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Der Marchese stand auf der Freitreppe. Er knöpfte sich langsam die Handschuhe zu und betrachtete aufmerksam sein Pferd, welches ein Stalljunge am Zaume hielt. Die prächtige goldbraune Stute mit schwarzen, runden, blutunterlaufenen Augen bewegte lebhaft die Ohren. Sie trat von einem Bein auf das andere, wie um ihre Hufeisen zu erproben. Ein feines Zittern überlief ihre dünne, zarte Haut und ihre Nüstern blähten sich kaum merklich.
Der blaue, klare Himmel, mit runden, weißen Wolken, der stoßweise vom Meere aufkommende Wind, die gepflegten smaragdgrünen Rasenflächen und die gelben, gewalzten Wege des Hofes, die fernen rosa-violetten Berge und die Schatten, die an ihren sonnenüberfluteten Abhängen herabkrochen, – alles war rein, farbig und scharf.
Der Marchese fühlte sich gerade heute so, wie er es liebte: mit straffem Körper, aus Nervensträngen und Muskeln fest, knapp zusammengefügt; entschlossen und herausfordernd. Sein glattrasiertes Gesicht mit schwarzen, vorstehenden Augen, rassiger Nase, und korrekt gezeichneten Lippen über dem kleinen und steilen Kinne, – alles zeugte von einer unglaublichen Selbstherrlichkeit, die sich bis zu einer, zuweilen anmutigen, Frechheit steigern mochte. Und er hatte wirklich das Gefühl, daß die Sonne, der Wind und die Berge, die Menschen und die Tiere, daß alles für ihn allein da wäre: und er der Einzige, der Elegante, der Glänzende ist und würdig erschaffen alles für seine Person zu verwerten. Er – der angebetete Götze der Frauen und der geborene Beherrscher der Männer, fühlte sich als der Brennpunkt des Alls.
Alle betrachteten den Marchese: das Pferd und der Stalljunge, der es kaum halten konnte, der unerschütterliche, von der Würde seiner eigenen Existenz tief durchdrungene Lakai, welcher mit beiden Händen die Reitgerte vor sich hin hielt, in der Erwartung, daß es dem Herrn Marchese einmal gefallen würde, sie an sich zu nehmen, der alte Gärtner mit dem breitrandigen Schlapphut, welchen er vor dem eingezogenen Bauch hielt, und irgendein Strolch in einer blauen Bluse, der, von dem geöffneten Steintore des Schlosses aus herübergaffend, auf der heißen, weiß-staubigen Landstraße stehengeblieben war.
Marchese Paoli schien jedoch niemanden zu bemerken; er sah gerade vor sich hin und knöpfte unübereilt und methodisch die Handschuhe an seinen kleinen, aber eisenharten Händen.
Endlich streckte er, ohne nach rückwärts zu schauen, die Hand aus, nahm die Reitgerte, welche wie von selbst an die Finger des Marchese heranschnellte, und stieg langsam mit elastischen, kräftigen Schritten die Stufen hinab; er trat an das Pferd, klopfte dem unruhig gewordenen Tier auf den breiten Hals, schwang sich mit einer gewandten Bewegung in den Sattel und saß straff, wie angegossen, auf dem knarrenden neuen Leder. Der Stalljunge sprang zwei Schritte zurück; das Pferd bebte wie unschlüssig am ganzen Körper und machte dann einen Satz nach vorne, aber, gehalten von der gewandten, kräftigen Hand des Marchese, fiel es sofort in einen schlanken, methodischen Trab und trug seinen eleganten Reiter über den knirschenden Sand des Weges, um den grünen Rasen herum, zu den weitgeöffneten Toren der Besitzung.
Die Diener verfolgten den Reiter mit den Blicken, bis er hinter der Mauer verschwunden war. Leben und Bewegung kam plötzlich in die Leute. Der selbstbewußte Lakai nahm ein silbernes Etui aus der Tasche, laut schnappte der Deckel zu, und die Rauchwolken mit tiefer Befriedigung in die Luft blasend, blickte der wohlwollende Mann mit großem Wohlgefallen Himmel und Erde an, wie wenn er erst jetzt den wundervollen Tag bemerkte. Der Stalljunge lief hüpfend zu den Wirtschaftsgebäuden. Der Gärtner bedeckte seinen Kopf langsam mit dem breitrandigen Hut und verwandelte sich plötzlich in einen alten, vertrockneten Pilz. Aechzend grub er den blanken Spaten in die weiche Gartenerde. Das Leben ging weiter.
Und der Herr Marchese ritt langsam die Chaussee entlang, zuweilen mechanisch die Zügel hebend, geringschätzige Blicke auf die grünen Felder werfend, auf die blauen Berge, auf den weit am Horizont sich hinziehenden Streifen des Meeres und die vereinzelten roten Dächer der Pachthöfe und auf das lange weiße Band der Chaussee, die um diese Tageszeit ganz menschenleer war.
Er dachte sehr wenig über den Zweck seines Rittes nach, da er gewohnt war, daß die erforderlichen Gedanken und Worte im gegebenen Momente mit der Schnelligkeit des tierischen Instinktes in seinem Gehirn aufzutauchen pflegten. Außerdem wußte er nur zu gut, daß der Blick seiner gleichzeitig frechen und zarten, eisig kalten und überschäumend leidenschaftlichen Augen auf die Frauen sicherer wirkt, als die bestausgedachten Phrasen.
Es war schon mehr als ein Monat seit jenem Tage vergangen, an welchem er, dank seinem Namen und seinen glänzenden Verbindungen, freigesprochen wurde und an welchem er aus den endlosen Gerichtsverhandlungen mit demselben Selbstbewußtsein hervorgegangen war, mit dem er sich von Anfang an behauptet hatte. Jetzt erschien ihm alles, diese kreischenden Gerichtsbeamten, dies Gitter, diese schweißigen, neugierig sich drängenden Pöbelhaufen, die schmutzigen Zeugen, die große, geschmacklose, schlechtgekleidete Menschenmenge, die sich einbildete, daß es ihr gelingen würde, auf ihn, den glänzenden Nachkommen alter Patrizier, die Hand zu legen. Alles schien dem Marchese nur ein unerfreulicher Traum gewesen zu sein.
Das Verbrechen selbst beschwerte sein Gewissen nicht im geringsten, da er sich schon lange die moderne, grausame Philosophie angeeignet hatte: Alles dem Starken, – eine Philosophie, sehr geeignet für ihn, den vom Schicksale Bevorzugten.
Das Bild der von ihm ermordeten Frau hing sogar an der auffallendsten Stelle seines Arbeitszimmers, – schön und wehmutsvoll dekoriert mit schwarzem Krepp. Es war dies entweder eine freche Herausforderung oder eine romantische Idee. Der Marchese wußte nur zu gut, daß diese ganze Geschichte ihm in den Augen derer, die er brauchte – in den Augen der Frauen, zu seiner bisherigen Anziehungskraft eine neue, finstere Schönheit verlieh. Er wußte es aus den Briefen, die er dutzendweise von unbekannten Frauen und Mädchen im Gefängnisse erhalten hatte, mit der Bitte um sein Bild, mit flehenden Liebeserklärungen, empört über die schamlose Frechheit des barbarischen Pöbelhaufens, über die Journalisten, Krämer und Bauern, welche die Unverschämtheit hatten, Rechenschaft von ihm zu fordern – von ihm, der als der glänzendste Vertreter der prachtvollen, sich über alles hinwegsetzenden Aristokratie ihren kleinbürgerlichen Spießerseelen fremd bleiben mußte.
