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So wohl sich Reinhard jetzt fühlte, schaute er am andern Morgen doch oft nach der Tür, als müsse der Freund eintreten.
Mit frischer Lust wurde nun die Ausführung der Farbenskizze fortgesetzt, es wurde noch ein Plätzchen für Wendelin erübrigt, der mit dem Hirtenstocke in der Hand stehen blieb; während die Kühe sich im Hintergrund verloren; hiedurch bekam das Abendliche, das über dem Ganzen liegen sollte, noch ein weiteres Motiv. Einigen Zuhörern im Hintergrunde gab Reinhard Lasten auf den Kopf, sie kehrten eben vom Felde heim und blieben stehen; der Kollaborator würde sagen, dachte Reinhard lächelnd: Das zeigt symbolisch oder typisch, daß das Volk durch das Lied die bedrückenden schweren Lasten vergißt!... Nun ward auch noch der Kollaborator in eine Ecke gestellt, es war offenbar, daß er das neue Lied aufschrieb.
Reinhard aß fortan wieder am Familientisch; er war doch erst jetzt wieder in seinen alten Verhältnissen. Mit Lorle sprach er oft und viel von dem fernen Freunde und daß sie allein im ganzen Dorf einen Menschen lieb hatten, den die anderen vergaßen oder schmähten, das gab ihrem Verhältnis noch eine geheime Besonderheit. Es ergab sich nun, daß der Kollaborator allerdings in seinem tiefen Aufruhr sich zu heftigen Äußerungen eigentümlicher Art hatte hinreißen lassen; er hatte im Hause des alten Klaus ausgerufen: »Man möchte an Gott verzweifeln, daß er die Sonne scheinen und die Bäume wachsen läßt, daß er's duldet, daß man ihm eine Kirche erbaut, während die Menschen solches Elend ihrer Brüder ruhig mit ansehen.« Lorle entschuldigte ihn immer bis auf's Äußerste und beklagte, daß die Leute, denen er doch nur Gutes getan, ihn dafür jetzt beim Pfarrer verleumdet und angegeben hätten. Sie gönnte sich jetzt auch fast keine Ruhe und keinen Genuß mehr, sie wollte überall im ganzen Dorfe, wo es dessen bedurfte, beispringen und helfen.
Reinhard war überaus fleißig und, wie das immer Ursache und Wirkung des schöpferischen Fleißes, auch überaus lustig; er war zu Scherz und Schelmerei aller Art aufgelegt, es schien, als ob das ganze Haus nur ihm gehörte. Man konnte nicht recht sagen, was er trieb; in den Stunden, in denen er nicht arbeitete, war's eben, als ob ein Kobold umherrenne und alles lachen und springen mache.
Der Wadeleswirt sagte oft gar bedächtig: »Nur stet, lasset mir nur das Haus überm Kopf stehen«; zwei Minuten darauf mußte er aber selbst ganz ungewöhnliche Sprünge machen. Reinhard verstand nämlich zweierlei Künste besonders: Zuerst die Bauchrednerei; er brachte einst den Wadeleswirt so in Gang, wie sich dessen Beine seit Jahren nicht erinnern konnten, denn er ahmte die Stimme Lorles nach, die vom Speicher nach Hülfe rief. Über ein anderes Kunststück Reinhards rief Bärbel einmal alle Hausbewohner zusammen. Die jungen Schweinchen, die man erst vor kurzem eingetan, grunzten plötzlich auf dem obersten Speicher, und als man hinaufkam, hatte Reinhard bloß die Stimmen der bescheidenen Geschöpfe nachgeahmt. Man konnte dem übermütigen Gesellen nicht gram sein, und Lorle sagte einmal:
»In unserm Haus dürfet Ihr die Späß machen, aber nur nicht vor andern Leuten, die haben sonst keinen Respekt vor Euch.«
Reinhard war von diesem Augenblicke an ruhiger, und nur wenn die Gelegenheit gar zu lockend war, vollführte er noch einen Schabernack.
Lorle war viel im Dorf, aber nicht zu Hause, sondern bei der Mutter Wendelins, die mit dem sechsten Kinde, einem Knaben, niedergekommen war. Reinhard hatte sein Bild rasch untermalt und wollte sich nun, solange die Farben trockneten, Ruhe, das heißt, freies Umherschweifen in Wald und Feld gönnen. Er putzte seine Büchse, um auf die Jagd zu gehen, aber er kam nicht dazu, denn schnell drängte sich ein anderes Bild auf die Staffelei, und mit frischem Eifer vollendete er die Farbenskizze zu demselben, es war das versprochene Altarbild. Reinhard hatte die Hochzeit zu Canä dazu gewählt und malte mit fast immer lächelndem Antlitz, denn er hatte die Figuren aus dem Dorf genommen, die er gar nicht mit langen Bärten und Talaren verkleiden wollte; es war eine einfache deutsche Bauernhochzeit, unter die der Heiland trat: Stephan war der Bräutigam, die Braut aber sah nicht Vroni ähnlich, der Wadeleswirt und der Hohlmüller nahmen sich als Schwiegerväter stattlich aus. Reinhard pfiff allerlei lustige Volkslieder, während er malte, und als er einmal das Ineinandertönen der Farben aus der Ferne betrachtete, dachte er vor sich hin: »Wie würde sich der Kollaborator freuen, wenn er sähe, wie ich unser Bauernleben dem altjüdischen als Kuckucksei ins Netz praktiziere. Was könnte er da für kulturgeschichtliche Bemerkungen machen! Wie würde er mir beweisen, daß auch Shakespeare dadurch Leben gewonnen, daß er die Römer zu Engländern gemacht.«
Nach Vollendung der Farbenskizze kam dennoch ein Mißmut über Reinhard; ihm bangte wie so oft vor der Ausführung, er hatte die Freude des Schaffens vollauf bei dem Entwurfe genossen.
