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Das Schicksal der heißgeliebten, langentbehrten Tochter, welches sich vielleicht in dieser Stunde entschied, hatte das Mutterherz so in Anspruch genommen, daß die Sennora Jannos selbst fühlte, wie wenig gesammelt sie sei für die Unterredung mit jenem »Einsiedler,« den Richard seinen väterlichen Freund nannte. Es verwirrte sie vollends, daß dieses erste Zusammentreffen unter so absonderlichen Bedingungen stattfand. Allein sollte sie kommen. So war der ausdrückliche Wunsch jenes Mannes, den der Geliebte mit einer gewissen Zaghaftigkeit vorgebracht. Eine ernste Familienangelegenheit, die er mit ihr zu ordnen habe, sei Veranlassung dieser Bitte. Warum aber das in der ersten Stunde der Begrüßung? In welchen Beziehungen stand ihr letzter Gatte oder dessen Vater zu dem räthselhaften »Einsiedler?« Sie hatte aus Richards auffällig ängstlichen und unzusammenhängenden Andeutungen entnommen, daß es der Name Jannos sei, der in dem alten Herrn eine peinliche und qualvolle Erinnerung betreffs jener Familienbeziehung wachgerufen haben sollte. Des Namens Jefferson entsann sie sich weder aus früherer noch aus späterer Zeit. –
Die in unserer Zeit seltsame Bezeichnung: »Eremit« war ihr allerdings bereits in B. zu Ohren gekommen und zwar für einen räthselhaften Greis, der heimlich große Wohlthaten thue, um dadurch eine alte Schuld zu sühnen, zu deren Buße er sich in die Einsamkeit eines halbzerfallenen Schloßes zurückgezogen. Nach Richards Bericht hatte sie sich nur ein unvollständiges Bild dieses modernen Anachoreten entwerfen können. Da der Geliebte ihn als seinen einzigen und wahrhaft väterlichen Freund hochschätzte, so verwarf sie alle die seltsamen Gerüchte, die ihr früher schon über diese räthselhafte Persönlichkeit zu Ohren gekommen waren. Gleichwohl blieb sie zaghaft, verwirrt. Immer wieder und wieder flogen all' ihre Gedanken zurück in die Stadt, die sie verlassen, das Bild ward verdrängt durch das des Kindes, über dessen Schicksal die erregte Phantasie hundert widersprechende und beängstigende Möglichkeiten aussann.
Der Wagen näherte sich dem alten Waldschlosse. Der Buchenwald, durch dessen dunkles Grün der Herbst bereits hochrothe und mattgelbe Streifen zog, hörte auf und düstere Tannen traten an seine Stelle. Immer öder, einsamer und unwirthlicher ward die Gegend. Endlich nahte man sich dem zerfallenen Gemäuer. Die Sennora ward eigentümlich berührt durch die düsteren. unheimlichen Umgebungen des abgelegenen Schlosses. Es machte in der That den Eindruck eines Mausoleum, das ein Anachoret gebaut, um sich selbst darin zu begraben. Diese zerfallenen Thüren, die eingesunkenen Zinnen, die verwitterten Wappenschilder und die mit Epheu umrankten, halbzerstörten Mauern schienen jedem Eintretenden Schritt für Schritt ein memento mori zuzurufen. Eine dumpfe und schwüle Luft herrschte innerhalb der hohen Ringmauern. Als die eisenbeschlagene Hofthür hinter ihr krachend zufiel, schauderte die Sennora unwillkürlich zusammen – es war, als sei auch sie nun für immer getrennt von den Hoffnungen und Freuden der Welt, die so sonnenhell und warm da draußen lag.
Gewaltsam raffte sie sich auf aus dieser düsteren Stimmung.
An dem gothischen Portal vor dem mittleren Gebäude empfing ein alter Diener den, wie es schien, lange erwarteten Besuch.
Die Sennora gab ihm ihre Karte, mit der Bitte, sie zu melden. Der Diener verbeugte sich ehrfurchtsvoll und ließ die Dame in das große Parterrezimmer eintreten, in dem auch Richard stets von dem Eremiten empfangen wurde. Dann ging er, den Besuch anzumelden.
