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Die theoretische Begründung dieser Geistesrichtung hat Wilde in vier Abhandlungen gegeben, die in den Jahren 1885 bis 1890 in Zeitschriften erschienen und im Jahre 1891 als Buch unter dem Gesamttitel Intentions (»Absichten« oder besser »Ziele«) neu veröffentlicht worden sind. Sie enthalten Wildes Kunsttheorie und sind die bedeutendste Äußerung englischer Kritik seit den »Kritischen Essays« Matthew Arnolds, als dessen Fortsetzer Wilde von Walter Pater mit Recht bezeichnet wird.
Der erste Aufsatz, »Die Wahrheit der Masken« (zuerst erschienen unter dem Titel »Shakespeare und das Bühnenkostüm« im Nineteenth Century 1885), ist der am wenigsten bedeutende. Wilde tritt hier für die Bühnenerneuerung Shakespeares ein, wie sie um diese Zeit von Henry Irving, Mrs. Langtry und anderen Theaterleitern unternommen wurde, die die Dramen Shakespeares mit prächtigen Dekorationen und historisch getreuen Kostümen aufführten. Lord Lytton hatte in einem Aufsatze des Nineteenth Century diese Bühnendarstellung bekämpft und behauptet, die Archäologie sei bei Shakespeare ganz unangebracht und der Versuch, sie anzuwenden, sei eine törichte Pedanterie. Wilde sucht dagegen mit viel Geist und Gelehrsamkeit zu beweisen, daß Shakespeare auf historische Treue des Kostüms und auf Dekoration großen Wert gelegt habe. In der Sache hat er nach meiner Ansicht unrecht. Shakespeares Römer sind, wie ja Goethe schon sagt, Engländer und nicht historischer als die Racines oder, sagen wir, als Goethes Iphigenie, und im Hamlet werden 9. Jahrhundert und Renaissance ganz unhistorisch durcheinander gemischt, so daß es unmöglich ist, einen festen Zeitpunkt zu bestimmen. Wilde überzeugt uns also nicht. Aber er ist ja selbst, wie er am Schlusse seines Aufsatzes sagt, von der Wahrheit seiner These nicht ganz überzeugt. »In der Kunst gibt es nicht so etwas wie allgemeine Wahrheit. Eine Wahrheit in der Kunst ist das, dessen Gegensatz ebenso wahr ist.« Er will also nur einen Standpunkt verteidigen und dadurch anregen, und das tut der Essay in der Tat.
Charakteristischer für Wilde ist der zweite Essay mit dem Titel Pen, Pencil and Poison (»Feder, Stift und Gift«). Der Gegenstand ist ein im ersten Teile des 19. Jahrhunderts lebender Ästhet, Maler, Kunstkritiker und Schriftsteller, ein Freund von Charles Lamb und Genosse von Dichtern, Künstlern, Schauspielern und Literaten, der zugleich ein gefährlicher Giftmischer und Fälscher war und aus ganz gemeinen Motiven der Habsucht seinen Oheim, seine Schwiegermutter, eine junge reizende Schwägerin, die er selbst gemalt hatte, die Tochter eines Freundes und diesen Freund selbst durch Gift ermordet und dazu Banknoten gefälscht hat. Er starb als Sträfling in Vandiemensland. W. E. Hazlitt hat sein Leben beschrieben, Dickens und Bulwer haben ihn zum Helden von Erzählungen gemacht. Was zog nun Oscar Wilde zu dieser Gestalt mit dem merkwürdigen Doppelleben hin? Nicht bloß ihre Merkwürdigkeit und die Absicht, »den Philister zu verblüffen«, obgleich auch das hineinspielt, sondern in erster Linie die Absicht zu zeigen, daß Kunst und Moral nichts miteinander zu tun haben. »Seine Verbrechen«, so meint Wilde von seinem Helden, »haben seinem Stile eine starke Persönlichkeit gegeben+… Man kann sich sehr wohl eine starke Persönlichkeit denken, die aus der Sünde emporgewachsen ist.« Und ferner: » Die Tatsache, daß ein Mann ein Giftmischer ist, spricht nicht gegen seine Prosa. Die häuslichen Tugenden sind nicht die wahren Grundlagen der Kunst, wenn sie auch Künstlern zweiten Grades als ausgezeichnete Reklame dienen mögen.