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Am Morgen wurde Luise erst von der Hausglocke geweckt, die zum gemeinsamen Frühstück rief. Der Vater stand vor ihr und sagte, er habe schon einen weiten Weg in der Umgebung gemacht und bereits, wie Luise gewünscht hatte, ein Telegramm nach Luzern aufgegeben, damit man ihm Briefe und Zeitungen hierher sende. Luise wußte nicht mehr, was sie gewünscht hatte, sie saß aufrecht und besann sich, ob sie in der vergangenen Nacht geträumt oder ein Wirkliches erlebt habe. Sie bat den Vater, im andern Zimmer zu warten, bis sie sich angekleidet habe, aber sofort fragte sie durch die angelegte Thür, ob der Vater nichts von einem Monsieur Edgar gehört habe, der heut Nacht angekommen sei.
»Ja freilich,« erwiderte der Vater, »und Alles im Hause strahlt vor Freude, die Wirthsleute, die Gäste, die Kellnerinnen, und vor Allem Caspar, er hat dem Kuhhirten gesagt: Jetzt wird's erst recht lustig! Monsieur Edgar ist da! – Und ich hörte ihn mit dem Wirthe davon reden, daß man ihm heute wieder die Brücke bauen müsse.«
Luise wollte dem Vater sagen, daß sie die Ankunft des Mannes mit angesehen, sie wollte ihn fragen, ob er den Freudenbringer auch schon gesehen, aber sie hielt sich zurück. Bald ging sie mit dem Vater in den Saal, wo an kleinen Tischen das Frühstück eingenommen wurde. Um einen runden Tisch saßen Männer und Frauen, Alle hatten Blick und Wort an einen Einzigen gerichtet, der den Knaben mit der rothen Blouse und das kleine Mädchen, das heut ein weißes Kleid trug, auf seinen Knien hielt.
Es war ein hochgewachsener Mann, bräunlichen Antlitzes, mit dichtem, schwerem Haupthaar und kurz gehaltenem schwarzen Vollbart. Seine Stimme war wohltönend und der Ausdruck seiner Miene freundlich; jetzt setzte er eine auf dem Tische vor ihm liegende Brille auf und fragte leise die Mutter der beiden Kinder etwas.
Offenbar hatte er nach Luisen und deren Vater gefragt, denn die Antwort wurde ihm ebenfalls leise gegeben und Aller Blicke richteten sich nach dem Vater und der Tochter, die indeß bald allein im Saale waren; denn die Gesellschaft ging nach dem Garten, wo der Neuangekommene – es war Monsieur Edgar – hüben und drüben die beiden Kinder an der Hand führte.
»Wunderlicher Widerspruch!« sagte der Vater zu Luisen, »die Franzosen, die weit weniger Gefühl für Freiheit als für Gleichheit haben, sind eitle Ordensgecken; sie tragen auf Reisen ihre rothen Bändchen und sogar hier in der schweizerischen Republik, wo es keine Ordensbänder gibt.« –
»Es mag Eitelkeit darin liegen,« entgegnete Luise, »aber es giebt ihnen doch auch eine Verpflichtung, sich als nicht gewöhnliche Menschen zu zeigen, und ein ungewöhnlicher Mensch scheint er.«
»Wer?«
»Der Herr Edgar. Als ich ihn in der vergangenen Nacht sah, hätte ich freilich nicht geglaubt, daß er am Tage einen Orden trägt im Angesicht dieser Gebirge, wo Alles das so kleinlich erscheint.« Sie erzählte dem Vater das Erlebniß der vergangenen Nacht und es lag ein schmerzlicher Ton darin, wie sie hinzufügte, daß im Lichte des Alltags kein ungewöhnliches Ereigniß bestehen bleibe.
Die Wirthin, die herzugetreten war, sagte unaufgefordert den beiden Fremden, daß Monsieur Edgar der Beliebteste von Allen sei. Er sei von Rom aus schon mehrere Sommer hier gewesen und das letztemal fünf Monate; er habe ein prächtiges Bild hier aus der Gegend gemalt.
Der Vater fragte, ob die Frau und die beiden Kinder ihm gehörten; die Wirthin verneinte und setzte hinzu, so lustig sei kein verheiratheter Mann, und er mache sich auch nichts aus den Frauenzimmern, aber die Kinder habe er gern, er sei ein wahrer Kindernarr.
Luise fragte, ob man nicht die Punkte sehen könne, welche die hier angesiedelten Künstler jetzt malten. Die Wirthin zuckte die Achseln, die Maler hielten es wie die Vögel, die auf Umwegen zu ihrem Nest fliegen, um es nicht zu verrathen; sie sorgten ängstlich dafür, daß man sie in ihrer Arbeit nicht störe, wenn aber Jemand die versteckten Orte finde, wo sie arbeiteten, dann könnten sie es nicht hindern.
Die Männer waren alle fortgegangen, auch der Wirth und Caspar waren nicht zu sehen. Die Mutter der beiden Kinder saß mit anderen Frauen an der Schattenseite des Hauses mit einer Handarbeit beschäftigt. Luise hätte sich gern ihnen zugesellt, aber da sie nicht aufgefordert wurde, ging sie vorüber. Es war still im Hause und im Garten; nur die beiden Kinder spielten am Ufer mit dem Hunde, der, seiner Pflicht bewußt, sich zur Unterhaltung der Gäste herzugeben schien.
Jetzt kam der Nervenkranke mit seinem Begleiter des Wegs daher, Luise und der Vater grüßten, aber der Kranke machte eine abwehrende Bewegung, und so wandelten sie ohne weitere Anknüpfung vorüber.
Luise ging nach ihrer Stube, sie wollte ihren Malkasten mitnehmen und sich einen guten Punkt suchen, aber eine eigene Scheu hielt sie zurück. Wie sollte sie in der Umgebung von Künstlern von Fach sich mit ihren dilettantischen Versuchen hervorwagen?
Sie ging mit ihrem Vater nach dem Dorfe, sie bestiegen eine kleine Anhöhe, die als besonderer Aussichtspunkt gerühmt war. Der Vater hatte das Glück, hier einen Mann zu finden, der seine Sommerfrische im Dorfe hielt und einen Pack der neuesten Zeitungen vor sich liegen hatte. Es ergab sich leichte Anknüpfung, und der Mann erbot sich, dem Fremden täglich die ihm zukommenden Zeitungen zu überlassen. Er war ein ehemals hoch angesehenes Mitglied des schweizerischen Bundesrathes, und bald war Herr Merz mit ihm im eifrigsten politischen Gespräch, so daß er und seine Tochter eingeladen wurden, in das kleine Bauernhaus zu kommen, das der alte Herr sich behaglich eingerichtet hatte und, nachdem alle seine Kinder verheirathet waren, nun mit seiner Frau allein bewohnte. Es war ein erquicklicher Einblick in ein stilles, abgeschlossenes Leben.
