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1. Goethe läßt Hermanns Mutter zu ihrem Gatten sagen:
»Wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen;
So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben,
Sie erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren.
Denn der eine hat die, die anderen andere Gaben.«
Darin ist das Prinzip der Individualisierung enthalten, das die Pädagogik seit alter Zeit gefordert hat.
Goethe stellt Erziehen und Gewährenlassen gegenüber und verlangt beides. Es ist Sache der pädagogischen Kunst, des pädagogischen Taktes, das rechte Verhältnis zwischen beiden zu finden. Ausgang muß die Anlage sein, Ziel die günstigste Entwicklung der Anlage. Das, wozu ein Mensch veranlagt ist, müßte zum Rückgrat seiner Ausbildung gemacht werden. Je mehr das gelingt, desto glücklicher und fruchtbarer das Leben des einzelnen, desto, gewaltiger und bedeutender aber auch das der Gesamtheit.
2. Am individuellsten kann das Elternhaus die Kinder behandeln. In der Schule ist Individualisierung um so weniger möglich, je stärker sie den Charakter des modernen Massenbetriebs trägt: übervolle Klassen, durch relativ große Pensen gehetzte Lehrer, und die Schüler in der Mannigfaltigkeit der Art und des Grades ihrer Anlagen alle durcheinandergemischt.
Sehr schlimm ist die starke Besetzung der Klassen. Da sie aber eine Finanzfrage ist, können hier nur ganz allmählich Besserungen eintreten.
Noch schlimmer ist die Vermengung der verschiedenen Begabungsarten und -grade. Hier handelt es sich geradezu um eine Hemmung des Kulturfortschritts.
3. Die Höhe unserer Kultur und unsere Stellung in der Welt hängt nicht in erster Linie von der möglichst glücklichen Entwicklung aller ab, sondern doch nur von der der schöpferischen Geister auf den Gebieten der Wissenschaft, Technik, Kunst und aller Organisation und von den bedeutenden Vermittlern der Gedanken, die jene ausgebaut haben. Wir würden unsere Kultur- und Weltstellung und damit schließlich auch das ökonomische und ideelle Niveau der Gesamtheit also erheblich steigern können, wenn wir zunächst einmal die günstigsten Entwicklungsbedingungen für jene verhältnismäßig kleine Schar der Kulturschöpfer und Kulturträger vorderster Linie herstellten.
Diese werden aber heute noch mit der großen Masse unterrichtet, und es gibt noch keine Mittel, sie rechtzeitig zu erkennen und abzusondern, noch kein Sieb, sie auszusieben.
Wir müssen daher nach gangbaren Wegen suchen und uns nicht begnügen, Theorien und allgemeine Forderungen aufzustellen. Was leicht und bald verwirklicht werden soll, muß sich eng an das Gegebene anschließen, wie eine natürliche, organische Neubildung aus ihm herauswachsen. Ich will eine solche leicht zu verwirklichende Entwicklung unseres höheren Schulwesens zeigen.
4. In jeder Klasse gibt es mehrere Schüler, die die übrigen an Fähigkeiten erheblich überragen und ohne Überanstrengung in der gleichen Zeit mindestens das Doppelte bewältigen könnten. Etwa 10%. In jeder der beiden Gruppen Mathematik und Naturwissenschaften einerseits und Sprachen und Geschichte anderseits mehr als 10%.
Nehmen wir zunächst die, die zugleich in beiden Gruppen Hervorragendes leisten, aus den jetzigen Schulen heraus und erziehen sie in besonderen Schulen. Damit ist freilich noch keineswegs die Sicherheit gegeben, daß wir alle großen Talente und die großen schöpferischen Geister mit auswählen würden. Aber eine Grundlage künftiger weiterer Differenzierung wäre gegeben und auch eine weit bessere Grundlage für das psychologische Studium der geistigen Anlagen, als wir heute besitzen.
Gegenwärtig werden die Gutbegabten notgedrungen vernachlässigt. Wir haben etwa drei Schichten: 10+% Gute, 80+% Mittelbefähigte, 10+% Schwache und Zurückgebliebene. Der Lehrer arbeitet in erster Linie mit den untersten der mittleren Schicht, mit denen, die er gerade noch zur Versetzung zu bringen hofft. Auf sie sind die Lehraufgaben unbewußt zugeschnitten, die lebendigen Lehraufgaben, das, was der revidierende Schulbeamte wirklich fordert.
Je größer die Klassen geworden, um so stärker die Vernachlässigung der guten Köpfe. Sie werden halbe Müßiggänger. Ihre Anspannung, ihr Wille wird zu wenig geschult. Die meisten erreichen im Leben bei weitem nicht das, was sie auf Grund ihrer Anlagen an und für sich erreichen könnten. Nicht wenige scheitern. Oft aber kommen die zähen, in energischer Betätigung durch die Anspannung auf der Schule ganz anders gebildeten Mittelköpfe voran. Die Gutbegabten erleiden so geradezu eine Schädigung ihres Charakters. Denn die feste Grundlage eines tüchtigen Charakters ist Fleiß, Hingabe an eine große Sache. Der Fleißige lernt sich selbst überwinden, kleinliche Rücksichten zurückstellen. »Nichts halb zu tun ist edler Geister Art.« Die guten Köpfe haben aber, um das zu erreichen, was von ihnen auf der Schule gefordert wird, wie Bertrand de Born, nur die Hälfte ihres Geistes nötig.
5. Spannen wir sie in vier wissenschaftlichen Stunden täglich voll nach ihren Kräften an und geben wir ihnen noch zwei bis drei Stunden häusliche Arbeit. Und dann zwei Stunden körperliche Übungen täglich: Turnen, Schwimmen, Wandern, Rudern, Eis- und Skilauf usw.
