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IV.
Bilder der Not.

Einen traurigen Einblick in so manches Familienelend gewann ich bei meinen polizeilichen Besuchen. So mußte ich polizeilich von Zeit zu Zeit nach der Familie P. sehen. Der Mann ist Arbeiter und gilt als nüchtern und fleißig. Die Frau ist periodische Säuferin, hat 2 kleine Kinder von 2 Jahren und 3 Monaten. Wenn nun die Frau zu trinken anfängt, so werden die armen Kinder ganz vernachlässigt. Das Größere klettert auf das Fenstersims und schwebt oft in Lebensgefahr, der Säugling schreit unaufhörlich vor Hunger. Nachbarsleute, die in Abwesenheit des Mannes mehrmals gewaltsam die Türe öffneten, fanden die Frau in ihrem Schnapsrausch bewußtlos auf dem Boden liegen. Dann wurde zur Polizei gesandt, damit sie die Kinder auf dem Zwangswege in einem Asyl unterbringe. Aber polizeilich war in diesem Falle schwer etwas zu machen. Ich habe die Familie nun dem Guttemplerorden übergeben. Mann und Frau sind als Mitglieder dort eingetreten, und ich hoffe, daß die Verhältnisse dadurch gebessert werden.

Welche traurigen Verheerungen der Teufel Alkohol doch in so mancher Familie anrichtet!

Der Schneider N. war früher ein rechtschaffener Mann. Seine 2 Kinder, die jetzt 11jährige Frida und der 9jährige Karl, wurden gut erzogen. Die Leute gingen jeden Sonntag zur Kirche und führten einen gesitteten Lebenswandel. Die Ehe galt allgemein als glücklich. Da starb die Frau nach kurzer Krankheit. Der Mann heiratete nach einem Jahr wieder, fand in der zweiten Frau aber nicht die rechte Lebensgefährtin. Sie war weder häuslich, noch sparsam. Er fühlte sich in seinem Heim nicht mehr glücklich. Nach langen Jahren suchte er wieder das Wirtshaus auf, zuerst nur am Feierabend, dann aber auch oft am Tage, vernachlässigte die Arbeit und war nur noch im Wirtshaus anzutreffen. Kam er dann betrunken heim, so prügelte er die Frau und die von ihm früher so sehr geliebten Kinder. Diese liefen vor Angst oft davon, wagten nicht mehr heimzugehen und mußten von der Polizei gesucht und wieder heimgebracht werden. Jetzt sollte Fürsorgeerziehung für die beiden ganz verwahrlosten Kinder ausgesprochen werden. Ein Stadtmissionar beredete aber den Vater, in das Blaue Kreuz einzutreten. Hält der Mann sich nun besser, so dürfen die Kinder bei ihm bleiben. Die Behörden haben daher das Verfahren ein halbes Jahr hinausgeschoben.

Ein trauriges Leben führte das alte Ehepaar F. Frau Christiane F. ist schon hoch in den Fünfzigern, eine echte Vagabundin, ohne Heimat, die mit ihrem Manne bettelnd und stehlend von Land zu Land zog und trotz ihres hohen Alters immer noch Gewerbsunzucht trieb, für wenige Pfennige, einen Schoppen Bier oder eine rote Wurst sich jedem Strolche auf der Landstraße hingebend. Welcher Ekel packte mich nicht stets, wenn diese alte halbverhungerte Frau mit ihren zerlumpten, stinkenden Gewändern sich zur ärztlichen Untersuchung stellen mußte! Und doch waren beide Eheleute nicht unzugänglich. Auf ihre Bitte um Arbeit besorgte ich ihr schließlich eine gut bezahlte Stelle als Spülerin in einem Restaurant und ihr Mann fand durch das Städt. Arbeitsamt als Taglöhner Beschäftigung. Plötzlich gingen beide wieder von Stuttgart fort, aber das alte Vagabundenleben schien ihnen nicht mehr zu behagen. Zu meiner aufrichtigen Freude erhielt ich eines Tages, nachdem ich lange nichts mehr von den beiden gehört hatte, folgenden Brief von Frau Christiane:

»Geehrte Schwester!