Als man am Mittag das Haus verließ, sagte Herr Merz: »Man vergißt ganz, mit wie Wenigem man glücklich sein kann.«
»Lieber Vater, das ist nicht wenig, was die Leute haben; sie haben unbeschränkte Ruhe und ein sorgloses Auskommen, das ist nicht wenig.«
»Ja, ja,« ergänzte der Vater, »wenn Deine Mutter noch lebte und wenn Du Dich verheirathet hättest, ich glaube, die Mutter und ich, wir hätten uns auch ein solches Häuschen auf diesem schönen Fleck Erde gewählt, aber wenn – wenn – das soll man eigentlich nicht sagen.«
Als die Beiden in den Gasthof zurückkamen, wollte sich die Gesellschaft eben zu Tisch setzen; lärmendes Durcheinanderreden wurde laut, weil Monsieur Edgar keine Ausnahme gestatten und nicht von der alten Ordnung abgehen wollte. Er widersprach dem allgemeinen Wunsche, sich oben an den Tisch in die Mitte seiner Freunde zu setzen; nur der Präsident gab ihm Recht, und so setzte er sich als der letzte der Gäste und saß Luisen gerade gegenüber neben dem Arzte, der ihn immer grimmig ansah. Es wurde kein Wort hier am Tische gesprochen und nach aufgehobener Tafel waren die Künstler bald alle wieder verschwunden.
Am Mittag gesellte sich Luise zu den zurückgebliebenen Frauen, während der Vater mit dem Bundesrath eine in der Nähe liegende Seidenfabrik besuchte.
Als am Abend die Maler zurückkehrten, wurde Luise Allen vorgestellt und auch Herrn Edgar. Nach der Abendtafel versammelte man sich wieder im Musiksaale, die Mutter der beiden Kinder sang anmuthige französische Lieder; ihre Schwester, ein schlankes junges Mädchen mit blonden Locken, ließ sich erbitten und spielte die Geige, sie selbst übernahm die Clavierbegleitung. Der Anblick des Mädchens und der eigenthümlich schönen Bewegungen beim Geigenspiel war anmuthig. Das Auge Edgars haftete unverrückt auf ihr. Luise saß neben ihrem Vater und sagte leise: »Findest Du nicht auch, daß die Geigenspielerin Marien ähnlich sieht?«
Der Vater nickte. Nun setzte sich Herr Edgar auf den leeren Platz neben Luise und forderte sie auf, auch zu singen oder Clavier zu spielen. Sie betheuerte, daß sie kein musikalisches Talent habe, und im Tone ihrer Worte lag eine Wahrhaftigkeit, daß Herr Edgar sagte, er glaube ihr vollkommen, er sei überzeugt, daß sie nicht aus Ziererei eine unwahre Bescheidenheit kundgebe.
Luise dankte, aber es traf sie doch seltsam, daß der Mann, der noch so wenig mit ihr gesprochen, so auf den Grund ihrer Seele sah. Sie wollte fragen, woher er diese gute Meinung von ihr habe, aber sie unterdrückte es, vielleicht auch – suchte sie sich einzureden – ist dies eine neue Art französischer Höflichkeit.
Als nun Herr Edgar bemerkte, er hätte ihrer Sprechstimme nach geglaubt, daß sie singen könne, erwiderte sie, früher habe sie allerdings etwas Singstimme gehabt, aber so gering, daß sie die weitere Uebung aufgegeben habe.
Herr Edgar fuhr in gewandter Redeweise fort zu erklären, wie doch die Musik allein die einigende Kunst sei. Menschen aus verschiedenen Nationen und Gesellschaftskreisen fänden im Reich der Töne, das über alle Nationalsprachen hinausrage und etwas Kosmisches habe, eine Einigung.
Scherzhaft setzte er hinzu: »Wenn die Werkleute beim babylonischen Thurmbau hätten singen können, es wäre wol nie die Sprachverwirrung eingetreten.«
Die Art, wie er sprach, hatte etwas einfach Bewegendes und in Scherz und Ernst etwas so Bestimmtes und Sicheres, daß sich nicht nur gesellschaftliche Gewandtheit, sondern auch vielfältiges, einsames Denken daraus erkennen ließ. Luise, die sich daran gewöhnt hatte, von einzelnen Aussprüchen aus den Hintergrund der Seele, die Gesammtheit des Denkens und Empfindens aufzubauen, sah den Sprecher freudigen Blickes an; dieser aber erhob sich bald wieder, setzte sich zur Geigenspielerin und ging dann mit seinen Freunden in den Garten.
Luise folgte bald mit den Frauen. Scherz und Lachen herrschte in der linden Mondnacht am Ufer entlang, und die klatschenden Strandwellen tönten darein.
Luise fühlte sich in der Gesellschaft heimisch, und wieder, als sie mit dem Vater allein war, pries sie das Glück, daß sie hierher gekommen seien.
Am andern Morgen kam der Bundesrath mit seinem Kahne vor dem Hause angefahren, er schickte den Fährmann zu Herrn Merz, daß er mit ihm komme, um weit in den See hinauszufahren und dort zu fischen. Auch der Pfarrer des Dorfes, ein lustiger Kamerad, der sich auf seine Angelkunst viel zu Gute that, war mit von der Gesellschaft.
Luise wagte ihr kleines Skizzenbuch, unter der Mantille verborgen, mitzunehmen, sie ging hinaus, die Uferstraße entlang, dann einen Berg hinan, sie fand einen guten Punkt mit weiter Aussicht, und als sie sich versichert hatte, daß Niemand sie sehe, begann sie zu zeichnen.
Am Mittag kam sie von der Arbeit gestärkt fröhlich zurück, und es herrschte viel Heiterkeit; denn die drei Männer hatten einen großen Fischzug gethan und die Beute wurde am Mittag verspeist.
Der Himmel bewölkte sich, aber die Maler ließen sich nicht abhalten, zu ihrer Arbeit zu gehen. Caspar, der neben seinen anderen Berufsarten sich die eines untrüglichen Wetterpropheten angeeignet hatte, prophezeite ein schweres Gewitter zum Abend, und kaum saß man bei Tische, als es zu donnern und zu blitzen begann. Nur die Frauen gingen nach dem Musiksaal, aber sie wagten nicht, eine Saite tönen zu lassen, jetzt, wo es draußen so stürmte. Die Künstler waren hinausgegangen, um die Blitzesbeleuchtungen zu sehen; sie kamen erst zurück, als ein ergiebiger Regen hernieder rauschte.