Er hatte sich die Adressen einiger dieser Briefschreiberinnen notiert, die ihm aus irgendeinem Grunde interessanter erschienen waren als die anderen, – um sich, nach all diesen häßlichen Sorgen mit Wechseln, Verkäufen, Anleihen und Hypotheken, einige amüsante Abenteuer zu verschaffen.
Es gab übrigens einen Augenblick, den zu vergessen der Marchese sich die größte Mühe gab. Es war dies jener Augenblick, als er im Zimmer des schmutzigen Hotels den entsetzlich entstellten Leichnam der Getöteten, mit seinen steif werdenden Gliedern, mit den während des Todeskampfes hervorgequollenen Augen, ganz besudelt von klebrigem Blut, ausziehen, an einen anderen Ort bringen und dort die entsprechende Stellung arangieren mußte. Das Fürchterlichste an dieser ganzen Sache waren die besudelten Hände, die Wäsche und der entsetzliche Schmutz; der Marchese, den eine Schwäche befiel, war damals bleich gewesen, mit zitternden Händen und Beinen – also gar nicht schön, sondern schmutzig, kläglich und keinesfalls elegant.
Was jedoch die Tat selbst anlangte, so dachte der Marchese jetzt mit einer gewissen poetischen Trauer an sie: diese arme Julia war doch schön gewesen und liebte ihn! ... Seine Schuld war es nicht, daß sie in Hinblick auf die mögliche, vorteilhafte Heirat die Notwendigkeit der Trennung nicht einsehen konnte. Sie zwang ihn selbst zu diesem schicksalsschweren Ausweg mit ihren Briefen, Belästigungen und Tränen. Sie chokierte ihn geradezu! Man hätte sie ertragen können, wenn sie wenigstens nicht geizig gewesen wäre und den Marchese Paoli nicht gezwungen hätte, sich wegen einer lächerlichen Summe von tausend Lire derartig zu bemühen. Sie hatte die unselige Idee, die Rolle einer edlen, sich um ihre Kinder härmenden Mutter zu spielen. Auf jeden Wechsel konnte man das Geld erst nach langen Konflikten, hysterischen Anfällen und sogar erst nach Schlägen herausbekommen.
Den Marchese durchzuckte es plötzlich und er beugte leicht die Schultern. Trübe Schatten überflogen seine schwarzen Augen und seine Lippen wurden wollüstig hart: er erinnerte sich, wie schön und leidend sie aussah, als er sie mit eben dieser Reitpeitsche schlug.
Es tat ihm plötzlich leid, daß sie jetzt tot ist und daß man sie jetzt nicht mehr peinigen und nicht mehr erniedrigen kann. Denn ihn durchrieselte immer ein merkwürdig scharfes Gefühl, wenn das zerschlagene, erniedrigte, weinende Weib dennoch nicht den Mut hatte, sich ihm zu verweigern ...
– Ja, sie war ein interessantes Weib! – ging es ihm durch den Kopf, und die Nasenflügel seiner scharfgeschnittenen Nase zitterten.
– Sie war schön, diese arme Julia! – dachte er. – Sie verstand es, sich hinzugeben! ... Und dieser ergebene, flehende Ausdruck in ihren Augen, als sie sah ...
Der Marchese schrak zusammen. Etwas Kaltes rieselte ihm über die Wurzel der Haare und über den Rücken. Leichte Blässe färbte die Wangen bläulich. Er schlug der Stute wütend mit dem Griff der Gerte über den Hals, so daß sie erschreckt über die Landstraße dahinjagte. Der Staub erhob sich unter den funkelnden Hufeisen, der Wind sauste durch seine Haare, und die weißen, gekalkten Chausseesteine flogen an ihm vorbei, die Berge liefen ihm entgegen und das rote Dach des Pachthofes erschien in der Dichte verstaubter Bäume.
Weit hinter ihm, auf dem weißen Band der Chaussee, lief ein kleines menschliches Figürchen, aber der Marchese sah es nicht. Dicht vor dem Pachthofe hielt er plötzlich das Pferd an und dachte einen Augenblick lang nach, ein leichtes Lächeln kräuselte seine Lippen, und er lenkte das Pferd auf den schmalen Pfad.
Auf dem Hofe des Pachthofes herrschte die gewöhnliche schwere, staubige Arbeit. Schwerfällige, schweißige Bauern schafften mit Heugabeln Stroh weg und schleppten Säcke von einem Ort zum andern, ihre breiten, an den Schulterblättern durchnäßten Rücken beugend. Es roch nach warmem Dünger und nach Milch. Im Schatten unter dem Brunnendach lag, die rote Zunge weit heraushängend, ein großer Hund, der beim Anblick des Reiters träge mit dem Schweife wedelte.
Der Marchese ließ das Pferd stehen, reckte sich in den Steigbügeln und rief über die Mauer:
»Holla, ihr da! …«
Einige grobe, schmutzige Gesichter mit herabrieselndem Schweiße auf den Wangen zeigten sich über breiten, sonnenverbrannten Schultern. Die Mützen rückten langsam von den zerzausten, mit Strohhalmen überschütteten Köpfen. Eine Reihe feindseliger, neugieriger Augenpaare richteten sich auf den Marchese, aufmerksam und finster. Niemand antwortete ihm.
»Ist Lisa zu Hause?« fragte der Marchese, ohne sich an einen Bestimmten zu wenden. »Ich will Milch trinken,« warf er hin und wandte sich ab, überzeugt, daß es genügen würde.
Es vergingen einige Minuten. Dieselben ernsten, feindseligen Augen blickten das Pferd und den Reiter an. Der große Hund erhob sich träge, reckte sich auf allen vier Füßen und näherte sich dem Pferde, den großen, struppigen Schweif hin und her wedelnd. Das Pferd bewegte die Ohren, streckte den Kopf mit den Zügeln und der Hand des Marchese dem neuen Bekannten entgegen und beschnupperte ihn vorsichtig. Die Nüstern blähten sich auf und zitterten.
Der Marchese nahm den Hut ab und trocknete sich mit dem Taschentuch die etwas feuchte, gewölbte Stirn.
Ein Pförtchen öffnete sich und es erschien ein mittelgroßes, sehr junges und sehr schönes Mädchen, halb bäuerisch und halb städtisch gekleidet. Ihr schwarzes Mieder mit dem kurzen Rock zeichnete plastisch die kleinen Brüste, und die weichen Schultern unter dem weißen, tiefausgeschnittenen Hemde schimmerten braun und golden durch den dünnen Stoff. Warme, schwarze Augen sahen freudig zum Marchese empor.
»Ah!« tönte es lässig und herablassend aus seinem Munde.
