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Luise wollte ihre Freundin begleiten, die am zweiten Abend nach der Bahnstation fuhr, um den Rittmeister abzuholen. Luise nannte ihn den Verlobten, die Freundin bestritt diese Bezeichnung, denn sie sei noch keineswegs verlobt; sie wünschte indeß den Ankommenden ohne Zeugen zu begrüßen, und so fuhr sie allein nach dem Bahnhof, sie blieb aber nicht, wie wenige Tage vorher ihre Freundin, im Wagen sitzen; sie ging unruhig auf der Anlände und in den neuen, sich erst kümmerlich entfaltenden Gartenanlagen einher, sie sah oft nach der Uhr, die sie in den Gürtel gesteckt hatte.
Der Zug brauste heran, ein junger Mann stieg aus. Er hatte ein gedrungenes, frisches Antlitz, das durch den mächtigen, langgezogenen Schnurrbart noch etwas besonders Kenntliches hatte; er trug ein hellfarbiges, kleidsames Bürgergewand, aber schon auf den ersten Blick ließ sich der Soldat erkennen. Mit behender Gewandtheit begrüßte er Marie und sagte: »Du sollst den Husarengeist nicht umsonst angerufen haben. Da bin ich! Ich folge Deiner geheimnißvollen Botschaft. Ich habe genügenden Urlaub. Nun sprich: wo ist das Abenteuer? wo ist der Unhold, der Drache?«
Marie bat ihn, jetzt nichts zu fragen und überhaupt nicht deutsch zu sprechen. Sie gingen nach dem Wagen, setzten sich ein und der Rittmeister fragte: »Es werden mir doch nicht die Augen verbunden?«
Marie lächelte verneinend. Er fragte weiter, ob es ihm, als modernem Ritter, erlaubt sei zu rauchen. Es wurde gewährt.
»Was würdest Du dazu sagen,« begann Marie endlich, »wenn dieser Wagen, diese Pferde, dazu ein schönes Rittergut und einige Hunderttausende im feuerfesten Schranke Dein Eigen würden?«
»Mit oder ohne Frau?«
»Mit.«
»Mit Dir?«
»Scherze nicht!«
Hastig athmend fuhr Marie fort: »Ach, wir sind doch Alle Philister, ich auch. Warum wird mir jetzt auf einmal so bange?«
»Dir bange? Steht dies Wort auch in Deinem Wörterbuche?«
»Du hast Recht! Es ist doch eine so schöne und nützliche, ja sogar moralische Intrigue, die Du mit mir unternehmen sollst.«
»Du siehst mich als romantischen Märchenheld zu Allem gerüstet, vornehmlich mit der Tugend des schweigenden Gehorsams. Ich höre Dein Orakel so geduldig wie Tamino in der Zauberflöte.«
»Es wird Dir bald Alles offenbar sein. Erinnerst Du Dich noch an Luise Merz?«
»Wer könnte sie vergessen! Soll ich sie heirathen?«
»Ja.«
»Ich bin sofort bereit. – Laß die Kirchenglocken läuten! Ich bin volljährig . . . es ist Frühling . . . und frische Handschuhe habe ich bei mir.« . . .
»Vetter, es ist Ernst.«
»Man lebt doch im Traume. Hat sie sich also meiner noch erinnert, wie ich damals beim Minister mit ihr tanzte? Erinnert sich der Vater meiner auch noch? Er hat eine besonders rühmenswerthe Eigenschaft – er raucht die beste Cigarre.«
»Albrecht, scherze nicht über den ehrenwerthen Mann. Schon um Luise zu gewinnen, mußt Du ihn verehren.«
»Ich finde ihn bereits hochehrwürdig.«
»Albrecht, sage mir vor Allem, würdest Du Luise auch heirathen, wenn sie nichts besäße?«
»Nein.«
»Das ist doch wenigstens ehrlich.«
»Bitte, liebe Cousine, laß mich meinen Satz vollenden. Ich könnte sie nicht heirathen, wenn sie arm wäre; aber wenn sie arm wäre und ich reich, dann –«
»Dann würdest Du sie heirathen.«
»Nein, dann würde ich Dich heirathen.«
Marie erröthete, verbot aber dem Vetter fernerhin jeden derartigen Scherz, sonst sei er nicht tauglich zu dem, was er unternehmen solle; denn er müsse eine Zeitlang als ihr Geliebter, ja als ihr Verlobter gelten. Luise verlange das.
»Ich verstehe nicht,« lachte der Rittmeister.
»Etwas Binde um die Augen muß sich der Herr Rittmeister schon gefallen lassen,« erwiderte Marie.
Sie gewann ihre heitere Laune wieder und sagte, daß Luise sich keinem Manne unbefangen nähere, der nicht bereits gebunden sei. Gegen Verheirathete und Verlobte zeige sie sich in ihrer ganzen liebenswürdigen Natur und erkenne auch die schönen Eigenschaften solcher Männer vollkommen. Darum solle der Vetter Rittmeister eine Zeitlang als ihr Verlobter gelten.