Ein heller Morgen brach an, Baum und Gras glitzerte und die Linien der Berge setzten sich scharf ab von dem blauen wolkenlosen Himmel. Luise wagte es, ihren Malkasten herauszunehmen, ein Knabe trug ihr denselben nach, und den Bergstock in der Hand, stieg sie nicht weit von dem Gasthause einen Vorhügel hinan. An der Seite hörte man den Bach rauschen, der durch das Gewitter viel lebendiger war als bisher. Sie suchte das Bett des Baches höher oben, und je weiter sie schritt, um so muthiger wurde es ihr im Herzen; sie wendete sich oft um und schaute hinaus über den See und war voll Glückseligkeit. Jetzt stand sie auf einem vorspringenden Felsen, wo man den Bach drunten rauschen sah. Sie hielt an, stemmte den Stock in den moosbewachsenen Grund, legte die linke Hand an die Wange und jodelte lustig in die Welt hinaus.
Horch! Unten aus der Schlucht tönt eine Jodel-Antwort zurück. War das nicht die Stimme des Herrn Edgar, wie er in der Mondnacht auf dem See gejodelt hatte?
Abermals ließ Luise einen jauchzenden Ton in die Luft schallen, und abermals erhielt sie gleiche Antwort aus der Schlucht drunten. Dann aber rief eine Stimme: »Komm hierher zu mir, Du lustiger Bub'! Wo bist Du?«
Wie? Ist dies auch Herr Edgar? Spricht er deutsch?
Luise ging vorwärts; sie stand am Felsenrande, wo es jäh hinabging, da rief Herr Edgar von unten, aber jetzt in französischer Sprache, sie möge einhalten, sie stehe auf einem gefährlichen Punkte, wo sie herabstürzen könne. Sie grub die Spitze des Stockes in einen Felsenspalt, beugte sich weiter vor, und jetzt sah sie über dem Bach drunten, wo eine leichte Bretterbrücke gebaut war, Herrn Edgar in einen Plaid gehüllt, mit großen Holzschuhen an den Füßen und vor ihm die Staffelei.
»Gehen Sie zurück,« rief er in ängstlichem Tone, »links zwischen den beiden Tannen durch! Wollen Sie zu mir kommen? Ich will Sie holen! Haben Sie nur Geduld, bis ich mich etwas enthülst habe. Sind Sie denn ganz allein?«
»Nein, ich bin auch da,« rief der kleine Führer; er war schnell bei Luise und geleitete sie hinab. Sie mußte rechts und links sich mit den Händen an Gesträuch und Bäumen halten um nicht auszugleiten, und endlich stand sie an der Brücke. Aber noch konnte sie nicht hinüber, denn hier war ein Arm des Baches, durch den sie hätte waten müssen.
Herr Edgar bat um Entschuldigung, daß er nicht schnell entgegengekommen sei, aber sein Costüm habe ihn gehindert. Er zeigte auf eine Leiter, die am Ufer lag; der Knabe legte sie schnell über die Strömung des Baches nach dem Felsen, worauf die leichte Brücke ruhte; er bat Luise, rückwärts hinab zu steigen, – sie that es und stand jetzt auf der schwankenden Bretterbrücke.
»Gehen Sie nicht weiter, denn die Brücke trägt nicht zwei Menschen,« rief Herr Edgar und fügte in scherzendem Tone hinzu: »Die Brücke, die ich mir über den wilden Strom des Lebens gebaut, trägt nur mich allein!«
Luise konnte kein Wort erwidern. Der Maler sagte, daß er sein Waldheiligthum eigentlich vor jedem Andern verborgen halte, aber da sie es gefunden, solle sie es nun auch ruhig betrachten. In lustigem Tone fügte er hinzu, sie möge seinen Ueberrock annehmen, denn es sei hier sehr kühl, er möchte diesen Ort eigentlich die Rhenmatismus-Grotte taufen, denn er habe viel anwenden müssen, um einen Rheumatismus los zu werden, den er sich im vergangenen Jahre hier geholt. Er vermummte sich auch schnell wieder, und nun fragte er: »Also Sie sind auch eine Deutsche, und Sie waren es, die so gejodelt hat? Wunderlich! Also auch Sie können jodeln und nicht singen. Ich hatte Sie für einen Knaben hier aus den Bergen gehalten.«
Er trat scharf auf die Bretterbrücke auf, sie schwankte: aber jetzt fügte er hinzu: »Ich glaube, die Brücke trägt Sie und mich. Kommen Sie herab!«
Der Maler reichte Luisen die Hand, sie stand neben ihm, und bald betrachtete sie das Bild auf der Staffelei, bald den Felsen, den Sturzbach und die Umgebung. Was war anziehender, die Wirklichkeit oder deren Wiedergabe durch die Kunst? Der Bach stürzte über einen Felsen, wurde aber sofort in zwei Strömungen zertheilt von einem Trümmerstück, auf dem sich eine junge Tanne mühsam hielt. Rechts war eine kleine Schlucht, in der sich das Laub vieler Jahre gesammelt hatte, welches nun in wunderbaren Farben glänzte. Hoch oben durch das Tannengezweig schaute ein kleiner Fleck blauen Himmels hinein.
»Und Sie sagen nichts?« fragte der Maler, als Luise noch immer stumm dreinschaute.
»Ich möchte am liebsten schweigen. Ich kann nur sagen: das thut wohl; man sieht dem Bilde an, wie wohl es Ihnen bei der Arbeit ist, Licht und Luft und Farben sprechen das in die Seele.«
»Danke. Ich freue mich, daß Sie nicht, wie so manche, namentlich deutsche Dame von besserer Bildung, sofort eine parlamentarische Debatte über ein Kunstwerk eröffnen. Zuerst wird eine Interpellation an den Künstler als verantwortlichen Minister der Natur gestellt: Wie meinen Sie das? Woher haben Sie das? Vor Allem aber, wie decken Sie Ihr Deficit, das die Kunst gegenüber dem Leben doch nie begleichen kann?«
Luise erbebte. Warum wählt der Künstler gerade diese Vergleiche von der ehemaligen Tochter des Parlaments?
