile in eigentümlicher Weise zueinander hingezogen: die Kuppel kommt den Türmen entgegen und bildet selbst das zentrale Schiff der Kirche, anderseits zieht sich die Fassade zwischen den beiden Türmen ein, um die Kuppel voll zur Geltung zu bringen. In der barock überladenen Karl-Borromäus-Kirche zu Wien wirkt der Zug zu den Türmen sogar so stark, daß die Kuppel ovale Form annimmt.

Ferner muß für das Verständnis der Bauformen Klima, Material und Tradition im Auge behalten werden. Das flache Dach des dorischen Tempels war ursprünglich mit einer dicken Lehmschicht bedeckt; erst als man gelernt hatte, den Lehm zu Ziegeln zu brennen, entstand die Dachschräge, die bei der Geringfügigkeit der Niederschläge nur einer schwachen Neigung bedurfte. Steiler ist schon das römische Tempeldach, aber erst die hohe und steile nordische Bedachung bildet den vollendeten Gegensatz zu den noch heute flachen Dächern des heißen Südens. Den Luftziegelbau der Alten hat uns Dörpfeld verstehen gelehrt. Die Mauer durfte wegen der Erdfeuchtigkeit nicht auf dem Boden selbst aufsetzen, sondern benötigte einen Steinsockel, die Türöffnung, um nicht abgestoßen zu werden, eine Holzverkleidung: darum konnte man auch, als man längst in Stein baute, des quadergefügten Sockels, der steinernen Türumrahmung für das Auge nicht entbehren, und noch heute scheint ein Gebäude ohne Fußsockel in die Erde versinken zu wollen, so gut wie ein Haus ohne vorbereitendes Dachgesims unfertig aussieht. Die Bauten der Akropolis von Athen waren unmöglich ohne den Marmor des Pentelikon, die Riesenwölbungen der in ihrem Kerne noch heute der Verwitterung trotzenden Lauten Roms nicht ohne den klingend gebrannten Tonziegel und den als Bindemittel unentbehrlichen vulkanischen Sand. Die Umformung des gotischen Steinmetzenstils in die niederdeutsche Backsteingotik ist auf den Mangel an Haustein, der Steinstil der Basiliken des nordsyrischen Hauran auf den Mangel an Holz zurückzuführen. Unser ländlicher Fachwerkbau senkt seine Wurzeln in die Zeit, ehe die Römer den Steinstil nach Deutschland brachten. Das nun längst abgefallene Marmorgewand der antiken Bauten Roms geht im Grunde auf die Inkrustierung mit Stein- und Erzplatten zurück, deren die Luftziegelbauten des Orients bedurften.

Die Frage des Materials wird besonders brennend für die Überdachung der Bauten. Neben dem Schutz vor der Witterung ist Feuersicherheit das dringendste Erfordernis. Wie viele antike Tempel und christliche Gotteshäuser sind dem Blitz oder – im Einzelfalle – vorsätzlicher und unvorsätzlicher Brandstiftung zum Opfer gefallen, der Einsturz der flachen Kassettendecken hatte den Ruin des Ganzen zur Folge. Rettung konnte hier nur die von den Römern im Tonnen- und Kreuzgewölbe meisterhaft geübte Steinwölbung bringen. Letzteres wurde von den Deutschen im romanischen Stil erst zaghaft für die Seitenschiffe, dann für das Hauptschiff übernommen, und dies ist wegen des Seitenschubs sogar die Haupttriebkraft für die Einführung der Hauptpfeiler in der romanischen und des Strebensystems in der gotischen Baukunst: der Grundriß wird von der Überdachung aus bestimmt. Der moderne Eisenbau endlich scheint für die Größe des zu überdachenden Raumes fast kein Maß mehr zu kennen, aber auch hier ist die Überdachung für das System der Stützen entscheidend.

Damit sind wir bei einem Punkte angelangt, wo wir dem schwersten, ja dem eigentlichen Hauptproblem nicht länger ausweichen können. Nur von Bauformen, Bauteilen, Baustoffen war bisher die Rede, aber alles dies ist doch nur Mittel, untergeordnet dem ursprünglichen Zweck der Baukunst, Raumgestalterin zu sein. Aus einer unscheinbaren Knospe, dem Bedürfnis des Menschen, Schutz gegen die Witterung, dann wohl auch Sicherheit für seine Person, seine Familie, seine fahrende Habe zu finden, woraus sich dann erst das Gefühl für das eigne Heim entwickeln konnte, hat sich die Blume der Architektur zu majestätischer Pracht entfaltet. Könige und Götter haben an ihrer Wiege gestanden. Die Könige haben zuerst über das enge Bedürfnis hinaus der Baukunst für die Zwecke der Hofhaltung und Repräsentation Aufgaben gestellt, das rechteckige, einräumige und eintürige Haus mit offener Vorhalle ward zum langgestreckten Herrenhaus, wie es die von Schliemann in Troja, Mykene und Tiryns aufgedeckten Grundrisse in aufsteigender Entwicklung zeigen (19). Als dann das kraftvolle, aber rauhe Bauernvolk der Dorer über die erschlaffte altachäische Kultur hereinbrach, da legte es in jahrzehntelangen Kämpfen wohl ihre Burgen in Asche, doch als es galt, den Stammesgöttern für die errungenen kriegerischen und politischen Erfolge zu danken, da wurde das Haus der Könige zum Vorbild für das Haus der Götter, wenigstens in seinem Kerne, seine erhöhte Würde aber fand schließlich ihren Ausdruck in dem um jenen Kern herumgelegten Prachtgewand der dorischen Säulenhalle. Aus dem engumfriedeten, behaglichen Heim der Familie war erst eine weite, vornehme Königshalle, dann ein auch im Innern von Säulen gestützter Tempel geworden, der die Nähe der Gottheit atmete und das Menschenherz mit Schauern der Ehrfurcht erfüllte. Mag man die Wirkung der mit diesen drei Raumgestaltungen verbundenen sozialen, politischen oder religiösen Gefühle noch so hoch anschlagen, ihre eigentliche Trägerin bleibt die Raumgestaltung und das von ihr ausgelöste Gefühl, das Raumgefühl.

Wenn für irgendein Gebiet der Kunst, so gilt für das Raumgefühl der Satz, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist; es ist durchaus anthropozentrisch. In der Natur tritt uns der Raum als unbegrenzt entgegen, selten, daß uns in einer Höhle, und, allerdings ohne oberen Abschluß, in einer Felsenschlucht oder auf einer Waldblöße das Gefühl des begrenzten Raumes überkommt, während im Hochwald zwar nicht die Decke, wohl aber der seitliche Abschluß fehlt. Erst der künstlich hergestellte, allseitig begrenzte Raum vermag das Raumgefühl zu entwickeln, denn gegenüber der unbegrenzten Natur mit ihren wirklichen oder eingebildeten Gefahren gibt er uns das Gefühl der Beherrschung des Raumes. Wir können ihn mit den Füßen durchschreiten, mit geklafterten Armen abmessen, für beides aber wie vor allem für das Dritte, die Abmessung der Höhe, die sonst auf künstliche Weise vorzunehmen wäre, tritt stellvertretend das Auge ein, das durch die Erfahrung gelernt hat, den Lichteindruck in den Eindruck der Ausdehnung und Entfernung umzusetzen. Das heißt: der aufrechtstehende, die Arme klafternde, mit den Füßen geradeaus schreitende Mensch ist das Maß für Höhe, Breite und Tiefe, die drei Dimensionen, an die unser irdisches Sein nun einmal gebunden ist: das Raumgefühl ist in dreidimensionale Bewegung umgesetztes Lebensgefühl. Die beiden horizontalen Dimensionen, Länge und Breite, in dritter Linie die Höhe sind für das Raumgefühl entscheidend, ebendeshalb, weil jene durch den Tastsinn unmittelbar beherrscht werden können, diese nur mittelbar durch den Gesichtssinn. Halten sich Länge und Breite eines Raumes ungefähr das Gleichgewicht, so ladet er zum Verweilen ein, wird dagegen die Breite von der Länge um ein beträchtliches oder gar, wie bei langgestreckten »Gängen«, um ein Vielfaches übertroffen, so setzen wir, um die Beherrschung des Raumes zu vollziehen, unwillkürlich unsere Gehwerkzeuge in Bewegung, bis wir sein Ende erreicht haben. Auch die Höhe des Raumes wirkt entscheidend mit. Ein kleines Zimmer kann bei übermäßiger Höhe uns unbehaglich sein, ein großes bei niedriger Decke uns gedrückt vorkommen; im gotischen Dom, in der Renaissancekuppel hat das Auge schließlich keinen Maßstab mehr und fühlt sich ins Unendliche emporgezogen. Das Verhältnis von Breite, Tiefe und Höhe, die Proportionen des Baues also sind das für die Raumwirkung Entscheidende. Dabei kommt, weil ja das Auge allein die Höhendimensionen beherrscht und für die beiden andern Dimensionen die Stelle des Tastsinns vertritt, auch die Lichteinführung ganz entscheidend in Betracht. Wir streben aus dem Dunkel zum Licht: die im hellsten Tageslicht erstrahlende Vierungskuppel zieht uns von der lichtgedämpften Vorhalle vorwärts und aufwärts, umgekehrt bemächtigt sich unser, wenn wir zur düstern und gedrückten Krypta niedersteigen, ein Gefühl der Beklemmung.