»Aber Marie, mit was spielst Du? Du weißt ja, daß Du mir –«
»Bitte, laß das. Du weißt ja –«
»Freilich, freilich,« entgegnete der Rittmeister und machte mit der Hand eine Bewegung durch die Luft, wie wenn man einen Pinsel führt. Marie durchzuckte es, sie legte sich in den Wagen zurück, dann aber sich rasch erhebend, rief sie wieder mit hellem Tone: »Mach' mich nicht zur Pedantin! Ich erlaube Dir Aufmerksamkeiten, die Du ja schon als Vetter gegen mich haben darfst.«
»So bitte ich vor Allem um einen Kuß.«
»Schäme Dich! Und Du verscherzest Dir Dein Glück. Wenn es denn durchaus sein muß, hier! küsse mir die Hand.«
»Bitte, zieh' den Handschuh ab!«
»Nein. Und noch Eins, sei recht freundlich gegen Scheck. Wenn Du durchaus Zärtlichkeiten üben mußt, übertrage sie auf Scheck. Nicht wahr, Du spielst auch Schach?«
»Mein Ruhm ist groß! Wer ertrüge die Qualen der Vorwerkswachen ohne Tabak und Schach?«
»Und Du verstehst auch zu zeichnen?«
»Beleidige die Cadettenschule nicht!«
»Du verstehst also Landschaften aufzunehmen und über Baumschlag, Vordergrund und Perspective gut zu reden?«
»Mein gnädiges Fräulein! Betrachten Sie sich diesen Baum mit seinem melodischen Gezweige, diesen Rhythmus, diese Symphonie –«
»Schon gut!«
»Nein, es geht doch nicht,« sagte der Rittmeister ernsthaft, »wir machen uns nur lächerlich und Deine Freundin zum Feind. Kann es die spröde Luise uns je vergeben, daß wir mit ihr gespielt haben?
»So? Also das ist der frische Husarenmuth, der ein schönes Abenteuer welk spricht? Sei ohne Sorge. Nach einigen Tagen müssen wir in Streit gerathen und es muß sich einrichten, daß uns Luise unwillkürlich belauscht. Dann gebe ich Dir den Abschied und Du dankst mir – ich erlaube Dir sogar mir knieend den Dank auszusprechen – Du preisest mich hoch und bekennst ehrlich, daß Du Luisen – wie sagt man doch? – rasend, schwärmerisch, titanenhaft liebst. Und glaube mir, Du wirst nicht zu lügen haben, es wird in Wirklichkeit so sein.«
Die Beiden sprachen lange nichts mehr. Der Rittmeister schien sich in seine Rolle zu finden. Aus langem Hinbrüten lächelte er auf, erhob sich und reichte dem Kutscher und dem Diener seine Cigarrentasche hin; sie nahmen dankend die Cigarren, sie waren beide Soldaten gewesen und wußten diese Höflichkeit eines Officiers zu schätzen.
Marie nickte triumphirend.
Der Rittmeister hatte von Jugend an eine gute Gewohnheit. Er führte in kurzen Sätzen regelmäßig ein Tagebuch. Das hatte er glücklicher Weise bei sich. Er fand die Zeit verzeichnet, da er Luisen begegnet war, und gute Anhaltspunkte, die seine Erinnerung auffrischten.
Marie fand Alles sehr einnehmend und sie konnte aus dem Gedächtniß noch Manches hinzufügen.
Man war wohlgerüstet, und mit froher Laune fuhr man in das Landgut ein.
Wie einen Angehörigen, in herzlicher Zutraulichkeit, hieß Luise den Bräutigam ihrer Freundin willkommen. Sie hatte auf dem nahen Gutshause die Zimmer freundlich für ihn herrichten lassen, und wie er ihr nun dankte, wie der Mann so jugendlich straffen Ansehens mit bewegter Stimme sprach und scheu, ja fast furchtsam erschien, wie er sie groß anschaute und dann die Augen niederschlug, als sie ihn bat, auch ihre Freundschaft anzunehmen – in allem dem lag ein seltsames Widerspiel.
Er erinnerte Luise an die Begegnung in der Residenz, und sie fand es sehr aufmerksam, daß er noch wußte, welches Kleid, welchen Kranz sie trug und was sie damals mit einander gesprochen.
»Wie gefällt er Dir?« fragte Marie, als sie mit Luise allein war.
»Ich begreife nicht,« erwiderte Luise, »wie man fragen kann, wie einer Andern der gefällt, dem man sein ganzes Leben widmet!«
Marie schien betroffen von diesem Ernste; sie entschuldigte sich, und ihre sonst so behende Redeweise hatte etwas Stockendes und Stotterndes, da sie hinzufügte, ihre Verlobung mit dem Rittmeister sei noch nicht so entschieden.
Mit dem Vater stand der Rittmeister schnell in gutem Vernehmen, er erklärte zwar alsbald, daß er nur wenig Theilnahme für die politischen Tagesbewegungen habe, aber die Art, wie er das Gut besichtigte, die sachgemäßen kurzen Bemerkungen, die er doch wiederum gewandt und bescheiden in die Form von Fragen überleitete, gewannen ihm bald Achtung und Neigung des Vaters, der dies auch gegen seine Tochter ausdrückte.
Der Rittmeister erklärte gegen Marie, daß er sich weniger befangen gegen Luise als gegen deren Vater fühle. Er wollte wissen, ob der Vater vom Stande der Sache unterrichtet sei; aber Marie verbot ihm, weiter danach zu forschen. Sie fand eine angenehme Reizung darin, daß auch der Vetter Rittmeister sich noch in einem Geheimniß bewege. Das gab seinem Benehmen jene weichen Töne, die ihr wirksam erschienen, und schließlich war sie sich selbst noch nicht klar, ob man den Vater in das Geheimniß ziehen dürfe. Einstweilen verschob sie die Entscheidung bis zu einem gelegenen Moment.
