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Ganz Paris kannte sie, und ihr Name war Ninon. Sie war siebenundsechzig Jahre alt, und ihr Haar bedurfte keines Puders. Aber sie bedurfte auch sonst keiner Künste. Ihre Haut war noch zart wie Pfirsichblüte und in ihren hellen Augen glänzte alles, was an Frühling, Maiduft und Sommerhimmel gemahnen konnte. In ihrer warmen Stimme sangen noch alle Vögel. Ihre Gestalt, zierlich und doch von jener angenehmen Rundlichkeit mütterlicher Frauen, ging aufrecht auf flinken, nimmermüden Füßchen, die an Schönheit wie an Beweglichkeit den Fuß einer Sechzehnjährigen beschämten. Jedes Wort, das ihren blassen, aber köstlich geformten Lippen entfiel, war Munterkeit und Herzensgüte; jeder Händedruck entsprang einem natürlichen Gefühlsreichtum, einer unerschöpflichen Herzenswärme, einem beinahe göttlichen Drange, zu geben, zu beglücken; Liebkosungen ohnegleichen ruhten in diesen zarten, etwas kühlen Fingerspitzen. Ninon war unsterbliche Zärtlichkeit in allen ihren schönsten Verkörperungen. Und darum sagte ich vorhin, sie besaß Süßigkeit genug, einen Mann für alles Leid der Welt zu belohnen.
Wo Regnard sie kennen lernte, weiß ich nicht; vielleicht hatte er ein Geschmeide für sie zu besorgen. Sicher ist, daß ganz Paris sich die Mär erzählte, die fröhliche Ninon habe den goldenen Goldschmied gefangen. Auch Germaine hörte davon, auch in das stille Haus an der Barillerie drang das Gerücht. Ich schaute die bleiche Frau an, die sich mit einem hämischen Lächeln abwandte, als sie es vernahm. Auf eine Siebenundsechzigjährige Eifersucht zu hegen, hielt Germaine für unter ihrer Würde.
Ich dachte zuerst, es habe der Glanz jenes Hauses, in welchem alle Fürsten Frankreichs verkehrten, Regnard, der auch eitel sein konnte, verlockt, sich der weltbekannten Frau hinzugeben. Bald aber erfuhr ich, daß er sie nur unter vier Augen sah. Er erzählte mir nichts von Festlichkeiten, er erzählte mir nur von ihrer Person und beschrieb sie so, wie ich sie vorhin beschrieben habe. Dabei blühte sein Gesicht völlig auf, sein Wesen atmete Glück und Ruhe, es war nicht ein Mensch mehr, der ein Laster verhehlte, es war der sorglos und schuldlos Genießende, den ich vordem gekannt hatte. Da verlangte mich, die seltene Frau kennen zu lernen. Regnard, gutmütig und ohne Falsch wie immer, bat für mich, und sie gewährte freundlich, daß er mich zu ihr brächte.
Obgleich Ninon meine Großmutter sein konnte, so fühlte ich mich doch sofort zu ihr hingezogen wie zu einer gleichaltrigen und vertrauten Gespielin. Nichts von dem, was das Alter traurig macht, war an dieser wunderbar begnadeten Person zu bemerken. Ihr Kleid, von der zarten Silberfarbe ihrer Haare, strömte einen eigenartig feinen Duft aus, das beständige leichte Rauschen der seidenen Falten erinnerte an das Schwirren eines Bienenflügels, die ganze Erscheinung in ihrer Beweglichkeit und zierlichen Koketterie sah aus, als könne sie sich nur eben der nächsten Schwalbe auf den Rücken schwingen und fortfliegen. Sie trug einen Kopfputz von blassen Rosen, die ganz die Farbe ihrer Lippen hatten. Den Hals umhüllte geschickt ein Flortuch, das dem Bilde der feinen Matrone etwas unglaublich Keusches verlieh. Diesen Eindruck strafte nun freilich sogleich ihr Geplauder Lügen, denn sie liebte es, mit graziöser Schalkhaftigkeit von gefährlichen Dingen zu sprechen, jedoch