Außer dem Tast- und Gesichtssinn spielt das Gehör für das Raumgefühl eine keineswegs unbedeutende Rolle. Das gesprochene Wort, der musikalische Ton verhallt nicht ins Leere, sondern findet gleich dem Tast- und Gesichtssinn eine Begrenzung, einen Widerhall, unter Umständen sogar eine Verstärkung. Ein Zimmer wird erst dann behaglich sein, wenn das gesprochene Wort mühelos verständlich ist; in langen Korridoren langsam verhallende Schritte wirken unheimlich; voll wird ein Kirchenraum erst genossen, wenn die mächtigen Töne der Orgel den ganzen eingeschlossenen Luftraum in Schwingungen versetzen, ja, umgekehrt muß die Akustik für die Raumgestaltung von Versammlungs- und Konzertsälen an erster Stelle ausschlaggebend sein.

Bei der Gruppierung von Räumen zu einer Gesamtanlage wird sich demgemäß ein den Gesamteindruck bestimmender Ablauf der von den Einzelräumen erweckten Raumgefühle ergeben. Unvollkommen abgeschlossene Räume endlich sind die Höfe und öffentlichen Plätze; auch sie erzeugen in ihrer Raumgestaltung, mag sie von architektonischen Gesichtspunkten, von praktischen Zwecken oder vom Zufall eingegeben sein, ein bestimmtes Raumgefühl, und von hier aus mag man auch den Weg finden zum Genuß der architektonischen Gartenanlagen der Rokokozeit, die durch glattgeschorene Wände von lebendigem Grün einen bestimmten Raumeindruck erzielen wollen.

Werfen wir von diesen allgemeinen Gesichtspunkten aus zunächst einen Blick auf die historisch erwachsenen Bautypen, so erscheinen sie uns in einem ganz neuen Lichte. Verweil- und Gehräume hat Wilhelm Waetzold die beiden entgegengesetzten Raumarten genannt. Danach wären die Säulenhallen der Antike und Renaissance, die Laubengänge der gotischen Zeit ausgesprochene Gehräume, der vollkommenste Verweilraum das römische Pantheon (45), »die zur Statik ausgebaute Kugel«, die durch das große offene Auge ein wahrhaft ideales Licht empfängt, deren Kassettenperspektive sogar auf den im Mittelpunkt Verweilenden berechnet ist. Und neben der Form kommt selbstverständlich auch der Rauminhalt in Betracht; der Querschnitt des Pantheons nimmt den des Kölner Doms bequem in sich auf! Dem zentralen Verweilbau entgegengesetzt ist der Gehraum der altchristlichen Basiliken, welches auch immer ihr vielumstrittener Ursprung sein mag. Verfolgt man die Gesamtanlage (51a), das vorgelegte säulenumgebene sog. Atrium mit seinem Brunnen, die quergelagerte Vorhalle, deren Türen den Zugang zu den drei oder fünf Schiffen des Hauptbaus vermitteln, und diese Schiffe selbst, deren Säulen- und Bogenreihungen, deren Kassettendecke und Marmorbelag mit unwiderstehlicher Gewalt zu dem großen Triumphbogen und dem von der Halbkuppel der Apsis überschatteten Altar hinzogen; bedenkt man ferner, daß diese Gliederung des Baues in Vorhaus, Gemeindehaus und Chor der Gliederung der Gemeinde in Katechumenen (und Büßer), vollberechtigte Gemeindeglieder, und Priesterschaft entsprach, so kann man sich eine Vorstellung davon machen, wie wirksam der Ablauf der Raumgefühle hier für jede einzelne Kategorie war. Das einzigartige Schauspiel, welches die Weiterentwicklung der Hauptanlage bietet, haben wir den Bauformen und Bauteilen nach schon oben verfolgt; sie stehen in engstem Zusammenhang mit der Raumwirkung. Das Verhältnis von Breite und Höhe, das in der altchristlichen Basilika ungefähr 1:1 war, steigt im romanischen Stil zu 1:2, im gotischen gar zu 1:3 und darüber; das bedeutet eine gewaltige Steigerung der nach vorn und oben ziehenden Kräfte. Aber gegenüber der einfachen Säulenreihung der alten Zeit wirkt die Einführung des Kreuzgewölbes des sog. gebundenen romanischen Systems retardierend; denn sie zerlegt die Schiffe gewissermaßen in quadratische Verweilräume, während gleichzeitig die Anlage einer Krypta und die dadurch erforderliche Erhöhung des Chors diesen für das Raumgefühl von dem Haupthaus absondert (58). Dieser Gleichgewichtslage ruhender und treibender Kräfte macht der mystische Hochdrang der Gotik in Verbindung mit der Reihung gleichartiger Pfeiler, die sich aus der Ausgleichung von Haupt- und Zwischenpfeilern ergab, ein Ende; die Seitenschiffe werden zu schmalen überhohen Seitengängen, die zum Teil nicht einmal vor dem Querhaus haltmachen, sondern hinter ihm und dem Chor herumlaufen(66).

Von einem solchen Hochdrange könnte in den Kirchenbauten der Renaissance nur bei der Kuppel die Rede sein; im übrigen herrscht eine harmonische, das Raumgefühl nach keiner Richtung überspannende Weiträumigkeit. Das von der Renaissance bevorzugte Tonnengewölbe, das wir am besten als eine in Schwingung geratene flache Kassettendecke auffassen, führt mit seiner Wölbung sicher zu der alles Licht in sich sammelnden Hochwölbung der Kuppel hin (106). Es ist bekannt, wie der beherrschende Raumeindruck der Peterskuppel innen wie außen durch die Verlängerung des einen Kreuzarms zum Hauptschiff vernichtet ward. Die Hauptkirche des Jesuitenordens, Il Gesù (107, 108), hatte bereits dem Hauptschiff unter Verkümmerung der Seitenschiffe die Breite der Kuppel gegeben und sie so in die Raumwirkung des Mittelschiffs voll einbezogen. Fortan bevorzugte das Barock die Einräumigkeit und schwelgte in immer neuen Raumlösungen mit Hilfe von runden und ovalen Kuppeln, weitgespannten sog. Spiegelgewölben und dem ganzen Rüstzeug einer illusionistischen Plastik und Malerei, die schließlich, indem sie den Himmel mit seinen Heiligen zu öffnen schien, dem mystischen Drange in anderer Weise als die Gotik Genüge tat, dafür aber den einheitlichen Raumeindruck zerstörte.