Die Großmutter hatte die Mutter des Rittmeisters gekannt, und es eröffnete sich nach dieser Seite hin eine unvermuthete, freundliche Beziehung. Die Großmutter, die sonst immer schweigsam in ihrem Lehnstuhle am Fenster saß, sprach öfter mit dem jungen Manne, in dessen Erscheinung nicht nur, sondern auch in dessen ganzem Behaben sie eine Aehnlichkeit mit seiner Mutter fand.
So waren die Tage auf dem Landgute schön und anmuthig belebt. Man ritt, man fuhr in der Gegend umher, man wandelte nach Aussichtspunkten im nahen Gebirge, und Luise konnte nicht umhin, wiederholt die Freundin glücklich zu preisen, solch einen Mann gefunden zu haben. Es erschien ihr gerade angemessen, daß die flatterhafte, immer zum Scherzen aufgelegte Marie einem Manne sich anschloß, der, zumal in Betracht seiner Jugend, einen haltungsvollen Ernst zeigte.
Es fügte sich oft, daß Marie mit dem Vater und Luise mit dem Rittmeister ging, und ein besonders ergiebiges Verständniß erschloß sich daraus, daß auch der Rittmeister im landschaftlichen Zeichnen geübt war.
Man arbeitete gemeinsam, man verglich die Aufnahmen, und Luise konnte in der That dem jungen Manne, der, wie er sagte, sein Zeichentalent nur wenig geübt hatte, mancherlei Anweisung geben. Der Rittmeister war sehr gelehrig und überraschte sie oft, wie schnell er ihren Anleitungen nachzukommen verstand.
Marie zog sich oft zurück, wenn Luise mit dem Rittmeister zusammen war. Der Vater äußerte zu seiner Tochter, wie seltsam kalt und fremd ihm das Benehmen der beiden Brautleute vorkäme. Luise fand dies gerade höchst angemessen, und sie schilderte den Charakter des Rittmeisters in theilnahmvoller, ja in inniger Weise.
Als der Vater Marien dies wiedererzählte, bat sie ihn, mit ihr in den Garten zu gehen, und hier erklärte sie offen den ganzen Stand der Dinge.
Der Vater war im Innersten betroffen, er erinnerte sich, wie oft die Schwiegermutter gesagt hatte, Marie hätte Schauspielerin werden sollen. Wie ist es nur möglich, solche Dinge ins Leben hineinzuspielen, die eigentlich nur aufs Theater gehören und die man dort gelten lassen mag?
Er konnte lange kein Wort finden, und endlich erklärte er, daß das Verfahren Mariens, gelinde gesagt, ein verkehrtes sei; denn sie werde den beabsichtigten Zweck nicht erreichen. Von dieser Stunde an mußte er sich zwingen, sein Benehmen gegen den Rittmeister in der begonnenen Weise fortzuerhalten. Was ist dies für ein Mann, der sich zu einer solchen Intrigue hergiebt? . . .
Luise und der Rittmeister hatten begonnen, die Burgruine in der Nähe zu zeichnen, ja sie wollten sie sofort nach der Natur malen, der Rittmeister in Wasserfarben, Luise in Oel. Sie arbeiteten emsig den ganzen Tag. Marie und der Vater wollten sie am Abend abholen. Der Vater äußerte unterwegs schwere Besorgniß über diesen Vorgang, der zu nichts führe und nur eine herbe Stimmung hinterlasse. Marie wußte aber mit ihrer übermüthigen, sprudelnden Laune darzulegen, daß diese kleine Hinterhaltigkeit viel zu schwer aufgenommen werde; Luise werde anfangs betroffen, ja ärgerlich sein, dann aber glücklich aufjubeln, daß man ihr einmal Gelegenheit gegeben, einen so tüchtigen Mann in unbefangener Weise kennen zu lernen. Sie wiederholte, wie Luise ihr immer gesagt, sie habe das Unglück, daß sie nur Verheirathete und Verlobte in gerechter Weise erkenne. Nun solle das Unglück zum Glück werden. Marie sprach lebhaft und so geschickt, daß der Vater nur noch die Achseln zuckte. Er kam mit Marien bei dem Standpunkte an, wo die Bilder aufgenommen wurden. Ein guter Imbiß wurde aus dem Wagen genommen, man saß wohlgemuth beisammen. Luise war indeß sehr ernst, sie sah oft träumerisch verloren vor sich hin und sagte, sie sei sehr unzufrieden mit ihrer Arbeit. Der Rittmeister gestand, er habe Besseres von Luise erwartet; es sei eine reinliche Sorgfalt in ihrem Bilde, aber es sei zu ängstlich, zu sehr mit sclavischer Treue ausgeführt, es fehle an Kühnheit. Marie sah ihn betroffen an über diese Aussprüche, aber sie lächelte schnell wieder: gerade diese Offenheit, dieser ehrliche Tadel, dachte sie, gewinnt Luisen um so entschiedener.
Die Vier wandelten nach der Ruine, und erst als der Mond heraufgestiegen war, gingen sie nach dem Wagen und fuhren heimwärts. Es wurde wenig mehr gesprochen, der Vater schlief, und auch Marie schien zu schlafen, nur der Rittmeister und Luise wachten. Die Sterne leuchteten am Himmel, die Nachtigallen schlugen in den Büschen, und ein würziger Frühlingshauch erfüllte die Luft.
Da faßte der Rittmeister die Hand Luisens. Er hielt sie fest, sie wollte ihm ihre Hand entziehen, sie konnte nicht, – sie zitterte. Er drückte ihre Hand, und sie? Drückte sie sie wieder? Sie wußte es nicht. Eiskalt überlief sie's. Ist es doch so? Du liebst einen Mann, der einer Andern angehört? Nein, nein! knirschte sie vor sich hin und ballte die Hände, und unwillkürlich rief sie plötzlich laut: »Vater!«
»Was willst Du?« fragte der Vater, aus dem Schlafe sich erhebend.