so, daß sie nie andre als anmutige Vorstellungen in ihren Zuhörern erweckte. Dabei sah sie mit klugen und guten Augen tief in die menschliche Seele und wußte Dinge, die sich als Laster darstellen mochten, in ihre letzten und subtilsten Regungen zu zerlegen, so daß man ohne weiteres Vertrauen zu ihr gewann und mit einer gewissen Rührung täglich neu empfinden lernte, wie diese Frau in einem langen Leben voll übermütiger Abenteuer sich Menschenkenntnis erworben hatte, ohne die Menschenliebe dabei einzubüßen. Das war auch der Grund, weshalb Regnard sich ihr so schnell ergeben hatte; denn natürlich verstand sie ihn vollkommen, und ihr goldenes, warmes und leuchtendes Naturell, das dem seinen verwandt war, erschloß sich unverzüglich mit all seinen Schätzen dem Manne, der ihr Sohn sein konnte und den sie bemitleidete. Ich habe lange genug Gelegenheit gehabt, das eigenartige Liebesverhältnis dieser beiden Menschen zu beobachten, und ich bin gewiß und möchte es mit tausend Eiden beschwören, daß von Leidenschaften auf beiden Seiten nicht die Rede war, obgleich Regnard oft die ganze Nacht in Ninons Hause zubrachte. Er pflegte mir sogar zu beschreiben, wie sie bis in späte Stunde am Kamin zu sitzen pflegten, wobei Ninon auf das allerlieblichste erzählte, denn sie wußte, was irgend in Paris und in der großen Welt vorging, und hatte ihre eigne Art, darüber zu philosophieren – die gute Art natürlicher und gesunder Menschen, denen das Bestehende immer das Beste ist. Kam dann, als einziges Zeichen ihres Alters, eine kleine weiche Mattigkeit über sie, so pflegte Regnard sie auf ein Ruhebett zu heben, mit Kissen und Decken zu stützen und zu umhüllen, und sich selbst an das Fußende zu setzen und zu warten, bis sie einschlief. Dann sah er zu, wie das bewegte und schalkhafte Gesicht sich langsam glättete und beruhigte, wie das letzte Lächeln verschwand und wie endlich das Weltliche und Witzige in den schönen Zügen ganz erlosch und nichts zurückblieb als ein stilles, weißes und unendlich gütiges Mutterantlitz mit den rührendsten kleinen Fältchen um den Mund und die etwas tiefliegenden Augen. In solchen Momenten liebte Regnard, wie er selbst sagte, die unvergleichliche Frau am innigsten. Es machte ihm Freude, dann neben der Schlummernden niederzuknien und ihre kühlen Hände zu küssen, so leise, daß er sie nicht damit weckte. Schlug aber Ninon, die nach Art bejahrter Frauen keines langen Schlafes bedurfte, doch die Augen auf, so lächelte sie wohl über seine Zärtlichkeit, ließ ihn aber ruhig damit fortfahren, indem sie selbst von Zeit zu Zeit sein Haar, seine Stirne oder seine Wange streichelte und ihm mit liebevollen Worten, die aber immer einen leisen Anflug überlegener Schelmerei trugen, für seine Liebkosungen dankte. Manchmal sah sie dann in dem dämmerigen Scheine herabgebrannter Kerzen so betörend jung aus, daß Regnard sie in die Arme nahm und auf den Mund zu küssen suchte, den sie aber immer lachend zur Seite wandte, so daß seine Lippen nur ihre weiche Wange fanden. Doch liebte sie es, gegen seine Schulter gelehnt ruhen zu bleiben, wobei es manchmal geschah, daß beide zusammen in dieser Stellung einschliefen, Regnard halb kniend und sehr unbequem, aber von einem eignen friedlichen Glücke erfüllt, wie es das Bewußtsein des Geliebtwerdens und Liebens ohne den Beigeschmack von Leidenschaft zu geben pflegt.