Herr Edgar aber fuhr heiter fort: »Ach Fräulein, nichts Aergeres, als ein Kunstwerk abdebattiren. Wenn man das, was solch ein Bild sagen will, in Worten sagen könnte, wäre das Malen höchst überflüssig.«
Luise erbebte aufs Neue. Der Künstler sagte ihr das, was sie in Italien in sich erlebt und sich abgerungen hatte.
»Ich glaube jetzt zu sehen,« sagte sie, »was die Kunst kann und soll. Die weite Bergeskette erquickt das Auge des Naturfreundes, aber –«
»Ach, verzeihen Sie, daß ich mich jetzt doch in Worten ergehe und es mir zu erklären suche.«
»Nein, Sie sind auf dem vollkommen richtigen Wege. Sie zeichnen auch?«
»Ja, ich malte sogar, aber von jetzt an nicht mehr!«
»Ja, so ist's!« nahm Edgar auf. »Die Kunst bedarf nicht der überwältigenden Massenhaftigkeit der Berge und der weiten Aussicht. Ein paar Bäume, eine Erhöhung und der Himmel darüber, das genügt.«
Luise setzte das Gespräch nicht fort; sie bat nur Herr Edgar, sich in seiner Arbeit nicht unterbrechen zu lassen, sondern fortzufahren. Es sei ihr von größtem Interesse, so hineinzuschauen in das Entstehen eines Kunstwerkes. Sofort willfahrte Herr Edgar und malte weiter an dem falben Laube, indem er dabei erzählte, daß er diesem Stück Welt sein Lebensglück verdanke; er bat Luise, sich etwas nach der Seite zu biegen; dort an einer nicht leicht zu entdeckenden Stelle hatte er den Orden der Ehrenlegion mit grellen Farben angemalt, und nun erzählte er, daß er dieses Bild zum zweitenmale ausführe, er habe dem Steine da den Namen »Der Fels der Ehrenlegion« gegeben; denn dem Bilde, das er im vorigen Jahre vollendet, verdanke er seinen Ruf und die äußerliche Auszeichnung, die, wie es nun einmal in der Welt sei, ihre Bedeutung habe. Es war ein eigenthümlich zutraulicher Ton, in dem er sprach; er sah Luise nicht an, er sah nur immer nach dem Felsen und dann wieder auf die Staffelei. Jetzt wendete er sich und fragte, aus welcher Gegend Deutschlands Luise sei.
Sie nannte ihre Heimath, und der Künstler sagte, daß er dort auch manche gute Studie gemacht und noch manches Bild dort auszuführen hoffe. Jetzt malte er weiter und fragte, ob Luise die Garnisonstadt kenne.
Sie bejahte.
»Kennen Sie vielleicht auch die hinterlassene Tochter eines ehemaligen Majors, Marie von Korneck?«
»O gewiß! Das ist meine Jugendfreundin. Sie war vor Kurzem auf unserm Gute mit ihrem Bräutigam.«
Die Brücke krachte, der Maler stürzte, Luise schrie auf, aber schnell hob sie das Bild von der Staffelei hoch in der Hand empor; da glitt auch sie aus, aber sie hielt das Bild hoch.
Triefend erhob sich der Maler wieder, er sah Luise, die krampfhaft das Bild hoch hielt.
»Nehmen Sie mir es ab, ich kann nicht mehr,« rief sie.
Er nahm ihr rasch das Bild aus der Hand und hing es glücklich an einen aus dem Wasser hervorragenden Brückenstamm; er umfaßte Luise und trug sie mehr, als er sie führte, nach dem Ufer.
»Haben Sie sich Schaden gethan?« fragte er.
»Ich glaube, es ist ohne Bedeutung, ich kann nur nicht auf den linken Fuß auftreten.«
Der Knabe war schnell bei der Hand, er eilte hinab nach dem Gasthause, der Vater Luisens kam und mit ihm zwei Träger mit einem Tragsessel. Luise wurde hinabgetragen, neben ihr ging Herr Edgar, er hatte das Bild in der Hand.
Der Unfall Luisens brachte das ganze Haus in neue Bewegung. Zunächst war man froh, einen Arzt unter sich zu haben, und der junge Mann, der bisher so verdrossen und schweigsam auch von allen Anderen übersehen war, wurde nun in den Mittelpunkt des Interesses versetzt. Er untersuchte den Fuß und fand eine starke Anschwellung des Knöchels.
Caspar, der Allesversorger, hatte auch für solche Fälle Hülfe bereit. Er kam mit einem Topf Salbe, die er noch aus seinem Dienst im päpstlichen Heere als überaus heilsam für solche Fälle pries. Er war nicht wenig stolz, als der Arzt vorläufig diese Salbe annahm.
Als Luise verbunden war, bat sie, daß man sie allein lasse. Sie grübelte über die Erschütterung, welche die Erwähnung von Mariens Verlobung bei Herrn Edgar hervorgebracht: sie konnte die Lösung nicht finden. Dann suchte sie sich hineinzudenken, was die Mitbewohner jetzt über das Begegniß sprechen möchten. Aber auch dies gelang ihr nicht, und ein beglückender Schlaf befreite sie von allem Sinnen und Grübeln.
Als sie erwachte, war es noch heller Tag, und sie sah zu ihrer Freude das Bild auf einer Staffelei vor sich aufgestellt. Sie ließ den Vater und Herr Edgar rufen und in ruhigem Tone berichtete sie, daß sie natürlich keine Ahnung davon gehabt, in welchem Verhältniß Herr Edgar zu Marie von Korneck gestanden habe. Jetzt zum erstenmale hörte Luise ausdrücklich, daß der Rittmeister nur zum Schein als Bräutigam auf dem Gute zum Besuch war, damit sie ihn um so unbefangener kennen lerne. Sie bedeckte sich das Gesicht mit einem Taschentuche; der Maler aber rief: »Das ist einer ihrer tollen Streiche, aber er ist doch zu frei. Das darf kein Mädchen und am wenigsten ein Mädchen, das durch ein persönliches Gelöbniß mit einem Andern verbunden ist.«
Luise gewann Fassung und Ruhe genug, Marien zu vertheidigen, und sie konnte nicht umhin, auch des Ausspruches der Großmutter zu erwähnen, daß Marie Neigung und Beruf zum Theaterspielen habe.
Der Maler sah Luisen ernst an und bat, daß er erzählen dürfe, wie er mit Marie bekannt geworden und welcher Art ihre Verbindung sei. Luise richtete sich auf und athmete tief. Der Vater legte ihr die Hand auf die Stirn und ersuchte den Maler, die Erzählung auf den andern Tag zu verschieben. Luise wagte nicht zu widersprechen, der Maler zog sich zurück und Luise saß allein beim Vater. Sie forschte nochmals nach, ob es in der That ganz so sei, daß der Rittmeister nur als Scheinbräutigam auf dem Gute erschienen war. Herr Merz mußte es wiederholt bestätigen.
