Hermann Bahr
Die Hexe Drut
Hermann Bahr

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Zwölftes Kapitel.

»Es stinkt!« schrie der Apotheker. Und er schwang sein Exemplar des »graden Michl« und wiederholte, zappelnd und zwinkernd: »Es stinkt, es stinkt, es stinkt! Bitte tausendmal um Verzeihung, daß ich die werten Ohren unserer hochverehrten Damen so beleidigen muß, nutzt aber alles nix, bitte sich nur selbst gefälligst an die hochgeschätzten eigenen Nasen zu wenden, da der höhere Mensch doch unstreitig auch sozusagen eine moralische Nasen hat, is es richtig oder nit? Alsdann frage ich aber: was sagt uns die moralische Nasen jetzt, was meldet sie, was kann sie nicht mehr leugnen? Die moralische Nasen sagt uns, sie meldet, sie kann nicht leugnen, daß es stinkt! Bitte nochmals zehntausendmal um Vergebung, daß ich das den scharmanten Ohren unserer liebenswürdigen Damen zumuten muß, aber jetzt is es einmal g'schehn, da hilft nix mehr! Denn soviel is jetzt einmal sicher, daß es bei unserer zauberhaften Baronin stinkt! Moralisch, mein ich, moralisch versteht sich! Was die übrigen Düfte der Frau Baronin Furnian betrifft, da bin ich nicht kompetent, aber moralisch stinkt's mir in die Nasen. Da muß ich schon sagen, ein jedes Kuhmensch hat einen besseren Geruch. Bitte nur den »graden Michl« zu lesen!«

Und das schußlige Männchen schwang triumphierend die zerknitterte Zeitung über den Tisch hin, wie eine zerschossene Fahne.

»Aber Flori!« sagte die Frau Apotheker, mit ihrer langsamen, tief singenden Stimme.

»Bitte nur noch einmal genau den »graden Michl« zu lesen!« sagte der Apotheker. »Da kann man jetzt kein Auge mehr zudrücken, das gibt's nicht mehr, das hört sich jetzt auf! Denn soviel Augen hat der Mensch gar nicht, als man da zudrücken müßt, damit man mit der märchenhaften Baronin noch weiter verkehren könnt! Wenigstens was ein anständiger Mensch is, der ein bißl was auf sich halt! Ich nicht, ich nicht, ich muß schon bitten! Wann ich auch bloß ein einfacher schlichter Bürgersmann bin. Klein, aber rein! wie man bei uns sagt. Und darum, was mich betrifft, ich, wann ich jetzt bei der Bezirkshauptmannschaft vorübergeh, ich halt mir die Nasen zu.«

Und indem er es zeigte, wiederholte er, durch die Nase schnofelnd:

»Mit allen Fingern, die ich hab, halt ich mir die Nasen zu, ich kann nix dafür, ich bin ein reinlicher Mensch. Bis, bis, bis –!« Er ließ seine Nase los und, den Zeigefinger drehend, über den Tisch vorgebeugt, sagte er; »Bis ausgemistet is! Das, meine verehrten Herrschaften, sind wir uns schuldig, sonst wird's heißen, es g'schieht uns recht! Ausgeräuchert muß der Ort werden! Das ist meine Meinung und da geb ich nicht nach. Wann ich auch nur ein einfacher schlichter Bürgersmann bin! Der Herr Bezirkshauptmann soll nur nicht glauben, daß man sich alles gefallen lassen muß! Oho, oho, Herr Baron, da sind wir noch da, werden schon sehen! Wann der kleine Jautz auch nur so ein spaßhaftes Mannderl ist, wie Sie glauben! Und glaubens nur nicht vielleicht, werter Herr Baron, weil wir die hohe Ehre genossen haben, daß S' uns manchmal unser schönes Geld im Tarok abnehmen – a deswegen glaubens vielleicht, daß wir jetzt kuschen müßten? Wer hat's Ihnen denn g'schafft, Euer Hochgeboren? Wir hätten Ihnen im Krätzl wahrhaftigen Gott's net gebraucht! Wärn's schön draußen blieben! Es ist vorher im Krätzl auch ohne Sie gangen! Ganz schön und ganz gut, es hat uns gar nix g'fehlt! Und man sieht nur wieder einmal, daß mit die hohen Herrn schlecht Kirschen essen ist, besonders wenn die geehrten Kirschen ang'fault sind! Nein, da danken wir lieber, mein Herr Baron, da dankt der kleine Mann!

Nein, mein lieber Herr Baron!
Denn was hab'n wir jetzt davon?
Schand und Spott!
Behüt uns Gott!
Da kann der kleine Jautz nur raten:
Gehns mit Ihrer Baronin baden!

Denn, meine Herrschaften, wie gesagt, bitte nur den »graden Michl« genau zu lesen, da steht's! Da steht's schwarz auf weiß, daß sie gar keine Baronin is, sondern ein Luder! Und jetzt frag ich, ob wir das nötig haben! Das is nur so ganz bescheiden meine unmaßgebliche Meinung. Denn ich mein, da hat schon der kleine Mann doch auch noch ein Wörtel dreinzureden, bevor uns die ganze Gegend versaut wird! Die sollen nur nicht glauben, daß unsereines nicht auch sein moralisches Bewußtsein hat! Viel laßt man sich von der Behörde gefallen, Steuern muß man zahlen, sekiert wird man um und um, Buckerln macht man noch dazu, aber alles darf man einem Menschen doch nicht antun. Bekanntlich krümmt sich schließlich auch der Wurm. Und soviel Ehrgefühl, als selbst der Wurm hat, ein elender Wurm, meine liebenswürdigen Damen und unendlich hochgeehrten Herren, wird man doch, sollt man meinen, von unserem geliebten Krätzl am End auch noch erwarten dürfen. Dies wäre, meine erlauchten Herrschaften, die ganz bescheidene Meinung Ihres ergebensten Florian Jautz, Apothekers allhier, der halt wieder einmal recht behalten hat, wenn er immer sagt, daß

Unser armer Bürgersmann
Stets nur selbst sich helfen kann!

