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Meine Damen und Herren! Im Namen des Berliner Goethebundes heiße ich Sie willkommen. Bevor ich den berufenen Rednern das Wort erteile, die in dankenswertester Weise uns ihre Kräfte zu leihen sich bereit fanden, möchte ich Ihnen nur in aller Kürze die Beweggründe darlegen, die uns zur Veranstaltung dieser Versammlung bestimmt haben. Den Zweck des Goethebundes bildet bekanntlich der Schutz der Geistesfreiheit, soweit sie sich in Kunst und Wissenschaft auszuleben verlangt; und wir werden es auch fernerhin uns angelegen sein lassen, jedem Attentat auf dieses Palladium die Spitze zu bieten. Aber wir verschließen uns nicht der Einsicht, daß die Abwehr solcher Angriffe und Übergriffe immer nur Symptome bekämpft, die nicht verschwinden werden, solange die Axt nicht an die Wurzel gelegt wird. Die Voraussetzung der Geistesfreiheit sind freie Geister, und die Voraussetzung freier Geister liegt in der Erziehung, liegt in der Schule. Darum gehört das pädagogische Problem recht eigentlich zu unseren Aufgaben, und indem wir es auch unsererseits aufrollen, glauben wir nicht nur den Zielen des Goethebundes unmittelbar zu dienen, sondern zugleich einem gebieterischen Ruf der Zeit zu gehorchen.
Niemals war der Anteil an diesem Problem tiefer, allgemeiner und leidenschaftlicher als heute, und es vergeht ja auch kaum ein Tag, wo nicht irgendein Schulkonflikt, irgendeine Schultragödie dessen ganzen unheimlichen Ernst uns vor Augen führt. Schon das allein zeugt dafür, daß der herrschende Zustand als unbefriedigend empfunden wird, daß eine ewige Menschheitsfrage sich zur aktuellen Gegenwartsfrage verschärft hat, daß die aufgewühlten Wogen sich nicht eher beruhigen werden, bis Wandel geschaffen ist. Der Notwendigkeit solchen Wandels beugt sich ja sogar die Behörde, indem sie auf dem Wege der Schulreform mit vorsichtigen, übervorsichtigen Schritten vorzurücken sich gedrängt sieht. Im einzelnen, wir leugnen es nicht, erkennen es vielmehr dankbar an, hat sich dadurch in den letzten Jahrzehnten manches gebessert. Aber wir sind der Ansicht, daß man durch derartige wohlgemeinte und wohltätige Flickarbeit ebensowenig die jetzige Schule zur Schule der Zukunft fortentwickeln kann, wie es je gelingen wird, aus einem altertümlichen Hause durch allerlei kleine Renovierungen ein modernes zu machen.
Als ein altertümliches Gebäude mit verhältnismäßig recht bescheidenen modernen Zutaten steht die Schule noch immer fremd und befremdend mitten im 20. Jahrhundert. Sie ist in ihren wichtigsten Wesenszügen dem Geiste der Scholastik treu geblieben, dem sie entsprang. Dieser Geist wuchtet wie ein finsterer Alb lähmend und hemmend nicht nur auf den Schülern, sondern auch auf den Lehrern. Denn daß man dieses oder jenes Fach in den Vordergrund oder Hintergrund schiebt, daß man mit den alten Sprachen zugunsten der neuen und der Naturwissenschaft aufräumt, dadurch allein wird wenig geändert. Die Antike – und ich möchte hier durchaus nicht mißverstanden werden –, die Antike, dieses wunderbare Paradigma der Menschlichkeit, birgt nach wie vor den köstlichsten Bildungsschatz für den, der ihn zu heben vermag. Nicht was gelernt wird, sondern wie gelernt wird, scheint uns entscheidend. Und wer will behaupten, daß wir an ausgezeichneten Pädagogen Mangel haben? Nein, den haben wir gewiß nicht. Aber zu wirken, wie sie möchten und könnten, hindert sie das System. In ohnmächtigem Ringen mit dem System müssen gerade die besten unter ihnen verbluten.
Der Moloch, dem jeder höhere pädagogische Ehrgeiz, jede Rücksicht auf individuelle Veranlagung, jede innigere Wechselwirkung zwischen Erziehern und Zöglingen geopfert wird, heißt Lehrplan. In so und so viel Zeit muß so und so viel eingetrichtert werden, koste es, was es wolle. Ob dieses Pensum auch verdaut, auch assimiliert wird, ob dem passiven Aufnehmen ein aktives Aneignen entspricht, wen darf das kümmern! In einem Jahrhundert, wo man jedes Datum und jedes Faktum, sobald man es braucht, bequem in Büchern nachschlagen kann, wird die Vollpfropfung, die Überladung des Gedächtnisses noch immer als das vorwiegende, ja, fast darf man sagen, als das einzige Bildungsmittel betrachtet. Und was ist das Resultat? Daß der Mensch die Kenntnisse, die ihm die Schule aufzwang, sobald wie möglich wieder vergißt, den Widerwillen vor ihr hingegen behält bis an sein seliges Ende, (Zustimmung.) Ja, beinahe läßt sich die Regel aufstellen: je größer die Begabung, die Bedeutung eines Mannes, um so größer auch das Mißbehagen, mit dem er auf seine Schulzeit zurückblickt. (Zustimmung.)
Eines vor allem fordern wir daher, einerlei, ob aus eigener betrüblicher Erfahrung oder aus Liebe zu unseren Kindern: wir fordern, daß der Jugend die Jugend nicht verleidet wird. (Lebhafter Beifall.) Das Leben ist zu kurz, als daß irgendein Lebensalter lediglich und ausschließlich zur Vorbereitung für ein anderes dienen dürfte. Die Kindheit hat ihren geheiligten Selbstzweck, und um diesen darf und soll die Schule sie nicht betrügen. (Zustimmung. ) Gerade unsere Gegner sind es ja, die unablässig über den zunehmenden Pessimismus jammern. Warum helfen sie uns nicht, den Quell der Lebensfreude dort zu nähren und zu erhalten, wo er am ursprünglichsten sprudelt und am leichtesten verschüttet werden kann?
Sie tun es deshalb nicht, weil sie fürchten, daß ein freierer Geist in der Schule auch einen freieren Geist im Leben erzeugen müßte, und daß dieser dann ohne Federlesen über sie selbst und ihre Rückständigkeit zur Tagesordnung überginge. (Beifall.) Aber wähnen sie ernsthaft, sie könnten zwischen moderner Kultur und Schulbildung eine künstliche Kluft offenhalten? Ist denn die Schule gegen die übrige Welt hermetisch verschließbar? Und selbst wenn sie es wäre! Auch durch dicht verhangene Fenster merkt man zuletzt, ob es draußen Nacht oder Morgen ist.
Der Kampf um die Zukunft der Schule ist der Kampf um die Zukunft der Nation. Wenn wir für eine andere, eine freiere, eine frohere Schule ins Feld ziehen, so erfüllen wir, um einen viel mißbrauchten Ausdruck anzuwenden, eine nationale Pflicht. Denn im Wettstreite der Völker wird jenes obsiegen, dessen Jugend den Anforderungen des Jahrhunderts das geeignetste Rüstzeug entgegenbringt, und kein Volk darf daher die mahnende Stimme überhören, die aus der Abwandlung eines bekannten Sprichwortes klingt: Sag' mir, wie du deine Jugend erziehst, und ich will dir sagen, was aus dir wird. (Stürmischer Beifall.)
Das Wort hat zu einer programmatischen Erklärung der Vorsitzende des Vororts der Deutschen Goethebünde, Herr Professor Gerhard Hellmers – Bremen.