Im Profanbau setzte die Renaissance an Stelle des wie bei uns im Norden tiefen und schmalen gotischen Hauses mit seinem mehr einem Luftschacht gleichenden Hof den festungsähnlichen, einen mittleren Säulenhof umschließenden, breitgelagerten Palazzo, dessen Zimmerfluchten von den auf der Hofseite vorgelagerten Säulengalerien zugänglich waren (79 ff.). Man hatte bis dahin sein Haus nach den inneren Bedürfnissen gestaltet, da der romanische wie der gotische Stil dem individuellen Geschmack weiten Spielraum ließ. Die Nachahmung der Regelmäßigkeit und Symmetrie des italienischen Palastes hat die üble Folge gehabt, daß nun nicht von innen nach außen, sondern von außen nach innen gebaut wurde; die Schauseite ward das Maßgebende, sie legte den Innenräumen ihr Gesetz auf. Erst das französische Rokoko hat, wie es zum ersten Male seit der Antike wieder bequeme Sitzmöbel schuf, so auch wieder Landhäuser geschaffen, wo repräsentative und Nutzräume in bequemer Folge sich in zwei Flügeln um eine mittlere Saalrotunde gruppierten, wie in der reizenden Schöpfung von Knobelsdorffs im Sanssouci des großen Königs; das Stadthaus zog sich, mit zwei nach der Straße zu vorgeschobenen Flügeln einen Ehrenhof bildend, vornehm von dieser zurück und wandte sein Gesicht der bevorzugten Gartenseite zu. Die Ernüchterung der Formen, wie sie noch unter Ludwig XVI. der Zopfstil, unter dem ersten Kaiserreich bei aller anspruchsvollen Pracht das Empire brachte, fand dann im bürgerlichen Leben Deutschlands seine Fortsetzung im Biedermeierstil, dessen ungesuchte, weil notgedrungene Einfachheit im Bunde mit den vom englischen Landhaus uns zugekommenen Anregungen, wie wir sahen, dazu beigetragen hat, uns von dem Stilrausch der 80er und 90er Jahre zu erlösen. Die neue bürgerliche Baukunst ist heute wieder ganz Raumkunst geworden, die die Innenräume von den Bedürfnissen der Bewohner aus gestaltet und sie gleichzeitig mit der nach Form und Farbe harmonisch eingegliederten Ausstattung versieht, den Außenbau dagegen nur als Abdruck des Innern wertet. Für diese neue Raumkunst, in der das heutige Deutschland an der Spitze marschiert, sich die Augen öffnen und das Gefühl erschließen zu lassen, dazu bieten bereits allerwärts erstandene Bauten sowie viele Ausstellungen reichlich Gelegenheit. Es ist aber in anderm Zusammenhang schon angedeutet worden, daß auch die Städtebaukunst sich in der Gestaltung der Straßen und freien Plätze wieder auf die Grundsätze der Raumkunst besonnen hat. Neben die Aufgabe der Stadterweiterung tritt die Schöpfung neuartiger Villen- und Gartenstädte; selbst die früher so einförmigen Arbeiterkolonien gewinnen Eigenleben, und ein Altersheim wie die von der Firma Friedrich Krupp geschaffene Kolonie Altenhof ist in Einfachheit, Gediegenheit und Wohnlichkeit der Gesamtanlage geradezu ein Musterbeispiel.

Die Plastik

Suchen wir von der Baukunst als Raumgestalterin den Übergang zu der Plastik als Körperbildnerin zu gewinnen, so drängt sich uns zunächst die Tatsache auf, daß die Baukunst in vielen Fällen für die Plastik geradezu die Gelegenheit und den Rahmen zur Entfaltung schafft. Freilich muß dann die Plastik einen Teil ihrer Freiheit aufgeben, sie muß den ihr erwiesenen Dienst durch größere oder geringere eigene Dienstbarkeit vergelten. Schwer stemmten am gewaltigen Zeustempel von Akragas Atlanten die emporgehobenen Unterarme gegen das wuchtige Gebälk, noch heute tragen die edlen Jungfrauengestalten der Südhalle des Erechtheion erhobenen Hauptes die ihnen anvertraute Last, und die kraftvolle Ruhe, die dies sonst der Säule zukommende Geschäft erfordert, spricht sich ungezwungen in den kanelürenartig niederfallenden Gewandfalten aus (24 f.). Das Altertum vermied hier den gequälten Eindruck, in dem das Barock bei solchen lebendigen Stützen gerne schwelgt (112), es weiß hier wie überall Maß zu halten. Der dorische Tempel bietet der Plastik die engbegrenzten Metopentafeln und die spitzen Giebelfelder zur Ausschmückung dar, der ionische sein Friesband, und wie hat die griechische Plastik es schließlich gelernt, den gegebenen Rahmen in voller Freiheit auszufüllen! Gerade die Gebundenheit hat hier im Parthenon zu der Vollendung reiner Höhe geführt, in der Beschränkung haben sich seine Künstler erst recht als Meister gezeigt. In der christlichen Kunst hat der romanische wie der gotische Stil der Relief- wie der Freiplastik besonders am Portal eine starke Mitwirkung eingeräumt, sie dafür aber auch, wie wir noch sehen werden, um so eigenwilliger geknechtet, während die Renaissance ihr wieder die Freiheit zurückgibt und sie teils in Nischen aufstellt (109, 120, 121), teils zur Versinnbildlichung architektonischer Kräfte verwendet (118); auch das Barock läßt gern die aufsteigende Kraft der Säulen und Pilaster nach oben plastisch ausklingen (98, 110).

Das gemeinsame Band, welches der Skulptur dies Hand-in-Hand-Gehen mit der Architektur erleichtert, sind, wie gesagt, die Gesetze des Stoffes, woraus beide schaffen, die Kohäsion und die Schwerkraft. Auch hier ergibt sich die Folge, daß jedes Material, sei es nun Holz, Stein, Erz, Gold oder Elfenbein, innerhalb des allgemeinen Stils seinen besonderen Materialstil entwickelt, wobei nicht bloß die innere Struktur mitspricht, sondern ganz wesentlich auch die Oberfläche, je nachdem sie das Licht aufsaugt oder reflektiert. Dies tritt besonders bei der Übertragung aus einem Material ins andre zutage: viele antike Bildwerke gewinnen erst dann wieder ihr altes Leben, wenn man sie aus der uns erhaltenen Marmorkopie unter Weglassung der wesenlosen Stütze in Bronze zurückübersetzt (167, 175, 188 f.).

Von der Gebundenheit durch das Gesetz der Schwere hat sich die griechische Plastik, wie wir noch sehen werden, nur ganz allmählich losgemacht. Diese bewundernswerte Stetigkeit der Entwicklung erklärt sich daraus, daß die Kunstübung sich, wie etwa bei den Robbia der Frührenaissance, innerhalb derselben Familie durch Generationen hindurch forterbte; so war eine behutsame Weiterbildung der Motive gewährleistet, ein planloses Herumtasten nach Sensationellem ausgeschlossen. Der Begriff des geistigen Eigentums war dem Altertum fremd; wie die Tragiker ihre Stoffe dem großen Sagenschatz des Volkes entnahmen und unter Verzicht auf die Neuheit des Stoffes durch die Neuheit der Behandlung zu interessieren suchten, so war auch der bildliche Formenschatz Gemeingut.