Ich bin g'wiß ein geduldiger und eher ein schweigsamer Mann, aber man darf doch noch sein moralisches Bewußtsein haben. Sonst, wie gesagt, wird uns noch die ganze Gegend versaut!«

Der Bezirksrichter sagte, gröhlend: »Heut redens wenigstens deutsch! Dös is amal a Red! Prost, Jautzl, prost!« Er trank ihm zu, wischte sich den nassen Bart aus und nahm wieder sein Exemplar des »graden Michl« vor, lesend und lachend.

Die Bergrätin zuckte zusammen und sagte leise zum Bergrat: »Muß denn alles gleich gar so drastisch ausgedrückt werden! Nicht wahr, Hauschka?«

Der Bergrat sagte, indem er seine Hand auf ihre legte: »Nun ja. Der Fall ist wohl sehr peinlich.«

Die Frau Wiesinger sagte, aggressiv: »Recht hat der Herr Apotheker! So spricht ein Mann!« Und sie schlug ihr Exemplar des »graden Michl« wieder auf, um wieder eifrig zu lesen.

»Jedenfalls,« sagte der Herr Verwalter Wiesinger, gereizt, »jedenfalls ist es eine jener Sachen, wo nur ein Mann ein Urteil haben kann. Und was jetzt zu geschehen hat, ob es nach diesem Artikel im »graden Michl« einem anständigen Menschen überhaupt noch möglich sein wird, weiter mit dem Bezirkshauptmann und seiner Dame zu verkehren, ja ob wir nicht eigentlich gezwungen sind, eine Aufklärung vom Herrn Bezirkshauptmann zu fordern, der schließlich, vergessen wir das nicht, der schließlich einmal zu unserem Krätzl gehört –«

»Sehr richtig!« bemerkte der Apotheker, eilig. »Vergessen wir das nicht!«

»Ob, sage ich,« fuhr der Herr Verwalter gereizt fort, ungeduldig an seiner goldenen Brille rückend, »ob das nicht das Ansehen des Krätzls direkt verlangt, das nach meiner Meinung einfach lächerlich wird, wenn es sich zu so blutigen Angriffen eines immerhin eine weite Verbreitung in unserer Bevölkerung genießenden Blattes auf eines seiner Mitglieder taub stellt –«

»Sehr richtig!« sagte der Apotheker und applaudierte mit den Fingerspitzen, wie er das im Sommer einmal im Theater von dem böhmischen Grafen gesehen hatte.

»Darüber, meine Herren,« schloß der Herr Verwalter, »darüber steht wohl nur uns Männern allein die Entschließung zu. Uns Männern einzig und allein! Ehrensachen gehen Frauen nichts an. Soweit sind wir doch noch nicht. Vorderhand noch nicht!« Und indem er sich zu seiner Frau wendete, sagte er höhnisch: »Du mußt schon gütigst entschuldigen, liebes Kind!«

Die Frau Verwalter Wiesinger sprang auf, blasend vor Zorn: »A das möcht ich seh'n, das war noch schöner! Du glaubst ja natürlich, eine Frau ist bloß da, daß sie dir die Socken stopft und –«

»Das glaub ich bei Gott nicht«, sagte der Verwalter, hämisch. »Dazu hätt ich wahrhaftig auch gar keinen Grund, das weißt du ganz genau. O jeh!«

»Schau, schau, schau!« sagte der Apotheker geschwind, sich vergnügt die Hände reibend.

»Haben's a Löcher in die Strümpf?« fragte der Bezirksrichter, lachend. »Das is g'scheit! Dös scheinen nämlich die Weiber auch für eine Ehrensache zu halten, da wollens nix wissen davon, haha!«

»Eine Gemeinheit ist das von dir!« schrie die Frau Verwalter. »Wie kannst denn du behaupten, daß –? Eine Gemeinheit ist das, so eine Gemeinheit! Die Leute müssen ja rein glauben –!« Sie konnte vor Zorn nichts mehr sagen und fing heftig zu weinen an.

Der Apotheker kam eilig herbei. »Schöne Frau! Schönste Frau! Allerschönste Frau!«

»Aber Flori!« sagte die Frau Apotheker dumpf.

»Wie kann man denn diese herrlichen Augen durch schnöde Tränen trüben!« sagte Herr Jautz, die fleischige Hand der schönen Verwalterin streichelnd. Und plötzlich fing er zu hüpfen an und schüttelte sich und schrie: »Hörn's auf, hörn's auf, um Gottes willen hörn's auf, oder ich kann mir nicht helfen und wein auch!« Und er begann kindisch zu plärren: »O Gott, o Gott, o Gott, o Gott!«

Die Frau Bergrätin sagte leise zum Herrn Bergrat: »Muß er sie denn aber auch vor allen Leuten so blamieren? Das ist doch vom Herrn Verwalter nicht recht! Meinst du nicht, Hauschka?«

Der Bergrat sagte, um ein anderes Thema zu bringen: »Zunächst müßte man ja vor allem festzustellen suchen, ob das, was der Artikel im »graden Michl« behauptet, denn wohl auch wirklich wahr ist.«