Es liegt eine tiefe Erfrischung in dem drängenden Treiben, das die Künstlerseele tagtäglich zu neuen Gebilden erweckt; die wahre, nachhaltige Erquickung liegt aber nur in der Treue, in der unablässigen, sorgsamen Vollendung dessen, was man in der Stunde der Weihe empfangen und begonnen. In dieser Treue ersteht die Schaffensfreude, wiedergeboren durch den Willen, erhöht und verklärt.
Reinhard gelobte sich Treue in seinem Berufe, und doch ging er stets mit bewegtem Herzen, als suche er etwas, als müsse er ein Ungeahntes finden, als stehe er auf der Schwelle einer Offenbarung, deren Pforten sich plötzlich auftun und Wunder schauen lassen. Er wandelte auf dem Boden der gewohnten Welt wie auf knospenden Geheimnissen, und doch war ihm wiederum so wohl in Wald und Flur; Baum und Strauch und Gras, alles stand ihm so nah wie noch nie, er lebte ihr Leben mit, er hatte nicht Auge genug für diese unendlich reiche Welt, die sich auftat, als ginge er mit ihr eben aus der Hand des Schöpfers hervor; alles war ihm wie neu, als sehe er's zum erstenmale. Er stand einst vor einer Schlehdornhecke und versank in ihrem Anschauen in tiefe Betrachtung: Wie das hier aus dem Boden steigt, Äste treibt, Frucht und Blatt ansetzt, wie schön gezackt und glänzend, und der Winter kommt, es stirbt und fällt und grünt wieder – alles, das einfachste Naturleben war Reinhard ein neues Heiligtum geworden. »Was soll aus mir werden?« sagte er dann, indem er zu sich zurückkehrte. »Heilige Natur! Mache aus mir, was du willst, laß mich nur kein verpfuschtes Wesen sein, irr in sich – Ich will dir gehorchen.«
So schwellte namenloses Sehnen die Brust Reinhards, und selbst im Hause saß er oft stundenlang wie mit offenen Augen träumend. Die Leute schüttelten den Kopf über ihn, sie kannten ihn gar nicht mehr; aber jedes in der Welt hat zu viel für sich zu tun, um den Gedanken eines andern nachgehen zu können, zumal wenn diese eben der Art sind, daß sie sich nicht fassen lassen. Reinhard machte den Versuch, sich aus seinen Träumereien herauszureißen, er ging auf die Jagd; das erheischte ein zusammengehaltenes, geschlossenes Wesen und festen Blick nach außen. Eines Mittags kehrte Reinhard mit der Büchse auf der Schulter und zwei Birkhühnern in der Tasche nach Hause, da sah er Lorle unter der Linde sitzen mit den zwei jüngeren Geschwistern Wendelins. Das kaum einjährige Kind stand auf dem Schoße des Mädchens aufrecht, und Lorle schnalzte mit den Fingern und lachte und koste, um das Kind zu erheitern; der Knabe, der ihr zu Füßen stand, schaute aber trotzig drein. Lorle nickte dem herzutretenden Reinhard freundlich zu und fuhr dann fort, mit dem Kinde zu spielen, indem sie sang:
Ninele, Nanele, Wägele, Stroh, 's Kätzle ist g'storbe, 's Mäusle ist froh. |
Reinhard setzte sich auf einen Baumstamm Lorle gegenüber und starrte drein, sie ließ ihn gewähren, sie war's gewohnt, daß er sie oft anstierte, sie fragte nur:
»Wird denn der Herr Reihenmaier nicht schreiben?«
»Nein«, sagte Reinhard.
Das war doch nur ein einfaches Nein, aber in dem Tone der Stimme lag ein Ausdruck, den die liebevollsten Worte nicht ersetzen mochten. Plötzlich fing der Knabe zu Füßen Lorles an zu weinen und schrie: »Ich will heim.«
»Bleib«, beschwichtigte Lorle, »dein Mutter schlaft, und du kannst nicht heim.« Auf ein Rotkehlchen deutend, das vor ihnen umherhüpfte, sagte sie: »Guck einmal, was der Vogel ein weißes Unterwämschen anhat, Paß auf, wenn er auffliegt; scht!« Der Vogel flog auf, und man sah die weißen Federn unter seinem Flügel. »Hast's gesehen?« fragte Lorle, der Knabe ließ sich aber dadurch nicht zerstreuen, und erst als er das Versprechen erhielt, daß ihm Lorle eine Geschichte erzähle, schluchzte er still. Lorle trocknete ihm das tränennasse Gesicht und erzählte nun eine jener eigentlich inhaltlosen Geschichten, bei denen aber Ton und Gebärde eine ganze Seele voll Liebe ausspricht und erweckt. Es wurde weiter nichts berichtet, als daß ein Knabe eine schöne Kirsche hatte, die ihm ein Vogel wegnehmen wollte, die Mutter aber den Vogel verscheuchte.