Nach Regnards Aussage hatte er selbst seiner silberhaarigen Geliebten nie von Germaine und dem Unglücke seiner Ehe ein Wort erzählt; doch mußte sie wissen, was der Pariser Stadtklatsch davon herumtrug, und gab ihm auch bald auf ihre natürliche und sorglose Art zu verstehen, daß sie es wußte. Sentimentales Mitleid gab sie ihm nicht; doch fühlte er oft an dem plötzlich dunkel und sinnend werdenden Blicke, den sie auf ihm ruhen ließ, daß sie die Tragödie seines Lebens vollkommen verstand. Aber, als ob sie es für schädlich hielte, die Erinnerung daran aufkommen zu lassen, verscheuchte sie alsobald wieder die ernste Stimmung durch verdoppelte Munterkeit. Immer wieder verstand sie es, den von Natur aus zu Scherzen und holden Phantasien geneigten Mann mit sich fortzureißen, bis er wieder ganz der war, den Paris einst den Goldenen genannt hatte. Auch seine Liebe zur Kunst wußte sie wieder sachte zu wecken, da sie selbst den exquisitesten Geschmack besaß, und es entstand in jener Zeit wieder ein oder das andre wirklich hervorragende Stück, das jedoch immer in Ninons Händen blieb. Dazu gehörte zum Beispiel ein siebeneckiger Kasten aus vergoldetem Silber, den Ninon als Teebüchse zu benutzen pflegte, da sie die neue Vorliebe ihrer Zeitgenossen für dies sanfte Getränk teilte, dessen Duft, der so fein berauschte, ein wenig ihrer Eigenart verwandt zu sein schien. Die sieben Felder dieses Schreines, durch zierlich gekrönte Säulchen geteilt, trugen sieben anmutige Menschenfiguren zur Schau, in denen wieder das alte Leben der guten Regnardschen Arbeiten vibrierte. Auch an andern Gegenständen trat die Freude am Menschenbilde wieder siegreich zutage. So besaß Ninon eine Schale aus Gold in Muschelform und von Delphinen getragen, an deren Rande ein überaus reizendes Elfenbeinweibchen stand, nackt und mit ihren aufgelösten Haaren spielend, als sei sie eben dem Bade entstiegen und streife die Wasserperlen aus dem Gelocke. Da war wieder die schöne Lässigkeit der Stellung, die niedliche Wendung des Halses, der weiche Fall der Haarsträhne, die Regnard früher so gern dargestellt hatte. Da waren auch wieder die alten Delphine mit ihren drollig-grimmigen Gesichtern, da war wieder der kecke Schlag ihrer Schwänze, die groteske Gestalt des Flossenwerkes. Da war wieder Ausdruck und Kühnheit in jeder Linie. Ich fühlte mich innig beglückt, als Regnard mir die kleine Schöpfung zeigte, denn ich sagte mir: »Gottlob! Wenn er bei dieser Frau bleibt, so ist er gerettet!«
Ich bin eitel genug, nicht von Ninon reden zu können, ohne auch meines Verhältnisses zu ihr zu gedenken. Es war natürlich durchaus ein solches, wie es zwischen Großmutter und Enkelsohn herrschen mochte, aber von einem Zauber ohnegleichen umgeben. Ninon erschien mir immer wie eine gute Märchenfee – wenigstens habe ich mir nach ihr die Feen immer nur silberhaarig und in graue Seide gekleidet denken können! – und sie sorgte und waltete ja auch wie eine solche für mich. Sie pflegte mich des Abends früh nach Hause zu schicken, weil nach ihrer Aussage junge Leute vor allen Dingen des Schlafes bedürften, kümmerte sich um mein Tagewerk, riet oder warnte, wenn ich ihr von meinen Verbindungen sprach, lobte oder tadelte meine Neigungen und Ansichten und wurde so in der Tat die erste Frau, die als Erzieherin in mein Leben trat. Wie sie hinreißend zu plaudern verstand, so verstand sie liebevoll zuzuhören, und sie ließ sich alles von mir erzählen, von meiner frühesten Jugend an bis zu den letzten Tagen, hatte Teilnahme und Verständnis für alles, wußte am rechten Orte zu lächeln, zu schelten, oder auch, wenn es nötig war, eine ihrer kleinen kosenden Gesten einzuschieben, die mehr als alles andre machten, daß man ihr sein Herz erschließen mußte. Und eine dieser Gesten brachte es fertig, daß ich das tat, was ich meinen besten Freunden gegenüber zu tun nicht fähig gewesen war: ich erzählte Ninon die Geschichte meines Gelübdes von Marlaigne.