Teile kurz mit, daß ich in D. bin im Dienst bei Maurer K. in der Spiegelgasse seit 16. Mai und bleibe auch bei ihnen. Es sind ja auch 4 Kinder da, wo das Kleinste ¾ Jahre und das Aelteste 6 ist, so haben die Leute auch zu Tun. Ich habe bis jetzt 7 Mk. gehabt, jetzt bekomme ich nur noch 5 Mk. bis das Geschäft wieder angeht. Mein Mann arbeitet in Tübingen bei Schreinermeister M. auch um einen geringen Lohn, aber doch haben wir beide Kost und Loschie und nicht die Landstraße. Wir beide sind ganz glücklich, daß wir wieder Menschen sind. Ich freue mich alle Morgen, wenn ich gesund aufstehen kann und bei meinen Kindern bin, da bin ich froh. Vielleicht gibt es auf Weihnachten auch was warmes zum anziehen. Vielleicht darf ich Schwester Henne ein wenig bitten um eine kleine Gabe, ich wäre gewiß dankbar dafür. Bitte Schwester Henne sagen Sie auch viele Grüße an Herrn Stadtpfarrer und an die Familie vom Gefangenwärter und an den Herrn Wachtmeister. Vielleicht kommt Schwester Henne auf Weihnachten hieher. Es würde mich sehr freuen, wenn ich auch wieder was von Stuttgart hören würde. Weiter kann ich jetzt noch nicht schreiben und will schließen, es ist schon spät.

Achtungsvoll
Christiane F ... und Fritz.«

Nach den von mir eingezogenen Erkundigungen halten sich die beiden alten Leutchen wider Erwarten wirklich gut. Christiane hängt mit rührender Mutterliebe an den Kindern der Maurerseheleute, versorgt sie aufs beste und ich hoffe, daß die Liebe zu den Kindern sie davon abhalten wird, die Familie zu verlassen und ihr altes Vagabundenleben wieder aufzunehmen.

Die D.-schen Eheleute hausieren mit Zuckerwaren und Ansichtskarten und sind gewöhnlich auf irgend einer Messe. 4 Kinder von ½ Jahr, 5, 7 und 12 Jahren sind allein zu Hause. Die 12jährige Tochter Anna soll den Haushalt in Abwesenheit der Eltern führen und erhält in der Regel 10 Pf. Wirtschaftsgeld pro Tag. Einmal blieben die Eltern länger fort als sonst, und das Kind hatte kein Geld mehr. Die Nachbarn wollten nichts mehr leihen und wandten sich an die Polizei. Das Ortsschulinspektorat machte ebenfalls Anzeige, weil Anna und ihr 7jähriger Bruder Adolf die Schule nicht besuchten. Ich fand die Wohnung sehr unsauber, die Kinder vollständig verwahrlost, ihre Kleider schmutzig und zerrissen. Das ½jährige Kind hatte Läuse und Ekzeme, am rechten Fuß eine große Brandwunde, aus der sich die Rose entwickelt hatte. Es sah krank aus, schrie unaufhörlich und beruhigte sich erst, als ich es gesäubert und ihm einen Schoppen Milch gegeben hatte. Die Kinder wurden alle dem Städtischen Armenamt übergeben. Gegen den Mann war inzwischen Anzeige erstattet worden wegen Vergewaltigung seiner 15jährigen Stieftochter. Gleich bei der Ankunft des Ehepaares wurde er auf dem Bahnhof verhaftet. Frau D. starb nach kurzer Zeit, D. bat, daß man seine Kinder »an Kindesstatt« unterbringen möchte. Vorerst blieben sie im Armenhaus. –