Lorle und ihr Zuhörer lachten darüber laut auf, es waren eben Kinder, die sich über sich selbst und miteinander freuten. Der Knabe wollte aber immer wissen, wie es weiter ging, und fragte immer: »Und dann?«, bis Lorle sagte: »Und dann? dann lassen wir die Hödel und die Gizle heraus.« Und so geschah es auch. Die Geis und die Zieglein wurden aus dem Stall geholt, Lorle freute sich wohl ebenso sehr an den Sprüngen derselben als die Kinder, die sie hütete.
Zu Hause lehnte Reinhard alle seine Bilder und Entwürfe mit dem Gesicht gegen die Wand; er wollte nichts sehen als ein Bild, das er im Geiste vor sich erschaute.
Am Abend hatte er im Stüble eine lange Unterhandlung mit dem Wadeleswirt, und besonders durch die Erinnerung an das großmütig zurückgegebene Versprechen auf der Hohlmühle ward Reinhard willfahrt. Der Vater rief endlich seine Tochter herein und sagte:
»Lorle, da der Herr Reinhard braucht dich zum Abmalen für das Kirchenbild; willst du?«
»Für die Kirch?« fragte Lorle, sie schaute um und auf, als grüßte sie ein fremdes Wesen hinter ihr und über ihr.
»Was guckst du so?« fragte der Vater.
»Nichts, ich hab gemeint, es wär jemand hinter mir, ich weiß nicht.«
Der Vater begann wieder: »Die Mutter bleibt von morgen an die ganz Woch zu Haus, wir bekommen Drescher, und da kann sie drauf acht geben und auch bei euch sein. Willst du?«
»Ja«, sagte Lorle mit fester Stimme; auf ihrer Kammer aber weinte und betete sie die ganze Nacht; sie wußte nicht recht warum, es war ihr so wohl und so weh zu Herzen.
Auch Reinhard war die ganze Nacht voll Unruhe, und als er mit dem ersten Sonnenstrahl erwachte, sagte er laut vor sich hin: »Marienhaft! er hat recht.« – Still verließ er dann das Haus, er schwang den Hut, um das Haupt in der Morgenluft zu kühlen, und stand noch einen Augenblick so da, als grüßte er die heilige Frühe. Am Kirchberge begegnete er dem Küster, der eben hinanging, um zur Frühmette zu läuten; er begleitete ihn und stieg den Turm hinan, saß in der Glockenstube und schaute zur Lucke hinaus ins Weite. Drunten im Tale kämpften noch Sonne und Nebel, die Sonne aber ward bald Meister. In der Kirche begann die Orgel zu brausen und zu dröhnen, Reinhard saß hoch oben und dachte Unendliches.
Als die Kirche zu Ende war, kam der Küster und bat Reinhard hinabzusteigen, da er schließen müsse. Still ging Reinhard dahin, da begegnete ihm Lorle, die aus der Kirche kam.
»Ihr seid auch in der Kirch gewesen?« sagte sie halb fragend.
»Ja, oben.«
Die beiden konnten nicht reden, sie waren tief erschüttert, wie von einer überirdischen Macht erregt, und doch war es auch ihr eigener Wille.
Lorle sah blaß aus, die Mutter fürchtete, sie sei krank, da sie auch nichts über die Lippen brachte; Lorle konnte aber kaum eine Antwort geben, es war ihr, als sollte sie gar nichts reden.
Nun endlich saß sie bei der Staffelei, und Reinhard sagte: »Wir wollen lustig sein, warum denn traurig? Juhu!«
Er sagte: »Wir wollen«, und konnte doch nicht, auch ihn ergriff es, wie wenn jemand seine tiefste Seele gepackt hätte und festhielte.
»Meinet Ihr nicht auch, daß es eine Sünd ist?« fragte Lorle, verschämt die Augen niederschlagend.
»Nein«, antwortete Reinhard wieder mit jenem herzinnigen Tone, und Lorle sah heiter auf; diese einfache Beteuerung genügte ihr vollkommen.