Der griechischen Plastik also mit ihrer folgerichtigen und vielseitigen Entwicklung wird sich zu allererst zuwenden, wer sich der etwas spröden Körperbildnerin nahen will, deren Würde und Höhe die Vertraulichkeit entfernt. Für den unmittelbaren Zugang vom Körpergefühl aus, sahen wir, sind, obwohl er keineswegs verschlossen ist, die Bedingungen vorerst noch nicht günstig; vielleicht aber gelingt es von einer andern Seite, vom Relief her, die Kluft zu überbrücken, die uns Moderne von dem edeln Maß und der vollendeten Harmonie dieser antiken Idealgestalten trennt. Das Rundwerk läßt zunächst jeden Standpunkt zu, und es ist Sache des Beschauers, den vom Künstler gewollten, vorzugsweise günstigen oder allein zulässigen herauszufinden. Es bietet bei jeder Veränderung des Standpunktes neue Linien und Flächen dar, und diese sozusagen dramatische Vielseitigkeit des Eindrucks wirkt leicht verwirrend, ja unter Umständen beängstigend. Dagegen wirkt der gleichartige Reliefgrund beruhigend wie der gleichartige Erzählungston des Epikers, der seine Auffassung vom Charakter seiner Helden dem Leser väterlich nahelegt, das Auge kann unbeirrt der Linienführung nachgehen, so wie sie der Künstler gewollt hat. Daher empfiehlt es sich vielleicht, zunächst durch die Betrachtung von Grabreliefs wie das der Hegeso und des Dexileos, eines Votivreliefs wie das von Orpheus und Eurydike und etwa noch eines Kultreliefs wie das eleusinische (144-147) sich in jene »edle Einfalt und stille Größe« einzufühlen, die als Erbteil der griechischen Kunst erkannt zu haben Winckelmanns Verdienst bleibt, auch wenn wir heute diese Charakteristik im wesentlichen auf die Zeit des Phidias beschränken. Die Klarheit der Formen, die Ruhe der Linien, die Gehaltenheit der Bewegung wirken zu so maßvoller Harmonie zusammen, daß sie sich durch die äußeren Sinne dem innern Sinn restlos mitteilen. Oder man wende sich den Metopen des Parthenon zu mit den im engsten Rahmen frei bewegten, ihren herrlichen Gliederbau voll entfaltenden Kämpferpaaren, oder dem Preislied auf des attischen Reiches Herrlichkeit, dem als buntes Band die Cella umschlingenden Fries: welche Fülle von Typen aus dem Athen der perikleischen Zeit, welcher Reichtum an Motiven, welche Stufenfolge von heitrer Ruhe bis zu maßvoll stürmischer Bewegung: wahrlich ein Bilderschatz, der uns einen tiefen, langen Trunk aus dem Wunderborn edelster Kunst tun läßt. Und nun sind wir vorbereitet auf den Hochgesang der griechischen Kunst, die Giebelfiguren (156 f.); Goethe fand sie so groß, daß ihm nicht einmal die Natur auf sie zu schmecken schien. Auch die Giebelfiguren treten trotz voller Körperlichkeit nicht aus dem Rahmen der Reliefwirkung heraus; es ist lehrreich, die bisherige Entwicklung über die Giebel von Olympia und Ägina bis zu den ersten unbeholfenen attischen Versuchen rückwärts zu verfolgen. Sie führen in die archaische Zeit zurück.

Nun wird uns auch der Rekrut der Kunstgeschichte, die Grabfigur von Tenea, mit seinem blöden Lächeln nicht mehr abstoßen, Schritt für Schritt folgen wir der Entwicklung dieses athletischen Ideals und sehen mit der wechselnden Beinstellung, der Arm- und Kopfhaltung das Gesetz der Frontalität überwunden und an seine Stelle die Ponderation und den Kontrapost, den kreuzweisen Ausgleich ruhender und bewegter Glieder, treten. Wir sehen den schlanken attischen Knaben Sieg erflehend und für Sieg dankend, den ausgebildeten Athleten vor und beim Diskuswurf. Wir bemerken dabei, wie in der Marmorfigur noch immer der rechteckige Block nachklingt, aus dem sie herausgehauen ist, wie sie sich reliefartig ausbreitet, bis Lysippos durch den vorgestreckten Arm des »Schabers« (164) der griechischen Kunst die Tiefendimension erobert (161 ff.). Dabei gewahren wir auch, was in neuerer Zeit oft genug verkannt worden ist, daß der Reiz des Bronzewerks in seinen feingeschwungenen Umrissen bei sparsamer, mitunter harter Innenmodellierung, der des Marmorwerks dagegen gerade in der Feinheit dieser letzteren besteht. Und wenn in den Anfängen der Kopf der Figur dem übrigen Körper nicht, wie wir es gewohnt sind, über-, sondern gleichgeordnet erscheint, so beobachten wir doch, wie die Beseelung des Antlitzes, vorerst freilich noch sehr unbeholfen, bei dem fröhlich oder schmerzlich (158) verzogenen Munde einsetzt, wie sie dann den Augen durch tiefe Einbettung in die Schädelhöhle zum Ausdruck verhilft und endlich auch die Stirn und das Haar zur Charakteristik heranzieht. Besonderen Reiz hat es auch, das allmähliche Flüssigwerden der Formen in der Verbindung mehrerer Figuren, in der Gruppe, zu beobachten, von der losen Nebeneinanderordnung bis zur unlöslichen Verbindung (188 ff.). Und endlich der Ruhmestitel der griechischen Plastik, der olympische Götterhimmel! Wo hier anfangen, wo enden? Von der ruhig stehenden Apollofigur, die in der vorgestreckten Hand krampfhaft den Bogen hält, bis zu dem belvederischen Apoll, dessen Erscheinen allein genügt, um die Feinde zu schrecken, von dem auf Münzbildern uns erhaltenen messenischen Zeus vom Berge Ithome, dem in ältester Zeit noch Menschenopfer dargebracht wurden, bis zum ruhig thronenden Goldelfenbeinbild des Phidias, welch eine Entwicklung! Wohl machen wir auch hier die Beobachtung, daß mit der steigenden Beherrschung der Form der sittliche Gehalt langsam sinkt, daß die griechische Kunst, indem sie von dem Ethos der großen Olympier zu den den Lebensgenuß verkörpernden Göttern und ihrem Gefolge herabsteigt, der Erde allmählich näher kommt und schließlich dem Realismus huldigt: hier wurzelt die griechische und römische Porträtkunst, der Sinn für Barbarendarstellungen (160), für niedere Volkstypen, für das Kindes- und Greisenalter. Ein Charisma aber ist der griechischen Plastik geblieben: sie adelt, was sie berührt; auch die unscheinbarste römische Sigillatascherbe trägt noch den Stempel der hohen Mutter, der großen Körper- und Typenbildnerin, und selbst in Trümmer geschlagen und tausendfach entstellt hat sie sich bis heute die Kraft bewahrt, Unnatur zu vertreiben und kranke Kultur zu heilen: als höchstes Produkt einer Kultur, die der Welt die Humanität geschenkt hat.

Wie sehr dem germanischen Geist von Haus aus das Figürliche widerstrebte, ist oben berührt worden, und es bedurfte eines langen Weges, bis die deutsche Kunst zu Meisterschöpfungen befähigt wurde wie die berühmten Idealfiguren der Stifter und Stifterinnen am Westchor des Doms zu Naumburg (211 f.). Dieser Weg führte zweifellos von der Antike durch die römische Provinzialkunst in Gallien über französische Kunstzentren wie Reims in das Herz Deutschlands; romanisches Blut hat hier die Vermittlung der antiken Formelemente übernommen, mit deren Hilfe aus germanischem Geiste dies echt deutsche Werk geboren wurde; so wie diesen Eckart von Meißen und diese Uta von Ballenstedt denken wir uns die wehrhaften Recken und minniglichen Frauen des Nibelungenliedes! Aber nur kurz war diese Blüte der deutschen Kunst, wo wie in der Antike die Wagschalen von Leib und Seele gleich standen. Der Kunstwille der Gotik war ein andrer. Sie kannte den von der Kirche verpönten Leib nicht und wollte ihn nicht kennen; auf Ausdruck um jeden Preis kam es ihr an und der Leib hatte für sie keine Sprache. Das Gewand mußte für ihn sprechen und gebärdet sich oft leidenschaftlich genug. Nur damit der Leib nicht ganz zum Kleiderstock würde, brachte sie ihm jene manierierte Hüftausbiegung bei (217 f.); sie soll ihm die Bewegungsfähigkeit gewissermaßen amtlich bescheinigen, so wie die zum Lächeln emporgezogenen Mundwinkel dem Antlitz der Grabfigur von Tenea. Und wenn nun dieser vergewaltigte Leib in die abgetreppten Portalgewände hineingestellt wird, ursprünglich selbst ein Stück Säule oder Rundstab, also Architekturformen vertretend, was Wunder, daß er in den Hochdrang der Architektur mit emporgerissen wird? Derselbe Formwille lebt ja doch in beiden hier vereinten Künsten, die Harmonie von Leib und Seele, von Masse und geistiger Form zu sprengen zugunsten der Seele und der geistigen Form. Es wäre töricht und ungerecht, von der gotischen Plastik das zu verlangen, was sie nicht geben will und darum nicht kann, und das zu verschmähen, was zu geben sie sich heiß bemüht, den hinreißenden Ausdruck der leidenschaftlichsten und rührendsten Empfindung. Wer von der Antike herkommt, wird sie vielleicht barbarisch finden, aber niemand hat das Recht, sie darob zu schelten, wohl aber, sie für sich abzulehnen, wie jeder die Vergewaltigung der Form durch neuere Plastiker wie Metzner oder Minne für sich ablehnen darf. Und doch ist diese nur individuell, jene typisch für eine der glänzendsten Epochen deutschen Wesens.