Der Abend brach herein, Luise fieberte, der Arzt gab ihr ein beruhigendes Mittel. Vor dem Hause hörte man keinen Laut, und Conrad verstopfte auch den Springbrunnen, damit man sein geschwätziges Plätschern nicht höre.
Am Morgen erwachte Luise neubelebt. Herr Edgar ließ fragen, ob er sie besuchen dürfe. Luise bejahte, er kam, und vor Vater und Tochter begann er zu erzählen:
»Wie Sie, Herr Merz, mir gestern Abend berichteten, haben Sie mit lebhafter Theilnahme sich den allgemeinen Angelegenheiten des Vaterlandes gewidmet, und ich kann Ihnen nur beistimmen, daß die Art, wie die ganze jugendliche Männerwelt heute in Waffen steht, etwas Barbarisches hat. Gewiß! diese Verschwendung von Lebenskraft und Besitz ist ein tiefer Widerspruch mit dem humanen Charakter unserer Zeit; aber vielleicht haben auch Sie weniger ins Auge gefaßt, wie viele aufgeputzte vornehme Scheinexistenzen ohne gesunde feste Widerlehne sich aus diesen Verhältnissen gestalten. Ich weiß das. Ich bin ein Soldatenkind, ein früh vaterlos gewordenes. Von meinem siebenten Jahre an trug ich die Uniform. Meine Mutter lebte kümmerlich und sie entschloß sich sogar in Dienst zu treten. Sie war vierzehn Jahre lang Wirthschafterin auf einem Landgute, nicht weit von Ihrer Heimath. Ich machte ihr vielen Kummer; denn statt, wie es sich gehörte, zum Officier befördert zu werden, verließ ich mit dem Scheine großer Undankbarkeit den Soldatenstand und folgte meiner Neigung zur Kunst. Sie mögen sich den Kummer meiner guten Mutter denken, und in ihre Klagen, daß ich ein Vagabund werde, mischte sich oft und oft der seltsame Ausdruck ihres Schmerzes, daß ich nie wie der Vater einen Orden auf der Brust tragen werde. Sie sehen, daß es nicht Eitelkeit ist, sondern eine Befriedigung des seltsamen Mutterwunsches, daß ich den Orden trage. Doch, entschuldigen Sie, ich erzähle verwirrt. – Ich habe vielerlei Lebensnoth durchgemacht; aber das ist ein Glück unserer Natur, daß wir Schmerz und Noth in nachfolgender Zeit vergessen. Mir ist jetzt, als hätte das ein Anderer erlebt, nicht ich selbst. Es sind jetzt vier Jahre her, da ward mir ein großes Glück zu Theil. Ein deutscher Kaufmann, der sich in Schottland bedeutendes Vermögen erworben hatte und sich nun ein schönes Landhaus in der Nähe von Biberich erbaute, wollte den großen Gesellschaftssaal mit Bildern aus Schottland schmücken. Er hatte bei einem Kunsthändler ein von mir zum Kaufe ausgestelltes Landschaftsbild gesehen, und nun erhielt ich den überraschenden Auftrag, den Gesellschaftssaal zu schmücken. Ich empfing Reisegeld, um mich einen ganzen Sommer in Schottland umherzutreiben. Ich kam zurück und nahm mit frischer Lust meine Arbeit auf. Eine ältere Schwester der Frau des reichen Kaufherrn, eine Dame des edelsten und durchgeklärtesten Wesens, nahm mich in ihren besonderen Schutz, und ich kann sagen, nächst meiner Mutter hat mir nie im Leben irgend ein Mensch das Herz so tief erquickt, wie Frau Amalie. Was kann es Schöneres geben? Ich hatte wohlwollende, mich freundlich hegende und fördernde Menschen; ich konnte meine Mutter bestimmen, daß sie ihren Dienst aufgab und zu einer Schwester zog, die an den Förster in N. verheirathet ist, und dazu hatte ich große Wandflächen und das beste Licht, um meine Bilder zu malen.
In mir sang und jubelte es beständig. Da siedelte sich im Hochsommer eine Freundin meiner Gönnerin in Biberich an, und bei ihr war Fräulein Marie von Korneck. Sie kamen öfter zu uns ins Haus; die alte Dame hatte keinen Sinn für Malerei und war stolz und ehrlich genug, ihn nicht zu heucheln. Marie dagegen verfolgte meine Arbeiten mit großer Theilnahme.
So saß ich einst, es war in der Dämmerung, im Garten und träumte so hinein in die Zukunft und in die weite schöne Landschaft. Da hörte ich, wie meine Gönnerin, die mit ihrer Schwester lustwandelte, sagte: ›Ja, wenn ich mir eine Frau für Edgar wünschen könnte – es wäre Marie Korneck.‹ Mich erschütterte es. Auch ich hatte tiefes Wohlgefallen an dem allezeit frischen Naturell Mariens gefunden, aber sie zu erringen, sie mein zu nennen, war mir nie in den Sinn gekommen. Ich gestehe ganz offen, ich habe eine tiefe Furcht vor der Armuth; ich habe sie kennen gelernt in ihren bittersten Folgen. Oft in stillen Stunden, wenn ich an die Zukunft dachte, sagte ich mir: du darfst dir nie eine Häuslichkeit gründen, die auf einen fraglichen Erwerb gestellt ist. Ich wies jede Anmuthung zurück, und so war ich dreißig Jahre alt geworden, und immer mehr befestigte sich in mir der Vorsatz, auf Familienglück zu verzichten, wenn ich es nicht auf eine gesicherte Existenz bauen könnte. Man mag dieses philisterhaft finden – zaghaft – muthlos . . .«
Herr Merz schüttelte den Kopf verneinend und Edgar fuhr fort: »Ich machte mir selbst oft Vorwürfe wie diese und mit noch strengeren Ausdrücken; aber meine Entsagung auf Liebesglück und Familienglück stellte sich auf die vielbedachte Erwägung: ich war aus der gewöhnlichen bürgerlichen Ordnung, aus dem Streben nach bloßer Versorgung ausgetreten, – ich war meiner Neigung gefolgt in meinem Berufe und war dafür entschlossen, jede andere Neigung nach häuslicher Seßhaftigkeit zu unterdrücken. Ich sagte mir, daß ich das Opfer schuldig sei, und ich sah so viele meiner Berufsgenossen verkommen, weil sie nicht mehr den Eingebungen ihres Genius folgen durften, sondern für Frau und Kind gut verkäufliche Arbeiten ausführen mußten. Ich hatte einen Freund, der auf jedem Bilde, mochte es passen oder nicht, zwei Mädchen anbrachte, ein blondes und ein braunes; das eine wo möglich in Sammet, das andere in der Regel in Seide – das sind Bilder, die sich gut verkaufen, aber sie verunstalten die reine Kunst. So war ich also entschlossen, für mich allein und, so weit es möglich war, für meine Mutter mein Leben frei in meiner Kunst zu erhalten. Eine Familie mit mir in diese Fraglichkeit hineinzuziehen, dazu hielt ich mich nicht für berechtigt.