»Ach! Habe ich Dich gerufen?«
»Ich wußte es nicht! Ja! Ich möchte jetzt aussteigen.«
Sie rief den Kutscher an, er hielt, sie öffnete schnell den Schlag, stieg aus und bat den Vater, mit ihr auszusteigen. Sie duldete nicht, daß das Brautpaar ebenfalls ausstieg, sie befahl rasch dem Kutscher davonzufahren, und als der Wagen dahinrollte, fiel sie dem Vater um den Hals und rief: »Wehe, wehe! Ich bin schlecht, grundschlecht, ein elendes Wesen! Vater, hilf mir!«
Der Vater konnte kaum ein Wort der Beruhigung hervorbringen, und mit herzerschütternder Stimme rief Luise: »Ach, Vater, ich fürchte, es kann kommen, es will kommen, daß ich den Bräutigam Mariens liebe und er mich.«
»Wenn er aber frei wäre!«
»Ach, bitte, Vater, sprich nicht so. Ach, bitte, laß uns kein Wort sprechen.«
Der Vater wußte selbst nicht, wie er das seltsame Verhältniß erklären sollte. Er konnte nicht sagen, daß er von der Intrigue wußte; denn er mußte sich gestehen, daß er dann allen Einfluß auf sein Kind verlieren würde, und je länger er schweigsam neben seiner Tochter einherging, um so besser erschien es ihm, daß sein Kind selber sich aufraffte und den ersten Keim einer Neigung gegen einen Mann unterdrückte, der sich zu solchem Spiele hergab.
Schweigsam kamen sie bei dem Hause an. Luise eilte auf ihr Zimmer und ließ sagen, daß sie heute Niemand mehr sprechen wolle. Sie saß auf dem Sopha und rang mit sich in tief peinigender Selbstanklage. Mitternacht war vorüber, als sie sich endlich zur Ruhe begab; aber sie fand den Schlaf nicht, sie stand wieder auf und ließ den Vater wecken und ihn bitten, zu ihr zu kommen. Als er kam, drang sie in ihn, daß er sie befreie; noch sei es Zeit, noch gebe es ein einziges Mittel. Der Vater wollte wieder erklären, daß der Rittmeister vielleicht doch – aber Luise ließ ihn nicht ausreden; sie rief: »Nein, nie! Ich wäre ehrlos vor mir selbst!« – Sie bat den Vater, daß man jetzt, sofort, noch in der Nacht die beabsichtigte Reise antrete; sie könne jetzt Marie und ihren Bräutigam nicht wieder sehen. Nochmals suchte der Vater sie zu beschwichtigen; aber Luise schwor, daß sie in der Nacht das Haus verlasse und in die Welt hinaus wandere, wenn der Vater ihr nicht willfahre. Noch nie hatte dieser sein Kind so leidenschaftlich überwältigt gesehen, so entschieden und entschlossen, alle Bande zu zerreißen. Er willfahrte. Luise schrieb noch einen Brief, worin sie der Freundin mittheilte, daß in den nächsten Monaten keine Nachricht sie treffe, – auch an die Großmutter schrieb sie, und im Morgendämmer, als Marie noch schlief, fuhr der Wagen ab.
Der Rittmeister, der in der Gutswohnung auch keinen Schlaf gefunden hatte und im Morgendämmer am Fenster stand, glaubte zu träumen, da er den mit vielen Koffern bepackten Wagen vorüberfahren sah, in welchem Luise und ihr Vater saßen.
Vater und Tochter waren schon weit weg, Luise war in einer Ecke des Bahnwagens eingeschlafen – wenigstens hatte sie die Augen geschlossen und hielt sich regungslos – als Marie in den Gartensaal zum gemeinsamen Frühstück ging. Sie war betroffen, daß sich noch Niemand zeigte, Herr Merz war immer früh auf. Da brachte ihr die Wirthschafterin zwei Briefe. Der eine war aus Paris, der andere hatte gar keine Adresse. Marie erröthete, als sie den ersten sah, sie öffnete aber doch schnell den zweiten. Er enthielt die hinterlassenen Zeilen Luisens. Marie konnte nicht fassen, was da geschehen war; sie öffnete den zweiten Brief, sie schien ihn nicht gut lesen zu können, sie faßte sich mehrmals mit der Hand an die Stirn, dann saß sie, lange vor sich hinstarrend, den Brief in der schlaff herabhängenden Hand haltend.
Der Rittmeister wurde gemeldet; Marie versteckte schnell beide Briefe. Der Rittmeister sah überwacht aus. Er sagte Marie, er sehe, wie er doch nicht zu solchen abenteuerlichen Unternehmungen geeignet sei; er trug es scherzhaft vor, aber im Tone seiner Rede lag doch ein Ernst, wie er darlegte, daß dies eine höchst peinliche Lage sei. Er stehe zwischen zwei begehrenswerthen Mädchen; das eine solle als seine Braut gelten, das andere seine Gattin werden; er habe zu keinem ein wahres Verhältniß; er halte das nicht länger aus.