»Guten Tag, mein Närrchen! … Nun, wie geht's?«
Er beugte sich vom Pferde herab, und in die naiven, etwas furchtsamen Augen blickend, fügte er leiser hinzu:
»Hast mich noch nicht vergessen?«
Zartes Rot ergoß sich unter dem Braun auf den Wangen des Mädchens. Ihre Augen drückten so viel Verwirrung und Entzücken aus, daß man über die Antwort nicht im Zweifel sein konnte.
»Der Herr Marchese scherzen!« flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Kann ich denn … Ich habe so geweint, als ich erfuhr, daß man den Herrn Marchese verhaftet hat … ich dachte …«
Ein leichter Schatten des Unbehagens überflog das Gesicht des Marchese.
»Ach ja ...« warf er nachlässig hin, aber in seiner Stimme war etwas, das die Augen Lisas weitete, und ihre Stimme abriß.
»Also hast du geweint, du kleiner Schelm?« wechselte er in einem Augenblick die Stimme, und sich noch tiefer zu ihr herabbeugend, wiederholte er leise und einschmeichelnd: »Also tat ich dir leid?«
Die Augen Lisas füllten sich mit Tranen, ihre Hände hoben sich etwas nach oben und senkten sich wieder kraftlos. Der Marchese verstand diesen Ausdruck einer grenzenlosen Liebe und lächelte befriedigt. Wenn die Menschen im Hofe nicht gewesen wären, hätte sie im Gefühl ihrer Zärtlichkeit und Ergebenheit sicher seine Hand ergriffen und sie geküßt und ans Herz gepreßt.
»Nun, das belohnt mich für alle meine Leiden!« rief der Marchese scherzhaft aus.
»Der Herr Marchese spaßen immer mit mir ...« murmelte sie traurig.
Er kniff die Augen ein wenig zusammen, und den Fuß im Bügel schaukelnd, betrachtete er das Mädchen aufmerksam, wie wenn er etwas überlegte. Der gierig-wollüstige Ausdruck zeigte sich wieder in den Winkeln seines Mundes.
»Ich mache keinen Spaß!« entgegnete er ihr durch die Zähne. »Lisa selbst beliebt zu spaßen!«
Die Augen des Mädchens wurden vor Staunen und Entrüstung so groß, daß sie das ganze Gesicht auszufüllen schienen.
»Ich?« rief sie laut, vergessend, daß man sie auf dem Hofe hörte.
Sie faltete die Hände wie beim Gebet und senkte vorwurfsvoll den Kopf.
Sein Mund lächelte noch immer rätselhaft und hart. Die Augen blickten sie starr an und sein Fuß bewegte sich leise im Steigbügel.
»Natürlich,« sagte er gedehnt, »wenn ich Lisa wirklich leid täte, würde sie schon längst aufgehört haben, mich zu quälen.«
Ein zweites Mal übergoß eine heiße Blutwelle das Gesicht des Mädchens, jetzt aber auch Hals und Schultern. Hilflos und flehend sah sie den Marchese an und ihre Hände zitterten.
»Oder will Lisa mich vielleicht nicht mehr quälen?« fuhr der Marchese fort mit heißer, flüsternder Stimme. Er beugte sich tief auf sie herab, ohne mit dem Blick von ihren Augen zu lassen. »Ja? Wird sie es nicht mehr tun? Wird sie mich nicht mehr quälen?«
Die Lippen des Mädchens bewegten sich leise, sie wandte ihm ihren ungeheuer weiten Blick zu und erblaßte plötzlich.
»Ja? wird sie es nicht mehr tun? … Ja? …« und das heiße Flüstern flammte und wand sich um das junge Mädchen und weckte ihren jungen, kräftigen, leidenschaftlichen Körper. In ihren Augen wurde es dunkel, alles verschwamm zu einem trüben, grünen Kreise; sie sah nur ihn – den Herrlichen, den Unerreichbaren, den Einzigen. Ihre Glieder durchströmte eine sonderbare süße Schwächlichkeit, ihre vollen roten Lippen öffneten sich willenlos, wie von selbst, dem Kusse entgegen, und ein Streifen weißer Zähne schimmerte feucht unter den roten Lippen.
»Lisa!« tönte eine heisere, grobe Stimme vom Hofe herüber.
Ein Ruck durchfuhr das Mädchen, sie erwachte gleichsam und sah sich ängstlich um. Aber es lag nicht in der Absicht des Marchese, sie in diesem Augenblick bewußt werden zu lassen, und er sprach, schnell, zärtlich und befehlend:
»Komm morgen abend zu mir! … Du wirst kommen, ja!«
Das Mädchen bebte am ganzen Körper.
»Lisa!« rief dieselbe Stimme, aber noch lauter und dringlicher.
»Du kommst! Ja? Du kommst!« wiederholte der Marchese jetzt ganz flüsternd, aber mit einer furchtbaren Gewalt in der Stimme.
»Ich komme ...« flüsterte das Mädchen wie im Traume, drehte sich um und stürzte durch das Tor in den Hof.
Der Marchese richtete sich im Sattel auf und lächelte. – Ueber seine Augen huschten Schatten und die grausame Falte in den Mundwinkeln zeichnete sich scharf ab.
Aus dem Pförtchen trat jetzt schweren, nach einwärts gerichteten Schrittes ein großer Bauer mit gekrümmtem Rücken, mit einem kleinen, von unzähligen Falten bedeckten Gesicht und einem schwarzen, mageren Hals. In seinen borkigen Fingern hielt er eine Schale mit Milch und einen Teller mit Brot.
»Der Herr Marchese wünschen zu trinken?« fragte er barhäuptig sich verbeugend, seine kleinen und tränenden Aeuglein mißtrauisch auf den Marchese gerichtet.
Dieser betrachtete ihn mit einem verächtlichen Staunen, lächelte und spornte, ohne den Gruß zu erwidern, das Pferd so an, daß der Alte unwillkürlich zurückwich.
»Nein, ich habe es mir überlegt!« antwortete er dann herablassend durch die Zähne und ritt an ihm vorbei.
Der Alte blieb wie angewurzelt stehen, Milch und Brot in den vorgestreckten Händen haltend.
Einige Bauern hatten sich am Tore eingefunden; der Marchese mußte an ihnen vorbei. Als er vorüberritt, sahen sie ihn schweigend an, aber als er das Pferd im Schritt auf die Chaussee lenkte, erreichte ihn ein schweres Flüstern:
»Mörder! ...«
Ihn durchfuhr eine Bewegung, aber er drehte sich nicht um.
»Schuft!« tönte es jetzt laut hinter seinem Rücken.
Eine Blutwelle schoß ihm durch das Gehirn, sein Gesicht wurde furchtbar. Mit einer einzigen Bewegung drehte er nicht, sondern warf das Pferd zurück, einige bleiche Gesichter starrten ihn an, und er schwang plötzlich, ohne sie sich einzeln anzusehen, die Peitsche und schlug den erstbesten quer über das Gesicht.
»Aa ...« klang der kurze Schrei des Schreckens und des Schmerzes.