Die Mutter ging ab und zu, während Lorle ruhig da saß. Anfangs war Lorle stets in der peinlichsten Verlegenheit, und wenn Reinhard geflissentlich Scherze machte, fragte sie: »Darf ich denn auch lachen? Darf ich denn auch schwätzen? Saget's nur, ich will Euch nicht aufhalten.«
Reinhard versicherte, daß sie sich nur ganz natürlich benehmen solle, eines aber bat er, sie möge sich nicht so viel mit der Hand ins Gesicht langen, worauf Lorle bemerkte: »Ihr habt recht, ich merk's, ich hab die üble Gewohnheit, ich will mir's gewiß abgewöhnen; aber es ist mir, als wenn ich's im Gesicht spüren tät, daß Ihr mich jetzt da malet und jetzt da. Ich bin dumm, nicht wahr? Ihr dürfet's frei raus sagen, ich nehm Euch nichts übel.«
Reinhard mußte an sich halten, Lorle nicht um den Hals zu fallen; die Mutter kam, stand von fern und hielt die Hände hart am Leibe, damit sie ja nicht vor Erstaunen das nasse Bild anrühre; sie konnte sich aber nicht genug verwundern, wie man Lorle schon ganz gut erkenne. – Es wurde ausgemacht, daß niemand im Dorf etwas von der Sache erfahren solle bis zur Einweihung der Kirche.
Wie still und friedsam flossen nun die Stunden hin, in denen die beiden beieinander waren. Von fern aus der Scheune hinter dem Hause vernahm man die Taktschläge der Drescher, und von der Straße hörte man bisweilen ein Kind schreien, einen Wagen rollen; und wieder war alles still und lautlos.
Lorle sagte einmal: »Ich mein, ich wär gar nicht mehr im Dorf, oder ich schlaf und hör das alles nur so, ich weiß nicht wie. Ich weiß nicht, für keinen andern Menschen auf der Welt tät ich so da sitzen.«
»Gutes Lorle«, erwiderte Reinhard, »ich weiß, Ihr habt niemand auf der Welt so lieb als mich. Zittere nicht«, fuhr er fort, ihre Hand fassend, »ich kenne dein ganzes Leben; du hast, während ich in der Ferne umherschweifte, still meiner gedacht, du hast dich gegrämt, daß ich dich so oft geneckt und hast mich doch lieb gehabt; und als ich wiederkam, hast du an jenem Abend geweint, weil jemand auf mich schimpfte.«
»Um Gottes willen, hat das die Bärbel verraten?«
»Also war's die Bärbel! Nein, es hat mir niemand was gesagt. Mir zulieb warst du so freundlich gegen den Kollaborator, und in jener Nacht, als ich unter der Linde das lustige Lied sang, hast du still getrauert in deinem Kämmerlein, weil ich mich so heruntergäbe.«
»Heiliger Gott! woher könnet Ihr das alles wissen?«
»Weil ich dich lieb hab, weiß ich alles. Hast du mich auch recht lieb?«
»Ja, tausend tausendmal.«
In einem seligen Kusse umschlagen sich die beiden.
»Jetzt, jetzt«, rief endlich Reinhard, »jetzt möcht ich sterben und du auch.«
»Nein«, rief Lorle sich aufrichtend und Reinhard mit starken Armen fassend, »nein, erst recht leben, lang, lang leben.« In ihrem Blicke lag eine Heldenkraft, eine stolze Spannung, als könne sie jeden Tod besiegen.
»Du willst also ewig mein sein?« fragte Reinhard.
»Ja, ja, in Gottes Namen, alles, alles.«
Bei diesem Zusatze: in Gottes Namen – zuckte es fremd in den Mienen Reinhards; er glaubte, Lorle umfasse ihn nicht mit ganzer Seele, nicht mit freudigem Jubel; er bedachte nicht, daß auch Lorle mit sich gekämpft hatte und daß sie sich dieser Liebe demütig fügte als einem Gebote Gottes.
»Was ist? Hab Ich was nicht recht gemacht?« fragte sie.
»Nein, nichts.«
»Darf ich jetzt gehen und es meiner Mutter sagen?«
»Nein, bleib, wir wollen das Geheimnis noch still bewahren; glaub mir, es ist besser so.«
»Ja, ja«, sagte Lorle zaghaft, »ich tu gern alles; befiehl mir nur recht und immer, was ich tun soll, du guter Reinhard.«
»Heiß mich nicht mehr Reinhard, nenne mich bei meinem Vornamen Woldemar.«
Lorle lachte laut auf, und auf die verwundene Frage Reinhards, was es gebe, sagte sie: »Verzeih, Woldemar! das ist so lächerig, Woldemar, das ist, wie wenn man die Treppe herunterfällt, Poldera, so macht's grad. Nein, darf ich nicht mehr allfort Reinhard sagen? Ich hab dich so lieb bekommen, ich bin dich so gewohnt, laß mich so dabei.«
»Auch gut«, sagte Reinhard, halb verdrießlich lächelnd.
Es ist eine Kleinigkeit, aber doch hat fast jeder eine gewisse Liebe für seinen Vornamen, als wäre er nicht etwas Verliehenes, sondern ein Stück des eigensten Wesens; man verträgt's nicht leicht, daß man ihn unschön findet. Ist's ja auch dieser Klang, der uns vor allem mit den Menschen verbindet, uns ihnen kenntlich macht; liegen darin ja auch die süßesten Zauber der Kindeserinnerung.