Düster und unheimlich wie Alles in dem abenteuerlichen Gemäuer war auch dieses Gemach. Altmodische Meubles, dunkle Tapeten, schwere Teppiche. Die Vorhänge waren herabgelassen, es herrschte ein ungewisses Zwielicht in dem hohen Zimmer. Den Fenstern gegenüber befand sich ein hohes Oelgemälde in breitem Goldrahmen – der einzige Schmuck des Gemaches. Es war dasselbe Bild, welches Richard so oft das Urbild seiner Madonna genannt hatte. Nur zur Hälfte war der grünseidene Vorhang zugezogen, der es gewöhnlich zu verhüllen pflegte. Die Sennora trat unwillkürlich näher.
Ein Ruf des Staunens und der Freude tönte von den Lippen. Die Hand zog hastig die Vorhänge zurück. Das Auge war durch eine magnetische Zaubergewalt an das hohe Frauenbild gefesselt – die Gestalt stand wie gebannt. Hoch wogte die Brust und ein seltsames Roth stieg in die sonst so bleichen Wangen.
»Mein Gott – diese Züge!« murmelte sie und strich hastig mehrere Male über die hohe Stirn, als wollte sie sich überzeugen, daß kein wacher Traum sie berücke. »O wie lebendig stehst Du jetzt wieder vor mir – Du liebes, unvergeßnes Bild! Wie seltsam ruft dies Gemälde Dich vor mein geistig' Auge! Mir ist, als seist Du es selbst!«
Immer schneller und lauter wurden die Worte, immer inniger und feierlicher der Ton ihrer Stimme. Sie schien Alles um sich her zu vergessen; das Auge starr auf das Bild gerichtet, schien all' ihr Denken sich einzig und allein in ihren Blicken zu concentriren!
»Ja – ja, ganz so steigt das liebe Bild aus meiner Erinnerung auf! Zug um Zug! Welch seltsame Aehnlichkeit! Ist mir's doch, als sähe ich sie selber vor mir! Wie ein tröstender Engel steigt ihr verklärter Geist zu mir hernieder! Mir ist als wehe ihr Athem mich an – als fühle ich ihre Hand sich segnend auf meinen Scheitel legend – als spräche der liebe Ton ihrer Stimme aus dem Jenseits herab süße Worte des Friedens, des Trostes und der Liebe! O Mutter, Mutter – Du weißt, wie dein Kind deiner bedarf in dieser Stunde! Dein Erscheinen sei mir ein Zeichen, daß Alles was dein Kind jetzt sorgend hofft, sich gnädig erfüllte! O geliebter, theurer, unvergeßner Schatten steige hernieder – höre mein Gebet und trage es mit Dir dann wieder empor in deine heitere Seligkeit, daß es dort Erhörung finde vor dem Thron des Höchsten!«
Und außer sich und überwältigt von dem überströmenden Gefühle, kniete sie nieder vor dem Bilde, das so mächtig eingewirkt auf ihre erregte Phantasie, erhob die Arme wie zum Gebet und schien ein unsichtbares Etwas knieend in dem schönen Frauenbilde zu verehren oder anzustehen.
Leise Schritte scheuchten sie auf. Da sie sich schwankend aufrichtete, stand die hohe Gestalt eines ehrwürdigen Greises dicht hinter ihr. Ein sanftes Lächeln milderte den allzu finsteren Ernst der scharfgeschnittenen, ehernen Züge. Klar, voll und ruhig schaute das große Auge zu der Knieenden hernieder. Er beugte sich zu ihr und hob sie vollends auf.