»Wahr?« schrie der Apotheker, auf den Bergrat losspringend, wie persönlich beleidigt. »Wahr? Es soll nicht wahr sein? Herr Bergrat, Herr Bergrat, was fallt Ihnen ein? Natürlich is's wahr! Das brauch ich doch nur zu lesen und weiß, es is wahr! Aber fragen's doch alle, Herr Bergrat! Hat das einer von uns gelesen und hat's nicht gleich geglaubt? Das hat man doch im Gefühl! Und übrigens, Herr Bergrat, da muß ich schon bitten: wenn so was einmal in der Zeitung steht, dann is es eben wahr, solange bis nicht bewiesen ist, daß es nicht wahr ist! A das wär leicht! A das wär das Neueste! Denn bitte, Herr Bergrat, sie kann ja klagen! Wozu wär denn das Gericht da? Warum klagt sie denn nicht? Bitte, bitte! Warum hat sie denn nicht geklagt? Ein unschuldiger Mensch geht halt aufs Gericht! Von mir sollt einer so was schreiben, das möcht ich sehen! No hab i net recht, Herr Bezirksrichter? Warum hat sie denn nicht geklagt? Wozu haben wir denn ein Gericht?«

»No klagen kanns ja noch immer«, sagte der Bezirksrichter verdrießlich. »Das Blatt is ja heut erst erschienen.«

»Die Frage ist nur,« sagte der Bergrat, »ob sie überhaupt klagen kann. Sie wird ja in dem Artikel gar nicht genannt.«

»Nicht genannt?« schrie der Apotheker, ängstlich aufgeregt. »A da muß ich bitten! Jedes Kind, das das liest, weiß doch, daß da nur die Frau Baronin Furnian gemeint sein kann.« Er rannte, nahm sein Exemplar wieder und sagte, mit dem Zeigefinger in die schmierige Zeitung tippend: »Also bitte! Gleich die Überschrift! Das Mädchen aus der Fremde!« Und er wiederholte vergnügt, es mit Behagen noch einmal vorlesend: »Das Mädchen aus der Fremde! Und dann steht noch drunter: Ein Märchen als Osterei! Das muß schon ein Feiner sein, der das g'schrieben hat! Der versteht die Sach! Ein schönes Osterei haben's da dem armen Bezirkshauptmann gelegt! Es is ja eigentlich wirklich eine Gemeinheit! Zeit wär's, daß man einmal etwas gegen die Presse tut! Aber nicht wahr, sie kann ja klagen! Warum klagt sie denn nicht? Sie soll doch einfach klagen! Da wird man's ja dann sehn! Nicht wahr, sie wird halt vor Gericht ihr ganzes Leben nachweisen müssen! Mehr verlangt man ja gar nicht! Wenn's nicht wahr ist, schön! Dann wird ja der eingesperrt, der's g'schrieben hat! Däs war ja ganz recht, wenn so einer einmal ordentlich eingesperrt wurd, das wär ja ein wahres Glück! Wenn's nämlich wirklich nicht wahr is! Aber leider, leider, leider, ich kann mir's nicht denken, daß es nicht wahr sein sollt, ich kann mir's halt nicht denken, leider, leider, leider! Denn, Herr Bergrat, ich bitt Sie, es kann sich einer doch solche Sachen nicht aus den Fingern schlecken! Na und sie soll halt einfach nachweisen, daß es nicht wahr ist! Wenn sie nachweisen kann, es is nicht wahr, daß sie sich für eine Prinzessin von Mexiko ausgegeben hat, während sie nicht einmal eine ordentliche Baronin ist, und so weiter und so weiter, was da halt alles steht, no, wenn sie nachweisen kann, daß es nicht wahr ist, dann is ja alles gut! Ich wünsch ihr's ja! No, dann geht aber der Redakteur schön ein! Und recht g'schieht ihm! I sag's ja immer: man muß endlich etwas tun, die Presse wird zu frech.«

Die Frau Bergrätin sagte, von ihrem Exemplar des »graden Michl« aufsehend: »Darf man denn eigentlich überhaupt so was schreiben? Das sollt doch nicht erlaubt sein! Nicht, Hauschka?«

»Nun, wenn es nicht wahr ist,« sagte der Bergrat, »wird der Mann ja bestraft. Wenn es freilich wahr sein sollte, was ich allerdings noch immer nicht glauben kann –«

»Es wird schon wahr sein«, fiel der Apotheker ein, mit den Fingern fuchtelnd. »Es wird schon wahr sein, es wird schon wahr sein, Sie können's ganz ruhig glauben! Glaubens mir, Herr Bergrat, daß Sie's ruhig glauben können! Da kann man sich auf mich verlassen, ich riech so was! Und ich sag Ihnen, mir war das Zauserl von einer fremden Baronin vom ersten Augenblick an verdächtig! No natürlich, was hätt ich denn aber 'tun soll'n? Mich hat ja der Herr Bezirkshauptmann nicht g'fragt! A, wenn mich der Herr Bezirkshauptmann g'fragt hätt, a dann, a dann! Ja! Ja, dann stünd's heut vielleicht besser mit dem armen Herrn Bezirkshauptmann! Und ferner, was ich auch nicht zu vergessen bitte, meine verehrten Herrschaften: Ihr warts ja alle ganz damisch mit ihr! Bitte sich nur gefälligst zu erinnern, meine verehrten Herrschaften! Ihr habts euch ja schon rein nicht mehr auskannt vor lauter Bewunderung und Verehrung für sie! Ihr habts es ja getrieben mit ihr, daß's schon wirklich nicht mehr schön war! Der Mann hat ja recht, wenn er schreibt: Und wie eine Fee, ja fast einer Heiligen gleich wurde nun in dem stillen Tal die fremde Landstreicherin von den arglosen Bewohnern verehrt, von Männlein und Weiblein! Hat er nicht recht, der Mann? Und warum? Aus lauter Eitelkeit, daß unsereins auch einmal neben einer Baronin sitzen darf! Hat denn der Mann nicht recht? O arglose Bewohner!«

»Wer war denn aber der Ärgste?« fragte der Bezirksrichter lachend. »Sie habn ja ganz recht, Jautzl, aber wer war denn der Ärgste? Denkens nur a mal a bißl nach! Wer denn?«