Würden wir am Schluß des sechsten Schuljahres – nach vollendetem zwölften Lebensjahre – die Auslese treffen, so wären sie nach weiteren drei Jahren auf einer intellektuellen Höhe, die der des heutigen tüchtigen Abiturienten entspricht (am Ende der Untersekunda also).
Nun hätten wir drei der köstlichsten Jahre, vom 15. bis 18., in denen wir leicht und weitgehend individualisieren könnten. Die Zahl der obligatorischen Stunden würde stark herabgesetzt. In ihnen wären vornehmlich zu treiben: Psychologie, Biologie, Philosophie, weitere Übungen in den neueren Sprachen, dazu Italienisch, weiter Staatswissenschaften, körperliche Übungen. Im übrigen könnten die Neigungen und Spezialbegabungen die sorgfältigste Berücksichtigung in fakultativem Unterricht finden, so daß sich dann auf der Hochschule sofort die Studien für Fortgeschrittene anschließen könnten.
6. Wir hätten damit auf der Oberstufe eine Einrichtung analog dem amerikanischen College, aber – und das ist allerdings ein großer und sehr wichtiger Unterschied – nur für die hervorragend Befähigten.
7. Auf Einwände (namentlich: Begünstigung des Hochmuts; Herausnahme der fortreißenden Elemente) kann ich hier nicht eingehen Vergl. dazu: Petzoldt, Die Einwände gegen Sonderschulen für hervorragend Befähigte. Neue Jahrbücher für Pädagogik, 1911, S. 1.. Dagegen muß ich noch auf eine andere damit zu verbindende Reform von ebenso großer Bedeutung zu sprechen kommen: eine für die große Menge der Normalschüler.
Für diese ist heute ebenfalls schlecht gesorgt. Vor allem ist ein großer Teil überbürdet und mit ihnen das Elternhaus. Die Ziele sind für sie zu hoch. Sie verdauen den Stoff nicht völlig. Wenn sie notdürftig Genügendes leisten, muß der Lehrer weiterdrängen, um das Klassenziel zu erreichen. Das führt zur Halbbildung. Wenn irgendwo, so wird hier alle Tage das Unzulängliche Ereignis.
Nehmen wir weniger Stoff, aber gründlich. Sowie wir erst hinreichend Sonderschulen für die guten Köpfe haben, können wir in den Normalschulen ohne Schaden für unsere Kulturentwicklung die Lehrziele herabsetzen. Auch hier nur vier wissenschaftliche Stunden. Dafür auch hier zwei für körperliche Übungen. Diese sind dringend notwendig. Nahezu 50+% der Schüler der Prima sind mit Fehlern im Sehvermögen (namentlich Kurzsichtigkeit) behaftet und eine große Zunahme der Herzerkrankungen mit der Dauer des Schulbesuchs ist festgestellt Vergl. die sehr beachtenswerte Arbeit von Nikolai und Schwiening »Über die Körperbeschaffenheit der zum einjährig-freiwilligen Dienst berechtigten Wehrpflichtigen Deutschlands« in den Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militärsanitätswesens, herausgegeben von der Medizinalabteilung des Königl. Preuß. Kriegsministeriums, Berlin 1909, S. 175..
8. Die vorgeschlagene Errichtung von Sonderschulen für Begabte ist unabhängig von der Reform der Unterrichtsgegenstände. Sofort könnte mit den Lehrplänen des Gymnasiums, des Realgymnasiums und der Oberrealschule begonnen werden.
Auch finanziell ist sie unschwer möglich, da der fünfte Teil der teuren wissenschaftlichen Lehrkräfte erspart würde.
Gewiß wäre mit dieser Reform noch kein Idealzustand erreicht, aber dem gegenwärtigen gegenüber ein befriedigender. Vor allem wäre die unökonomische Verschwendung beseitigt, die wir heute mit dem kostbarsten Teil unseres Nationalvermögens treiben, mit den Gaben der guten Köpfe.
Schon zehn dieser Sonderschulen – gegenüber etwa 750 höheren Schulen in Preußen überhaupt – würden uns einen dauernden Besitzstand von mindestens 3000 hervorragend befähigten und hervorragend ausgebildeten Männern gewähren. Es braucht nicht ausgeführt zu werden, was das für den gesunden Fortschritt auf allen Gebieten bedeuten würde.
Für die Begabten sorgen ist gegenwärtig noch wichtiger als für die Schwachen sorgen. Denn für diese würden nachher die besten Wege von jenen ausfindig gemacht, wenn wir in allen leitenden Stellungen des öffentlichen und privaten Lebens lauter hervorragend befähigte und vortrefflich ausgebildete Männer hätten. Das müßte ja die günstigste Rückwirkung auf den sozialen und ökonomischen Fortschritt haben. Der Schwache wird sich schließlich also am besten stehen, wenn wir aufhören, durch unsere Schuleinrichtungen den Starken für ihn zu opfern. Darum lassen Sie uns die Ausbildung eines jeden nach seinen Kräften fordern: suum cuique.
Mit der Erfüllung dieser Forderung werden wir nicht nur der sozialen Gerechtigkeit entsprechen, die allein die Grundlage für eine dauernde Struktur der menschlichen Gesellschaft sein kann, sondern auch dem Verlangen der großen Natur, die dem Menschen im Herzen ist und die zur Entfaltung zu bringen darum auch jedes starken Herzens sehnlichster Wunsch ist. Immer erreicht sie höhere Stufen der Entwicklung dadurch, daß sie die Arbeit teilt, Gleiches ungleich macht, differenziert.
»Gleich sei keiner dem anderen, doch gleich sei jeder dem Höchsten. Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.«