So ist die Gotik eine Vergewaltigung der Natur, der Gegenpol der Antike. Aber die Natur läßt sich auf die Dauer nicht vergewaltigen, und so fiel die schon ihrem eignen Barock nahe Gotik fast dem ersten Ansturm der durch die italienische Renaissance erneuerten Antike zum Opfer. Diese mit kurzen Worten schwer zu umschreibende Bewegung, die aber alles andere lieferte als eine Kopie der Antike, bedeutet das zweite Blütenalter der Plastik. Noch regt sich in den Vorläufern und Anfängern gotischer Formwille: Giovanni Pisanos (227), fast mehr noch Brunellescos große und heiße Leidenschaft will seelischen Ausdruck um jeden Preis, auch auf Kosten der Form, durch die Ghiberti den Mitbewerber schlägt (230). So bedeutet die Florentiner Konkurrenz vom Jahre 1401 ein Gottesurteil zuungunsten des gotischen Prinzips. Die Vielgestaltigkeit des dadurch zur Herrschaft berufenen Renaissancegeistes verkörpert der geniale Donatello: wer würde hinter dem antik empfundenen David, der ersten nackten Statue seit dem Altertum (237), und dem von einem neuen Selbstbewußtsein durchglühten heiligen Georg (233) denselben Künstler vermuten! Aber gerade der Vergleich des letzteren Werkes etwa mit dem heiligen Stephanus Ghibertis (234), der denselben Bau schmückt, zeigt den Unterschied der Geister: Ghiberti gibt mittelalterlichen Geist im Schönheitsgewande der Antike, Donatello formt einen neuen Geist, der dann auch über die Alpen wandert und in der Werkstatt Peter Vischers Werke schafft, welche den Höhepunkt der deutschen Renaissanceplastik bezeichnen (235 f.). Dazu kommt bei Donatello, z. B. im Gastmahl des Herodes (231), mit antiken Schönheitselementen gemischt ein fast erschreckender Realismus! Donatellos heiliger Georg zu Pferde gesetzt gibt Verrochios Colleoni (243). Und dann, um den höchsten Gipfel der Renaissance zu nennen, der gewaltige Michelangelo, in dessen leidenschaftlich-tragische Seele sich zu versenken zu den tiefsten künstlerischen Erlebnissen gehört! Vor seinen am Grab der beiden Medizeer schwer hingelagerten symbolischen Gestalten (122) versinkt die ruhige Heiterkeit der Parthenonfiguren. Und doch ist er darin echt antik, daß für ihn, auch in seiner Malerei, von der ganzen Natur nur der Mensch vorhanden ist. An die Antike gemahnt auch die Ruhe seiner Figuren, nur daß sie nicht aus der Harmonie, sondern aus der Disharmonie von Leib und Seele stammt; sie sind der Ausdruck eines hochfliegenden Geistes, dem die Fesselung durch die Erdenschwere tragisches Lebensschicksal geworden ist. Die aufgesammelte, mühsam zurückgehaltene Leidenschaft Michelangelos, des Begründers, entspannt Bernini, der Vollender des Barock. Dafür ist Symbol sein David neben dem Michelangelos (239 f.). Ist aber an Stelle des durch ein hohes Ethos gehaltenen Pathos einmal der Affekt getreten, so liegt die Gefahr der theatralischen Veräußerlichung nahe, der das Barock und erst recht das Rokoko erlag (123-126, 201). So war schon der italienische Klassizismus Canovas, in dem noch Spuren der Richtung Berninis nachklingen (127, 153) förmlich eine Erlösung; kühler und reiner wirkt der nordische Klassizismus eines Thorwaldsen (152), Schadow (126, 197) und Rauch (Königin Luise). Die harte Zeit des Befreiungskampfes führte die beiden letzteren in den Standbildern preußischer Helden (Blücher, Ziethen) von der klassischen Kälte zu einem gesunden Realismus; auch Rietschels Weimarer Dichterpaar gehört hierher. Erst damit hatte antike Formenklarheit und deutsches Volkstum einen gleichberechtigten Bund geschlossen. Aber wieder führt die Entwicklung zum Griechentum zurück, für dessen feineren Klang neuere Forschungen und Ausgrabungen das Ohr geschärft hatten: Hellenentum, nicht wie der alte Klassizismus aus zweiter, sondern aus erster Hand. Zwar wandelt Reinhold Begas noch auf den Spuren des Barock (202); eine feinere Witterung für das antike Formgefühl zeigt Tuaillons Amazone, ein polykletischer Typus in die schlanken lysippischen Proportionen umgegossen (246); aber auch bei ihm folgt auf das im Kostüm gleich Schlüter (244) antikisierende Reiterdenkmal Kaiser Friedrichs in Bremen das Kaiser Wilhelms II. auf der Kölner Hohenzollernbrücke (245) in militärischer, die heroischen Elemente betonender Zeittracht, moderner Geist, durch antiken Formensinn geadelt. Des geistvollen Max Klinger hellenisierende Schöpfungen, zum Teil ein Versuch, die antike farbige Plastik zu erneuern, konnten ihrer sensiblen Natur nach nicht die Nachfolge finden wie die verdienstvolle Tätigkeit Adolf Hildebrands, der die antiken Formgesetze grundsätzlich erforschte und in eigenen Schöpfungen mit deutschem Geist erfüllte. Er zuerst holt das Relief wieder, wie die Alten, von der Vorderfläche des Steins in die Tiefe gehend aus der Steinplatte, die Rundfigur aus dem viereckigen Marmorblock eigenhändig heraus, statt ein Tonmodell geschickten Italienerhänden zur Übertragung in den Marmor anzuvertrauen, und erneuert so die Zweidimensionalität der vorlysippischen Kunst; unter seines Meißels Schlag entwickelt sich die Form aus dem Stoff, der Stoff geht in reine Form über, wobei der Unterschied von Marmor und Bronze, was Statik, Oberflächencharakter und Umriß betrifft, in antikem Sinne herausgearbeitet wird (171; 154 f). Durch diese Harmonie von Stoff und Form kommt Ruhe und Klarheit in die Gebilde seiner Hand, eine gewisse Treuherzigkeit und Wahrhaftigkeit spricht aus ihnen, die nicht effektvoll, dafür aber im Gegensatz etwa zu dem feinnervigen Rodin (172) echt deutsch ist. Rodin geht von der Beobachtung aus, daß das Antlitz nicht der alleinige Spiegel der Seele ist, sondern daß auch der Körper keinen einzigen Muskel habe, der auf Affekte wie Liebe oder Haß, Freude oder Trauer, Begeisterung oder Verzweiflung nicht ebenso reagierte wie die Züge des Antlitzes. Das erfordert naturgemäß unablässiges aufmerksamstes Studium des Modells, deren Rodin im Atelier stets mehrere um sich hat. So spricht bei ihm der ganze Körper die Seele aus; er hat es auch zuerst gewagt, seine Gebilde halb ausgeführt im Marmor stecken zu lassen, um so das Werden der Form aus dem Stoff empfinden zu lassen und daraus einen neuen sensiblen Reiz zu gewinnen. Der überfeinerten Kultur der romanisch-gallischen Rasse, deren Extrakt Rodin ist, steht in dem bereits oben gewürdigten Meunier der derbe Realismus der belgisch-wallonischen gegenüber. Meunier entdeckt die Plastik des modernen Arbeiters, vornehmlich des Industriearbeiters, und adelt den erschreckenden Realismus durch die Formgesetze der Antike (168, 248). Er weiß, daß für das Bronzewerk die Reinheit der Umrisse entscheidend ist, er versteht die plastischen Vorteile der Arbeitskleidung des Bergmanns auszunutzen, er meistert nach dem Muster der Antike und noch mehr der Renaissance den Kontrapost und spricht wie Michelangelo am liebsten in Einzelfiguren; er macht sie zu Trägern der aus dem modernen Individualismus erwachsenen sozialen Spannungen und schafft so den Typus eines neuen Zeitalters.