Marie hörte ihn geduldig an, sie preßte die Lippen zusammen; und als der Rittmeister endlich fragte, ob er geträumt habe oder ob es wirklich so sei, er glaube heute in der Morgendämmerung Luise und ihren Vater im Wagen davonfahren gesehen zu haben, da reichte ihm Marie den hinterlassenen Brief der Freundin. Sie war aber nicht wenig erstaunt, als der Rittmeister in fröhlichem Tone rief: »Das ist mir eigentlich lieb! Ich bin sie nun los mit sammt ihrem Gelde. Ich hätte mich vielleicht in eine Empfindung hineingelogen, ich war auf dem besten Wege dazu, und doch taugen wir nicht für einander, und ich glaube auch, daß auf ein solches Verhältniß, wie wir es hier anlegten, sich keine wirklich dauernde Lebensbeziehung aufbauen läßt. Das mag in der Komödie hingehen, wo man nicht fragt: wie ist es denn nun, nachdem der Vorhang gefallen? Wie wirkt es denn nach, daß sie Versteckens gespielt?«
Er hielt plötzlich inne, und Marie sagte: »Sie wollten uns nicht ausweisen und sind darum aus ihrem eigenen Hause weggegangen.«
Der Rittmeister nickte und Marie fuhr fort: »Ich hätte Herrn Merz nichts davon sagen sollen.«
»Das hast du gethan?« rief der Rittmeister. Alles Blut schoß ihm durch die Stirn, seine Augen glänzten, und er fuhr fort: »Nun ist Alles gut! Ich bin frei und froh. Ich bin den Geldteufel los und habe dafür den Anmuthsengel. Mir ist wohl, daß die Komödie vorbei ist. Wir wollen den Geldprotzen zeigen, daß wir sie zu Narren gehabt. Bist Du einverstanden?«
»Einverstanden? Ich verstehe nicht!«
»Marie, ich habe eingesehen, daß nur Du zu mir passest. Nun sage mir ohne Zagen frisch weg: findest Du nicht auch, daß ich allein zu Dir tauge? Wir besitzen freilich beide nichts, aber wenn wir einander haben, sind wir reich, und wir sind keine Philister, die sich viel Sorge machen. Ich bin gesund und muthig, ich werde schon mein Leben erobern. Nun sage mir nur ein einziges Wort. Habe ich nicht schon ein Leben erobert? Habe ich nicht Dich? Sprich nur ein einzig Wort!«
Marie griff in die Tasche, sie wollte den andern Brief herausnehmen, den sie aus Paris erhalten, aber sie brachte die Hand wieder leer aus der Tasche. Sie reichte die Hand dem Vetter dar und begann: »Laß mich jetzt nicht reden. Ich habe auch nicht gewußt, daß etwas in mir ist – man nennt es Eifersucht, aber – bitte, laß mich jetzt nichts reden. Vertraue mir, daß ich Alles ernstlich überlege – Du und ich, wir sind keine Kinder mehr. Ja, wir sind keine Kinder – wir haben beide Niemand, der für uns überlegt. Ich bitte Dich, reise Du jetzt zurück, aber gieb Dich keinen Hoffnungen hin – halte fest, ich habe Dir durchaus nichts gesagt. Leb' wohl! Wenn es Zeit ist, wirst Du von mir hören. Aber nochmals – halte fest, ich habe Dir nichts zugesagt.«
»Und ich lasse Dich nicht,« rief der Rittmeister, »ich versiegle Dir den Mund!«
Er umarmte und küßte die Erbebende, die sich wehrte, dann aber auch ihn heftig umarmte und küßte. Plötzlich rang sie sich los und verließ das Zimmer. Der Rittmeister starrte ihr nach; dann ging er nach der Gutswohnung, legte das Bürgergewand ab und in Uniform gekleidet kehrte er wieder nach der Garnisonstadt zurück.
Auch Marie reiste am Abend ab; auf der Heimkehr verbarg sie den kleinen Scheck nicht mehr in so übermüthiger Weise, der Inspector erlaubte ihr, ihn offen in dem Wagen mitzunehmen; sie saß lange still und Scheck schaute verwundert nach ihr, so hatte er seine Herrin noch nie gesehen, sie widmete ihm keinen Blick, viel weniger ein Wort.
Nach einiger Zeit nahm sie den Brief Luisens aus der Tasche, durchlas ihn rasch und zerriß ihn dann in vielfältig kleine Schnitzel, die sie in kurzen Pausen immer wieder aus dem Fenster des Eisenbahnwagens in die Luftströmung hinausflattern ließ. Auf weite Wegstunden hin waren die Papierstückchen zerstreut, Niemand hätte sie wieder zusammenfinden können.
Sie nahm auch den andern Brief heraus, betrachtete kopfschüttelnd die darin liegende Photographie, dann las sie: »Wessen ist dieses Bild? Nein, so wirst Du nicht fragen, wenn Dein warm und hell strahlendes Auge auf diesem Lichtbilde ruht.
Ich habe mich äußerlich wohl verändert, aber könnte man von der Seele ein Lichtbild aufnehmen, Du würdest keinen fremden Zug darin finden.
Und nun – wo bist Du? Wie lebst Du? Habe ich noch ein Recht, Dich ›Du‹ zu nennen? Bist Du noch frei? Bist Du noch Dein, um mein zu sein?
Ach, verzeihe die krümmenden Fragezeichen.
Ich habe Dir Positives zu sagen.
Was ich damals auf dem schnell dahin gleitenden Schiffe Dir gelobt, ist nun Erfüllung. Ich bin zu schönen Ehren gekommen und in der Lage, Dir – uns – eine heitere, vor Noth und Sorge geschützte Häuslichkeit aufzubauen.
Ich komme zu Dir, wohin Du mich rufst.