»O mein Herr,« begann sie flüsternd, »verzeihen Sie mir, daß ich Ihr Kommen überhörte und mich von einer Ihnen gewiß seltsamen Gefühlsbewegung rückhaltslos hinreißen ließ. Das Bild aber weckte Erinnerungen an eine theure Hingeschiedene. Ich konnte ihnen nicht widerstehen verzeihen Sie!«
»Gefühle, die uns ehren, theure Sennora, bedürfen weder der Verzeihung, noch der Entschuldigung, wo und wie wir sie äußern! Ja, Sie gaben mir dadurch ein besonderes Zeichen Ihres Vertrauens und empfehlen sich mir beim ersten Anblick! Reichen Sie mir die Hand, Sennora. Sie sehen einen alten Mann vor sich, der, nach so vielen Täuschungen eines wildbewegten, trüben Lebens, doch am Abend desselben Elastizität und Frische genugsam bewahrt, um solche Stimmungen lebhaft nachzufühlen, wie diejenigen sein mußten, welche dieses auch mir so theure Bild Ihnen eingegeben! Wer so viele Hoffnungen begraben mußte, klammert sich umso inniger an Erinnerungen und weiß deren heilig Recht an Jedem zu ehren! – Nehmen Sie meinen Dank, daß sie meiner Bitte Folge leisteten. Sie mag Ihnen seltsam erschienen sein! Sie bedarf meinerseits einer Erklärung.«
Der Eremit führte sie zu einem Sessel und nahm ihr gegenüber Platz. Wie seltsam berührte sie diese sanfte, melodische Stimme! Es war, als habe sie ihren Klang schon einmal vernommen, aber vor langer, langer Zeit. Umsonst suchte sie in dem edlen aber unendlich wehmüthigen Angesicht einen bekannten Zug! So knüpfte sich ihr Erinnerungsvermögen wieder an den Ton. Klang's doch aus ihm wie ein altbekannter Gruß aus grauen Zeiten!
Der Alte fuhr also fort:
»Sie wissen von Richard, den ich wie einen Sohn liebe, daß der Name, den Sie führen, Sennora, ein besonderes Interesse für mich habe. Sie werden einen alten Mann, der abgeschlossen hat mit Allem, was uns Erdensöhne an das Irdische fesselt, nicht einer müßigen Neugierde zeihen. Es drängt mich, zu erfahren, ob jene Familie, der Sie durch das heilige Band der Ehe jenseits des Oceans auf kurze Zeit angehörten, dieselbe ist, mit deren Stammhalter ich einst – in vergangenen Zeiten – in Berührung kam!… Diese Angelegenheit, die mich im tiefsten Herzen berührt, erfordert, daß ich Ihnen vertrauensvoll offenbare, was sich auf dieselbe aus meinem früheren Leben bezieht! Richard's Freundin und Geliebte hat ein Anrecht auf dies Vertrauen! Zuvor aber meinen Segen Dir, Du Erwählte meines einzigen Freundes! Die Thräne, welche ich in diesen Augen glänzen sah, da ich eintrat, sagten mir: seine Wahl sei eine würdige! Nur ein edles Herz kann sich so frommen und heiligen Gefühlen erschließen, wie die, welche Du der Hingeschiedenen bei ihrer Erinnerung dargebracht!… Ein solch' frommes Thränenopfer gilt mehr als tausend Gebete und tausend Blumen, mit denen wir ihre Aschenkrüge umkränzen!… Aber wenn es Thränen sind zu später Reue« – fuhr er mit leiserer Stimme fort und wandte den Blick von der Frauengestalt, die vor ihm saß, zu dem Bild hinüber – »dann ist das Opfer ein vergebenes, umsonst die Sühne!… So stehe ich an Aschenkrügen Hingeschiedener – weine und klage umsonst, denn keine Stimme tönt herauf zu mir und spricht: weine nicht, dir ist vergeben!«
Er senkte das Haupt tief herab auf die unruhig pochende Brust und preßte das Gesicht in beide Hände. Die Sennora war auf's Tiefste erschüttert. Tiefinniges Mitleid bemächtigte sich ihres weichen Herzens; gleichwohl wagte sie nicht die feierliche Stille durch irgend ein armes Trosteswort zu unterbrechen.
»Reue! Reue und keine Sühne!« murmelte der Greis, ohne aufzublicken. »Wie eine schlafende Furie ist die Reue, die ihre Krallen in unserem Gewissen fest gewurzelt hat wie ein nimmersatter Vampyr, der den Pulsschlag aller unserer Gefühle belauscht.«
Seine Stimme war unverständlich – sein Auge starrte ins Leere Endlich ermannte er sich wieder aufs Neue:
»Verzeihung!« sagte er, da er mit sichtlicher Selbstbekämpfung das edle Dulderantlitz hob.… »Sie müssen Geduld haben, Sennora!… Es ist ein dunkles, finsteres Etwas fast in jedes Menschen Leben – soll er es und muß er es einmal lüften, so geht diesem Entschluß stets ein bitterer Kampf voran!… Gestatten Sie mir einige Fragen!«
Sie schrack zusammen bei dem Klang der letzten Worte, zu deren Antwort sie leise das schöne Haupt neigte. Wie so bekannt war dieser Ton gewesen, der leise nachklang in ihrem Innern. Wo und wann hatte sie ihn vernommen?