»Wer hat denn im Fasching das Gedicht auf sie gemacht?« sagte Wiesinger. »Soll ich's Ihnen hersagen? Mir prägen sich nämlich Ihre Reime stets unvergeßlich ein, Herr Apotheker! Mitten in der Nacht wach ich oft plötzlich auf davon. Also, wenn Sie wünschen –!«

»Aber ein Gedicht, ein Gedicht, ein Gedicht,« sagte der Apotheker, »was bedeutet ein Gedicht? Das wissens doch selbst, Herr Kollega! Dem Dichter is ein jeder Anlaß recht, da fragt ma nicht erst viel! Bekanntlich hat sich der Schiller an faulen Äpfeln inspiriert, nit wahr? No und a so a fauls Apferl is halt die Baronin für mich g'wesen. Aber fangen hab ich mich von ihr nicht lassen, ich nicht, ich nicht, nie! Da kann ich mich auf meine Frau berufen! Fragens meine Gattin, wie oft ich g'sagt hab, wann wir dann von hier weg so schön stad nach Haus gangen sind, fragens mein Götterweib, wie oft ich da g'sagt hab, mit meinem gewissen feinen Lächeln: ich sag nix, ich sag nix, ich sag nix! No und bitte, das weiß man doch, wenn ich sag: ich sag nix, das is doch nicht so; das hat eine Bedeutung, da mein ich was! Das weiß man doch hoffentlich, nicht? Aber es hat mich ja niemand g'fragt, ihr warts ja alle ganz beduselt von ihr! Und ich habe nicht die Gewohnheit, verehrter Herr Verwalter, den Leuten meine Meinung aufzudrängen. No und jetzt habts halt die Bescherung!«

Der Bergrat sagte: »Erst seit ein paar Monaten ist der »grade Michl« so bösartig. Früher war das so ein harmloses und nettes Blatt. Höchstens, wenn einmal ein Wirt irgendwo schlecht ausgeschenkt hat, hat es dagegen Front gemacht. Aber jetzt wird da jeden Augenblick gestichelt und gegen alle möglichen Personen gehetzt.«

»Ja,« sagte der Apotheker eifrig, »seit der Reinlich da is! Kennens ihn nicht, den Reinlich, Herr Bergrat? So ein großer Dicker, ein Mordslackl, er kommt öfters ins Kegelschieben zur blauen Gans. Den haben sie sich eigens aus München verschrieben, ein ehemaliger Kapuziner soll er sein und er is ein Freund von dem neuchen Koprater in Sankt Gilgen, der hat ihn herbracht, weil's doch jetzt heißt, daß der Bischof eine andere Tonart will! Ja, da blast halt jetzt der Wind gar scharf!«

»Ja«, gröhlte der Bezirksrichter, vergnügt. »Den Jautz habens ja auch schon neuli amol beim Bandl g'habt! Aber urndli! Da is g'standen, daß die Apotheken eigentli schon mehr eine Schnapsbutik is. Ja, mein lieber Jautzl von Rechts wegen hätt ma ja der Sach eigentli auf'n Grund gehn'n müssen!«

»Alles derstunken und erlogen, Herr Bezirksrichter« schrie der kleine Jautz, wütend. »Nicht ein Wort is wahr, aber das weiß doch ein jeder, wie das Saublatt lügt! Überall stierlt der Reinlich herum und wann er nix findt, dann erfindt er sich was! A schön's G'schäft, das muß ich schon sagen, und die Behörde schaut aber zu, statt den Bürgersmann zu schützen! No, mir kann's ja gleich sein, ich bin Gott sei Dank bekannt genug, ich hab's net nötig, daß ich mich erst mit so einem hergelaufenen Lumpen herstellen müßt, wie der Reinlich ist!«

»Ja no!« sagte der Bezirksrichter bedenklich. »Der Lackner hat doch neulich gesagt, eigentlich war man verpflichtet, wenn einmal in der Öffentlichkeit solche Klagen laut werden, der Sache nachzugehen –!« Er schob seinen Schädel auf dem Kropfe hin und her und drohte dem Apotheker. »Ja, ja, so einfach ist die G'schicht ja nicht! No prost, Jautzl, prost!« Lachend trank er seinen Krug aus. Dann sagte er plötzlich zornig: »Wo is er denn übrigens heut, der Lackner? Wo bleibt er denn wieder so lang? Der Sakra!«

Der Apotheker duckte sich. Und dann sagte er, mit einer ganz unschuldigen Miene: »Und die Fräuln Theres is auch heut noch net da! Wo mag denn nur die Fräuln Theres so lang bleiben, Herr Bezirksrichter?«

»Was woaß denn i?« brüllte der Öhacker. »Wo wirds denn sein? Z' Haus wird's halt sein, in der Wirtschaft! Wo denn sonst? Das Madl tut mir doch die Wirtschaft führen, not? Wo soll's denn sonst sein? Und i verbitt mir die blöde Fragerei, verstanden?« Und er wiederholte brüllend: »Verstanden? Dös paßt ma nöt! Mei Madl is großjährig und braucht nach koam Menschen net z' fragen! Dös bitt i mir aus!«

Die Frau Jautz, die die ganze Zeit angestrengt in ihrem Exemplar des »graden Michl« gelesen hatte, bat jetzt ihren Mann: »Aber Flori, schau, da zum Schluß kenn ich mich gar nicht mehr aus! Da fangt ja doch auf einmal eine ganz neue G'schicht an. Nöt?« Und sie zeigte bekümmert mit ihrem dicken Finger hin.