« Wir legen ja auch keinen moralischen Maßstab an Cesar Borgia, Nero oder Tiberius. Warum also an Wainewright? Weil wir mit Schaudern denken, daß er Tennyson, Gladstone und andere große Männer hätte ermorden können. Er steht uns eben zu nahe. – Welche sonderbare Begründung! Läßt sie nicht auf einen Mangel an moralischem Empfinden, eine Art moral insanity schließen? Wie anders löst Goethe diese Frage von dem Verhältnis von Moral und Kunst! In einem Briefe an J. H. Meyer (20. Juni 1796) wendet er sich gegen »die alte, halbwahre Philisterleier: daß die Künste das Sittengesetz anerkennen und sich ihm unterordnen sollen«. »Das erste«, sagt er, »haben sie immer getan und müssen es tun, weil ihre Gesetze so gut als das Sittengesetz aus der Vernunft springen; täten sie aber das zweite, so wären sie verloren, und es wäre besser, daß man ihnen gleich einen Mühlstein an den Hals hinge und sie ersäufte, als daß man sie nach und nach ins Nützlich-platte absterben ließe.« Die Schöpfungen des Künstlers müssen doch, wenn sie groß sind, aus seiner ganzen Persönlichkeit fließen. Ein Verbrecher mag als Techniker, als Handwerker, vielleicht auch als Spezialist auf einem Gebiete der Wissenschaft Bedeutendes leisten; die Kunst aber nimmt den ganzen Menschen in Anspruch, umfaßt sein Verhältnis zu den Menschen, mit denen der Künstler lebt und die er darstellen will, erfordert interesselose Hingabe, nicht bloß genießerische Freude. Was hat denn Wainewright auch geleistet? Nach Wildes eigenem Zeugnisse nur Ansätze zu Schöpfungen, nichts Fertiges, Großes oder nur Tüchtiges. Seine moral insanity hat seine großen Anlagen verdorren lassen, der hochbegabte Mensch ist nur eine Kuriosität geworden.
Hatte diese Abhandlung sich mit dem Verhältnisse von Kunst und Moral beschäftigt, so dreht sich die dritte, die den merkwürdigen Titel führt The Decay of Lying (»Der Verfall der Lüge«), um die Beziehung von Kunst und Leben. Wilde gebraucht hier zum ersten Male, wie der größte englische Kritiker des 18. Jahrhunderts, John Dryden, die Form des Dialogs, aber es ist hier nur ein scheinbarer Dialog; denn einer ist der Hauptsprecher und legt die Ansichten des Autors dar, ja, liest sie zum größten Teile als Abhandlung vor; der andere belebt nur diese Darlegung durch Zwischenbemerkungen und Fragen.
Und nun zum Inhalt. Sind es nicht Gemeinplätze zu sagen, daß wir die Natur bewundern und genießen, und daß die Kunst die Natur nachahmt? Ist nicht die Rückkehr zur Natur zu allen Zeiten als Heilmittel und Verjüngungsbrunnen der Kunst gepriesen worden? Und was ist diese selbst nach der allgemeinen Ansicht anders als der Ausdruck des Zeitgeistes, der sittlichen und sozialen Verhältnisse? Aber Wilde behauptet von alledem das Gegenteil. Er sieht die Kehrseite der landläufigen Ansichten, ist aus Prinzip ein Ketzer, ein Heterodoxer, aber nicht aus bloßem Widerspruchsgeist, sondern aus einer geschlossenen Lebensanschauung heraus, die wiederum nicht eine bloße Meinung, ein abstraktes Fürwahrhalten ist, sondern der Ausfluß eines besonderen künstlerischen Temperaments, einer »Natur« im Sinne Goethes. Die Sätze, in denen seine neue Ästhetik, die der »müden Hedonisten« gipfelt, sind folgende:
1. Die Kunst drückt nie etwas anderes aus als sich selbst. Sie ist nicht die Schöpfung ihrer Zeit, sondern steht gewöhnlich im Gegensatz zu ihr. In keinem Falle reproduziert sie ihr Zeitalter.