Ein dunkler Blutstreifen durchschnitt das magere, verbrannte Gesicht, und der Mensch drehte sich geblendet und betäubt, mit gespreizten Armen sonderbar auf einer Stelle, wie ein angeschossener Vogel; er hüpfte und fiel auf die Hände.
»Canaille!« zischte der Marchese halblaut durch die Zähne, wendete das Pferd und ritt im Schritt davon.
Die Bauern sahen ihm finster und schweigend nach. Erst als der Hut des Reiters oben auf der Chaussee sichtbar wurde, ertönten verhaltene Stimmen der Wut und der Drohung.
Der Marchese ritt im Trab auf der Chaussee. Nur flüchtig bemerkte er, jetzt ganz in der Nähe, eine blaue Gestalt, die eilig durch den Staub lief; es schien ihm sogar, wie wenn irgendeine heisere, vom schnellen Laufen erstickte Stimme in sein Ohr klänge, aber er schenkte dem keine Aufmerksamkeit. Er hielt nicht an.
Die Villa, in welcher der Baron und Bankier Felcini wohnte, gehörte seinerzeit einem berühmten, aber jetzt verarmten Geschlecht. Alles in ihr war großzügig und massig, vom massiven Tore angefangen bis zu den altertümlichen, schweren Möbeln, unter denen man wahre Kunstwerke sehen konnte.
Von der ungeheuren Terrasse, auf der große Marmorlöwen schliefen, eröffnete sich eine weite Meerlandschaft mit funkelnden Fischersegeln, die wie Möwenflügel aussahen; dicht an die Terrasse grenzte ein endloser, jetzt etwas vernachlässigter Park, mit großen, grünen, kuppelartigen Baumkronen, Fächerpalmen und Kaktusbüschen. Der tiefblaue Himmel überwölbte den grünen Garten, die weißen Mauern der Villa und die Weite des Meeres.
Die Tochter des Barons, Rebekka Felcini, die der Bankier »Rekka« nannte, und der Marchese Paoli stiegen die breiten Stufen der Terrasse hinab.
Rekka war sehr schön. Es war jene jüdische, leidenschaftliche Schönheit, die heute noch eine gewisse alttestamentarische Schwere bewahrt hat. Sie hatte trockenes, unglaublich dichtes, schwarzes Haar, mandelförmige, aus ihren dunklen Tiefen etwas Mystisches ausstrahlende Augen, glänzende, rote Lippen, einen starken, sinnlichen Körper. Neben dem eleganten, feingebauten Marchese erschien dieses jüdische Mädchen etwas schwerfällig, sogar plump, aber Baron Felcini, der von oben dem Paar nachsah, bemerkte das nicht und dachte voll Befriedigung:
– Rekka ward eine wundervolle Marchesa abgeben! ... Was! ... Etwa nicht ... Wird jemand etwa behaupten, daß sie die Tochter eines armen, jüdischen Maklers, die Tochter eines Börsianers ist? Ho! ... Das Wappen des Geschlechts derer von Paoli ist etwas verschimmelt, es würde nichts schaden, wenn man es mit dem Gelbe eines armen Juden vergolden würde! ... Daß er ein Mörder ist? Aber er wurde ja von den Geschworenen freigesprochen! Na also. Das macht das italienische Blut, das Blut edler Marchesi und Conti, das ist bei ihnen so Sitte ... Ich bitte Sie, welches Wappen eines alten Geschlechts werden Sie nicht blutbefleckt finden?
Der Bankier steckte beide Hände in die Hosentaschen und sah den galonierten Diener, der vollständig zwecklos an der Glastüre stand, streng an; dann sagte er ärgerlich:
»Ich habe euch doch gesagt, daß ihr heute in der neuen Livree stecken sollt! Nu? ... Oder soll ich zu hören bekommen, daß ihr keine neue Livree habt? Wie oft soll ich es euch denn noch sagen, daß der Herr Marchese Paoli nicht irgend so einer ist ... vielleicht wird er auch meine Tochter heiraten ... Nu? ... Was? ...«
Der Marchese und Rekka waren im Garten. Trockene, grüne, üppige und phantastische Schatten umgaben sie. Solche Schatten gibt es nicht in den Wäldern, wo es immer feucht ist und wo es immer nach Moos und Flechten riecht.
Der Marchese schritt selbstbewußt und leicht dahin, offensichtlich beunruhigte ihn die bevorstehende Erklärung nicht im geringsten. Rekka ging in Gedanken versunken und mit gesenktem Kopfe; sie spielte unsicher mit dem Rakett.
»Also Rekka,« begann er, ehrerbietig und familiär zugleich – ein Tonfall, dessen er sich ihr gegenüber mit Vorliebe bediente und der auszudrücken schien, daß er ein Marquis Paoli und sie die Tochter eines Bankiers, eine Jüdin sei.
»Sie sagen nicht ja und nicht nein?«
Das Mädchen war augenscheinlich sehr erregt, ihre massigen Schultern bewegten sich im Rhythmus der arbeitenden Brust.
»Ja,« sagte sie leise.
»Aber warum denn?« fragte er mit einer Demut, die sehr gut zu seinem kraftvollen, männlichen Gesicht stand. – »Vertrauen Sie mir nicht mehr, oder lieben Sie mich nicht? ... Ihre Worte damals in Venedig, als ich so glücklich war ... Diese Worte waren also nur ein Scherz?«
»Rekka,« sagte er plötzlich und seine Gesichtszüge nahmen gehorsam den Ausdruck verhaltener Leidenschaft an.
Sie senkte den Blick und zitterte. Seine Augen! ... Was wurde aus ihrem jungen, nach Zärtlichkeit und Wollust verlangenden Körper, wenn er sie so ansah!
»Rekka,« wiederholte er flehend und nahm leise ihre Hand ...
Eine Sekunde lang erstarb sie fast in seiner Umarmung, die Augen halb geschlossen, Augen, die sich nie ganz schlossen. Sie fühlte die strahlende Wärme des eigenen Körpers. Der Marchese sah selbstbewußt, mit sinnlichen Lippen auf sie herab und langsam näherte er seinen heißen Mund ihren Lippen; aber plötzlich riß sie sich los, stieß seine Hand zurück und stand dann zwei Schritte von ihm entfernt.
»Lassen Sie mich!«
Das machte ihn nicht im geringsten bestürzt, er sah sie unverwandt an und bemühte sich nur, jenen Ausdruck nicht zu verlieren, von dem er wußte, daß er auf alle Frauen gleich wirkt: den Ausdruck ehrerbietig verhaltener, aber gleichzeitig offener, frecher, ja zynischer Leidenschaft.
»Wie schön Sie sind, Rekka!« sagte er, als ob er nichts bemerkt hätte, sein Blick glitt offen über ihren ganzen Körper. Das dunkle Gesicht des Mädchens wurde rot, aber sie hielt den Blick aus.
»Sie haben mir also damals die Unwahrheit gesagt,« fragte mit Bitterkeit in der Stimme der Marchese.
»Ich lüge niemals!« erwiderte stolz das Mädchen.