Nur noch Eins in Treue und Wahrhaftigkeit.
Sollte ich Dir nicht mehr so erscheinen wie ehedem, so bist Du frei. Wir wollen uns dann friedlich die Hände reichen und sagen: es sollte nicht sein!
Ich überlese den Brief. Ich habe Dir verwirrt geschrieben; ich bin aber klar und weiß mich nur nicht anders zu fassen.
Mein Herz pocht wie damals, als ich Dich rheinabwärts fahren sah.
Ich bin voll Muth und Zuversicht und möchte, so lange ich athme, sein
Dein . . . .«
Marie that einen Riß in den Namen, sie wollte auch diesen Brief zerreißen, aber sie hielt an und vor sich hin sagte sie: »Er spricht dich frei, um selbst frei zu sein und auch neu prüfen zu dürfen. Nein! nein! Er ist eine gerade offene Seele ohne Hinterhalt! Ja, das war er! Ist er's aber noch?«
Sie starrte lange auf die Photographie, dann steckte sie Brief und Bild wieder in die Tasche.
Als sie heim kam, fand sie die alte Dame eben damit beschäftigt, in gewohnter Weise die Papierschnitzel in allen Zimmer-Ecken zu zerstreuen.
Monate sind vorüber. Das Dampfschiff hält in Flüelen am Vierwaldstätter See. Aus einem Wagen, dessen italienische Herkunft unverkennbar war, stiegen Herr Merz und seine Tochter, beide sahen gebräunt und frisch aus. Viel Gepäck wurde auf das Dampfschiff gebracht, und der italienische Kutscher dankte dem Herrn und der Dame mit großer Redseligkeit. Noch als das Schiff abgestoßen war, rief er ihnen mit südländisch heftigem Geberdenspiel Lebewohl nach.
Auf dem Dampfschiffe, das über den Vierwaldstätter See fuhr, war eine bunte Gesellschaft und alle Sprachen der gebildeten Welt tönten durcheinander; aber eine gemeinsame Empfindung beherrschte doch die Gemüther Aller: die Schönheit des Ausblicks über den See, nach den hellen Wohnorten an den Ufern und den hochragenden Bergen. Diesen Eindruck übersetzte sich Jeder in seine eigene Weise, und die Gespräche erhielten jene seltsame Art, die sich in den Unterredungen der Menschen bildet, wenn Musik sie umtönt. Wie man da innerlich unbewußt hinhorcht auf das melodische Klingen, so sprach man hier von Allerlei, aber die begleitende Empfindung vom Ausblick in die großartige Naturumgebung durchzog alle Wechselrede und ließ sie oft plötzlich verstummen.
Unweit des Steuermanns saß Luise allein und schaute hinaus in die Landschaft. Sie kümmerte sich nicht darum, daß mancher Blick sich nach ihr richtete, ja sie vermochte es zu überhören, daß man über sie räthselte. Die Einen hielten sie für eine dem Leben sich wieder zuwendende Wittwe, die Anderen für die an den begleitenden alten Herrn verheirathete junge Frau.
Der Vater hatte einen ehemaligen Parteigenossen aus dem Abgeordnetenhause getroffen, der Mann hatte Luise geneckt, daß sie seinen Erwartungen nicht entsprochen, denn er habe sie längst verheirathet geglaubt. Jetzt stand der Vater auf der andern Seite des Schiffes bei dem Manne, und die Beiden unterhielten sich natürlich zunächst über die allgemeinen Verhältnisse; sie waren beide nicht mehr in der unmittelbaren Bethätigung, aber ihre Theilnahme war doch lebendig. Der Parteigenosse erzählte, daß seine Tochter, die sich damals in jener ersten lebhaften Wintersitzung verlobte, ihm bereits drei Enkel geschenkt habe und er werde in den nächsten Tagen in Luzern seine jüngst verheirathete Tochter treffen, die mit ihrem Manne von der Hochzeitsreise aus Italien zurückkehre. Der Mann hatte fünf Töchter, sie waren an Beamte und Officiere und die jüngste an einen Fabrikanten verheirathet. Er erging sich, ganz im Gegensatze zu vielen Anderen, im Lobe der heutigen jungen Männerwelt; sie sei nicht mehr so romantisch, wie wir Alten gewesen, aber sie sei bedachtsamer und energischer. Mit behutsamen, aber dennoch unausweichlichen Fragen erkundigte er sich, woher es käme, daß Luise noch ledig sei.
Herr Merz konnte nicht umhin zu erzählen, daß dieß, abgesehen von dem Kummer um den Verlust seiner Frau, die einzige Beschwerniß seines Lebens sei; er suche sich drein zu finden, für sein Kind auf das Glück eigner Häuslichkeit zu verzichten.
Der Parteigenosse hatte einen Bruder seines jüngsten Schwiegersohnes, einen Officier, auf dem Dampfschiffe gefunden, er rief ihn herbei und stellte ihn Herrn Merz und Luisen vor.
Luise empfand ein Bangen, daß man nun heute Abend und vielleicht noch länger mit einer zufälligen Begegnung verbringen müsse, der man danklos die so sehr ersehnte Einsamkeit opfert. Als man in eine Bucht des Sees einfuhr, sah man ein helles Haus mit einem neuangelegten Garten, das einladend erschien. Luise hörte, daß hier ein Landungsplatz sei, sie bat den Vater, daß man hier aussteige. Der Ort erschien so heiter, so lockend, – es galt kein Besinnen, – die Glocke läutete, – Luise nahm rasch ihr Handgepäck, sie bestimmte auch den Vater, daß er das seine erfasse, – das Landungsbrett wurde angelegt – Luise und ihr Vater stiegen aus, das Gepäck wurde nachgebracht.