2. Alle schlechte Kunst kommt von der Rückkehr zum Leben und zur Natur und von der Erhebung derselben zum Ideal. Das Leben und die Natur können manchmal als Rohstoffe der Kunst verwandt werden, aber sie müssen in künstlerische Konventionen übertragen werden. Der Realismus als Methode ist durchaus verfehlt. Modernität der Form und des Gegenstandes sollte der Künstler vor allem meiden. Das einzig Schöne ist das, was uns nichts angeht. Das Moderne veraltet schnell (vgl. Zola). Das Leben geht schneller als der Realismus, aber die Romantik ist immer dem Leben voraus.
3. Das Leben ahmt die Kunst viel mehr nach als die Kunst das Leben. Dies folgt nicht nur aus dem Nachahmungstrieb des Lebens, sondern auch aus der Tatsache, daß das bewußte Ziel des Lebens ist, Ausdruck zu finden und daß die Kunst ihm schöne Formen bietet zur Verwirklichung dieses Strebens. Und daraus folgt, daß auch die äußere Natur die Kunst nachahmt. Die Wirkungen, die sie uns zeigen kann, sind nur solche, die wir schon in der Poesie und der Malerei gesehen haben.
4. Die Lüge, das Aussprechen schöner, nicht wahrer Dinge, ist das wahre Ziel der Kunst.
Es sind das alles Paradoxe, d. h. Behauptungen, die sich gegen den herrschenden Glauben, die allgemeinen Ansichten richten und die entgegengesetzten Ideen in beabsichtigter Übertreibung geben. Aber man denke darüber nach, und man wird finden, wieviel Wahres sie enthalten. Sie gehören zu jenen Aussprüchen, die dem Denkenden weite Perspektiven eröffnen. »Das Leben ahmt die Kunst nach.« Ist das nicht ein Widersinn? Und doch hat Lessing schon die Wahrheit dieses Gedankens empfunden, wenn er im Laokoon sagt: »Die bildenden Künste insbesondere, außer dem unfehlbaren Einflusse, den sie auf den Charakter der Nation haben, sind einer Wirkung fähig, welche die nähere Aufsicht des Gesetzes heischet. Erzeugten schöne Menschen schöne Bildsäulen, so wirkten diese wiederum auf jene zurück, und der Staat hatte schönen Bildsäulen schöne Menschen mit zu verdanken.« Und man denke an den Einfluß der Romantik, namentlich der romantischen und romanhaften Auffassung des Geschlechtsverhältnisses auf die Lebensauffassung und das Leben der Generationen von Jahrhunderten, an die Wirkung der Räubergeschichten auf die Jugend, an den Einfluß eines einzelnen Buches wie »Werthers Leiden«, das eine ganze Reihe von Selbstmorden nach sich zog – es ist ein schier unerschöpfliches Thema. Aber auch die äußere Natur soll die Kunst nachahmen? Das scheint doch Unsinn. Und doch geht, wenn nicht die Natur selbst, so das, was wir von ihr sehen und wissen, auf die Kunst, auf Literatur und Malerei zurück. Was waren im ganzen Altertum und im Mittelalter die Berge anders als etwas Furchtbares, Grauenhaftes, Häßliches, dem Menschen Feindliches? Erst Rousseau hat ihre Schönheit entdeckt und sie uns fühlen gemacht und dadurch unseren Besitz erweitert. Der gewöhnlichste, prosaischste Mensch fühlt sich jetzt dort gehoben, erbaut, wo der klügste Mensch früherer Zeiten nur Schrecken und Grauen empfand. Und ist es nicht ein Gemeinplatz zu sagen, daß die Maler uns sehen gelehrt haben? »Man sieht nichts,« sagt Wilde, »bis man seine Schönheit sieht. Heute sehen die Leute Nebel nicht, weil es Nebel gibt, sondern weil Dichter und Maler sie die geheimnisvolle Lieblichkeit solcher Wirkungen gelehrt haben. Es wird wohl seit Jahrhunderten Nebel in London gegeben haben. Gewiß! Aber niemand sah sie, und deshalb wissen wir nichts darüber. Sie existierten nicht, bis die Kunst sie erfunden hat. Heute, das muß man zugeben, übertreibt man die Nebel ein wenig. Sie sind zur Manier geworden, und der übertriebene Realismus ihrer Art verursacht bei stumpfsinnigen Leuten Bronchialkatarrh.« Wir hören hier den Schalk, der sich mit seinem Publikum einen Spaß erlaubt, aber im Grunde ist doch alles sehr ernst gemeint.