So fehlt es dem Leben der neuen deutschen Plastik nicht an Anregungen von außen und innen. Insbesondere darf die namentlich von der Münchener Schule unter Hildebrands Anregung gepflegte Verbindung der Plastik mit dekorativer Architektur als verheißungsvoll gelten, es sei an den Wittelsbacher Brunnen in München und den Reinhardsbrunnen in Straßburg, beide von Hildebrand selbst, erinnert und an den Jubel, den der Berliner Märchenbrunnen unlängst bei Jung und Alt entfesselte. Die nationale Denkmalsplastik aber, die nach dem gelungenen Wurf des Hermannsdenkmals es im neuen Reich zuerst mit der Plastik in Verbindung mit Architektur (Niederwald, Coblenz, Berlin), dann mit der Architektur in Verbindung mit Plastik (Porta Westfalika, Leipzig) versuchte, hat in der auf mächtigem Unterbau gewissermaßen selbst zum Turm gewordenen Rolandfigur des Reichsgründers (Hamburg) vorläufig ihr letztes Wort gesprochen.

Die Malerei

Von den drei Schwesterkünsten steht in der Neuzeit die am freisten schaffende, welche die Körper im Raume darstellt, die Malerei, so sehr im Vordergrund des allgemeinen Interesses, daß die Baukunst und erst recht die Skulptur weit hinter ihr zurücktreten. Vielleicht aber ist die Meinung, als sei es in früheren Kunstzeitaltern wesentlich anders gewesen, nur eine Täuschung, weil bei der Vergänglichkeit der Werke der Malerei die Dürftigkeit des Erhaltenen nur zu leicht zum Maßstab ihrer jeweiligen Bedeutung wird. Am meisten trifft dies die bis auf wenige Reste untergegangene antike Malerei. Und doch wissen wir, daß im Altertum die Malerei die führende Kunst war. Der Parthenonfries ist undenkbar ohne die reine Liniensprache und den ethischen Gehalt der Fresken des großen Polygnot von Thasos; und wenn in den Parthenongiebeln eine große Zahl von Figuren in reiche Wechselwirkung gesetzt wird und die Erregung in der Mitte stürmisch emporbrandet, um nach den Seiten hin allmählich zu verebben, so hatte auch dies Polygnot gelehrt.

Die führende Stellung der Malerei ist auch darin begründet, daß sie als die beweglichste und flüssigste der bildenden Künste sich jeder Erfindung und Gebietserweiterung offen, jeder Veränderung des Geschmacks und der Auffassung fügsam erweist, ja als ihr sichtbarer Ausdruck geradezu ein Gradmesser ist für die Regungen des Zeitgeistes und die Wandlungen der Weltanschauung. Daraus erklärt sich das leidenschaftliche Interesse an der Malerei in alter und neuer Zeit. Sie steht im Streit um die künstlerische Kultur im Vorkampf; daher entbrennt um sie heute wie ehemals am heftigsten die Leidenschaft von Künstlern und Laien; vor Masaccios Fresken in der Brancaccikapelle (187, 251) traf Michelangelo jener Faustschlag Torregianis, der ihn zeitlebens entstellte. Darum gab auch uns oben bei der Erörterung über das Wesen und die allgemeinen Grundlagen der Kunst die Malerei immer am beredtesten Auskunft. Hier jedoch kommt es uns auf etwas anderes an. Weil die Malerei unbeschränkt aus dem ganzen Umfang des Seienden schöpft und ihre Gegenstände im Raum und mit dem Raum in Luft und Licht darstellt, so verfügt sie von allen bildenden Künsten über die größte Fülle von Mitteln, birgt aber auch in sich selbst die größten, einander aufhebenden Gegensätze. Die reine Liniensprache Polygnots müßte unsern Modernsten ein Greuel sein; es gibt in der Natur keine Linien, sondern, was wir als Linien ansehen, sind, wie schon Lionardo erkannte, nur die Grenzen zweier zusammenstoßender Flächen. Modellieren wir plastisch in Licht und Schatten, so wird im heute so bevorzugten Freilicht diese Plastizität durch das Licht aufgesogen: der auf unsrer Netzhaut erscheinende Eindruck ist nur Farbe und weiß nichts von Form; darum kann auch von Lokalfarbe keine Rede sein, weil das Freilicht auch hier alles verändert und auflöst. So kann es denn wohl sein, daß wer von dem neuesten Impressionismus und seinen Abarten ausgeht, sich den Zugang zu den andern Arten künstlerischen Schauens selbst verbaut.

