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Auf meinen Hereinruf erschien Lawson mit einer Kanne Tee und einem Berg gerösteten Brotes.
»Schöner Morgen, gnäd'ger Herr!« sagte er, das Servierbrett auf den Tisch stellend.
»Sehr schön!« nickte ich.
»Hoffentlich haben Sie gut geschlafen?«
»Leider nicht, obgleich der Whisky sein Bestes tat. Ein feiner Tropfen das!«
»Ihr Herr Onkel hielt immer auf das Beste. Das war sein Motto.«
»Ein sehr gutes!« lachte ich. »Sie hätten mir doch aber noch etwas mehr Brot bringen sollen, Lawson.«
»Gleich, gleich!« erwiderte der Alte diensteifrig. Ich hielt ihn jedoch lachend zurück. »Das war ja nur ein Scherz. Halten Sie mich denn für eine Boa Konstriktor? Die Hälfte von dem, was Sie mir gebracht, ist noch zuviel. Ist die Post schon gekommen?«
»Die erhalten wir nicht vor zehn Uhr, gnäd'ger Herr.«
»Auch gut. Jetzt will ich mich rasch ankleiden.«
Pünktlich fuhr Dick mit dem Wagen vor, und nachdem ich eingestiegen war, ging es in raschem Trabe der nahen Stadt zu. Die Luft hatte noch etwas erquickend Frisches, so daß mir die Fahrt nach der schlechten Nacht einen wahren Genuß bereitete.
Als wir die Hochstraße entlang fuhren, winkte mir jemand. Es war der Leichenbestatter Jawse. »Ich habe Sie gestern abend nicht gesehen, Herr Bracebridge«, sagte er, als ich den Wagen halten ließ.
»Meine Nerven waren so abgespannt«, entgegnete ich ihm, »daß ich mich früh zur Ruhe begab. Übrigens brauchten Sie mich ja nicht.«
»Das ist richtig«, nickte er. »Hatte bereits Ihre Instruktionen. Was ich sagen wollte – ich habe den Sargdeckel noch nicht zugeschraubt. War ja noch nicht nötig. Zudem bemerkte ich auf dem Gesicht der Leiche einen rötlichen Fleck. Das kam mir ein bißchen sonderbar vor.«
»Haben Sie das in Ihrer Praxis noch nie beobachtet?« fragte ich, aufmerksam werdend.
»Hm – ja; ist schon vorgekommen, aber sehr selten.«
»Was schließen Sie daraus? Daß der Mann etwa nicht tot ist?«
»O nein«, lautete die rasche Antwort. »Darüber besteht kein Zweifel. Ich dachte nur, Sie würden sich wundern, daß ich den Sarg noch nicht geschlossen habe; ich glaubte, Sie hätten den Toten gern noch einmal gesehen – –«
»Ganz recht«, unterbrach ich ihn hastig. »War sehr rücksichtsvoll von Ihnen. Guten Morgen!«
Ich winkte Dick weiterzufahren, und erst als ich eine Viertelstunde später im Zuge saß, dachte ich über Jawses Anspielung nach. Ich war auf jede Überraschung vorbereitet, denn nach den Ereignissen der letzten Woche konnte mich nichts mehr in Erstaunen setzen. Das Resultat meiner Reflexionen war schließlich nur ein Achselzucken. »Pah« murmelte ich vor mich hin, »werde doch nicht so töricht sein, mich über das Geschwätz eines Leichenbestatters aufzuregen. Würde mir nur die Freude am Sonnenschein verderben.«
Der Zug hielt jetzt an einer Station, und mit Freuden begrüßte ich das Auftauchen eines rotbäckigen Zeitungsjungen, der seine gedruckte Ware ausbot. Rasch kaufte ich mir ein Exemplar des »Daily Telegraph«, der mir sozusagen die Luft meines geliebten London zutrug, ließ Jawse mit seinen unverständlichen Andeutungen links liegen und vertiefte mich in eine vierspaltige Abhandlung über die »fiskalischen Fragen«.
Ich erreichte den Gerichtshof in der Bowstreet noch eine Viertelstunde vor der anberaumten Zeit und traf im Korridor des Gebäudes mit meinem Reisegefährten, Inspektor Walter, zusammen.