»Aber das is ja g'rad der Witz, Tschapperl!« sagte der Apotheker, lustig zwinkernd. »Denn was wahr is, is wahr, meine Herrschaften! Schreiben kann der Mann, da gibt's nix! Und wie man zum Schluß glaubt, es is schon alles aus, da geht's dann erst recht los.«

»Aber wie meint er denn das eigentlich?« fragte Frau Jautz, sich heftig quälend. Und indem sie mit ihrem fleischigen Finger den Buchstaben folgte, las sie vor: »So war in diesem Tal bei armen Hirten einstmals auch ein fröhlicher junger Jägersmann, der ging einmal im Wald spazieren, und nichts zu suchen, das war sein Sinn. Und wie nun schon alles in dem Tal verzaubert war, so war eben der junge Jägersmann auch verzaubert, und wie er da nun ging, glaubte er plötzlich unter einer Fichte mitten im Wald eine Erscheinung zu sehen. Und weil er eben verzaubert war, wurde er von seinen Augen betrogen und sagte: Ja, was ist denn das unter der Fichte für ein liebes junges Reh? O, du armer Jägersmann, hätt'st du doch deine dummen Augen besser aufgemacht! Aber der war halt verzaubert, und so glaubt er heute noch, daß das ein Reh war, was er da gesehen hat. Wenn er aber dereinst, Gott geb's, nicht mehr verzaubert sein wird, wird der junge Jägersmann erst sehen, daß es ja gar kein Reh war, sondern eine alte Wildsau.« Und indem sie nun ihren dicken Finger unter den letzten Buchstaben stehen ließ, klagte sie: »Gehört denn das eigentlich noch dazu? Was meint er denn da?«

»Aber Tschapperl!« sagte der Apotheker strahlend. »Verstehst denn nicht? Wer mag denn wohl die Wildsau sein? No, wer denn? Obwohl sie ja in Wirklichkeit gar nicht so wild ist, das is eine Übertreibung! Aber das nennt man nämlich eine Redeblume.«

Einen Augenblick stand das dicke Gesicht der Frau Jautz noch starr, dann ging es auseinander und, endlich verstehend, sagte sie, dampfend von Vergnügen: »Aber Flori!«

Der Bergrat sagte nachdenklich: »Jedenfalls muß einem der arme Bezirkshauptmann doch sehr leid tun.«

Der Postverwalter Wiesinger sagte höhnisch: »Mir nicht! Da muß ich schon widersprechen, Herr Bergrat! Mit einem Menschen, der dumm heiratet, kann ich kein Mitleid haben. Ich nicht. Nutzt auch nichts! Der is doch verloren.«

»Er kann ja aber doch nichts dafür«, sagte der Bergrat. »Er hat's ja nicht gewußt.«

»Ja, da kann keiner was dafür!« schrie der Verwalter gereizt. »Es weiß es ja keiner! Ja, wenn man das vorher wüßt! Dann wär's leicht! Aber da gibt's halt dann nichts als schön still zugrund zu gehen. Man muß ja nicht dumm heiraten! Muß man denn? No, dann darf man sich aber auch nicht beklagen, dann muß man es halt tragen. Andere müssen's auch, andere auch!« Und schadenfroh rieb er sich die Hände.

»Möchst vielleicht schon wieder anfangen? Mir scheint!« sagte die Frau Verwalterin, höhnisch.

»Was hab ich denn gesagt?« fragte der Herr Verwalter. »Hab ich gesagt, daß ich dumm geheiratet hab, ich? Nein, mein liebes Kind, das brauch ich wahrhaftig niemandem mehr zu sagen!«

»Die Hauptsache wird jetzt sein,« schrie der Apotheker über den Tisch, »daß wir uns einigen, was wir eigentlich machen sollen. Wie sich der Herr Bezirkshauptmann seine Suppen ausfressen wird, das geht ja schließlich uns nix an. Aber die Frage is, ob wir –«

Er hielt ein, nach der Tür sehend, durch die die Fräuln Theres und der Doktor Lackner eintraten. Der Bezirksrichter gab ihnen ein Zeichen, den Redner nicht zu stören. Der Apotheker fuhr fort: »Die Frage ist, ob wir, die Honoratioren des Orts, ruhig zuschauen sollen, bis unsere gefeierte Frau Baronin vielleicht am End ins Kriminal spaziert. Und dann wird mit den Fingern auf uns gezeigt werden und es wird heißen: No, eine schöne Freundin habts ihr! Ich höre schon förmlich, wie's dann über uns hergeht! Denn ich bitte, man muß ja nur wissen, wie die Menschen sind, das ist kein Vergnügen! Und gar, wenn man irgendwie den besseren Kreisen etwas anhaben kann, das laßt sich ja keiner zweimal sagen! Denn täuschen wir uns nur nicht, Honoratioren sind nicht beliebt, nirgends auf der Welt, und der Neid ist groß, der Neid auf die Bildung und den Besitz! Also da wär's Zeit, daß wir uns überlegen, was dagegen zu tun ist, bevor's noch zu spät sein wird!«

»Bravo, bravo!« sagte der Doktor Lackner, indem er sich zum Bezirksrichter setzte. »Der Herr Apotheker hat heut seinen großen Tag!«

»Ja«, sagte der Bezirksrichter, auf sein Exemplar des »graden Michl« zeigend. »Wir können uns halt alle von der Lustbarkeit da noch gar nicht erholen!«

»Kann mir jemand das Blattl leihen?« fragte die Fräuln Theres.