Dagegen bietet, wie in der Plastik die griechische, so in der Malerei die italienische Kunst von ihren Anfängen bis zur Höhe ein Bild so übersichtlicher und folgerichtiger Entwicklung, daß ihr Aufbau sich wie der keiner andern verfolgen läßt. Der Grund hierfür liegt ganz wesentlich in dem Vermächtnis der Form, welches die Antike ihr hinterlassen hat, während die nordische Kunst, wie wir an der gotischen Plastik sahen, von dem entgegengesetzten, schwerer zu verfolgenden Prinzip ausgeht, dem charakteristischen Ausdruck. Der religiöse Typenschatz, sowohl des repräsentativen Heiligenbildes wie des Historienbildes, kam der italienischen Kunst aus der byzantinischen zu (226, 228), und nun wiederholt sich der segensreiche Vorgang der griechischen Plastik, daß die Kunst in steter Umformung und Vervollkommnung des gleichen Stoffes ihre Kraft entwickelt. Unter den Heiligenbildern hat das Motiv der Mutter mit dem Kind, eine der Antike auch innerlich ganz fernliegende Aufgabe, eine ganz ungeheure Lebenskraft bewiesen; an diesem Motiv läßt sich die ganze Entwicklung der christlichen Kunst und einzelner Künstler wie Raffael (270 f.) ablesen. In der Historie bildet Giotto, dessen Name auch heute in Italien nur mit Ehrfurcht genannt wird, noch unter der Herrschaft der Gotik einen Anfang; die Darstellungen aus dem Leben des h. Franz erlaubten keine Anlehnung an die überlieferten Typen, und so schuf er jenen großen Stil, der über Masaccio in gerader Linie zu Raffael führt (249, 187, 251 f.): Giotto stellte die Aposteltypen fest, lehrte die vornehme Haltung und sprechende Gebärde, die Beherrschung und Gruppierung der Massen (249); Masaccio erfand die Modellierung in Licht und Schatten, also den Schein der Körperlichkeit (187, 251). Der Linearperspektive, die es für Giotto noch nicht gibt, hatten sich die Florentiner leidenschaftlich angenommen; Ghirlandajo (250) beherrscht sie vollkommen. Mit ebenso leidenschaftlichem Feuer warfen diese sich auf die Anatomie und Perspektive des nackten Körpers (264), die Darstellung der letzten Dinge bot hier willkommenen Vorwand; doch das größte Werk dieser Art schuf im Dom zu Orvieto Luca Signorelli von Cortona (255), darin ein Vorläufer von Michelangelos jüngstem Gericht (vgl. auch 256). In der Luftperspektive wie auch in der Anatomie tat sich Piero della Francesca hervor. Im übrigen herrschte ein teils herber und abstoßender, teils liebenswürdiger und in epischer Breite erzählender Realismus (379). Neben der zarten und innigen Kunst eines Fra Angelico da Fiesole steht der feinsinnliche, oft aber auch herbe und keusche Reiz Sandro Boticellis (307), der mit so vielen andern am Musenhof der Medizeer dem Ideal der neuen Weltanschauung huldigte, bis diese ganze schöne, bunte Welt jäh zusammenbrach. Die Erbin von Florenz, wo die Wiege der Frührenaissance gestanden hatte, wurde das päpstliche Rom. Die Größten, Raffael, Michelangelo, folgten dem Zuge dorthin, Michelangelo, um, wenn auch spät, zurückzukehren, Raffael, um dort zu sterben. Es ist neuerdings Mode geworden, geringschätzig auf Raffael herabzusehen. Mag sein, daß seine ausgeglichene Harmonie unserer gärenden Zeit nicht zusagt; darum bleibt er doch, auch wo ihm Lionardo (275) und Michelangelo (297, 276) vorschweben, ganz er selbst; darum leuchtet doch von seiner Stirn der vermählte Strahl von Sinnenglück und Seelenfrieden, wie vielleicht nur bei Tizian; weiß er wie wohl kein andrer in harmonischer Bewegung des Körpers seelische Vorgänge zum Ausdruck zu bringen, mit wunderbarer Schmiegsamkeit auch den schwierigsten Verhältnissen sich anzupassen und in vollkommener künstlerischer Freiheit über die Notwendigkeit zu triumphieren (296 f., 310 f.): so kann er wie alle Großen warten, bis auch für ihn die Zeit wieder reif wird. Freilich sagt der heutigen sein Gegenbild Michelangelo mehr, der eine Mann eine ganze Welt für sich, ein Gigant an Begabung und Temperament, auf dem ein Ätna lastet, unerschöpflich und unerschöpft, kein Abschluß wie Raffael, sondern ein Wendepunkt der Kunst und Kultur. Auch als Maler bleibt er Plastiker: die Sixtinische Decke (260 ff.) entwirft er, um sich für das Scheitern des Juliusgrabes zu entschädigen, und bevölkert sie, Gottvater gleich, mit einer neuen Weltschöpfung. Wie er, ist auch der große Lionardo ein Studium für sich, nach der kompositionellen und der psychologischen (324, 366), wie, als Erfinder des Helldunkels (274), nach der rein malerischen Seite. Aber der eigentliche Zauber der Farbe erschließt sich doch erst den großen Venezianern (278-282, 320, 287). In der klaren Florentiner Luft war alles zum Greifen plastisch; in Venedig verschwimmen in der wasserdampfgesättigten Lagunenatmosphäre die Umrisse der Gegenstände, und heller leuchtet im goldigen Licht die Pracht der Stoffe und Gewänder auf. Die Leuchtkraft ihrer Farbe schenkte der venezianischen Malerei die von den Niederländern ausgebildete, durch Antonello da Messina ihr vermittelte Ölmalerei; das Malerische macht sich zuerst in Schatten geltend, die auf einzelne Teile der noch ganz plastisch empfundenen Komposition fallen (280 f., vgl. 287), dann in der Verschiebung des Figurenaufbaus in die Diagonale, die im Barock förmlich zum Grundsatz wird (281 ff., 357): das Malerische gewinnt, was das Plastische verliert. Etwas anders ist der fein-sinnliche Norditaliener Correggio orientiert (346, 285), der Lionardos Helldunkel weiterbildet und in der illusionistischen Perspektive an Mantegna anknüpft (313); der ihm wesensverwandte Lombardo-Sienese Sodoma hält bei aller schmelzenden Empfindung doch an den plastischen Grundlagen der Florentiner fest (267).

Auf der mit Raffael, Mantegna, Giovanni Bellini erreichten Höhe trifft nun die italienische Malerei mit der deutschen zusammen, die Albrecht Dürer verkörpert; die beiden Reisen Dürers über die Alpen waren die Schicksalsstunde der deutschen Kunst. Von dem Zwiespalt, den sie in seine Seele warfen, ist oben die Rede gewesen, auch von der Klärung, die sie seinem Werke brachten; vergleicht man die mit der Jahreszahl 1510 bezeichneten Blätter seiner großen Holzschnittpassion (340) und blickt dann auf die Apokalypse zurück (347), so wird man gegenüber der auf malerische Wirkung gestellten Schwarzweißkunst seiner rein gotischen Zeit leicht die größere plastische Ruhe der vom Süden beeinflußten Blätter bemerken; der Überschwang plastisch-symmetrischen Aufbaus (356) mildert sich später zu einer reifen, auch die Asymmetrie in Rechnung stellenden deutschen Auffassung (326). Feinere Wirkungen gestattete der Kupferstich: hier steht neben tiefsinnigem Grübeln (Melancholie) und ritterlichem Glaubensmut (Ritter, Tod und Teufel) die sonnige Behaglichkeit des stillen Gelehrtenheims (Hieronymus im Gehäus 333); die Intimität des Interieurs ist dem Italiener ebenso versagt, wie das Gefühl für die Struktur und Oberflächenwirkung des Stofflichen. Gern wird man den besonderen Vorzügen, die der deutschen Kunst aus dem deutschen Gemüt zufließen, auch sonst nachgehen, auch das Gefühl für den deutschen Wald gehört hierher (334 ff.), aber anderseits auch nicht übersehen, daß sie derb zugreift, wo es zur Charakteristik erforderlich ist (338, 340, 349 f., 386 f.). Es tritt eben auch hier der Zug der deutschen Kunst hervor, nicht sowohl allgemeingültige Typen zu schaffen, als vielmehr das Individuelle zur Bildidee zu steigern: solche Schergen und Kriegsknechte wie die Schongauers (Kreuztragung), Dürers und Holbeins vermag die italienische Kunst gar nicht zu schaffen, so sehr sich Lionardos physiognomische Studien in dieser Richtung bewegten. Selbst in großen monumentalen Werken wie in den vier Aposteln von Dürer (vgl. 339), die an Giovanni Bellinis Fraribild anklingen, sind die Physiognomien von einer bezwingenden individuellen Gewalt; Holbeins Darmstädter Madonna, neben Raffaels Sixtinische gestellt (314 f.), zeigt trotz zahlreicher in ihr enthaltener Renaissance-Elemente ein ähnliches Verhältnis. Stark ist auf dieser Höhe der deutschen Kunst auch der Ausdruck der Richtungsunterschiede und der Bewegungsenergie (337 ff., 349 f.). Das rein Malerische des Natureindrucks tritt bei Dürer auch im Holzschnitt hervor, in seiner Malerei wohl nur bei dem ihm zugeschriebenen Christus am Kreuz (342); mit überraschender Gewalt dagegen bei Holbein in seinem Noli me tangere (321). Ein wahres Phänomen endlich an malerischer Kraft ist Matthias Grünewald: vor seinem Isenheimer Altar in Kolmar wartet des Deutschen das größte Farbenerlebnis der deutschen Kunst (341); wer hat vor oder nach ihm gewagt, den Leib Christi zu entmaterialisieren und in lauter Licht und Farbenglanz aufzulösen! In Italien hätte es nur einer wagen dürfen, Correggio (346)!