»Also lieben Sie mich, Rekka?«
»Ich weiß nicht ... ja ... vielleicht ... Nun ja, ich liebe Sie!« rief sie mit Schmerz in der Stimme und machte eine abwehrende Handbewegung, um seinen verfrühten, freudigen Ausdruck zu hemmen. »Aber ich kann nicht ... ich kann es nicht vergessen, daß an Ihren Händen Blut ist ... Blut!«
Sie wendete sich rasch ab und kehrte ihm den Rücken zu, ängstlich über die Wirkung ihrer eigenen Worte.
Der Marchese sah sie verächtlich an. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann sagte der Marchese hart und frech:
»An diesem Blut tragen Sie die Schuld, Rekka!«
Sie drehte sich um, wie wenn sie einen Peitschenhieb erhalten hätte, ihre Augen, voll starren Entsetzens, blickten ihm gerade ins Gesicht.
Allein der Marchese vermochte diesem Blick zu widerstehen.
»Ich?« rief das Mädchen.
»Rekka, Rekka!« sagte er bitter und leidenschaftlich, mit der tragischen Geste eines Schauspielers seinen Arm hebend. »Verstehen Sie denn wirklich nicht, daß ich das Verbrechen nur ausgeführt habe, weil ich Sie kennen gelernt hatte?«
Rekka hörte ihm wie im Traum zu.
»Ich liebte diese Frau und sie liebte mich ... Aber ich begegnete Ihnen und ... ich hatte nicht die Kraft Ihrer alles-beherrschenden, machtvollen Schönheit zu widerstehen ... Sie konnte nicht ohne mich leben ... Wir beide beschlossen zu sterben!«
»Du bist aber nicht gestorben?« fragten ihn zwei weitgeöffnete, ungläubige Augen.
Das ganze, satte Leben des Marchese, beschützt und getragen von einem glänzenden Namen, nichtstuerisch und sühnelos, war der Wissenschaft von der Besitzergreifung des Weibes gewidmet. Auf diese Frage war er gefaßt.
»Ich erfüllte ihren Willen, und glauben Sie mir, meine Hand würde mich nicht im Stiche gelassen haben. Ich wäre ihr gefolgt, Signorina! ... Aber in der letzten Sekunde, als der Lauf der Waffe schon meine Schläfe berührte, erschien mir das Bild eines anderen Weibes ... Ihr Bild, Rekka ... Ich sah Ihre Augen, ich sah Ihren Körper ... Den herrlichen Körper einer Göttin unter den Menschen, der mir die größten, der mir niegeahnte Genüsse versprach ...«
Die Stimme des Marchese schien zu zittern vor verhaltener, wahnsinniger, blinder Leidenschaft. Dem Mädchen war, als ob ein heißer Nebel ihren Körper umdampfte ... Paolis schwarze, leidenschaftliche Augen blickten an den Biegungen ihres Körpers gleitend herab, rissen ihr förmlich die Kleider weg, entblößten sie, überschütteten sie mit Zärtlichkeiten und brannten wie Kohlen in ihrem Schamgefühl. Jetzt glaubte sie ihm, sie konnte nicht mehr anders.
»Ich verstehe, ich weiß ja, daß ich ein Verbrecher bin! ... Ich wurde ein Verbrecher in jenem Augenblicke, als der tote Körper der geliebten Frau kalt und herrlich vor mir lag und als ich fühlte, daß ich gar nicht frei bin, daß ich nicht sterben kann, daß ich ... Rekka ... ein Mörder bin, daß aber Sie aus mir einen Mörder gemacht haben.
Ich liebe Sie, Rekka!
Ich liebe Sie grenzenlos! ... Quälen Sie mich nicht, werden Sie mein!«
Das Mädchen legte die Hände vor das Gesicht.
Ein grausames, wollüstiges und verächtliches Lächeln zuckte um die schöngeschnittenen Lippen des Marchese. Er trat näher und hielt ihr die Hand hin.
»Rekka, vergessen wir die Toten! Unser ist das Leben! Wir sind die Herren des Lebens! Mein Geschlecht ist nicht gewohnt, zurückzuweichen ... alles gehört uns ...« der Marchese sprach jetzt zusammenhanglos, ohne seine Worte zu kontrollieren. »Ich liebe Sie; ich will dich, Rekka! ... Sie als ein Weib ... werden verstehen, was die Leidenschaft vermag! Meine Ahnen vernichteten ganze Städte und Hunderte von Leichen warfen sie ihren Geliebten zu Füßen! ... Ich bin ein Paoli, in mir rollt das Blut meiner Ahnen, und ... ich liebe dich.«
Der Mund, der diese Worte sprach, war jetzt ihren Ohren ganz nahe, seine heißen Lippen berührten schon die zarten Muscheln. Sie öffnete die Augen, blickte in das schöne, leidenschafterfüllte Gesicht und warf sich, leise stöhnend, zurück.
Die Sonne neigte sich nach Westen und flammte im Rauch rot-goldener Wolken über den Bergeshöhen, als der Marchese, im Schritt reitend, am Rande der Chaussee, auf einem Schutthaufen, eine sitzende menschliche Gestalt erblickte. Es war ein Strolch in einer blauen Bluse. – Er hatte einen braunroten Hut, saß gebeugt und betrachtete tiefsinnig die schiefgetretenen, staubigen Schuhe an seinen kurzen, krummen Beinen. Er sah so aus, als wenn er mitten auf einer langen Wanderschaft voll Verzweiflung umgefallen wäre.
Der Marchese ritt mit losen Zügeln und hielt den Kopf gesenkt.
Beim Klang der Pferdehufe hob der Strolch rasch den Kopf und unter der Krempe seines Hutes erschien, bedeckt von Staub und Schmutz, sein dunkles, grobes, breitknochiges Gesicht, mit einer niedrigen Stirn und einem ungeheuren Unterkiefer.
Wenn der Marchese der Begegnung mit einem Tagedieb die geringste Bedeutung beigelegt haben würde, hätte er bemerken müssen, daß bei seinem, des Marchese Paoli, Anblick die Augen des Strolches mit einem sonderbaren, wilden Ausdruck aufflammten: er schien einem großen, ihm widerfahrenen Glück nicht zu glauben und gleichzeitig fast zu ersticken aus irgendeiner haßerfüllten Freude.
Aber die Gedanken des Marchese waren erfüllt mit Rebekka Felcini, und ihre schönen, biblischen Augen begleiteten ihn durch den goldenen Nebel des hereinbrechenden Abends.
– Jüdin! dachte wütend der Marchese. – Nichts zu machen! Sie wird eine schöne Geliebte werden und ihr Geld wird ihre Abstammung vergessen helfen – Den guten Signor Banchiere wird man dressieren müssen! ... Der Narr träumt schon davon, wie er Arm in Arm mit Marchese Paoli erscheinen, ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfen und ihn dann vorstellen wird: mein Schwiegersohn, Marchese Paoli! ... Nun, ich werde ihn dieses Vergnügen teuer bezahlen lassen! ... Unglücksjude!
»Herr Marchese!« ertönte jetzt hinter ihm eine heisere, gepreßte Stimme.