»Du mußt recht gut gegen mich sein«, sagte Lorle, die Hand auf die Schulter Reinhards legend, »sonst vergeh ich vor Angst; ich bin dich ja doch nicht wert, ich bin viel zu gering. Ja, und was ich noch hab sagen wollen, du mußt im Dorf nichts von mir reden, gar nichts; du hast zum Martin gesagt, ich sei ein Kanarienvögele, und jetzt heißen sie mich im ganzen Dorf so; mir liegt nichts dran, wenn sie mich ausspotten, aber es ist mir von wegen deiner, es weiß doch keins als ich –«
»Was denn?«
»Was du für ein lieber Kerle bist«, sagte Lorle, die Zähne zusammenbeißend und Reinhard am Barte zausend.
Wer kann all das süße Kosen und Plaudern wiedergeben, das von diesem Tage an die sonst so stille Werkstatt Reinhards in sich schloß? In Demut entfaltete Lorle eine Fülle des Liebesreichtums, daß Reinhard staunend und anbetend vor ihr stand. Der Schluß ihrer Rede war aber fast immer: »Ach Gott! ich bin dich nicht wert.«
»Nein«, rief Reinhard, »du bist millionenmal besser als ich, als alle Männer, als alle Menschen. Ich möchte siebenmal sieben Jahre um dich dienen.«
»Da könntest du alt werden«, sagte Lorle still lächelnd, und Reinhard fuhr fort: »Sieh, ich habe schon oft die ganze Welt und mich verloren gehabt, im Taumel hineingelebt, mitten in der Reue ein Sünder – doch, du kannst nicht begreifen, wie weit ich untergegangen war.«
»Ich kann alles begreifen, sag du mir's nur ordelich.«
»O du herzige Liebe! Nimm dich in acht mit mir, ich habe noch nie einen Herzfreund gehabt, den ich nicht quälte; der Kollaborator ist der einzige, der mir treu ausharrte. Ich bereite den Menschen oft Schmerzen, denen ich nur Gutes und Glückliches zufügen möchte. Erst seitdem ich dich sehe, seitdem ich dein bin, sehe ich auf den alten Woldemar, und das ist ein gar wüster Geselle, nicht wert, daß er den Saum deines Kleides berühre. Ich kann dich glücklich machen, wie noch kein Weib auf Erden war, und – unendlich unglücklich.«
Lorle weinte große Tränen, aber sie trocknete sie bald und sagte: »Hab dich nur lieb, von da siehst du viel besser aus.« Sie deutete dabei auf ihre Augen und setzte nun schmollend hinzu: »Und ich leid's nicht, daß jemand auf den Reinhard schimpft, und du darfst auch nicht. Und jetzt mach mich nur nicht stolz; komm her, wir wollen miteinander gut und brav sein, Gott wird schon helfen.«
»Ja, du machst mich wieder ganz fromm«, sagte Reinhard und stand mit gefalteten Händen vor ihr. –
Das Bild wurde rüstig gefördert, Lorle ermahnte immer zur Arbeit, und Reinhard trug ihr noch auf, ihn nicht lässig werden zu lassen. Niemand im Hause ahnte etwas von der neuen Wendung der Dinge, nur Vroni ward ins Vertrauen gezogen; man ging nun öfters nach der Mühle. Wie die Kinder jubelten die beiden Liebenden, wenn sie sich im Walde haschten und versteckten.
»O Welt voll Seligkeit!« rief einst Reinhard, als er so vor Lorle stand, »das hat sich der Weltgeist allein vorbehalten, die Liebe, sie kommt aus ihm; das läßt sich nicht machen und nicht bilden. Da steht ein Wesen und hält mich zauberisch gefangen; schön ist alles, alles, was du bist. Und hätte ein Wesen Seraphsflügel und ist die Liebe nicht, spurlos zieht es dahin. Dank dir, ewiger Weltgeist, du hast mir gegeben, was ich nicht suchte.«
»Ich verstehe dich nicht recht«, sagte Lorle.
»Ich verstehe mich ja selber nicht. Was braucht's? Komm, sieh mich an, laß mich schauen, stumm, welch ein gutes Leben in mir ist.«
Das Bild reifte seiner Vollendung entgegen, die beiden Liebenden sprachen von allem, nur nicht von der Zukunft; beiden bangte innerlich davor, Reinhard, weil er nicht wußte, wie sie sich gestalten solle, und Lorle weil sie fühlte, wie schmerzlich sie aus dem elterlichen Hause gerissen würde.
Nun ergab sich aber auch eine Mißhelligkeit zwischen den Liebenden. Lorle, die zu einer Madonna gesessen hatte, sollte jetzt das Kind, mit dem sie unter der Linde gespielt hatte, wieder auf den Schoß nehmen; unter keiner Bedingung wollte sie das tun: »Es ist eine Sünd, es ist eine gräßliche Sünd!« beteuerte sie immer, aber Reinhard war unbeugsam, und sie willfahrte endlich, indem sie seufzend sagte: »Ich muß in Gottes Namen alles tun, was du willst.« Sie zitterte aber am ganzen Leibe; so daß das Kind laut schrie, bis Reinhard endlich beide beschwichtigte, das Kind mit Süßigkeiten und Lorle mit liebreichen Worten.