»Hier, mein edles Fräulein!« sagte der Apotheker und hielt ihr sein Exemplar hin. Und der Bergrat auch und der Verwalter auch und der Bezirksrichter auch und die Frauen auch und jeder und jede hielten dem Fräulein Theres ein Exemplar hin. Sie bog sich und fing vor Lachen zu springen an und schrie: »No, wer hat gewonnen?«

Der Doktor Lackner sagte: »Sie hat nämlich gewettet, daß sich jeder ein Exemplar gekauft hat.«

»Drei!« sagte der Apotheker. »Ich hab drei. Zum ewigen Gedächtnis, wie man so zu sagen pflegt.«

Der Doktor Lackner sagte, auf die Zeitung zeigend: »No, dann hat der Mann ja recht. Er versteht halt sein Geschäft.«

Drängend sagte der Apotheker: »Also was tun wir? Was solln wir tun, meine Herrschaften?«

Der Bergrat sagte: »Ja, nach meiner Meinung können wir da wohl eigentlich gar nichts tun. Zunächst ist doch noch keineswegs bewiesen, daß es wahr ist. Und wenn es selbst wahr wäre, so können wir nach meinem Dafürhalten auch nicht viel tun. Es ist die Sache des Bezirkshauptmanns, den der eine bedauern, der andere tadeln mag, aber dem man es wohl wird überlassen müssen, nach seiner eigenen Empfindung zu handeln. Er ist mit dieser Frau seit mehr als drei Monaten verheiratet, er kann da doch wohl auch ganz anders über sie urteilen als wir, die wir sie bloß vier, fünfmal in unserem Kreise gesehen haben, wo sie sich übrigens, das kann ja niemand leugnen, immer durchaus liebenswürdig und einwandfrei betragen hat.«

»Ich muß völlig deiner Ansicht beipflichten, Hauschka!« sagte die Bergrätin, lebhaft.

»Ich kann das leider nicht«, sagte der Verwalter, hart.

»Aha!« rief der zappelnde Jautz. »Da sieht man gleich den Dichter, der auf einer höheren Warte steht! Also los! Silentium für den Herrn Verwalter!«

Der Verwalter Wiesinger nahm die goldene Brille zwischen den Zeigefinger und den Daumen, drückte sie fest und, sein volles Gesicht zur Seite neigend, wodurch er dann wirklich stets dem Schubert ein wenig glich, sagte er: »Was diese fragliche Frau Baronin dem Herrn Bezirkshauptmann angetan hat, ist allerdings eine Sache, die nur zwischen diesen beiden Herrschaften spielt. Etwas anderes ist es aber, daß der Herr Bezirkshauptmann diese Dame in unsere Gesellschaft gebracht und unseren Frauen zugemutet hat, mit ihr zu verkehren. Und da meine ich, daß wir zweifellos die Pflicht haben, uns unserer Frauen anzunehmen.«

»Geh, ich bitt dich!« sagte die Frau Verwalterin, höhnisch. »Dich brauchen wir!«

»Warum kann sie ihn denn nie ausreden lassen?« fragte die Bergrätin den Bergrat leise.

»Nein!« schrie der Apotheker und schoß auf die Verwalterin zu. »Nein, Frau Verwalterin! Da hat der Herr Gemahl doch recht! Wo er recht hat, hat er recht! Das is sogar sehr schön von ihm! Direkt ritterlich is es! Ritterlich!«

»Ritterlich!« jauchzte die Fräuln Theres, die für sich leise durch das Zimmer tanzte.

»Bist heute wieder ganz narrisch, verflixtes Madl?« schrie der Vater Öhacker seine Tochter an.

»Ja, Vater!« sang die Fräuln Theres und tanzte weiter.

»Es braucht ja niemand meiner Meinung zu sein«, sagte der Verwalter. »Aber ich habe die Empfindung, daß wir uns das nicht gefallen lassen können. Ich empfinde es als eine unseren Frauen angetane Mißachtung. Ich bin ja nichts als ein bescheidener Beamter, da muß man manches einstecken. Aber an dem einen halte ich fest: mein Haus halte ich mir rein! Und unser Krätzl hier, das ist sozusagen unser Haus, da kommen wir mit unseren Frauen her, da soll's nicht heißen, daß jeder sein Flitscherl bringen darf! Das ist meine Meinung. Eine Meinung wird man ja auch noch haben dürfen, vielleicht!«

Besessen sprang der Apotheker herum und schrie: »Das is es, das is es, das is es! Das war ein Dichter, der das gesprochen hat!« Und er intonierte: »Hoch soll er leben, hoch soll erleben, dreimal hoch!« Alle sangen mit und stießen an, daß das Bier aus den Krügeln schwappte. Der Verwalter Wiesinger sprang plötzlich auf, hielt sich den Kopf und rannte hinaus.

»So schön hat er g'redt',« sagte der Apotheker zur Frau Verwalterin, »wirklich so wunderschön, der Herr Gemahl, daß ich Ihnen ein Bußl geben könnt, vor Freud! Ja, wenn der Mensch immer dürft, wie er mecht!« Und er verdrehte die schmatzenden Augen.

»Aber Flori!« sagte die Frau Jautz aus der Tiefe. Der Apotheker bog sich an ihr Ohr und sagte leise: »Auch nur eine Redeblume, Tschapperl! Treu schlägt das Herz wie Gold in meinem Busen.«

»Hörst jetzt nöt endlich zum Hupfen auf, Herrgott sakra!« brüllte der Öhacker seine tanzende Tochter an. »Was hast denn heut?«

»Den Frühling hab i halt schon in die Füß!« sang die Fräuln Theres, tanzend. »Und vergnügt bin ich halt! Vergnügt!« Und sie drehte sich und tanzte und sprang.

»Wo warst denn überhaupt so lang?« brüllte der Vater. »Is das a Manier, daß a Kind sein Vatern warten laßt?«

»Z' Haus war i halt! Und dann is der Lackner kommen! Da habn ma wieder amal vierhändig g'spielt! So schön habn ma schon lang nöt vierhändig g'spielt. Es is halt der Frühling, den ma g'spürt!« Und sie wirbelte sich und flog, singend und sich wiegend, und lachte dazu.

»Wirst nöt aufhörn? Hörst nöt auf, mit die Schnaxn?« schrie der Öhacker.