Vom Ufer aus rief der Vater und winkte Luise dem Parteigenossen und seinem jungen Freunde Lebewohl zu, die ihnen verwundert nachschauten, dann aber sich rasch umdrehten.
»Ich danke Dir, Vater,« rief Luise aufathmend, »ich weiß nicht woher, aber ich meine, ich habe diesen Ort einmal geträumt, – ganz so wie er ist: so glänzte der See, – so sprang der Springbrunnen, – so wie mit einem Schuppenpanzer bekleidet war das Haus und so klang die Glocke, wie jetzt da drüben aus dem Dorfe. Ach, Vater, wie viel schöne, ruhige Plätze giebt es auf der Welt!«
Die Wirthin war herbeigekommen und hieß die Fremden in französischer Sprache willkommen. Nach dem Hause deutend, sagte sie, daß die beiden Balconzimmer an der Ecke mit der schönsten Aussicht eben heute frei geworden seien. Caspar, das Factotum des Hauses, der mit Stolz die hohe Mütze trug, auf deren Rundung der Name der Pension gestickt war, nickte der Wirthin zu, sein Blick sagte: »Das sind vornehme Leute, ein Mann auf dem Schiffe, der drei Orden im Knopfloch trug, hat ihnen noch nachgewinkt.« Auch der Hund des Hauses schien es für Pflicht zu halten, die Fremden zu begrüßen; er sah Luisen augenzwinkernd an und setzte sich vor ihr nieder. Die Wirthin winkte ihm da wegzugehen, aber Luise sagte, sie sei eine Freundin der Thiere. Sie lockte den Hund, der munter an ihr empor sprang und dann wieder zu seiner Herrin lief, als wollte er sagen: Siehst Du? Die Fremden haben mich schnell gern; sie wissen bald, daß ich ein guter Kerl bin!
Luise ging am Arme ihres Vaters nach dem Hause. Vor demselben spielten zwei Kinder auf einem Brette. Der Knabe in einer rothen Blouse mit kurzen Beinkleidern und nackten Waden, in feinen, bis an die Knöchel reichenden Strümpfen und naturellfarbenen, gelben Schuhen, stand am oberen Ende des Brettes und stemmte einen Stock in den Sand, als ruderte er einen Kahn; ein kleines Mädchen, in die künstlerisch geordnete hierländische Tracht gekleidet, saß am anderen Ende des Brettes auf einem Schemel und bat den Schiffer, er möge erlauben, daß sie einmal aus dem See trinke. Der Knabe gestattete es mit huldreicher Handbewegung, das Mädchen beugte sich tief hinab auf den Sand und that, als ob es Wasser trinke.
Luise hielt ihren Vater an und sagte leise: »O! Wie herrlich!« Sie grüßte die Kinder in französischer Sprache, sie antworteten in der gleichen, der Knabe in einer Art herablassender Höflichkeit, das Mädchen sehr zierlich.
Vater und Tochter gingen nach ihren Zimmern, sie fanden sie genehm. Luise überließ dem Vater alle Verhandlungen, er fragte, wer die Nachbarn seien, und erhielt zur Antwort, daß davon keinerlei Unruhe zu gefährden; denn es seien Maler, die den ganzen Tag draußen in den Bergen sich umhertrieben. Luise stand auf dem Balcon, sie preßte beide Hände auf die Brust. Jetzt breitete sie die Arme aus, als müßte sie fliegen. Als der Vater zu ihr kam, rief sie: »O Vater, ich meine, es strömt lauter Glückseligkeit auf mich herab. Ich habe gar nicht gewußt, daß es noch so viel Ruhe, solch eine thauige Luft zum Athmen in der Welt giebt.«
»Ja,« ergänzte der Vater, »Du kannst hier viel Annehmlichkeiten finden, – es wohnen fünf französische Maler mit Frauen und Kindern hier im Hause.«
Wenn man tagelang nur vom bewegten Wagen, vom Dampfschiff aus in die schnell vorbeifliegende Naturumgebung geschaut hat, dann ist ein ruhiger Ausblick vom festen Wohnsitze neue Labung. So saßen nun Vater und Tochter wohlig beisammen auf dem Balcon und schauten hinaus über den See und nach den Bergen. Kein Laut war vernehmbar als das Plätschern des Springbrunnens im Garten und dazwischen manchmal ein helles Jauchzen der Kinder, die sich am Uferweg entlang zu haschen suchten. Das Abendroth brach herein, Himmel und Erde erglühten in immer wechselnden Farbentönen und der See spiegelte sie wieder. Die Nacht kam, die Glocke im Dorfe läutete, die Kinder eilten nach dem Hause; der Knabe mit der rothen Blouse ließ es sich nicht entgehen, die Klingel im Gasthause zu läuten, die die gesammten Einwohner zur gemeinsamen Abendmahlzeit rief.
Als Vater und Tochter in den Saal traten, wendeten sich die Blicke Aller kurz nach ihnen, aber schnell setzte sich das Gespräch wieder fort, das ausschließlich in französischer Sprache geführt wurde. Vater und Tochter saßen, der allgemeinen Regel gemäß, am untern Ende des Tisches. Der Präsident schien ein alter Soldat zu sein, er hatte einen weißen Schnurrbart und schneeweißes, kurzgehaltenes Haar. Er wendete sich rechts und links zu zwei Frauen, die neben ihm saßen; sein Blick schien zufrieden mit der Betrachtung der neu Angekommenen, denn er nickte den Nachbarinnen zu.