Mit der künstlerischen Kritik beschäftigt sich der umfangreichste und bedeutendste der kunsttheoretischen Essays Wildes The Critic as Artist (»Der Kritiker als Künstler«), erschienen zuerst 1890 in zwei Teilen im Nineteenth Century . Der erste Teil trägt den Nebentitel »mit einigen Bemerkungen über die Bedeutung des Nichtstuns«, der zweite den »mit einigen Bemerkungen über die Wichtigkeit, alles zu besprechen«. In der Tat wird in diesem Essay, für den der Schriftsteller wieder die Form des Dialogs gewählt hat, der aber hier nicht eine bloße Form ist, wie in dem vorigen Essay, sondern sehr kunstvoll und natürlich gehandhabt wird, alles mögliche besprochen. Wilde ist so wenig Systematiker wie etwa Ruskin, dessen Hauptwerk »Moderne Maler« ja auch den Nebentitel trägt: »Über viele Dinge«. Es gibt viele wertvolle Schriften im Englischen, die durchaus unmethodisch und unsystematisch sind, und die doch lehrreicher sind als gelehrte Abhandlungen, in denen der Stoff sorgfältig in Kapitel und Paragraphen eingeteilt ist. Allerdings können nur wirklich bedeutende Menschen mit Erfolg diese unmethodische Methode handhaben, die sonst zu Dilettantismus und seichtem, uferlosem Geschwätz verleitet, Menschen, die, wie Ruskin und Wilde, die Einheit in sich selbst tragen. Wildes Ansichten fließen alle aus seiner Eigenart als Mensch; sie sind intuitiv, synthetisch, um einen Mittelpunkt sich bewegend, gesehen und empfunden. Es ist ein wahrer Genuß zu lesen, was er über Browning sagt, über Dante, über Baudelaire, über Ruskin, Matthew Arnold und Walter Pater, über Plato und Aristoteles, über Goethe und Lessing und noch andere. Er ist in erster Linie und ganz einseitig Ästhet. Er verachtet das Handeln. »Es ist viel schwieriger über etwas zu reden als es zu tun« läßt er den Vertreter seiner Ansichten in dem Dialog sagen. Alles Handeln ist unvollkommen, beschränkt, relativ, blind, »die letzte Zuflucht derjenigen, die nicht zu träumen verstehen«. Höher sieht die Betrachtung, das Mitteilen der Leiden und Freuden anderer durch die Kunst, das Lossagen vom Leben, die vita contemplativa, aber nicht unter dem Gesichtspunkte der Gottesidee oder des Versenkens in das All – das ist uns Kindern einer skeptischen Zeit versagt –, sondern unter dem des allseitigen ästhetischen Genusses, den uns der kritische Geist vermittelt. So leben wir fern von der Gegenwart und der uns allzu vertrauten Umgebung, fühlen alle Freuden und Leiden vergangener Zeiten und vergangener großer Menschen, leben durch die Einbildungskraft zahllose Leben und werden den Göttern gleich. Es ist das eine Lebensanschauung, die wir mit Lessing und Goethe ablehnen, aber ist sie ebenso angebracht und von hohem Werte bei einem Volke, welches wie das englische ganz auf das Handeln eingestellt ist, wie die entgegengesetzte, die Hochschätzung des Handelns, es bei dem deutschen Volke der Dichter und Denker des 18. Jahrhunderts war. – Und ebenso verhält es sich mit Wildes Behauptung, daß die Kritik höher stehe als das Schaffen. Auch