– Und Rebekka muß ein außerordentlich leidenschaftliches Mädchen sein! ...
»Herr Marchese!« klang jetzt die Stimme näher und hartnäckiger.
Der Marchese sah sich um und hielt mechanisch das Pferd an. Es schien ihm plötzlich, diese Stimme irgendwo gehört zu haben.
Der Strolch stand jetzt dicht vor den Beinen des Pferdes. Seine kleinen Aeuglein blickten bohrend und unverschämt auf den Reiter.
»Was willst du?« fragte unzufrieden und verächtlich der Marchese.
»Ich will Sie sprechen!« antwortete der Strolch, ohne einen Schritt zurückzuweichen. Er stand immer noch so da, daß der Weg versperrt war. Das Pferd spitzte unruhig und ängstlich die Ohren und bewegte den Kopf.
»Bettlern gebe ich nichts ... Platz frei!« sagte lässig der Marchese und setzte das Pferd in Bewegung.
Aber der Strolch packte mit der Gewandtheit eines Affen das Pferd am Zaum. Das schöne Tier bäumte auf und schnaubte.
»Was soll das!« rief mehr erstaunt als geärgert der Marchese. »Hände weg, Lump!«
Er holte mit der Reitpeitsche aus.
»Steig herunter!« sagte finster und bestimmt der Strolch.
In seiner Stimme war etwas, das die Hand des Marchese lähmte, so daß er sie kraftlos sinken ließ. Er erbleichte, sah sich unwillkürlich um, und ein Gefühl der Angst schlich sich zum erstenmal in seine Brust.
Nach vor- und rückwärts dehnte sich die weiße, ausgestorbene Chaussee. Die Sonne stützte sich schon auf die Ränder der finsteren, wolkenverbrämten Berge. Die Felder lagen verlassen und tot da. Der leichte Abenddunst räucherte schon die Täler entlang. Das rote Dach des zunächstliegenden Pachthofes war in der Ferne, im Baumdickicht kaum sichtbar. Es gab keinen Menschen ringsum. Der Marchese war allein, Auge in Auge mit diesem sonderbaren Menschen, und zum erstenmal ergriff ihn das Entsetzen der Einsamkeit.
– Räuber! – ging es ihm durch den Kopf.
»Steig ab!« wiederholte der Strolch und riß das Pferd so am Zaum, daß es den Kopf hochwarf.
»Was willst du?« fragte mit Angst und Drohung in der Stimme der Marchese, ohne sich auch nur der Möglichkeit irgendeiner Gefahr für ihn, den Paoli, von einem Straßendieb bewußt zu werden.
»Du steigst jetzt ab ... sonst!« keuchte der Strolch, und eine schmale Dolchklinge blitzte unter dem Bauch des Tieres. Die Stute schnaubte unruhig, sie schien mit ihrem Instinkt das zu verstehen, was der Marchese noch immer nicht begreifen konnte.
»Weiß der Teufel, was das ist!« rief er entrüstet und blickte zum zweiten Male unwillkürlich um sich.
Schatten und kupferne Lichtstreifen zogen sich über den Weg, wie früher war kein Mensch zu sehen.
Ein Gedanke schoß ihm plötzlich durch den Kopf: er riß das Portemonnaie aus der Tasche und warf es dem Strolch hin. Der Geldbeutel prallte gegen die Brust des Mannes und fiel auf die Erde.
»Steig ab!« wiederholte zum vierten Male der Strolch, ohne den Geldbeutel auch nur eines Blickes zu würdigen.
Da riß der Marchese blitzschnell das Pferd am Zügel und schlug den Mann mit der Peitsche ins Gesicht. Das Pferd bäumte sich auf, der Strolch verschwand in einer Staubwolke, und es schien dem Marchese, als ob er sich mit einer ungeheuren Schnelligkeit fortbewege ... aber im selben Augenblick geschah etwas Sonderbares: die harte Erde schlug ihm gegen die Brust, die Hände fuhren blutig gerissen über die Chaussee, und betäubt vom Fall lag der Marchese im Staube am Rande des Chausseegrabens.
Wie eine Katze, nur dem unbegreiflichen, tierischen Instinkt folgend, sprang er schon in der nächsten Sekunde auf und ergriff das gestürzte Pferd an den Zügeln.
Das herrliche Tier schlug um sich. Es lag quer über der Chaussee und kratzte, bei seinen vergeblichen Versuchen, sich zu erheben, mit den blanken Hufeisen auf dem Boden. Die klugen, schwarzen Augen blickten mit einem fast menschlichen Ausdrucke des Schmerzes und des Entsetzens.
Zuerst konnte der Marchese nichts begreifen, aber im nächsten Augenblicke sah er eine, unter dem Körper des Tieres im weißen Staube sich ausbreitende, schwere dunkle Blutlache. Die Stute wieherte hell und durchdringend, erhob sich auf die Vorderbeine, setzte sich, am ganzen Körper zitternd, wie ein Hund aufrecht und begann dann seitwärts zu fallen.
In der nächsten Sekunde streckte sich ihr schöner, kluger Kopf auf dem lang vorgestreckten Halse im Staube; nur die Hinterbeine zuckten noch.
– Erstochen! – ging es durch den Kopf des Marchese, und er begann plötzlich, ohne zu wissen warum, im unwiderstehlichen Gefühl des Entsetzens und der völligen Hilflosigkeit, aus allen Kräften längs der Chaussee zu laufen.
»Hilfe!«
Er hörte hinter sich eine andere heisere Stimme und laufende Schritte. Sein Hut war beim Sturz vom Pferde gefallen, der Wind zauste seine Haare, das Herz hämmerte in der Brust, sein Mund füllte sich mit Speichel, und etwas Rotes umnebelte seine Augen; aber er lief immer weiter, hüpfend, stolpernd, keuchend und schreiend, mit dünner, von tödlichem Entsetzen erfüllter Stimme:
»Hilfe! ...«
Zehn Meter hinter ihm raste, in eine Staubwolke eingehüllt, der Strolch, mit dem Dolch in der Faust fuchtelnd, seine kurzen, wurzeligen und schiefen Beine weit um sich werfend.
– Ich falle! – dachte mit hervorquellenden Augen, ohne sich umzusehen, der Marchese.
Die verdammte Chaussee war endlos und leer, wie wenn niemals jemand auf ihr gegangen wäre. Weit, unendlich weit, ganz am Horizont, schimmerte das rote Dach des Pachthofes.
Hinter ihm tönten immer noch dieselben Schreie, und die Schritte kamen immer näher und näher. Dem Marchese war es bereits, als ob er das heisere Atmen des ihn einholenden Menschen hören könnte. Gerade mitten auf dem Rücken fühlte er deutlich die Stelle, wo das Messer stecken würde.
Der Marchese stolperte, wäre beinahe gefallen und lief noch schneller.
Er konnte selbst hören, wie es in seiner Brust keuchte. Jetzt fiel er ...
Der schwere Körper mit dem Geruch von Schweiß und Schmutz rannte wuchtig gegen ihn an, fiel ebenfalls und verflocht sich mit ihm zu einem Knäuel, der sich im Staube herumkugelte. Die Schneide des Messers funkelte vor seinen Augen, und der Marchese kniff sie unwillkürlich zusammen.