»Na«, sagte er nach freundschaftlicher Begrüßung, »in Paris was Neues entdeckt?«
Da ich mir schon vorher überlegt hatte, in betreff der Baronin äußerste Zurückhaltung zu bewahren, so erwiderte ich ausweichend: »Nein; wenigstens nichts Greifbares. Ich tappe noch völlig im Dunkeln, bin aber fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Früher oder später wird es mir wohl gelingen, das Rätsel zu lösen.«
»Pah, lassen Sie die Sache laufen!« warf er lachend ein. »Sie haben's ja jetzt vollauf. Wozu sich noch damit abquälen?«
»Das ist alles recht schön«, versetzte ich, »allein wie steht es mit dem gerichtlichen Verfahren?«
»Nur noch eine Formalität – weiter nichts. Ich selbst werde erklären, daß wir nach sorgfältigster Untersuchung nichts Belastendes gegen Sie gefunden haben und daß, sollte wirklich ein Verbrechen begangen worden sein, was noch sehr zweifelhaft ist –«
»Weshalb zweifelhaft?«
»Weil die Ärzte nicht imstande sind, sich endgültig über den Fall auszusprechen.«
»Das ist doch sonderbar.«
»Allerdings – geht Sie aber nichts weiter an. Sie sind über allen Verdacht erhaben, Herr Bracebridge, und wie gesagt, wenn wirklich ein Verbrechen vorliegt, so müssen sich die französischen Behörden darum kümmern. Es untersteht nicht unserer Gerichtsbarkeit, und deshalb hat sich Scotland Yard auch zurückgezogen. Wenn die Sache aufgerufen wird, werde ich dies dem Richter auseinandersetzen.«
»Und die Leichenschau?«
»Ist auch nur noch eine Formalität. Der kleine Irrtum wegen der Identität macht keinen Unterschied. Ich habe bereits alles geordnet.«
Da er sich so eifrig für mich bemüht hatte, wollte ich mich gern erkenntlich zeigen. Ich zog ihn daher beiseite und sagte in gedämpftem Ton: »Sie haben sich meiner in dieser unerquicklichen Sache so freundlich angenommen, daß ich mir wohl erlauben darf, Ihrer Frau eine Hundertpfundnote für einen neuen Hut und dergleichen zuzusenden?«
Mit vergnügtem Gesicht schüttelte er mir die Hand. »Wenn Sie das tun wollen«, sagte er, verschmitzt lächelnd, »habe ich natürlich nichts dagegen einzuwenden und betrachte es als außerhalb der ›Statuten‹.«
In diesem Augenblick winkte ihm ein Polizist. »Aha, jetzt ist die Reihe an uns«, fügte er hinzu. »Kommen Sie mit in den Gerichtssaal, Herr Bracebridge.«
Wieder saß ich auf der Zeugenbank, aber diesmal entwickelte sich die Sache sehr glatt und für mich befriedigend. Der Vorsitzende ging sogar so weit, sein Bedauern auszusprechen, daß ich in eine so peinliche Lage und einen so unbegründeten Verdacht geraten war.
Ich durfte dies als eine glänzende Rechtfertigung ansehen, und in gehobener Stimmung fuhr ich nach meinem Büro am Brunswick-Square, wo ich den Nachmittag mit Barker verbrachte.
Mit dem Sechsuhrzug verließ ich London, um in mein neues, aber noch sehr ungemütliches Heim zurückzukehren.
Dick erwartete mich am Bahnhof.
»Nichts vorgefallen während meiner Abwesenheit?« fragte ich, den Wagen besteigend.
»Nichts, gnäd'ger Herr, außer daß so 'ne fremde junge Person sich hier herumgetrieben hat und allerhand Fragen wegen des Begräbnisses stellte.«
»Ah!« entfuhr es mir in der Überraschung. »Haben Sie die Person gesehen, Dick?«
»Nein, gnäd'ger Herr. Wär' mir aber lieb gewesen. Hält' dann vielleicht was ausfindig gemacht. Soll 'n bißchen aufgedonnert ausgesehen haben.«
»Gütiger Himmel!« murmelte ich vor mich hin. »Könnte das Susanne gewesen sein?« Und laut fügte ich hinzu: »Trug sie einen roten Sonnenschirm, Dick?«
»Grad wollt' ich das sagen«, entgegnete der Groom. »Sie haben mir 's Wort aus dem Munde genommen.«
Ich biß vor Ärger die Lippen zusammen. Was hatte ich da für eine Gelegenheit versäumt!
Hätte ich nicht dieser verwünschten Gerichtsverhandlung beiwohnen müssen, so wäre ich jetzt nicht nur im Besitz eines Fingerzeiges, sondern der Lösung des ganzen Geheimnisses gewesen.
Dick bemerkte meine Verstimmung. »Etwas Unangenehmes, gnäd'ger Herr?« fragte er.
»Hm – ja!« brummte ich noch immer ärgerlich. »Wer diese Person ausspürt und sie mir noch heute ins Haus bringt, darf auf fünfzig Goldsovereigns rechnen.«
Bei dieser Ankündigung sperrte der brave Bursche Mund und Nase auf. »Ist das Ihr Ernst, gnäd'ger Herr?« stotterte er.
»Ich würde es nicht sagen, wenn es mir nicht ernst wäre.«
»Oh, entschuldigen Sie!« Er schwieg eine Weile, nachdenklich vor sich hinschauend, dann wandte er sich wieder zu mir: »Möcht' es wohl probieren, gnäd'ger Herr. Brauchen Sie mich heute noch?«
»Nein.«
»Und würden Sie nichts dagegen haben, wenn ich den Wagen dazu benutze?«
»Nicht das geringste.«
»Na, dann laß ich mich hängen, wenn ich die Person nicht bis zehn Uhr heute abend hierhergebracht habe.«
»Wäre mir sehr angenehm.«
»Na, auf alle Fälle werd' ich's probieren.«
Damit endete unser Gespräch.