Jedoch der Preis im Reich der Farben gehört nördlich der Alpen den Niederländern. Noch kürzlich klang er allenthalben wider, als Hugos van der Goes Anbetung der Hirten für Deutschland gewonnen wurde. Seeklima, Handel und Industrie bot im üppigen Flandern der Malerei ähnlich günstige Bedingungen wie im handelsmächtigen, farbenfreudigen Venedig, führte insbesondere auch zu der Ausbildung der Öltechnik statt der mühseligen Tempera, und es ist bezeichnend, daß ein einfacher Kaufherr s. Z. den Gebrüdern van Eyck einen so fürstlichen und monumentalen Auftrag geben konnte, wie den Genter Altar (329), der fast unvermittelt aus der in Flandern so beliebten Miniaturmalerei emporsteigt und für die altniederländische Kunst etwa dasselbe bedeutete, wie zur gleichen Zeit für die Florentiner Masaccios Fresken in der Brancaccikapelle. Neben den van Eycks und ihrer Schule glänzt Hans Memling im milden Lichte einer lyrischen Stimmungsmalerei, die auch die Schrecken des Todes lindert (380); in dieser Beziehung bildet er gewissermaßen den Übergang zu der mystischen Stimmung der Kölner Schule und ihrem Vollender Stephan Lochner (334). Der unerbittliche Realismus, den neben aller Hoheit Gottvaters und aller Süßigkeit Marias doch auch der peinlich gewissenhafte Akt des Adam vom Genter Altar zeigt, bleibt ein Hauptkennzeichen der ganzen niederländischen Kunst; aus ihr erwächst das Sittenbild, das, nachdem der Freiheitskampf zur Trennung des protestantischen Holland von den bei Spanien verbleibenden südlichen Provinzen geführt hatte, alle die Kräfte aufzunehmen schien, die durch die Verbannung der Heiligenbilder aus den Kirchen frei geworden waren. Das religiöse Bildnis verschwand freilich in Holland keineswegs, aber es wurde bibelgläubig und schmückte die Wände des Bürgerhauses. Die große politische und religiöse Scheidung kristallisiert sich künstlerisch in zwei völlig inkommensurablen Größen, Rubens und Rembrandt. In deren Kunst wiederholt sich in gewisser Weise der Gegensatz italienischen und germanischen Wesens: dort die ungebändigte Sinnenlust einer genialen Kraftnatur, welche italienische, besonders Tizian verdankte Anregungen zu einer bis dahin unerhörten Bravour der Komposition, Leidenschaft der Bewegung und Glut der Farbe steigert, letzten Endes also eine in flämische Vollsaftigkeit übersetzte Antike, hier eine trotz vorübergehender Anwandlungen des Formalschönen (359) allmählich immer mehr in sich selbst und in die Probleme einer ganz anders gearteten Kunst versinkende germanische Natur, die es unternahm, durch malerische und graphische Mittel die geheimsten Regungen des Seelenlebens zu deuten. Wie formt Rembrandt Rubens' posierende Kreuzabnahme zu einem erschütternden Seelendrama um (357 f.), wie weiß er in dem sog. Hundertguldenblatt durch sein malerisches Helldunkel die erbarmende Liebe des Heilandes über all die Häßlichkeit des ihm zuströmenden menschlichen Elends triumphieren zu lassen! Neben seinem und seiner geliebten Saskia Bildnis erscheint Rubens und die glänzende Schönheit seiner jugendlichen Gattin fast seelenlos (387 ff.); das holländische Zunftbild, dessen flottester Meister Franz Hals war, erhebt er in den »Staalmeesters« zu einem Wunder der Farbe und seelischen Charakteristik (378). So scheiden sich hier zwei Welten unversöhnt, und mag man auf Rubens' glanzvolle Malerei das Wort »Alles ist euer« in dem oben dargelegten Sinne anwenden, so heiße es von Rembrandt: »Dies ist unser! So laß uns sagen und so es behaupten!«

Der holländischen Malerei verdanken wir auch das moderne Landschaftsbild, das gegenüber der aus Elementen der antiken Kunst und Natur komponierten heroischen Landschaft (Claude Lorrain, 391), von der Corots duftige, nymphendurchschwärmte Phantasien aus dem Walde von Fontainebleau sozusagen nur eine neue Auflage sind, einen zur Einheit zusammengesehenen Ausschnitt aus der wirklichen Natur gibt. Vermag sie auch bereits eine gewisse objektive Naturstimmung zu vermitteln (392), über die auch Prellers von der Antike eingegebene Odysseelandschaften (402) nicht hinauskommen, den rein subjektiven landschaftlichen Stimmungsreiz entdeckte erst die Naturandacht der Romantik, ihn zunächst durch den ins Bild mit hineingenommenen Beschauer vermittelnd (396, 398); neben Richter und Schwind wirkte hier Caspar David Friedrich bahnbrechend. Auch Böcklin gibt modernes Naturgefühl, aber indem er eine uralte, von der Antike meisterhaft gewertete Phantasietätigkeit des Menschen wieder aufleben läßt, die Beseelung der Natur in Gestalt dämonischer Wesen (405 f.). Ein anderer Weg wiederum ist die Stilisierung des Natureindrucks; hier sei neben Leistikow Schultze-Naumburg genannt.

Mit der Landschaft aufs innigste verbunden ist endlich das von der Gegenwart am leidenschaftlichsten erörterte Luft- und Lichtproblem, welches in einer Reihe von Abarten und künstlerischen Folgeerscheinungen fast die ganze junge Malergeneration beherrscht. Das Problem ist nicht so neu: schon Piero della Francesca war ein Pleinairist lange vor den Franzosen, schon in Velasquez' Spinnerinnen zehrt im Hintergrund einfallendes Licht die Konturen der Körper auf, schon Menzel (412) malt Wind und Sonnenschein, die ihn auf seinem Zimmer in der Schöneberger Straße besuchen. Von Liebermann, der an die Franzosen anknüpft und dem von ihm beeinflußten Fritz von Uhde ist bereits die Rede gewesen. Die Auflösung des Lichtes in die prismatischen Farben, damit sie erst auf der Netzhaut des Beschauers sich zu dem beabsichtigten Farbeneindruck verschmelzen und diese dadurch um so stärker reizen, hat zu dem sog. Pointillismus geführt, der die Farbenflecke mosaikartig nebeneinandersetzt; seine eigene, in der durchsichtigen Luft des Hochgebirgs entwickelte Technik, welche mit Farbenstäbchen arbeitet, befähigte Segantini zu einer bis dahin unerhörten Licht- und Raumillusion (414). Heute hat der Impressionismus auf der ganzen Linie gesiegt und im sog. Neoimpressionismus selbst älteren Schulen wie der von Leibl und Thoma neues Blut zugeführt. Daneben mehren sich, um die ganz extremen, dem Geist der Nation völlig abgewandten Richtungen wie den Kubismus und Futurismus zu übergehen, die Anzeichen, daß die deutsche Kunst es endlich aufgibt, Fragen der Technik zur Angelegenheit des ganzen Volkes machen zu wollen, sondern daß sie uns wieder das geben will, was wir brauchen, seelischen Gehalt und monumentalen Stil. Als Ziel der deutschen Malerei wird festzuhalten sein, daß sie sich wieder mehr und mehr des edelsten Berufes der Kunst erinnere, »die Menschheit herauszuheben aus dem Gewöhnlichen ins Ungewöhnliche, aus dem Platten ins Erhabene, ihr unendliche Schönheit, unendlichen Reichtum des Köstlichsten in der Welt, des Unirdischen, zu schenken.«

Indem der Verfasser im Kriegslager an die Arbeit des Friedens die letzte Hand legt, möchte er hinzufügen: wenn, wie wir hoffen dürfen, dem gegenwärtigen Weltkrieg, der letzten Endes um die deutsche Kultur, ja um eben die Humanität geführt wird, welche die Feinde uns absprechen, ein ehrenvoller und dauernder Friede gefolgt ist, dann wird die neue deutsche Kunst, anders als nach dem Kriege 70/71, den an sie herantretenden monumentalen Aufgaben auf dem Gebiet der Baukunst und Bildnerei, wenn ihrem Schaffen keinerlei Zwang auferlegt wird, vollauf gewachsen sein. Auch die Malerei wird, so hoffen wir, die letzten welschen Fesseln abstreifen und dem deutschen Volke an ihrem Teile geben, was des deutschen Volkes ist, eine gesunde, wahrhaftige, innerliche, mit einem Wort deutsche Kunst.


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