»Wie nannte sich Ihr Gatte mit seinem völligen Namen?«
»Nach seinem Vater hieß er Frederigo – Frederigo Jannos.«
Wie ein elektrischer Strahl zündete es durch den Körper des Alten.
»War der Vater in Europa und wann?«
»So viel ich von ihm gehört, war's etwa vor zwanzig Jahren!«
»Er war auch hier in B.?«
»Gewiß!… Man hatte ihn zu seiner Ausbildung hierher geschickt… Er war in dem damals bekannten Handelshause des Senators Stolterfoth!«
Ihre Stimme bebte unwillkürlich, da sie diesen Namen aussprach. Der Alte schien auf's Tiefste ergriffen.
»Und hat er nie von diesem Senator – gesprochen?«
»Kurz vor seinem Tode erfuhr ich, daß er von Jenem auf's Tiefste gekränkt sei, obschon er völlig unschuldig gewesen an Allem, was ihm der – Senator schuld gab. Er hat sterbend dem Irrenden vergeben, sein letztes Gebet war für ihn!«
»Sein letztes Gebet für ihn? O Sennora – dieses Wort! … Er vergab! Täuschen Sie mich nicht?… O Beweise! Beweise!«
»Daß der edle Mann dem – Senator – völlig vergeben, daß er sogar gesucht, glühende Kohlen auf das Haupt jenes Feindes zu legen – weiß Niemand besser als ich, da alle Wohlthaten, die er mir erzeigt, zum großen Theil darum mir erzeigt wurden, weil er aus meinen Papieren ersehen, daß ich… die Tochter jenes Senators sei!«
»Sie, Sennora – – die Tochter?«
»Mein Gott – was ist Ihnen? Ihr Blick ist versengend – –dieser Ton – O mein« – –
»Die Tochter?… Nein – nein– sie ist todt! Sie starb in Elend und Armuth – verflucht von dem Vater – dem Elenden, – der die treulos verlassene Mutter in ihrem holden Ebenbild haßte! – Verflucht von dem Schändlichen, der jetzt zur gerechten Strafe – allein da steht – umsonst trauernd – umsonst weinend und flehend um Vergebung! – – – Ich, Sennora – bin jener Elende – – aber Sie sind – – sind nicht die Verstoßene, Verfluchte! Sie täuschen sich – – der Himmel weiß es! Dort – dort wäre ja sonst das Bild der Mutter – hier stünde ihr Vater! Ein Herz wie das Ihre würde laut im Innern anfschreien bei diesem Erkennen und rufen trotz Fluch und Schuld« –
»– Vater! – Vater!«
Tiefe, bange Stille nach diesem Aufschrei aus den tiefsten Tiefen eines Menschenherzens. In den Armen lagen sich Beide – Beide knieend – betend – weinend – vor dem Bild der Mutter!… Eine heilige Stunde! Ein selig Wiederfinden! Herz an Herz lagen sie Beide in stiller Seligkeit! Keins sprach ein Wort! Was sind Worte? Hier sprachen heilige Thränen – pochende, überströmende Herzen – thränenumflorte Blicke voll Kinderliebe und Vaterglück!… Ein Amulet hatte sich vom Hals der Tochter gelöst. Es lag in der Hand des Alten. Sein Blick flog zu Mutter und Kind … Da galt kein Zweifeln mehr und die Ueberfülle des Glückes leuchtete wie Verklärung aus dem Antlitz des edlen Greises!
Und jetzt, da sich beide erhoben – Freudengeschrei auf dem Hof! Der erste Laut, der das heilige Schweigen unterbrach, war der Ruf: »Mutter! Mutter!«
Richard und Toby stürzen in das Gemach – Meta ruht an dem langentbehrten Herzen der überglücklichen Mutter.
Der Alte aber reichte dem Maler die Hand und rief mit thränenerstickter Stimme und mit einem Dankesblicke auf das zu seinen Füßen knieende Weib:
»Versöhnt und gesühnt!«
… Und von oben war's, als leuchtete ein verklärtes Auge auf die engverschlungene Gruppe der Glücklichen!
Ende.
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