Nach meiner Ankunft in Twyford Hall speiste ich in derselben Weise wie am Abend zuvor, begab mich nachher in die Bibliothek, um meine Pfeife zu rauchen, und las die Zeitungen, die ich mir aus London mitgebracht hatte.
Meine Gedanken auf diese Weise ableitend, suchte ich die Vorgänge des Tages zu vergessen, was mir vielleicht auch gelungen wäre, hätte mich die Nachricht von dem Auftauchen der Fremden mit dem roten Sonnenschirm – es konnte nur Susanne sein – nicht aus dem Gleichgewicht gebracht.
Was bedeutete ihr Erscheinen in Twyford Hall? War es das Resultat ihrer Zusammenkunft mit dem Baron Slavinsky im Café de la Régence? Wenn dies der Fall war – welchen Zweck verfolgte sie damit? Würde Dick sie finden? Letzteres bezweifelte ich stark; dennoch wartete ich geduldig bis zehn Uhr, bis elf Uhr – erst um Mitternacht gab ich alle Hoffnung auf.
In Lawsons Begleitung begab ich mich wieder in das gespenstische Schlafzimmer meines Onkels. Der Alte setzte abermals eine Flasche von dem fünfundzwanzigjährigen Whisky nebst einem Glas, einer Wasserflasche und drei brennenden Lichtern aus den Tisch, wünschte mir eine ruhige Nacht und entfernte sich dann geräuschlos.
Heute fühlte ich mich weniger niedergedrückt als am Abend zuvor. Ich war ehrlich müde, und mit dem Stoßgebet, von schauerlichen Träumen verschont zu bleiben, blies ich zwei der Lichter aus und vergrub mich in die Kissen. Auch ohne Hilfe des Whisky senkte sich der Schlaf auf meine Lider und damit für eine Weile Vergessen aller irdischen Widerwärtigkeiten.
Jedoch nicht für lange.
Der gräßliche Traum der vorigen Nacht kehrte – und diesmal mit zehnfacher Deutlichkeit – wider. Ich hatte die dunkle Empfindung, daß es nur ein Traum war, machte auch die größten Anstrengungen, wach zu werden und das grausige Gefühl abzuschütteln, allein vergebens. Wie ein Alpdruck lag dieser Traum auf mir und hielt mich in seinen Krallen fest.
Der Schauplatz des geträumten Erlebnisses war mir nicht erkennbar; es schien ein öder Raum, eine verlassene Gegend zu sein, auf allen Seiten vom Horizonte begrenzt.
Inmitten dieser Einöde befand sich ein offenes Grab, darin ein Mann in einem Sarg und am Rande ich selbst. Der Tote und ich, wir waren ganz allein. Und ich wußte ganz genau, daß tausend Meilen im Umkreis kein lebendes Wesen existierte und daß ich die feste Absicht hatte, diesen Mann zu begraben. Plötzlich sprengte er den Sargdeckel auf, kroch heraus, kletterte zu mir herauf und behauptete keck, er sei mein Vetter Reginald, der sich nicht in einer so ungebührlichen Weise beerdigen lassen wolle.
Ich erklärte ihm jedoch, daß er gar nicht mein Vetter, sondern ein Betrüger sei, und stieß ihn in das Grab zurück. Schwer fiel er auf den Sarg, wo er eine Weile stöhnend liegenblieb. Dann richtete er sich mühsam in die Höhe und rief mir in kläglichen Tönen zu, während ihm die Tränen über die Wangen liefen: »Frank! Frank, alter Junge, um Gottes willen, begrabe mich doch nicht lebendig hier! Ich weiß ja, daß ich eine rechte Plage für dich war, aber ich habe dir doch geschrieben, daß ich mich bessern wolle; ganz bestimmt, das will ich, und mein Vermögen werde ich mit dir teilen. Nur laß mich leben, Frank, laß mich leben! Ich bin noch zu jung, um hier wie ein Hund zu sterben.«
»Ihr seid ein Betrüger«, entgegnete ich hart wie ein Mühlstein. »Kriecht in Euren Sarg zurück. Das ist das Bett, das Ihr Euch selbst gemacht habt. Legt Euch nur hinein.«
Er gehorchte jedoch nicht, sondern machte einen letzten verzweifelten Versuch, dem Grabe zu entrinnen. Angstvoll krallte er sich in den Rasen, bis seine Finger bluteten. Zuerst löste er nur große Erdschollen los und schwere Steine, die polternd auf den Sarg fielen, schließlich gelang es ihm aber doch, einen Halt zu gewinnen, und schon stand er im Begriff, sich über den Rand zu schwingen, als ich mit meinen schweren Stiefeln auf seine Hände trat, so daß er seinen Halt verlor.
Mit einem gellenden Aufschrei sank er in das offene Grab zurück.
In diesem Augenblick erdröhnte ein furchtbarer Donnerschlag, und ich erwachte aus dem gräßlichen Traum, doch nur, um einen neuen, diesmal aber greifbaren Schrecken zu erleben, der mir das Blut in den Adern erstarren machte.