Die Gewänder waren nur flüchtig untermalt, und nun sollte dem Kopf die letzte Zusammenstimmung der Farbentöne gegeben werden; das sagte Reinhard eines Tages und bat Lorle, daß sie beide noch diese wenigen Stunden sich recht still verhalten wollten. Lorle nickte still, sie wagte schon jetzt nicht mehr zu reden. Ihr Kopf war nach dem Wunsche Reinhards aufgerichtet, und sie sah hinauf nach dem blauen Himmel: Weiße Wolkenflocken zogen leicht dahin, still und friedlich war's im weiten Raume, kein Laut vernehmbar; da fließt eine Wolke sanft hin, sie nimmt eine kleine mit und versinkt mit ihr unter den Gesichtskreis, eine andere streckt schon ihr Haupt empor, wer weiß, wie lang sie ist, wie dunkel ihr Grund, wie bald sie abbricht; nur wer am Himmelsbogen steht, kann sie ermessen. Da drunten liegt die Welt, weitab, alles, alles zieht vorbei, vorbei, die Erde ist untergesunken: ein Geist schwebt über den Wolken...
So hatte Lorle sich in den Himmel hineingedrängt. Reinhard hatte sie eine Weile starr betrachtet und dann emsig gemalt.
Stille war's lange; die beiden wagten kaum zu atmen.
»Was hast du soeben gedacht? Dein Antlitz war verklärt?« fragte Reinhard.
»Ich bin gestorben gewesen und allein«, sagte Lorle mit geisterhaftem Blicke, ihre Arme hoben sich und fielen wie leblos wiederum nieder. Reinhard faßte ihre Hand, er konnte aber nicht reden, er schaute sie an wie eine überirdische Erscheinung.
»Jetzt möcht ich auch sterben«, sagte Lorle endlich, und Reinhard erwiderte: »Ich sag wie du: Nein, erst recht leben, lang, lang leben.«
»Bin ich jetzt fertig?« fragte Lorle aufstehend.
»Ja.«
»So will ich gehen, es wird jetzt schon wieder fröhlicher werden.«
Reinhard wollte sie zum Abschied küssen, sie aber wehrte streng ab und sagte: »Jetzt nicht, nein, mir zulieb.« –
Reinhard gönnte sich nun auch wieder einige Erholung. Auch ihm war ganz eigen zumute, da er seit vielen Tagen in einer steten Spannung und Aufregung gelebt hatte. Als er das Lorle erklärte, sagte sie: »Mir ist auch so, wie wenn ich aus der Fremde käm, wie wenn ich gar nicht daheim gewesen wär.« –
Auf seinen Wanderungen begegnete Reinhard wiederum Wendelin, der trübselig aussah. Reinhard fragte: »Was hast? Warum bist so traurig? Weil du ein neues Brüderle bekommen hast?«
»O nein, von deswegen nicht, mein Vater hat gesagt, wo fünfe halb hungern, kann ein sechstes auch mittun.«
»Nun was hast du denn?«
»Ja gucket, mein Scheck da (er wies auf eine stattliche Kuh), der ist vorgestern verkauft worden für 53 Gulden; der Metzger Heuberer von G. (er nannte die Amtsstadt) hat ihn kauft und läßt ihn noch sechs Wochen laufen, nachher holt er ihn. Ich krieg einen Sechsbätzner Trinkgeld, aber es macht mir kein Freud; der Scheck ist mir doch der liebst von allen, und jetzt tut mir's so weh um den Scheck, der frißt jetzt da fort wie wenn er ewig leben sollt, und da kommt der Metzger und schlägt ihm auf einmal auf den Kopf, und da liegt er, tot ist er.«
Der Knabe sah Reinhard gedankenvoll an, dann fuhr er fort: »Mich freut's nur, daß der Metzger betrogen ist.«
»Wieso denn?«
»Ja gucket, er hat den Scheck viel zu teuer kauft, aber er möcht gern dem Meister (Dienstherrn) das Maul süß machen, weil er sein Lorle heiraten möcht, und da ist er doch angeführt.«
»Warum? Denkst du nicht mehr so gut vom Lorle?«
»O Ihr!« sagte der Knabe zornig, »wie er mich anguckt, wie ein gestochener Bock mit seinem langen Bart; ja gucket nur zu, ich fürcht mich nicht, ich bin nicht in Euch vernarrt wie das Lorle.«
»Woher weißt du das?«
»Ja, ich bin nicht so dumm. Wie vergangenen Sonntag der Martin nach der Stadt ist, hab ich für ihn Eure Stiefel putzt, und da ist das Lorle kommen und hat gesagt, ich soll's gut machen, und hat die Stiefel anguckt, mit ein paar Augen, das waren Augen! Und da hab ich's gleich gemerkt, was es geläutet hat. Und gestern nacht, wie ich in der Kammer lieg, da hör ich wie mein Mutter dem Vater erzählt, daß das Lorle in Euch verschossen ist. Und wenn das Lorle fort ist und mein Scheck ist fort, und da geh ich halt auch fort.«
Reinhard suchte den Knaben zu trösten, es bedurfte dessen kaum, denn er sang und jodelte hinter Reinhard lustig in die Welt hinein.