Die Fremden fühlten, daß sie in eine in sich abgeschlossene Gesellschaft eingetreten waren und ruhig abwarten mußten, welche Beziehung sich ihnen ergab. Luisen gegenüber saß ein junger Mann, der mit Niemand sprach. War er ein Ausgeschlossener oder hielt er sich selbst zurück? Es ließ sich nicht entscheiden. Noch ehe vollständig abgespeist war, verließ der junge Mann, ohne Jemand zu grüßen, wie unwillig den Saal. Als man aufstand, begrüßte Luise die beiden Kinder, die ihr bei der Ankunft einen so freundlichen Anblick dargeboten hatten.
In leichter Weise und guter Form näherte sich die Mutter der Kinder Luisen und fragte bald, ob Luise wohl auch Familie zu Hause zurückgelassen habe, da sie sich so sehr an den Kindern erfreue. Luisens Antlitz durchschoß eine Röthe, da sie verneinte. Die Gesellschaft ging nun in den Lese- und Musiksaal, auch Luise begab sich dahin. Einige Männer aber wanderten nach der Veranda und steckten sich Cigarren an; auch Herr Merz ging dorthin, er fand indeß keinerlei Ansprache und ging allein in den Garten, am Ufer entlang, bis sich der Präsident zu ihm gesellte, der sich bald als Officier aus der französischen Schweiz kund gab. Er war der älteste Stammgast des Hauses und lobte die glückliche Art, wie man hier lebe; man sei nur immer im Zwiespalt, ob man den braven Besitzern zu lieb den behaglichen Ort Anderen empfehlen solle, während doch zu fürchten sei, daß man durch Ueberfülle die hier herrschende Behaglichkeit zerstreue.
Luise, die sich nicht lange im Unterhaltungssaale aufhielt, kam zu ihrem Vater, der seine Tochter dem Oberst vorstellte. Luise fragte, was mit dem Manne vorginge, der so verdrossen ihr gegenüber gesessen habe. Der Oberst erklärte, daß dies ein deutscher Arzt sei; er begleite einen bis zur Schwermuth gesteigerten Nervenkranken, der beständig auf seinem Zimmer bleibe. Der junge Mann sei natürlich von der Gesellschaft seines Patienten, der ihn keinen Augenblick von sich lassen wolle, etwas angegriffen; übrigens beruhe seine Verdrossenheit vornehmlich darauf, daß er nicht französisch spreche und sich nun in der Gesellschaft wie ausgestoßen vorkommen müsse.
Die Wirthin hatte Luisen gesagt, daß nach elf Uhr der Vollmond über den Bergen heraufsteige; sie solle den wunderbaren Anblick nicht versäumen. Luise wollte den Mond-Aufgang abwarten, aber sie und der Vater waren so müde, daß sie sich zur Ruhe begaben und bald einschliefen.
Plötzlich aber wurde Luise geweckt, der Vollmond strahlte so hell, daß sie die Augen aufschlug. Sie stieg aus dem Bette, sie stand am Fenster und schaute hinaus in die wundersame, wie traumhaft erleuchtete Landschaft und in den See, darin der Mond in breitem, glitzerndem Strahle sich wiederspiegelte.
Da kam vom obern See herab ein Kahn geschwommen, er glitt in der silbernen Strömung dahin; in dem Kahn saß ein Mann, der jodelte hell in die mondbeglänzte Nacht hinein. Der Kahn kam immer näher, das Jodeln wurde immer deutlicher, immer lebendiger und gewaltiger; die Fenster im Hause öffneten sich, Männer- und Frauenstimmen riefen: »Monsieur Edgar!« Ein Jauchzen, das wie eine Rakete emporstieg, antwortete vom See herauf, und immer lustiger und übermüthiger jodelte der Mann im Kahne. Der Wirth und die Wirthin, der Allversorger Caspar eilten nach dem Ufer, riefen einander an: »Herr Edgar kommt!« und der Hund bellte.
Der Kahn landete. Ein hochgewachsener Mann, mit einem spitzen Hut auf dem Kopfe, den er jetzt lüftete, begrüßte die Wirthsleute und die am Fenster Rufenden und stieg aus. Er erzählte laut, daß kein Dampfschiff mehr in der Nacht hierher ging, er aber habe nicht in der Nähe übernachten wollen und sich darum einen Kahn genommen und hierher gerudert.
Luise hörte noch, wie die Wirthin sagte, sein Eckzimmer sei nicht mehr frei, eine junge Frau und ein alter Herr hätten es erst heut' genommen, sie würden aber wol nicht lange dableiben.
Der Fremde ging ins Haus, das Gepäck war ihm nachgebracht worden. Wieder war Alles still, der Mond schien über die Berge, über den See; Alles war so in sich ruhig, aber Luise fühlte ihr Herz klopfen. Was ist denn das? Ja, wir erleben noch wundersame Begegnisse, wie sie uns in Märchen und Sagen berichtet werden. Ist das nicht ein solches Ereigniß, wie da ein Mann über den mondbeglänzten See daher geschwommen kommt und freudiges Willkommen begrüßt ihn? Wie wird aber dies Alles am Tage aussehen – mitten in der Prosa unserer Welt mit festen Pensionspreisen?
Der Springbrunnen vor dem Hause plätscherte und quallte und es klang, als ob er auch den Ruf: »Monsieur Edgar! Monsieur Edgar!« gelernt hätte. So klang es immerfort, bis Luise einschlief.