Jetzt wurde das auf einmal anders, es sprach etwas in mir, daß ich nicht entsagen dürfe. Ich verspottete meine Furcht vor Armuth und sagte mir, es sei Feigheit, man müsse eine Lebensstellung erobern und in bescheidenen Verhältnissen glücklich sein können. Ich näherte mich Marie nun immer mehr, und ihr Frohsinn und ihre Frische belebten mich auf's Neue. Oft wollte mich wieder die Furcht beschleichen, daß ich es wage, ein anderes Leben an das meinige zu knüpfen, das doch selbst noch so fraglich war; aber wenn ich Marie sah, wenn ich ihre Stimme hörte, waren alle Bedenken verflogen. Wir waren Beide Soldatenkinder, wir hatten Beide jene Bitterkeit der Scheinexistenz kennen gelernt, von der ich Ihnen früher sprach – ich konnte mich noch glücklich nennen im Vergleich zu Marie; denn sie mußte dienen, ihren Jugendmuth den Launen einer zwar nicht unedlen, aber pedantischen und kleinlichen Frau unterordnen, und ich bewundere ihre Spannkraft, mit der sie doch ihr freies Naturell bewahrte. Aber bei alledem – ich mache mich nicht besser, als ich bin – ich hatte den Muth nicht, ihr meine Liebe einzugestehen, und sagte mir oft: hätte Frau Amalie das Wort nicht hingeworfen, du hättest dir nie ein ernstliches Hinwenden zu Marie gestattet.
So kam der Herbst heran, es war und blieb eine unausgesprochene, halbunterdrückte Beziehung zwischen Marie und mir.
Der Tag der Abreise kam, ich begleitete Frau Amalie nach Biberich, um den Freundinnen noch einmal Lebewohl zu sagen. Die Koffer waren gepackt; Marie sah sehr erregt aus; wir standen an einem Fenster und schauten hinaus über den Strom; da sagte ich: ›Es ist gut, daß Sie reisen, so weh es mir auch thut.‹ – Sie sah mich groß an und erwiderte nichts. Mir ward klar, daß ich den Widerspruch, der in mir lebte, unwillkürlich kundgegeben, und ich sagte nur: ›Geben Sie mir Ihre Hand und lassen Sie mich hier Lebewohl sagen; ich möchte nicht drunten beim Dampfschiffe an der Landungsbrücke . . . und so lassen Sie mich Ihnen sagen: Freuen wir uns dessen und betrachten wir es als ein Lebensgeschenk, daß wir einander begegnet und unvergeßliche Erinnerungsbilder in der Seele bewahren. Wenn Einem von uns ein Lebensglück beschieden, dann wissen wir, daß das Andere sich in der Ferne dessen erquickt. Ich habe lange darüber gesonnen, ob ich Ihnen nicht ein äußerliches Andenken geben soll; ich finde nichts, und es ist auch besser, Sie haben nichts als einfach die Erinnerung einer Begegnung auf der Lebensreise, und ich wünsche Ihnen von Herzen glückliche Fahrt.‹ –«
Edgar hielt inne. Nach einer längeren Pause fuhr er fort: »Entschuldigen Sie, daß ich das Alles so ausführlich wiederhole; ich weiß nicht, wie es kam, ich werde mich fortan kürzer fassen.
›Das Dampfschiff kommt!‹ wurde plötzlich gerufen. Koffer und Kasten wurden nach der Landungsbrücke gebracht; ich blieb dabei, nicht, wie meine Gönnerin that, die Freundin noch eine Strecke Wegs zu begleiten; ich sagte der älteren Dame und Marien Lebewohl; wir sprachen kein Wort mehr; ich sah Thränen in ihrem Auge, ich sah sie zittern durch die Thränen in den meinen. Die Koffer wurden hinabgebracht, Alles war leer. Ich ging, den Schmerz verbeißend, in den wie ausgeraubten Zimmern umher und sagte mir: Es ist gut, daß es vorbei ist. Du hast kein Recht, ein anderes Schicksal an das deine zu binden.
Da sah ich auf dem Nähtischchen Mariens ein Paar gestickte Manschetten liegen – sie waren vergessen worden. – Ich kann nicht sagen, wie es kam – ich nahm die Manschetten in die Hand, ich eilte die Treppe hinab, ich kam noch glücklich bei der Landungsbrücke an, wo das Schiff eben abstoßen wollte. Ich wollte Marien die Manschetten hinüberreichen, aber der Capitain, der glaubte, daß ich noch mitfahren wollte, faßte mich an der Hand, riß mich auf das Schiff, und fort ging's.
Die alte Frau sah mich verwundert an, aber Frau Amalie reichte mir die Hand und ich sah, wie Marie zitterte. Wir fuhren eine Weile still dahin. ›Wir haben nur wenige Minuten,‹ sagte ich endlich, ›denn in Walluf müssen wir aussteigen.‹
›Es ist lieb von Ihnen, daß Sie noch gekommen sind,‹ sagte Marie. In ihrem Tone lag etwas so Bewältigendes, daß alle Bedenken verschwanden und jeder Blutstropfen in mir aufwallte. ›Marie,‹ sagte ich ihr, ›nur wenige Minuten. Nun höre, was ich Dir sage. Ich habe kein Recht, Dein Schicksal an das meine zu binden, und so halte fest; ich will Dein Lebensglück nicht hindern, das Du finden magst. Nur drei Jahre schenke mir, das heißt, ich lasse Dich frei, wenn ich Dir in drei Jahren nicht schreibe. Ich will suchen eine gesicherte Existenz für uns zu finden. Gelingt mir das nicht, so bist Du frei. Ich bitte Dich, binde Dein Leben nicht unauflöslich an mich. Willst Du mir das versprechen?‹ – Sie bejahte. –
Ich kann nicht mehr Alles erzählen – ich habe vergessen zu sagen, daß wir uns unsere Liebe gestanden hatten.