Aber im nächsten Augenblick fühlte er sich wieder frei.
»Stehe auf!« sprach über ihm die atemlose Stimme.
Paoli öffnete die Augen, erblickte den Strolch, die Berge, die Chaussee und sprang wieder auf.
Aber er ähnelte durchaus nicht mehr jenem eleganten Marchese Paoli, der bei den Gerichtsverhandlungen so verächtlich zu lächeln verstanden hatte, der, wie es ihm schien, früher, vor endlos langen Zeiten einmal, auf der Freitreppe seiner Villa gestanden war, im Gefühl, daß die ganze Welt ihn bewundere, und der langsam, ohne sich im geringsten zu übereilen, seine Handschuhe zugeknöpft hatte.
Sein Gesicht war rot, er war beschmutzt, schweißig und staubbedeckt ...
Auf seiner Wange rieselte Blut herab, mischte sich mit Schweiß und Staub und sammelte sich auf dem Kinn. Der Anzug war zerrissen, das Haar zerzaust, die Handschuhe waren an den Nähten aufgeplatzt und an den Knien der weißen Beinkleider sickerte das Blut durch. Er atmete krampfhaft, mit einem pfeifenden Ton und öffnete den Mund beim Luftholen wie ein Fisch auf dem Sande. Seine Beine zitterten und knickten ein. Seine Augen blickten irr und trüb, und sein Mund war voller Staub.
Der Strolch stand ihm gegenüber, ebenfalls zerzaust und schmutzig, mit weitgespreizten Beinen; er keuchte und hielt das Messer in der gesenkten Hand.
Eine Minute schwiegen beide und sahen einander an, als ob sie nicht verstünden, was eigentlich vorgefallen wäre, was sie einander gegenübergestellt hätte, – den glänzenden Marchese und den finsteren Strolch.
»Ich hätte dich totschlagen können, wie einen Hund ...« begann der Strolch, heiser und keuchend, »aber ich habe ein Gelübde getan ... Da, nimm!«
Er suchte in der Brusttasche und reichte dem Marchese einen ebenso langen, ebenso blanken Dolch.
Der Marchese betrachtete verständnislos das Messer. Es schien ihm, als ob er selbst verrückt geworden sei, oder als ob er es mit einem Verrückten zu tun hätte.
»Na, wird's bald ... sonst!« der Strolch machte eine drohende Gebärde.
»Hör' also, du ...« fuhr der Strolch fort, finster und feierlich, ihn von unten herauf anblickend. »Als du im Gefängnis saßest, ich ... ich bin aus Farnesi ... Luigi Cecchi ... ich ... bei uns hat man das in der Zeitung gelesen ... das, was du gemacht hast ... Alle sagten, daß die Gesetze nicht für euresgleichen geschrieben sind, und daß ihr tun und lassen könnt was ihr wollt! ... Und ich habe mir das Wort gegeben, daß, wenn man dich freilassen wird, ich selbst dich finden werde, koste es was es wolle, daß ich mich mit dir schlagen werde, nicht mit euren aristokratischen Säbeln, sondern mit richtigen Dolchen ... auf Tod und Leben, verstehst du? ... Einer von uns muß liegenbleiben, und das wirst du sein, du Mörder ... Schuft! ...«
Der Marchese schien nichts zu verstehen. Er hielt den Dolch läppisch vor sich hin und seine Augen irrten an der Chaussee entlang.
»Hast du's jetzt verstanden? ... Verteidige dich! ... Ich könnte dir einfach das Messer in den Rücken jagen, und Gott ist Zeuge, meine Madonna würde es mir verzeihen! ... Aber ich schlage dir einen Zweikampf vor ... Verteidige dich!«
Etwas, das an seine verächtliche Grimasse von früher erinnerte, zuckte um die Lippen des Marchese.
»Einen Zweikampf? ... Du – mir? ... Du Lump wagst ... Seit wann schlagen sich Menschen unserer Art mit dahergelaufenen Straßendieben? ... Pack dich! ... Ich werde dich ins Gefängnis werfen lassen ... Weißt du, wer ich bin? Weißt du nicht, daß ich der Verwandte des Papstes bin! ... Man wird dich hängen! ...«
Der Strolch lachte plötzlich laut auf und stieß höhnisch einen Pfiff aus.
»Ho, ho! ... Wer du bist? ... Das weiß ich schon! ... Ein Weibermörder, Aristokrat, Parasit, ein menschlicher Auswurf, der sich einbildet, daß ihm alles erlaubt sei, weil er von dem hochgeborensten Pack abstammt! ... Gemeine Canaille, die das Blut der Arbeiter aussaugt, die zu vernichten ich meiner Madonna das Gelübde getan habe ... Also, das Gericht hat dich freigesprochen? ... Für dich gibt es also in Rom keinen Richter? ... Gut, dann wirst du ihn eben hier finden! ... Um so schlimmer für dich! ... Verteidige dich! ...«
Der Marchese blickte zum letzten Male um sich. Leer und kalt schimmerte die weiße Chaussee, die Schatten der Nacht krochen schon von den Bergen herab, und die Wolken färbten sich braunrot. Verzweiflung krampfte sich in sein Herz. Er schaute auf den Dolch in seiner Hand, dann auf den Strolch, und mit der Entschlossenheit eines Hoffnungslosen preßte er den kalten Griff.
»Na?« schrie heiser und kriegerisch der Mann ihm gegenüber.
Der Marchese warf ihm einen kurzen, scharfen Blick zu.
Der Mann war um einen ganzen Kopf kleiner als er, aber breiter in den Schultern und stand fest auf seinen kurzen, krummen Beinen. Er zog den Kopf in die Schultern ein, hielt den linken Ellenbogen vor sich hin; seine ganze Gestalt duckte sich, wie vor dem Sprung.
Der Marchese biß die Zähne zusammen; sein Gesicht bedeckte sich mit einer wächsernen Blässe. Die Hand mit dem Messer bewegte sich, ohne seinem Willen zu gehorchen.
»Fertig?«
Der Marchese nickte mechanisch mit dem Kopfe.
Langsam näherte sich ihm jetzt der Strolch, seitwärts, schleichend. Seine scharfen kleinen Augen blitzten wie zwei Nägel über dem zerrissenen Aermel der schmutzigen blauen Bluse hervor und stachen dem Marchese gerade in die Augen.
– Ich bin stärker als er! – ging es Marchese Paoli plötzlich durch den Kopf.
Eine leise Hoffnung war in ihm erwacht: er dachte an die Fechtstunden, an den Unterricht im Boxen, an die Turnübungen ... Ja, in diesem Kampfe hatte er neunzig Chancen, Sieger zu bleiben ... Wenn nur diese Canaille nicht so sehr von der Heiligkeit ihrer Mission überzeugt wäre! ... Die Gestalt der getöteten Marchesa Julia tauchte vor ihm auf. Ihre ungeheuer großen, mit dem Entsetzen des Todes erfüllten Augen blickten ihn flehend an; kalte Schweißtropfen traten auf seine bleiche, durch den Sturz vom Pferd zerkratzte Stirn.