Noch ist mir dieser Augenblick gegenwärtig, dieser eigenartig feierliche Augenblick, in welchem ich die Last meines jungen Lebens der gütigsten Frau in die Hände legte. Ich saß an der Erde zu ihren Füßen vor dem großen vergoldeten Kamine und schlug leise von Zeit zu Zeit mit dem Schüreisen die prasselnden Scheite an, neugierig, wie tief der verzehrende Brand schon in ihr Mark gegriffen haben mochte. Neben mir auf dem schöngearbeiteten Kamingitter ruhte Ninons kleiner Fuß im hellgrauen Seidenschuh, und die rauschende Flut ihres Kleides fiel dicht an meiner Schulter herab. Sie saß in einem hohen prunkvollen Stuhle, aber nicht gegen die Kissen gelehnt, sondern gegen Regnard, der auf der Armlehne thronte und sich sanft über die geliebte Gestalt geneigt hielt, mit seinen Armen und Hüften ihren Rücken stützend. Außer dem Flortuch trug Ninon an diesem Abende noch einen Schleier, der ihr Haupt und ihre ganze Person ein wenig verhüllte, und auch den Kopfputz aus Rosen hatte sie abgelegt, so daß sie mehr als je der stillen weißen Göttin einer nebelhellen Mondnacht glich in ihrer ganzen silbrigen und schimmernden Duftigkeit. Ich dachte, daß es nichts Schöneres geben konnte als diese Frau, und sicher gab es niemals etwas Gütigeres und Weicheres.
Als ich die lange und durchaus nicht leichte Beichte jenes Abenteuers abgelegt hatte, sah das schöne Paar sich eine Minute lang mit einem klugen Lächeln in die Augen. Dann wandte Ninon sich zu mir, neigte sich herab und faßte bedächtig mein Gesicht zwischen ihre Hände, indem sie es langsam zu sich emporhob und gleichsam jede Linie darin einzeln zu betrachten schien. Sie sah dabei ganz ernst aus, und ich, allzu glücklich, daß die Verehrte mich nicht auslachte, schaute ebenso ernsthaft in ihr Antlitz zurück. Mir war ganz heilig zumute, und als Ninon mich nun auf mein Gewissen fragte, ob denn das Gelübde bisher ungebrochen geblieben sei, flüsterte ich mein: »Ja, bei Gott!« so bebend vor Ergriffenheit, daß sie mir glauben mußte. Da ließ sie mich los, nicht ohne mir noch einmal die Stirne zu streifen und leicht auf die Wange zu klopfen, und lehnte sich wieder rückwärts gegen ihre treue Stütze. Immer noch aber haftete sinnend ihr Auge auf mir, und endlich sagte sie ohne den geringsten Anflug jener Schelmerei, die sie sonst kaum je ablegte: »Es ist ein gutes Ding, das dir der Mönch von Marlaigne da auferlegt hat! Es ist ein sehr gutes Ding! Um deiner selbst willen, mein Kind, brich das Gelübde nicht, solange du irgend die Kraft besitzest, es zu halten. O was für weise Menschen macht doch die Einsamkeit! Brich es nicht, das Gelübde, und du wirst den Mönch noch dafür segnen!«
Ich war sehr erstaunt, solche Worte von solchen Lippen zu vernehmen, und es begann mir in dieser Stunde eine Ahnung aufzugehen, daß hinter der sonderbaren Buße mehr stecken könnte als eine boshaft berechnete Strafe. Ninons Hand an meine Wange pressend, band ich mich durch ein neues Versprechen an diese Sache, und ich will nur gleich sagen, daß dieses zweite Versprechen mich in Stunden der Versuchung, die heißer wurden, wie ich im Mannesalter vorrückte, mehr gehalten hat als mein Glaube an die rächende Macht des ersten. Ich will auch noch eines hinzufügen: daß die ersten Lippen, die ich nach der Vorschrift des Mönches aus eignem Antriebe küßte, ohne daß sie mir leider nur im geringsten entgegenkommen konnten, die der großen Kurtisane selbst waren; und zwar ereignete sich dies fünf Jahre nach jenem Abend, und da lag Ninon, von weißen Rosen umgeben, im Sarge, und ihr Gesicht sah ganz so aus, wie Regnard mir die Schlafende einst beschrieben hatte: ein müdes frommes Mutterantlitz voll Milde und Liebe, mit den rührenden kleinen Fältchen um den Mund und den tiefliegenden Augen.