Die Glocke läutete, vor den Augen meiner Gönnerin und der alten Dame küßten wir uns zum erstenmale.«
Wieder machte Edgar eine Pause. Er wagte nicht Luisen anzuschauen, er senkte den Blick zur Erde und doch hätte er gern gewußt, wie Luise ihn jetzt betrachtete. Endlich fuhr er fort:
»Ich war ein seltsamer Mensch voll Widersprüche, bald betrachtete ich mich als verlobt, bald als vollkommen frei. Es ist ja auch nichts geschehen, nichts Bindendes. Meine Arbeit im Hause des Kaufherrn war zu Ende. Ich hatte so viel erworben, um meine Mutter für Jahre sorglos zu stellen, und jetzt wanderte ich frisch und frei in die Welt hinaus. Ich war in Italien und wunderbarer Weise zur selben Zeit, wo auch Marie da war; ich hörte aber erst davon, als sie wieder nach Deutschland zurückgekehrt war. Ich kam hierher. Ich malte das Bild, bei dessen Wiederholung wir uns gefunden haben. Ich habe in Paris die Auszeichnung erhalten – ich darf sagen, daß mir die äußere nur meiner Mutter zu lieb von Werth war, und in der That war ihr Brief auf meine Anzeige der Ordensverleihung hin ein überaus glücklicher. Ich habe einen guten Namen und Bestellungen auf viele Jahre hinaus. Jetzt war die Zeit da, wo ich Marien ein auskömmliches Leben bieten konnte. Ich schrieb ihr. Ich bin noch einmal hierher gereist, um auf Bestellung das Bild noch einmal in kleinerem Maßstabe zu wiederholen; – ich erwarte Nachricht von Marie, ja vielleicht sie selbst.«
Edgar hielt inne. »Was nun ist, was geworden ist,« schloß er, »das wissen Sie.«
Geraume Zeit saßen die Drei stumm neben einander, endlich sagte Luise: »Ich danke Ihnen, Herr Edgar.«
Edgar stand auf und ging davon; der Vater blieb noch bei seiner Tochter, aber bald kam er Edgar nach und wußte nichts weiter zu sagen als: »Ich bitte, wollen Sie nicht eine Cigarre mit mir rauchen?«
Rauchend und schweigend saßen die beiden Männer beisammen, bis der Vater wieder zu Luisen ging.
Tage vergingen, Luise konnte wieder ins Freie gebracht werden, sie lag auf einem Ruhebett im Garten. Die Kinder spielten um sie her, die Frauen saßen bei ihr, auch der Arzt, der nun wie erlöst erschien, da auch Edgar ein Deutscher war und sich ihm freundlich anschloß, wie der Vater Luisens. Er erwies sich als gediegener und hochgebildeter Mann. Ja, selbst der Schwermüthige, in dessen Begleitung er war, verließ sein einsames Zimmer und kam zu Luisen. Er war der Erste, der das Wort aussprach: »Sie sollten Herrn Edgar heirathen! Sie Beide wären ein schönes Paar.«
Luise erbebte, und alle Umstehenden sahen einander erstaunt an und blickten dann zur Erde. Der Verstörte, der sich zu erholen schien, sprach aus, was Alle dachten.
Man wartete auf Briefe. So oft Caspar den Briefbeutel brachte, war Luise voll Aufregung. Welch eine Nachricht wird von Marie kommen, und wie, wenn gar kein Brief kommt, sondern sie selbst? Sie bat ihren Vater, doch mit ihr abzureisen, aber der Arzt wollte das nicht gestatten, und so blieb sie. Tagtäglich im Verkehr mit Herrn Edgar lernte sie dessen gediegene frische Natur und seine offene, freie Seele immer neu erkennen, aber es lag ein Schleier auf ihren beiderseitigen Beziehungen, den sie nicht zu lüften wagten.
Wieder und wieder empfand Luise schmerzlich, daß sie ihr Herz einem Manne geoffenbart hatte, der einer Andern angehörte. – Endlich am zweiten Sonntage kam ein Brief an Edgar mit der Handschrift Mariens. Luise sah, wie Caspar die Briefe vertheilte – sie sah, wie Edgar erblaßte, da er die Aufschrift las. Er hielt den Brief in der Hand, er öffnete ihn nicht. Die Versammelten hatten Briefe erhalten und gingen damit nach einsamen Bänken, um sie zu lesen. Auch Herr Merz hatte Briefe und Zeitungen erhalten und entschuldigte sich bei seiner Tochter, daß er damit ins Haus gehe.
Noch immer stand Edgar mit dem unerbrochenen Briefe regungslos da, der Blick Luisens war auf ihn gerichtet, endlich trat er zu ihr, legte den Brief auf die Decke und sagte: »Fräulein Merz, was der Brief auch enthält, ich muß Ihnen vorher sagen, wie ich entschieden habe. Ich kann Marien nicht mehr die Meine nennen, denn mein Herz gehört einer Andern. Ich glaube, daß es minder schlimm ist, einmal die Treue zu brechen, als ein ganzes Leben in innerer Untreue zu führen. Wie ich jetzt bin, kann ich Marien nicht mehr glücklich machen. Ich fragte mich, ob es nicht das Beste wäre, wenn ich den unentsiegelten Brief hier in den See werfe. Ihr Blick sagt mir, das darf ich nicht. Gut denn! So öffnen Sie den Brief!«
»Ich?«
»Ja, Sie! Nichts, was mich angeht und in mir lebt, ist ein Geheimniß für Sie und darf Ihnen fremd sein.«
Luise öffnete rasch den Brief. Sie war betroffen, nicht geschriebene, sondern gedruckte Worte darin zu finden. Auf gelbem, pergamentähnlichem Papier stand mit gedruckten Worten:
»Marie von Korneck,
Albrecht von Birkenstock,
Rittmeister A. D., Amtsrath auf der königlichen Domaine R.,
Verlobte.«
Edgar empfing das gedruckte Blatt, er schlug die Seiten um, es mußte sich doch noch ein Wort von Marie finden, – aber es fand sich keins. Edgar faßte die Hand Luisens und rief: »Nun darf ich's sagen! Darf ich's? – Ich bin Dein. Willst Du mein bescheidenes Loos mit mir theilen?«
»Nicht jetzt, nicht jetzt, nicht hier,« rief Luise, sie wußte, wie sich von den Fenstern, vom Balcon her die Blicke auf sie richteten. »Ich will ins Haus zurück.«
Caspar war schnell bei der Hand, ein zweiter Mann fand sich nicht; Caspar und Edgar trugen Luisen im Tragsessel nach dem Hause zurück. Sie trafen den Vater in seine Zeitungen vertieft, und er rief:
»Luise, sie schlagen mich wieder zum Candidaten vor. Nächsten Winter sind wir wieder in der Residenz.«
Luise schüttelte den Kopf.