Reinhard sah nun, daß ihr Verhältnis doch schon dorfkundig war; er ging nachdenklich das Tal entlang. Es wurde Abend, die Mäher waren emsig, das taunasse Öhmdgras zu mähen, die sterbenden Gräser hauchten noch würzigen Duft aus, Reinhard breitete oft die Arme aus, als wollte er tausend Leben an seine Brust drücken. Jetzt befiel ihn aber ein Trübsinn. Rasch, in voller Blüte ihrer frischen Liebe, wollte er Lorle sein nennen, und doch war seine Zukunft so unsicher; er warf die Sorge von sich, er wollte den Tag genießen, die fliehende Minute, und was gelingt nicht einem frischen Herzen im freien Wandern? Reinhard sah eine Weile, sein Selbst vergessend, den Abendbremsen zu; die zogen erst jetzt auf Nahrung aus und schwebten oft ganz ruhig, unbewegt auf einem Fleck in der Luft, wie an einem Abendstrahl aufgehangen; ihre Flügel drehten sich wie leichte Wolkenrädchen zur Seite, bis sie wie angestoßen auffuhren; sie hatten eine kaum sichtbare Beute erhascht und hielten sich nun wieder ruhig auf ihrer neuen Stelle. Der geräuschvolle Tag verstummte immer mehr, ein sanftes, nächtiges Flüstern hauchte durch Zweig und Gras, Reinhard schweifte immer weiter, es zog ein Lied durch seinen Sinn, er wußte nicht was, ihm war traurigfroh zumute; da hörte er einen einsamen Burschen jenseits des Baches singen:
Ihr Sternle am Himmel, Ihr Tröpfle im Bach, Verzählet mei'm Schätzle Mein Weh und mein Ach. |
O die Liebe kann nicht genug Boten finden, ihre unnennbare Seligkeit und ihr tiefes Leid zu verkünden. Und der Bursche sang weiter:
Die Sternle ins Wasser, Die Fischle in 'n See, Die Lieb geht tief abe, Geht niemals in d' Höh. |
Und jetzt ward noch mit anderer Weisung der lustige Schluß angehängt:
Ganget weg, ihr Burgersmädle, Ganget weg, ihr Patschele, Da nehm i mir e Bauernmädle, Das sind recht wackere. |
Als Reinhard spät abends nach Hause kam, fand er einen Brief aus der Stadt vor; er war vom Kollaborator und lautete:
»Kleinresidenzlingen, an einem der Hundstage
Oft habe ich im Wald einem Vogel zugehorcht, der mir seine Melodie hundertmal vorsang, als müßte ich sie verstehen, und wenn ich mich endlich zum Fortgehen anschickte, war mir's, als singe der lustige Kauz jetzt erst recht aus voller Seele, als riefe er mir nach: Du verstehst doch nicht, was ich singe, und Millionen werden nach dir kommen und werden's auch nicht verstehen. So geht mir's jetzt auch mit dem Volksgeiste. Mir ist's, als ob jetzt, da ich fort bin, es erst recht zu singen und zu klingen begänne. – Diese romantische Sehnsucht der modernen Menschheit nach dem, was hinter ihr ist, verdreht ihr den Kopf; ich habe auch einen krummen Hals.
Es ist nicht gut, daß dieser Mensch auf sich stehe, drum will ich ihm eine Anstellung schaffen. So sprach Gott der Herr, als er den deutschen Menschen gemacht hatte. Die Eichen im Walde werden nächstens auch angestellt und erhalten das allerhöchste Dekret, das sie zu einstweiligen Symbolen und Hütern der deutschen Kraft und deutschen Freiheit ernennt; es gibt dann Referendars-, Assessors-, geheime und wirkliche geheime Eichen mit eigenem Laub. Wir Deutschen sind die solideste Nation der Welt, es ist die schändlichste Verleumdung, daß man uns Gemeinsinn abspricht; wer nur irgend ein gemachter Mann sein will, setzt sich auf den Besoldungsstuhl und speist aus der Kommunschüssel. Fichte hat das Wesen des deutschen Gelehrten zu sehr aus seinem subjektiven Idealismus erfaßt, ich mache mir jetzt Exzerpte, um in biographischen Umrissen nachzuweisen, welchen Einfluß die Staatsanstellungen auf die Gestaltung des deutschen Geistes gehabt haben.
Ich habe für die vornehme Spezies der Menschen einen eigenen Namen gefunden, sie heißen: die eisfressenden Tiere. Heute morgen war ein Prachtexemplar bei mir, Dein Gönner, der dicke rote Tabled'hotenkopf, der hochwohlduftende Comte de Foulard, er hat sich sehr nach Dir erkundigt; der Prinz ist aus Italien zurück, hat dort viel Bilder gekauft, hat in Rom Dein Lob gehört, ist entzückt von Deiner Waldmühle, kurz man will eine Galerie errichten, will Dich fesseln, das heißt anstellen. Da hast Du's also. Wenn Du kommst, ist die Sache abgemacht. Ich weiß nicht, wie Du darüber denkst, ich habe um meine Stelle auch suppliziert in der geheimen Hoffnung, daß nichts daraus wird, und nun weide ich schon bald sieben Jahre die geduldige Bücherherde und schere nur das eine und das andere um ein Exzerpt, so was im Zaun hängen bleibt. Lieb wär mir's, wenn Du einen Schleiftrog am Bein hättest, daß wir Dich hier behielten. Mach aber, was Du willst, ich rate nichts; hast Du Lust, so komm baldigst.