– Oh, diese Verfluchte! ... dachte er mit furchtbarem Hasse. – Wegen einer solchen ... soll ich sterben! ...
Sein ganzes Leben, sein sorgenloses, von Genüssen und Vorzügen erfülltes Leben breitete sich vor ihm aus. Und das soll ein Ende haben? ... Die Wut der Verzweiflung, jener Haß, mit der die Schlange beißt, der man auf den Schwanz getreten ist, preßte seine Kehle zusammen. Er blickte zum allerletzten Male um sich und begriff, daß Furchtlosigkeit und Gewandtheit seine einzige Rettung seien. Und plötzlich sprang er, sich wie eine Wildkatze duckend, gegen den verhaßten Mann.
Aber jener hatte es offenbar erwartet und wich mit einer Geschicklichkeit und Elastizität, die man seinem plumpen, kurzbeinigen Körpergestell nicht zugetraut hätte, zur Seite aus. Das Messer des Marchese stach in die Luft, und er selbst wäre fast gefallen. Nur durch ein Wunder entrann er dem Messer seines Gegners, das ihm den Rock an der Schulter aufschlitzte.
– Nein – kaltblütiger ... so renne ich ihm selbst in das Messer! – ging es Paoli flüchtig, kaum bewußt, durch den Kopf.
Sie entfernten sich wieder und schlichen dann, zu einem neuen Anlauf bereit, wie zwei Tiere aufeinander.
Ihre Blicke schienen jetzt zu zwei straffen Strängen verschweißt zu sein, keine Kraft hätte sie zerreißen können. Das ganze Leben, alle Instinkte konzentrierten sich in diesem scharfen, die geringste Bewegung des Gegners erspähenden, auf dessen leiseste Gedanken lauernden Blick.
Plötzlich verschwand der Strolch aus seinem früheren Gesichtsfeld und glitt irgendwo nach unten, unter den Arm des Marchese, der, mit dem zur Abwehr hochgeworfenen Knie, seinen Gegner hart auf das Nasenbein traf. Im selben Augenblick stach er von oben zu und fühlte mit einer unbeschreiblichen tierisch-wilden Freude, wie sein Messer in das weiche Fleisch eindrang.
– Getroffen! ...
Stöhnen und wütende Flüche waren die Antwort. Wieder sprangen sie auseinander.
Die Nase des Strolches war zerschlagen und das Blut floß ihm in den Mund. An der Schulter breitete sich auf seiner blauen Bluse ein schwarzer, nasser Fleck aus.
– Aha! ging es dem Marchese durch den Kopf und er fühlte sich doppelt stark und gewandt. Mut und Glaube an sich selbst kehrten zu ihm zurück. Das ungeheure Uebergewicht war offensichtlich auf seiner Seite – bei ihm, dem Boxer, dem Turner und Fechter. Es war ganz klar. Er mußte nur kaltblütig bleiben, und das Geschick dieses Mannes war besiegelt.
Wahrscheinlich fühlte es auch der Strolch, denn er wurde – nicht bleich – sondern grau im Gesicht. Er fletschte die Zähne und seine Augen waren wie die eines wilden Tieres, das beim Sprung auf sein Opfer unerwartet in die Grube gerät.
Sie schlichen wieder einander zu. Jetzt fiel der Marchese über den anderen her. Sein blasses, entschlossenes Gesicht mit roten Flecken an den Backenknochen war durch eine grausame Energie gestählt. Seine Augen schienen im voraus jede kleinste Absicht des Gegners zu erkennen.
Ein seltsames und wildes Schauspiel boten diese beiden Menschen, hüpfend und kreisend auf der weißen, verlassenen Chaussee, im Zwielicht der erlöschenden Dämmerung.
Der Marchese hörte, wie schwer und erschöpft sein Gegner atmete.
– Haha, ein Rächer! – dachte er wieder ironisch mit einem Anflug des gewohnten frechen Selbstbewußtseins. – Ein Richter! ...
Er sprang auf seinen Gegner, schlug ihm mit dem Ellenbogen den Arm zur Seite und stieß mit aller Kraft in ihn ein. Aber die Klinge glitt von dem Knochen ab und riß einen furchtbaren, breiten Hautlappen auf dem Rücken des Gegners auf. Der Mann stieß stöhnend einen wunden Laut aus.
Ohne ihm Zeit zur Besinnung zu geben, sprang der Marchese jetzt von links und von rechts, wie eine Katze, auf ihn ein, duckte sich, um in der nächsten Sekunde wie eine Feder auseinanderzuschnellen, seinen Gegner von allen Seiten mit Wunden bedeckend.
Der Blusenärmel hing in Fetzen von der Schulter des Strolches herab und sein magerer, schwächlicher Arm, seltsam weiß, bedeckte sich mit Blut. Er wurde sichtlich schwächer. Der ganze Rücken war naß vom Blut.
»So! ... So! ...« knirschte der Marchese bei jedem Hieb durch die Zähne.
Der Strolch verteidigte sich jetzt nur noch schwach, läppisch, ungeschickt drehte er sich mit seinen Plattfüßen auf einem Fleck, dichte Staubwolken aufwirbelnd. Er war jetzt, wie ein Tier auf dem Schlachthof, blutüberströmt, und aus seinen finsteren, entzündeten Augen schaute das hoffnungslose Bewußtsein des Todes.
Der Marchese sprang zurück, und als der Strolch ihm unwillkürlich nachstürzte, jagte er ihm mit aller Wucht das Messer in den Rücken. Die Klinge gleißte zwischen den Rippen hindurch, und der Mann fiel auf die Knie wie ein mit einer Holzkeule erschlagener Stier. Der Marchese stieß ein wildes Triumphgeschrei aus, bemerkte aber plötzlich, daß in seiner Hand statt des Messers ein kurzer Holzstumpf hervorsah: die Klinge war abgebrochen.
Das, was im nächsten Augenblicke geschah, war so absurd, daß der Marchese nichts zu begreifen vermochte.
Er fühlte nur, daß etwas Furchtbares geschehen war, daß er verloren sei.
Eine Sekunde lang durchzuckte ihn von unten herauf bis zur Kehle ein süßlicher, widerlicher Schmerz. Die Beinkleider über dem Bauch schienen ihm schlaff herunterzuhängen, und der Unterleib löste sich in etwas Nassem und Ekelhaftem auf. Entsetzliche Uebelkeit erfüllte den ganzen Körper.
– Unmöglich! – konnte der Marchese gerade noch denken, und er setzte sich in den weichen Staub der Chaussee. Er betrachtete, auf seine Hände gestützt, erstaunt seine Beine, die kraftlos und komisch den Staub aufwirbelten.
Er begriff es nicht, hatte nicht mehr die Zeit dazu, und verteidigte sich auch nicht, als der Mann ihm die Kehle durchschnitt. Er fiel erst hintenüber, dann auf die Seite und begann, schluckend und gurgelnd, in seinem Blute erstickend, sich im Staube zu wälzen.