hier ein Paradoxon! Aber wieder ein Paradoxon, das, richtig verstanden, sehr viel Wahrheit enthält. Denn was versteht Wilde unter Kritik? Gewiß nicht eine Zensurerteilung, sondern die schöpferische Kritik oder, wie Wilde sagt, »die kritische Schöpfung«, das verständnisvolle Einleben in den Künstler und sein Werk, » die Reproduktion des Kunstwerks mit anderen Mitteln«. Sie ist ihm die Fähigkeit, die Dinge des Geistes und der Kunst vom unabhängigen Standpunkte aus zu beurteilen, zu erkennen; sie ist Bildung und Urteil im weitesten Sinne. Goethe ist ihm, wie er es Matthew Arnold war, der große Kritiker. Und wer wollte leugnen, daß so verstanden die Kritik höher steht als ein großer Teil der Produktion, daß die Kritik eines Lessing und Goethe, eines Sainte-Beuve oder Matthew Arnold ganze Bibliotheken von Romanen und Dramen aufwiegt? Einseitig und übertrieben bleibt Wildes Behauptung deshalb doch. Einseitig ist auch seine Unterschätzung des Lebens und Handelns, einseitig seine Verachtung der Ethik. »Sogar der Farbensinn ist für die Entwicklung des Individuums wichtiger als die Unterscheidung von Gut und Böse« versteigt er sich zu sagen, um den Moralphilister zu verblüffen. Matthew Arnold, dessen Schüler Wilde in gewissem Sinne ist, kam bei all seiner Verehrung des Schönen und Ablehnung des Rein-praktischen und Platt-nützlichen doch dazu, zu erkennen, daß die Lebensführung drei Viertel des menschlichen Lebens ausmacht. Carlyle suchte sein neues Ideal der Kultur und der geistigen Freiheit mit dem alten ihm vererbten der puritanischen Sittenstrenge zu vereinigen, und auf einer Synthese von Kunst und Ethik beruht auch das Wirken und die Lehre Ruskins. Sie waren große Lehrer, weil sie bedeutende Menschen waren, und ihre Bedeutung beruht, wie die aller wahren Lehrer der Menschheit, auf einer neuen fruchtbaren Synthese, einer Vereinigung zweier Ideale zu einer neuen Lebensauffassung. Wilde ist kein Lehrer in diesem Sinne, weil er kein wahrhaft großer Mensch war, aber er wirkt aufklärend, anregend, »zersetzend«. Und Zersetzung ist oft gar so nötig bei unserer geistigen Stumpfheit und Trägheit, unserer Neigung, oft Gesagtes, Trivialitäten gedankenlos nachzuplappern, in Klischees nachahmend zu denken. Sie ist ein Freund des Fortschrittes; denn sie führt zum Zweifel, und der Zweifel ist der Anfang jedes neuen lebendigen Glaubens. Und so hat Wilde auch seine Botschaft, seine Mission, die namentlich in England von Bedeutung war, wo die Kunst und besonders die Literatur immer in Gefahr ist, im Dienste des praktischen Lebens, der banalen Nachahmung des Wirklichen zu erstarren und zu verflachen, im Lande der Problemdramatik, des Tendenzromans und des platten Realismus. Und vor allem zeigt sich Wilde gerade in diesem Aufsatze als ein glänzender Prosaiker. Wunderbar ist die Pracht der Sprache, der harmonische Tonfall der Worte, der Glanz der Bilder und der Beiwörter. Er schreibt wie ein Priester der Schönheit, selbst schönheitstrunken, und alles andere als störend ablehnend.