Ich habe mit meiner Schwester eine neue Wohnung bezogen, sie hat endlich ihr Putzgeschäft aufgegeben und pflegt nun mein Alter. Ich esse mittags und abends Suppe und kann hundert Jahr alt werden, wenn ich's erlebe.
Grüße mir die Alpenrose, Gott sende ihr Tau und Sonnenschein genug und lasse sie gedeihen.
Ich schreibe Dir diesen Brief auf dem neuen Katalog, den ich anzufertigen habe; ich bin ganz allein, mein Oberwalfisch wascht sich im Seebad.
Dein | ||
Kohlebrater | ||
Beiwagen: Die sieben Gulden, die Du mir zur Heimreise geliehen, kann ich Dir erst zum Quartal, den 1. Oktober, wenn ich meine Löhnung fasse, erstatten. Brauchst Du's früher, will ich's anderweitig entlehnen.
Unser Schulkamerad R., das sogenannte durchlöcherte Prinzip, hat eine Vokation ins Departement des Jenseits bekommen, er ist Assistent beim Weltgericht geworden.
Das Erdbeben, das wir vorgestern hatten, hat mich unendlich ergötzt; ach! wie haben sie hier alle gezittert! So muß einem Floh zumute sein, der auf einem fieberkranken Pudel haust.«
Nachdem Reinhard diesen Brief gelesen, verkündete er, daß er am Morgen nach der Hauptstadt abreise und bald wiederkomme. Lorle schlief die ganze Nacht nicht, sie machte sich allerlei Gedanken über die so schnelle Abreise; Reinhard hätte sie durch ein einziges Wort beruhigen können, und er dachte nicht daran. Am Morgen sah er Lorle noch einen Augenblick allein und sagte ihr schnell: »Wenn ich ein Glück bekomme, teilst du's mit mir?«
»Wenn ich nur dich ganz krieg«, war die Antwort, vom Teilen sagte sie nichts.
Im Hause des Wadeleswirts war's nun wieder so still und friedsam wie ehedem. Hatte Reinhard in der letzten Zeit auch weniger tolle Streiche losgelassen, so machte er doch noch immer Lärm genug im Hause; jetzt ging alles wieder seinen alten Weg, kaum daß einer mehr des Fernen gedachte. Wie schnell schließt sich der Strom des Lebens hinter einem Menschen, der aus einem Kreise tritt! Nur Lorle hegte das Andenken Reinhards tief im Herzen, Tag und Nacht. War sie früher stets liebreich und gut gegen die Eltern und alle im Hause gewesen, so war sie's jetzt doppelt; sie wollte immer alles tun und bereiten für jedes. Niemand wußte, woher das kam, und man kümmerte sich auch nicht viel darum; Lorle aber tat dadurch im Innersten Abbitte, daß sie die Ihrigen in Gedanken schon verlassen hatte und bald ganz von ihnen scheiden werde, sie wollte ihnen noch Gutes erzeigen, so viel sie vermochte.
In der Stadt betrieb Reinhard seine Anstellung mit allem Eifer. Als der Kollaborator seine Verwunderung darüber äußerte, erwiderte er: »Ich will dir's nur gestehen, ich bin mit Lorle verlobt.«
»Was?« rief der Kollaborator gedehnt, Staunen und Kummer sprach aus seinem Antlitze; »wenn sie einer heiraten und aus ihrem Boden reißen dürfte, so wär das nur ich, ich allein; ja lache nur, ich verstehe sie allein; du bist viel zu wild, du darfst eigentlich gar nicht heiraten. Hat dir denn der Vater das Mädchen gegeben?«
»Nein.«
»Oh, so ist noch Hoffnung, daß sie keiner von uns beiden bekommt«, schloß der Kollaborator schelmisch.
Reinhard ging nicht vom Fleck, bis er sein Ernennungsdekret erhalten hatte. Am Morgen, nachdem solches ausgefertigt war, sagte er beim Erwachen zu sich selber. »Guten Morgen, Herr Inspektor mit dem Titel Professor; haben Sie wohl geruht? Hast dir nun auch ein Hundsband umbinden lassen und war dir doch so wohl, als du frei umhergelaufen bist.« Als er vor dem Spiegel stand, verbeugte er sich ganz höflich und sagte: »Ihr Diener, Herr Professor! Gehorsamer Diener siebente Rangklasse.«
Dennoch freute sich Reinhard in dem Gedanken, wie ganz anders er nun vor den Wadeleswirt hintreten und um dessen Tochter freien könne und wie glücklich auch Lorle sein werde.
Schnell packte er seine Gliederpuppe und einiges alte Seidenzeug zusammen, das er zur Gewandung gekauft hatte, und bald rollte er wieder dem Dorfe zu, wo seine Liebe wohnte.