Eine junge Frau kam auf das Stadtpolizeiamt und machte folgende Angabe. Sie sei die Ehefrau des Friseurs B., habe ihren Mann vor einigen Monaten verlassen, weil er während ihrer Schwangerschaft in ihrem Hause ein intimes Verhältnis mit ihrer älteren Schwester, Mutter von 7 unehelichen Kindern, angefangen habe. Sie habe eine Stelle nach Mainz angenommen und ihr 3jähriges Töchterchen bei ihrem Manne zurückgelassen. Ihre andere Schwester, Mutter von 4 unehelichen Kindern, habe ihr jetzt aber mitgeteilt, daß ihr Mann das unschuldige Kind schwer mißhandle. Es sei bereits zum Skelett abgemagert, und wenn sie nicht sofort zurückkehre und polizeiliche Hilfe in Anspruch nehme, wäre das Kind bald eine Leiche. Ich erhielt damals den Auftrag, sofort mit der Frau in die Wohnung des Ehemanns zu gehen und das Kind zu untersuchen. Als wir dort anlangten, stand der Mann, der offenbar bereits informiert war, kampfbereit in der Türe. Die Frau lief sogleich fort. Ich erklärte ihm, daß ich von der Polizei den Auftrag habe, sein Kind zu untersuchen. Als er das Wort »Polizei« hörte, zog er sofort in furchtbarer Erregung das Messer und schrie: »Die Polizei soll sich um das H...mensch von Weib kümmern. Mein Kind gebe ich der nicht ab. Ein Schritt und Sie kommen nicht zum zweiten Male.« Ich legte ruhig meine Hand auf seinen Arm und sagte: »Ich will ja das Kind gar nicht nehmen, sondern nur sehen. Sie mögen ganz recht haben, wenn Sie es Ihrer Frau nicht geben wollen. Das können wir alles in Ruhe besprechen. Lassen Sie mich nur in die Wohnung, umbringen können Sie mich immer noch, ich laufe Ihnen nicht fort.« Darauf beruhigte er sich, steckte das Messer ein, ließ mich eintreten und die Kleine sehen. Ein Blick auf das gutgenährte und sauber gekleidete Kind ließ mich sogleich die Erregung des Mannes begreifen. Die Anzeige war Verleumdung. Er erzählte mir, daß seine Frau ebenso liederlich sei, wie alle ihre Geschwister. Sie fing vor einem Jahr ein Verhältnis mit einem Schlafburschen an und brannte mit ihm durch, ohne an ihr Kind zu denken. Dieses sei jetzt der Sonnenstrahl in seinem düsteren Leben. Er bat mich um Verzeihung wegen seiner Heftigkeit und war sehr froh, als ich erklärte, daß er jetzt keinesfalls mehr von der Polizei belästigt würde. Die Frau versuchte alles zu leugnen, doch stellte es sich heraus, daß die Angaben ihres Mannes auf Wahrheit beruhten. Sie kehrte dann wieder nach Mainz zurück, wo sie einen verheirateten Bruder hatte. Dieser Bruder war aber nicht mehr in Mainz, als sie dort ankam, sondern hatte Frau und 7 Kinder im Stich gelassen und war mit einer Kellnerin nach Amerika durchgebrannt. – Nach einiger Zeit wurde mir mitgeteilt, daß der im Katharinenhospital im Sterben liegende Friseur B. die Polizeischwester zu sprechen wünsche. Ich fand B. ganz verändert, im letzten Stadium der Schwindsucht. Er sagte, er habe mich kommen lassen, weil er damals aufrichtiges Vertrauen zu mir gefaßt habe. Er wolle mich bitten, nach seinem Tode für sein Kind zu sorgen, das er so mutterseelenallein in der Welt zurücklassen müsse. Er gab mir die Adresse eines Verwandten, der eine eigene Bäckerei auf dem Lande hat, und bat mich bei ihm anzufragen, ob er die Kleine bei sich aufnehmen wolle. Dann händigte er mir ein Sparkassenbuch über Mk. 400.– ein, damit ich dort das Kostgeld bestreiten könne. Ich suchte sogleich die Kleine auf, die ich bei Nachbarsleuten nicht sonderlich gut aufgehoben fand, und brachte sie in das Asyl Zoar zur vorläufigen Versorgung. Die Bäckersleute erklärten sich sogleich bereit, Pauline an Kindesstatt aufzunehmen und wenige Tage, nachdem ihr armer Vater den ewigen Frieden gefunden hatte, wurde sie dorthin gebracht.