Er lehnt es ab oder er zwingt es in den Bannkreis seiner Persönlichkeit und seiner Ideen. Das sehen wir in einer Abhandlung, die zuerst im Februar 1891 in der Fortnightly Review erschien und den Titel trägt The Soul of Man under Socialism (»Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus«). Sie gehört zu Wildes besten theoretischen Schriften. Vom Sozialismus ist allerdings nur wenig darin die Rede. Er ist gewissermaßen nur der Ausgangspunkt für Wildes Laienpredigt. Er soll die Bahn frei machen für das, was Wilde als das Höchste im Leben preist, was der Sinn des Lebens ist, die Persönlichkeit. Die Sorge um den Erwerb verdirbt den Menschen, sperrt der Entwicklung der Persönlichkeit den Weg, bei den Reichen nicht minder als bei den Armen. Und die Grundlage dieser Entwicklung ist nach Wilde der Individualismus. Er ist ein überzeugter Individualist, ein Feind jeglicher Autorität bis zum Anarchismus. Und der vollkommenste Ausdruck des Individuums, seine Verwirklichung, ist die Kunst. So münden seine Betrachtungen wieder in dem Gegenstande, der den Inhalt seines Lebens ausmacht. – Der Aufsatz hat keine strenge Gedankenfolge. Von manchen Dingen ist darin die Rede, vom Theater, vom Roman, von der Kritik, vom Journalismus, von der Malerei, von der Ausschmückung des Hauses, von der Religion, besonders von Jesus. Aber es ist auch hier eine Einheit der Stimmung, der Grundempfindung, die das Gefühl des Unzusammenhängenden nicht aufkommen läßt. Die Schrift ist das Hohelied der Persönlichkeit und des Individuums.
Sie erinnert, wie alle Schriften Wildes, an mancherlei, das er gelesen und verarbeitet hat, an R. W. Emerson, den amerikanischen Propheten des Individualismus, an den Edelanarchisten William Godwin, an Proudhon, den Fürsten Krapotkin und an Bellamys Buch »Im Jahre 2000«. Späht man sehr eifrig nach, so wird man wohl hier und da auf Stellen stoßen, die als »Plagiate« bezeichnet werden können. Aber war Wilde deshalb ein Plagiator? Ich glaube, von ihm gilt das Wort, das Dryden von Ben Jonson sagte: »Was er nimmt, nimmt er nicht als Dieb, sondern als Eroberer; er macht es zu seinem Eigentum, durchdringt es mit seiner Persönlichkeit.« Und um so zu nehmen, muß der Mensch selbst etwas sein.
Der Stil ist klar und schön und spitzt sich von selbst zu Epigrammen, Merksätzen zu, die auch als solche hervorgehoben werden. Einige dieser Merksätze mögen zur Charakterisierung des Aufsatzes folgen. »Der Sozialismus selbst wird einzig deshalb von Wert sein, weil er zum Individualismus führen wird« – die Grundidee der Abhandlung. »Nur in freiwilliger Vereinigung ist der Mensch schön.« – »Die wahre Vollkommenheit liegt nicht in dem, was der Mensch hat, sondern in dem, was er ist.« – Von Jesus heißt es paradox und übertreibend: »Wenn Jesus von den Armen spricht, so meint er einfach Persönlichkeiten, und wenn er von den Reichen spricht, so meint er Leute, die ihre Persönlichkeit nicht entwickelt haben.« – Ebenso extrem ist der Ausspruch: »Alle Arten der Regierung sind Mißgriffe.« Von den Strafen heißt es: »Eine Gesellschaft verroht weit mehr durch die zur Gewohnheit gewordene Anwendung der Strafe als durch das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen.« Seine Lösung des sozialen Problems lautet verblüffend einfach: »Der Staat soll das Nützliche machen, das Individuum das Schöne darstellen.« Über die Ausführung dieses Programms bleibt er allerdings die Antwort schuldig.
Sehr schön ist folgender Ausspruch: »Eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht enthält, verdient diesen Namen nicht; denn ihr fehlt das einzige Land, in dem die Menschheit immer landet. Und wenn sie dort landet, dann späht sie wieder aus, und sobald sie ein besseres Land vor sich sieht, fährt sie weiter. Der Fortschritt ist nur die Verwirklichung von Utopien.« Man vergleiche diesen Ausspruch mit dem bekannten Worte Macaulays, daß ein Morgen in Middlesex mehr wert sei, als eine Quadratmeile in Utopia. Hier der große Philister, dort der Gegner des Philistertums und Prophet des Schönen.
