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V.
Weihnachten auf dem Stadtpolizeiamt.

Das Weihnachtsfest 1907 habe ich, wie alljährlich, mit verschiedenen großen und kleinen Schützlingen gefeiert. In meinem geräumigen, freundlichen Amtszimmer brannte der große Weihnachtsbaum, unter dem viele warme Kleidungsstücke, Puppen, Soldaten, Aepfel, Nüsse und Backwerk zur Verteilung lagen. Da war die Familie Karl erschienen. Der Mann ist herzkrank und asthmatisch, 30 Jahre alt, von Beruf Packer, jetzt aber fast ganz arbeitsunfähig, spielt Geige in den Wirtschaften und wurde mir von dem Vater meines kleinen Ludwig, dem schwindsüchtigen Harmonikaspieler, zur Unterstützung warm empfohlen. Die Frau ist 26 Jahre alt, lungenkrank. Sie haben 4 Kinder im Alter von ½ Jahr bis 6 Jahren, alles bleiche, unterernährte Geschöpfe. Jedes Jahr pflegt ein neuer Weltbürger bei ihnen einzutreffen, und in der Regel macht ihm dann eines seiner älteren Geschwister Platz, um das irdische Jammertal, das ihm so wenig bieten kann, mit dem Himmel einzutauschen. – Dann die Familie Herrmann. Der Mann war Gepäckträger, starb vor wenigen Monaten an der Schwindsucht. Die Frau ist Wäscherin, hat 5 Kinder, eines davon, der vierjährige Artur, geriet im letzten Jahre in einem unbewachten Augenblick unter die elektrische Straßenbahn, wobei ihm das rechte Bein so schwer verletzt wurde, daß es bis zum Knie amputiert werden mußte. – Auch die 25jährige Marie L., die mir aus »Tübinge« als Geschenk ihr neugeborenes Kind auf die Polizei brachte und mich als eine »ganze Wüschte« bezeichnet hatte, weil ich dieses Geschenk nicht annehmen wollte, war meiner Einladung gefolgt. Sie legte mir zum Geschenk ein Körbchen selbst verfertigter rosa, blauer und grüner Papierblumen stolz unter den Weihnachtsbaum. Sie ist Spülerin in einer Wirtschaft und sieht wieder »Mutterfreuden« entgegen. Sie war sehr dankbar für einige Paar Strümpfe, die sie von mir erhielt, zog ihren Schuh aus, um mir ihre ganz zerrissenen Strümpfe zu zeigen und fragte, ob ich ihr die nicht mal stopfen könne. – Frau Günter, Flaschnersehefrau, hatte ich auch, um ihrer Knaben willen, eingeladen, welche seit 2 Jahren unter meiner polizeilichen Aufsicht standen. Als ich sie kennen lernte, lebte sie von ihrem Manne getrennt und war von ihrer Schwiegermutter angezeigt worden, ihre beiden zwei- und dreijährigen Kinder den ganzen Tag einzuschließen, sie mißhandeln und hungern zu lassen, um ihren baldigen Tod herbeizuführen. Es stellte sich heraus, daß Frau Günter seit der Trennung von ihrem Manne in einer Fabrik arbeitete. Sie ging morgens um 6 Uhr fort, kam mittags und abends auf eine Stunde heim und trieb sich dann die ganze Nacht in Tanzlokalen herum. Ich fand beide Knaben ganz abgemagert, schmutzig und verwahrlost. Beide konnten weder laufen, noch sprechen und waren halbverhungert. Frau Günter gab zu, sie hungern zu lassen, sie habe aber selbst nichts zu leben, seit ihr Mann sie vor einem Jahr verlassen habe. Von ihren in der Fabrik verdienten Mk. 10.– Wochenlohn blieben ihr, abzüglich Miete und Möbelabzahlung, nur Mk. 3.- für Essen und Kleidung übrig. »Da können die Kinder natürlich nicht fett werden«, meinte sie. Zum Schlafen war nur ein Bett mit einem schmutzigen, ganz verunreinigten Strohsack da, das übrige Mobiliar dementsprechend. Sie war einverstanden, mich auf das Städtische Armenamt zu begleiten, wo ich sogleich die Erlaubnis erhielt, die beiden unglücklichen Geschöpfe in das Städtische Kinderasyl zu bringen. Dort blieben sie längere Zeit, bis das Familienoberhaupt wieder zurückkehrte. Jetzt wollte Herr Günter sich aber von seiner Frau, die nach wie vor die Nächte in Tanzlokalen zubringt und wohl auch Gewerbsunzucht treibt, scheiden lassen und die beiden Kinder seiner Mutter zur Erziehung übergeben.

Das einzige, ohne elterliche Begleitung erschienene Kind, war der 10jährige Max Kühlwasser. Seine Mutter ist die »Artistin« Kunigunde Kühlwasser. Sie stand in verschiedenen Städten unter Sittenkontrolle, ist unzählige Male vorbestraft wegen Gewerbsunzucht, Betrug, Unterschlagung und Landstreicherei. Im September d. J. wurde sie in Stuttgart infolge eines gegen sie erlassenen Steckbriefes festgenommen, und ich erhielt den Auftrag, mich des im Hotel zurückgebliebenen Kindes anzunehmen. Ich fand einen gut erzogenen, frühreifen, aber lieben Knaben, der mir erzählte, daß sein Vater seit 12 Jahren (!) tot sei und die Mutter öfters »verreise«. Er werde dann jedesmal auf die Polizei und von dort in ein Asyl gebracht, wo er am liebsten sei. Da dürfe man jeden Tag zur Schule gehen, mit anderen Knaben spielen und sich täglich satt essen. Er könne aber auch schon Geld verdienen. Als seine Mutter vor zwei Jahren Cirkusreiterin war, sei er jeden Abend mit dressierten Löwen aufgetreten. Das sei sehr schön gewesen. Ich brachte Max in einem Asyl unter und beantragte Fürsorge-Erziehung für ihn. Wie mir mitgeteilt wurde, liegt vorerst kein genügender Grund dazu vor, zumal sich die Großmutter des Knaben bereit erklärt hat, ihn kostenlos zu übernehmen. In einigen Tagen sollte er abgeholt werden.

So feierten wir denn ein fröhliches Weihnachtsfest, Die Schulkinder sagten ihre Weihnachtsgedichtchen auf, zum großen Stolz der Eltern, und sangen einige schöne Lieder. Und alle vergaßen, daß sie in einem Polizeibüro waren, daß sie zu den »Mühseligen und Beladenen« gehören und am folgenden Morgen die Misere des Lebens für sie von neuem beginnt. Der Baum strahlte hell, und die vielen traurigen Kinderaugen strahlten auch hell aus den blassen Gesichtchen heraus. Nach der Bescheerung sangen wir alle gemeinsam:

»Vom Himmel hoch, da komm' ich her
»Und bring' Euch gute, neue Mär.«

Ja, »gute, neue Mär'« – – –! Wie gerne möchte ich sie allen Mühseligen und Beladenen bringen! Wie gerne möchte ich vor allem den unglückseligen Kindern helfen, die von ihren eigenen Eltern gepeinigt werden und die das Gesetz so unbarmherzig zu Grunde gehen läßt. Wenn man sie alle um sich versammeln könnte, diese kleinen Märtyrer, welche schwere Anklage würden sie erheben gegen unsere bestehende Gesellschaft!

»Opfer fallen hier, weder Lamm, noch Stier,
»Aber Menschenopfer unerhört.«


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