Düstere Bilder der Not zeigten sich mir täglich auf meinen vielen Wegen. Da wurde z. B. eine Briefträgersehefrau in einem anonymen Brief angezeigt, ihr halbjähriges krankes Kind zu mißhandeln. Ich fand die Frau mit Venenentzündung zu Bette. Sie hatte 4 Kinder im Alter von 6 Monaten bis 4 Jahren. Das jüngste Kind hat einen Wasserkopf, war einige Zeit im Olgaspital, und sollte jeden zweiten Tag dorthin gebracht werden, damit das Wasser abgenommen werden könnte. Das Kind schrie viel vor Schmerzen und schlief bei Nacht sehr wenig. Die Frau konnte es nicht in das Spital bringen, weil sie nicht imstande war aufzustehen. Es wieder in Spitalfürsorge zu geben, reichten ihre Mittel nicht. Armenunterstützung darf sie als Beamtenfrau nicht in Anspruch nehmen, denn auch hier heißt es » Noblesse oblige«. Der Mann verdient täglich Mk. 3.–, wovon Mk. 1.– für den Hauszins abgeht. Somit bleiben den Leuten zum Leben nur noch Mk. 2.– täglich für 6 Personen. Im Spital müßten sie Mk. 1.20 täglich zahlen, dann behielten sie nur noch 80 Pfg. zum leben. Eine Pflegerin zu nehmen ginge schon gar nicht, denn da müßten sie Mk. 1.– zahlen pro Tag und noch das Essen geben. Eine Nachbarin versprach mir, sich um die Familie anzunehmen und das Kind täglich in das Spital zu bringen.

Ein zugereister, schwindsüchtiger Maler wurde ebenfalls angezeigt wegen Vernachlässigung seines einjährigen Kindes, das bis jetzt in einem Kosthaus war und nun von ihm und seiner Frau abgeholt wurde, weil sie das Kostgeld nicht mehr zahlen konnten. Der Mann war zu krank, um zu arbeiten. Jeder, der den bleichen, abgemagerten Menschen sah, wies ihn ab. Er erzählte mir, daß er auf der Lungenfürsorge-Stelle war. »Da«, schreit er und hält mir einen Spucknapf hin, »das haben sie mir dort gegeben, davon sollen wir wohl leben, ich, meine Frau und das Kind. Einen Gegenstand«, fährt er fort, »habe ich aber noch zu versetzen« und er fährt sich mit der Hand ins Gesicht und reißt ein Glasauge heraus, »das Auge da, das sieht wie echt aus, dafür kriege ich vielleicht ein paar Pfennige.« Es gelang mir, den Mann zu bewegen mit mir auf das Armenamt zu gehen, von wo aus er mit Frau und Kind in das Armenhaus aufgenommen wurde. Nach einigen Tagen wollte er aber wieder fort und versuchte das Kind unentgeltlich irgendwo unterzubringen. Wo findet sich aber ein Asyl, das ein solches armes Geschöpf unentgeltlich aufnimmt? Wo ein Verein, der ohne Beisteuer von irgend einer Seite, ohne lange Schreiberei an Heimatgemeinde, Pfarramt u. s. w., nur aus Menschenliebe, sich eines Kindes erbarmt?

Zu den unzähligen Opfern der Schwindsucht zählt auch der Tischler W. Er hat 5 kleine Kinder und keinen Verdienst. Nachdem die Familie schon lange verdächtig war, auf unlautere Weise ihren Lebensunterhalt zu erwerben, ist jetzt die Frau der Kuppelei überführt und festgenommen worden; kurz darauf wurde auch der Mann wegen Sittlichkeitsverbrechen, begangen an einem 12jährigen Mädchen, verhaftet. Die Kinder sind nun voraussichtlich auf längere Zeit verlassen und ihre Heimatgemeinde, die jedenfalls auch nicht mit Reichtum gesegnet ist, murrt über die ihr zugeschobene Last.

Eines der traurigsten Opfer der Schwindsucht ist zweifellos die Familie G. Der Mann ist schwindsüchtig, 5 Kinder sind lungenkrank, 7 Kinder bereits an der Schwindsucht gestorben. Ein 11jähriges Töchterchen sollte im Juli 1908 für 13 Wochen in eine Lungenheilstätte kommen. Es fehlte ihr aber an der notwendigsten Kleidung, und das veranlaßte die Mutter, in meine Sprechstunde zu kommen und mich um Unterstützung zu bitten, die ihr bereitwilligst gewährt wurde.


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