Über die Kunst heißt es: »Ein Kunstwerk ist das einzigartige Erlebnis eines einzigartigen Temperaments. Seine Schönheit zeigt sich darin, daß der Schöpfer das ist, was er ist. Es hat nichts mit den Bedürfnissen der anderen zu schaffen.« – Und weiter: »Die Kunst ist die stärkste Form des Individualismus, welche die Welt kennt.« – »Die Kunst sollte nie versuchen, volkstümlich zu sein. Das Publikum sollte vielmehr versuchen, künstlerisch zu empfinden.« – Über die Klassiker sagt er sehr witzig und nicht ohne Grund: »Das Publikum benutzt die Klassiker eines Landes nur als ein Mittel, den Fortschritt der Kunst aufzuhalten.« – Vom englischen Publikum heißt es: »Es gibt keinen einzigen wirklichen Dichter oder Prosaschriftsteller in diesem Jahrhundert, dem das britische Publikum nicht feierlich das Diplom der Unmoralität verliehen hätte.«
Mit bissiger Schärfe wendet sich Wilde gegen den Journalismus. »Seine Grundlage ist, daß das Publikum von unersättlicher Neugier erfüllt ist, alles zu wissen außer dem, was wissenswert ist.« Von den Journalisten heißt es sehr bissig: »In früheren Zeiten nagelte man die Ohren von Journalisten an Pumpen. Das war sehr häßlich. In unserem Jahrhundert haben die Journalisten ihre eigenen Ohren an die Schlüssellöcher genagelt.« – Für das Verhältnis des Künstlers zum Publikum gibt Wilde folgende Regel: »Ein wahrer Künstler nimmt vom Publikum keinerlei Notiz. Das Publikum existiert für ihn nicht.« Meredith wird mit Recht als ein Beispiel solchen Verhaltens angeführt. Wilde selbst war, wie wir früher schon sahen, kein Beispiel. Über das Verhältnis des Künstlers zur Regierung heißt es: »Für den Künstler gibt es nur eine passende Regierung, nämlich gar keine.« – Über die Selbstsucht heißt es mit einem Stich gegen die Moralisten: »Die Selbstsucht besteht nicht darin, daß man so lebt, wie man will, sondern darin, daß man von anderen verlangt, sie sollten so leben, wie man will.« Und von dem Mitgefühl sagt er: »Das Mitgefühl, die Sympathie, soll sich mehr der Freude als dem Leiden zuwenden.« Die Sympathie mit dem Leiden ging Wilde erst später aus eigenem furchtbaren Erlebnis auf.
Die letzte Prosaschrift Wildes vor der Katastrophe seines Lebens sind sechs Parabeln, die unter dem Titel Gedichte in Prosa im Juli 1894 in der Fortnightly Review erschienen. Es sind feinsinnige, geistreiche, fast spitzfindige Prosadichtungen, und die Wahrheiten, die sie lehren, sind skeptisch-kritischer Art. Die Lust dauert einen Augenblick; das Leid, das sie begleitet, eins mit ihr ist, währt für immer. Der Wohltäter richtet Böses an. Die Liebe ist auf Eitelkeit gegründet; hinter den edelsten, selbstlosesten Handlungen steht als Motiv die Eitelkeit, der Ehrgeiz, sei es auch nur nach dem Besitze einer Märtyrerkrone. Der Böse trägt die Hölle in sich und kann sich den Himmel nicht vorstellen. Der Lehrer der Weisheit findet keine Befriedigung in der Mitteilung seiner Lehre, sondern allein in der Ausübung der Liebe.
Der Form nach sind diese Parabeln vollendet, und gedankenvoll und anregend ist ihr Inhalt. Sie verweisen auf die Widersprüche der Dinge. Der Witz, der auf der Erkenntnis und Zusammenstellung der Gegensätze beruht, ist die Seele der Wildeschen Kunst, in welches Gewand sie sich auch kleiden mag.