»Du glaubst nicht, daß sie mich wieder wählen?« rief der Vater.
»Das nicht, aber ich bin gewählt! Und ich wähle, – hier. Nun bitte, sprich Du!« wendete sie sich zu Edgar.
Dieser konnte kaum das Wort hervorbringen; der Vater umarmte ihn und umarmte sein Kind. Man saß wohlgemuth beisammen, da erklärte Edgar, daß er Luisen ein bescheidenes, aber auskömmliches Leben bieten könne.
Der Vater lächelte und schilderte das schöne Atelier auf dem Landgute, das einem wirklichen Künstler und nicht bloß einem Dilettanten zustehe.
Luise war aufgestanden und sie konnte jetzt ganz schmerzlos auftreten. Der Arzt bat, nur noch einen einzigen Verband anlegen zu dürfen, dann wäre Alles vorbei.
Der alte Bundesrath hielt seit Jahren streng darauf, keinerlei Beziehung zu den Fremden im Gasthause einzugehen; er wollte seine Ruhe nicht stören lassen, und er und seine Frau genügten sich vollauf an der Friedsamkeit ihres Hauses und dem erquicklichen Athem der weiten Naturumgebungen. Mit Herrn Merz war er nun in ein so freundliches Verhältniß getreten, daß er seine alte Regel verließ. Die Wirthsleute begrüßten ihn mit großer Ehrerbietung, er dankte in landsmännischer Vertraulichkeit, lobte den Wirth und die Wirthin, auch Caspar bekam ein gutes Wort. Er ging nach den Zimmern des Herr Merz und nach einem herzlichen Glückwunsche sagte er: »Sie sind ein so rechter Bürgersmann, daß es sich für Sie und Ihr Kind nicht schickt, eine Verlobung hier, so halb auf der Straße, im Wirthshause, zu feiern. Meine Frau läßt Ihnen auch sagen, Sie sollen zu uns kommen.«
Man nahm das freundliche Erbieten gern an. Im Hause des Bundesrathes unter den theilnahmvollen Blicken der Frau und herzlichen Worten des alten Herrn wurde die Verlobung gefeiert.
Luise trug den Verlobungsring an der Hand, und das Erste, was sie mit dieser Hand unternahm, war, daß sie einen Brief an die Mutter Edgars schrieb; dann wanderte sie an seinem Arme durch das Dorf zurück nach dem Gasthause.
Die Verlobung Luisens versetzte die ganze Gesellschaft in neuen Aufruhr, und wieder kam der Schwermüthige zuerst und brachte seinen Glückwunsch dar. Die Bedrückung, die auf seinem Gemüthe lastete, schien inmitten der heiteren Menschen immer mehr zu schwinden. – Dann kamen die Kinder mit Blumen, die Frauen der Maler, die Männer, – Alles war voll Jubel.
Caspar aber schleppte einen Böller hinauf nach dem Berge, oberhalb des Felsens der Ehrenlegion; er ließ durch die Wirthin sagen, man möge nicht erschrecken, wenn man schießen höre, – und jetzt krachte es vom Felsen, und der Widerhall tönte weit hinaus über den See von den jenseitigen Bergen.
Luise ging mit ihrem Bräutigam nach dem Garten, sie riefen sich alle Augenblicke zurück von der ersten Begegnung bis jetzt. Am Abend, als der Mond hell auf dem See glänzte, stiegen sie in den Kahn und ruderten hinaus, und draußen jodelten sie miteinander in die linde Nacht hinein, daß es Allen, die es hörten, das Herz erquickte. Wie glücklich aber mochten die da draußen allein sein – –
* *
*
Auf dem Bahnhofe der mitteldeutschen Gebirgslandschaft hielt wieder ein Fuhrwerk, aber jetzt ein fest verschlossener Wagen. Die Blätter vom Buchenbaume wirbelten durch die Luft, ein naßkalter Strichregen schien sich den Spaß zu machen, bald nach dem Gebirge hin zu ziehen, bald unversehens wieder Kehrum zu machen.
Auf der Aulände zeigte sich kein Mensch, und jetzt, als es pfiff, kam der Kutscher des Wagens eilig heraus, hielt sich den Cocardenhut mit beiden Händen und kaute noch an einem Bissen, den er im Munde hatte.
Der Zug rollte in den Bahnhof, der Inspector begab sich an die erste Wagenclasse, öffnete, hieß Herrn Merz willkommen und gratulirte ihm zur Wiederwahl. Schnell aber setzte er hinzu: »Entschuldigen Sie, man hat ja noch zur Verheirathung des Fräulein Luise zu gratuliren. Darf man fragen, ob sie mit ihrem Gatten zu uns zurückkehrt?«
»Gewiß! Zum Frühling. Jetzt sind die jungen Leute in Paris.«
Herr Merz stand fröstelnd und den Mantel fest zusammenziehend auf dem Bahnhofe. Der eintretende nordische Winter schien ihm, der aus dem Süden kam, um so schärfer und heftiger. Das Gepäck war ausgeladen, der Zug rollte davon; Herr Merz wollte selber nach seinen Effecten sehen, der Bahnmeister widerrieth ihm das wegen des scharfen Windes, auch der Diener sagte, er werde schon Alles richtig besorgen; aber Herr Merz blieb dabei, er müsse selber nachsehen, es sei da eine Kiste, die besonders behutsam behandelt werden müsse.
»Sie haben doch nicht auch einen Streich gemacht wie damals die Freundin Ihrer Tochter, Fräulein von Korneck, die einen Hund als Wickelkind mitnahm?«
»Nein, nichts dergleichen! Es ist ein Bild, von meinem Schwiegersohne gemalt. Besuchen Sie mich einmal, Sie sollen es sehen.«
»Was stellt es denn dar? den Monte Rosa, den Rigi oder die Jungfrau?«
»Nichts von dem. Eine ganz unbekannte Felsenanhöhe am Vierwaldstätter See, es kennt sie Niemand als wir; sie hieß früher der Fels der Ehrenlegion und heißt jetzt der Fels der Liebe.«