»Lassen Sö's, Herr Bezirksrichter!« schrie der Apotheker. »Wann's eins so steßt vor Freud, daß's Hupfade kriegt, muß man einen Menschen lassen! Und wir sind halt heut alle vergnügt!« Er taumelte vor Aufregung und sprang hinter der Fräuln Theres her. Da kam der Verwalter zurück. Nun ging der Lärm erst noch einmal los. »Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch!« Der Apotheker stand auf seinem Stuhl und schlug mit beiden Händen den Takt. Dann, abklopfend, schrie er: »Silentium zur zweiten Ovation für den ausgezeichneten Dichter, Postverwalter und Volksredner Leopold Wiesinger, allhier!« Und mit ausgestreckten Händen sah er zwinkernd die Runde herum, bis er schließlich mit beiden Händen in die Tiefe fuhr und auf dieses Zeichen wieder das Geheul begann, worauf er wieder gebot: »Silentium! Auf allgemeines Verlangen zum allerletztenmal unwiderruflich Abschiedsvorstellung der brillanten Ovation mit Gala für unseren hochberühmten Landesdichter, Dauerredner und Postverwalter! Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch!« Als es ausgeklungen war, zog er sich auf dem Stuhl zusammen und, in der Kniebeuge hockend, die Hände schlaff herab, flüsterte er, mit den Lippen sprechend: »Jetzt aber noch ein ganz ein sanftes und liebes und zuckersüßes und schmelzendes und flötendes und hauchendes und anmutiges und kostbares und herzerfreuliches und sinnbetäubendes und unser würdiges, von holdem Frauenmund geadeltes, kurz, ganz und gar gediegenes Piani-ni-ni-ni-ni-ni-ni-ni-ni-nissimo!« Er sah herum, alle duckten sich, bis sie in der Beuge saßen, da nickte er und sagte noch, tonlos hauchend: »Ich zähl bis drei. Und auf drei dann: Ovation mit Flüsterung! Ich bitte aber die verehrten Künstler daran festzuhalten, daß es einen wahren Grabeston haben muß! Wichtig! Grabeston! Bitte! Also: eins, zwei, drei!« Und die Ovation mit Flüsterung begann. Die stattliche Frau Jautz fiel auf den Boden hin.

Die Frau Bergrätin fragte den Bergrat leise: »Sollte denn nicht aber etwas beschlossen werden? Etwas Definitives, Hauschka?«

Der Bergrat legte seine Hand still auf ihre und sagte lächelnd: »Das gesellige Talent des Herrn Apothekers schlägt halt überall wieder durch. Es ist jeder Situation gewachsen. Und ich denke, daß das eigentlich ganz gut ist.«

Die Fräuln Theres sagte: »No, Herr Verwalter! Ich gratuliere! So einen Erfolg haben's in Ihrem Leben noch nicht gehabt! Jetzt sind's hoffentlich endlich zufrieden.«

»Er hat's aber auch verdient,« rief der Apotheker, »weil er für die Ehre und für das Recht unserer Frauen so heldenhaft eingetreten ist! Und ich schlage vor, er soll fortan nur noch heißen: der Postverwalter Frauenlob!«

Der Postverwalter saß, den Kopf gesenkt, in sein Glas sehend, seinen Siegelring drehend. Endlich sagte er unwirsch: »Jetzt wär's aber wohl schon genug! Mir tut der Kopf weh.«

Die Frau Verwalter sagte: »Seit ich dich kenn, tut dir der Kopf weh! Immer! Mir scheint, seit deiner Geburt tut er dir weh.«

Die Frau Wirtin kam herein und trat an den Tisch, die Hände schüttelnd: »Was haben's denn heut, Frau Riederer?« fragte Herr Jautz. »Mein Gott«, sagte die Wirtin. »Ich bin halt noch ganz desperat! Es is doch schrecklich! Der arme Herr Bezirkshauptmann tuet aim wohl furchtbar laid. Nöt?«

»Ja, ja!« sagte der Apotheker leichthin. »Hätt er sich halt besser umschauen solln! Denn mir zum Beispiel hat das feine Weiberl gleich nicht g'falln! Mit die Frauen muß sich einer halt auskennen, sonst soll er die Hand davon lassen! Hat's Ihnen vielleicht g'falln?«

»Fremdartig is's mir scho a weng gwön«, sagte die Wirtin, langsam. »Und gar so gspitzad und gspötti! Awer mein Gott! Und i kann's no gar nöt glaubn! Ja, schaun's, Herr Awateker, nöt wahr, dös wissn ma ja, daß's schlechte Menschen gibt, awer wann ma an Menschen kennt, kann ma sich's dert nier nöt vostölln, daß er a dazua g'hern soll, nöt? Dös geht ma nöt ein!«

»Lernt man schon, Frau Wirtin«, sagte der Apotheker, flink. »Muß man schon lernen, muß man schon lernen! Solang ma noch einem Menschen traut, is man nicht g'scheit.«

»Aber Flori!« sagte Frau Jautz gekränkt.

»Das is doch was anders, Tschapperl«, beteuerte der Apotheker. »Denn uns umschlingt ja das Eheband!«

»I bin halt no ganz desperat!« wiederholte die Wirtin.

»Aufheitern, aufheitern, Frau Riederer!« schrie der Öhacker. »Z'wos haben's denn den famosen Enzian?« Und er schlug auf den Tisch und brüllte: »Kathl! Den Enzian bring!«

»Und und und!« rief der Apotheker, listig mit dem Finger winkend. »Aufgepaßt! Und und und! Jetzt kommt nämlich noch etwas! Damit die verehrten Herrschaften nicht glauben, weil mir der Herr Kollega nämlich mein Poem an die Baronin vorgeworfen hat, vom Fasching das, aber jetzt werden's schauen, Herr Kollega, was jetzt kommt! Auch ein Poem! Und und und – auch ein Osterei! Mein Osterei, meine verehrten Herrschaften! Osterei von Florian Jautz, Apotheker und Bürgersmann allhier, in tiefster Ehrfurcht gewidmet unserem Bezirkshauptmann Herrn Baron Furnian! Ja, ja, mein lieber Herr Verwalter, Sie müssen schon dem Herrn Jautz auch ein kleines bescheidenes Erfolgerl vergönnen!« Er setzte sich und sagte geheimnisvoll: »Also stimmen wir zunächst ein schönes altes Lied an! Dann aber aufgepaßt! Das wohlbekannte schöne Lied: O Tannenbaum, o Tannenbaum!« Er sang vor, sie sangen mit. Dann sagte er feierlich: »Jetzt aber kommt die zweite Strophe! Da muß ich jedoch um eine wirkliche Todesstille bitten! Also!« Und er räusperte sich und sang:

»O Furnian, o Furnian!
Unglücklicher Bezirkshauptmann!
Warst gar so g'scheit und jetzt hast nix,
Statt Butterbrot, bloß Stiefelwix!
O Furnian, o Furnian!
Unglücklicher Bezirkshauptmann!«

Der Bezirksrichter gröhlte, hustend und spuckend vor Lachen, die Weiber kreischten, alle sangen es nach, der Apotheker schlug den Takt, die Fräuln Theres hopste dazu durch das Zimmer.

»Noch eine Strophe angenehm?« fragte der Apotheker, bescheiden. Als alle klatschten, verneigte er sich dankend, drückte mit einer edlen Gebärde die Hand auf sein Herz und begann wieder:

»O Furnian, o Furnian!
Schau dir doch nur dein Weiberl an!
Sie ist nicht bloß schon recht zerzaust,
Nein auch moralisch ganz verlaust!
O Furnian, o Furnian!
Schau dir doch nur dein Weiberl an!«

Und mitten in den jauchzenden Lärm hinein begann er zum drittenmal:

»O Furnian, o Furnian!
Das hätt'st du besser nicht getan!
Das ganze Krätzl lacht dich aus,
Jetzt habn wir's wieder rein im Haus!
O Furnian, o Furnian!
Das hätt'st du besser nicht getan!«

Und er rief atemlos: »Ja ja, Herr Verwalter, ja, ja! Was sagen Sie jetzt da?« Und schwitzend, fuchtelnd, schreiend, begann er, von den Lachenden, Singenden, Klatschenden umringt, schon wieder:

»O Furnian, o Furnian!
Ein so ein Menscherl laßt man stahn!
Denn schließlich kommt doch alles auf,
Dann nimmt's den schrecklichsten Verlauf!
O Furnian, o Furnian!
Ein so ein Menscherl laßt man stahn!«

Und im Gewühl und Geheul der Höhnenden, Stampfenden, Johlenden schoß er auf Wiesinger los, um ihn zu umarmen. Da rückte der Verwalter seine goldene Brille fest, hob die rechte Hand und gebot Stille. Der Apotheker schrie: »Der Herr Verwalter hat das Wort! Denn zwei Dichter sind wir hier, zwei! O glückliches Eiland!« Und er nahm die Fräuln Theres und schwang sich mit ihr, singend und lachend, im Staub durch das Zimmer herum, bis die Frau Apothekerin sagte: »Aber Flori!«

Die Frau Bergrätin rückte dicht an den Herrn Postverwalter heran und sagte: »Da sind wir aber wirklich gespannt! Gelt, Hauschka?«

Alle horchten auf, als der Herr Postverwalter Leopold Wiesinger begann, vornehm bloß skandierend, während er das Singen den anderen überließ:

»O Furnian, o Furnian!
Was war das für ein arger Wahn!
Das Weibliche zieht nie hinan,
Verdirbst dir nur den Magen dran!
O Furnian, o Furnian!
Verunglückt ist dein edler Plan!«

In dem ungeheueren Jubel sagte Lackner: »Da reimt sich sogar alles auf dasselbe! Da sieht man halt gleich! In Wien nennens' das einen Artisten! Fräuln Theres, Sie werden sich die Füß ausrenken! Und Sie haben heut schon genug Bewegung gemacht, möcht man glauben. Prost, Herr Bezirksrichter!«

Die Frau Bergrätin sagte zum Verwalter: »Es erinnert sogar an eine Wendung im Faust! Hast du bemerkt, Hauschka?«

Der Bergrat sagte mit seiner höflichen, ermüdeten, traurigen Stimme: »Es ist wahr. Nun ja!«

»Ich hab Kopfweh!« sagte der Verwalter, stand plötzlich auf und rannte hinaus.

»Ös Lausbuam!« brüllte der Bezirksrichter. »Ös Lausbuam glaubt's, daß i der Niemand bin? Oha, oha, mir san a no da!« Er stand wankend auf, seine Maß schwingend, rot blähte sich der Kropf.

»Ovation für den Herrn Bezirksrichter!« schrie der Apotheker, um den Tisch sausend. »Ovation!«

Der Bezirksrichter begann gröhlend, mit dem Krügel taktierend, daß das Bier schwappte:

»O Furnian, o Furnian!
Da hast du wohl was Blöd's getan!
Hast glaubt, du fängst dir einen Speck,
S' war aber nur ein Häuferl Dreck!
O Furnian, o Furnian!
Jetzt kommt das b'soffne Elend dran.«

Und er brüllte noch: »No, was sagt's jetzt?«

In dem Tumult sagte der Apotheker: »Der Herr Bezirksrichter setzt halt immer erst das Punkterl auf das I, so gewissermaßen!«

Die Frau Bergrätin sagte leise: »Nein, das war doch eigentlich schon mehr gemein! Meinst du nicht, Hauschka?«

Der Bergrat legte seine Hand auf die der mißbilligenden Gattin und sagte: »Morgen abend sind wir ja wieder schön zu Haus und sehen mein liebes Herbarium durch.«

Das Fräulein Theres saß erschöpft auf der Ofenbank, mit der Hand ihr Herz haltend, und lachte nur lallend in kurzen, wie schluchzenden Stößen. Plötzlich schrie sie, schrill: »Der Lackner muß auch dichten! Der Lackner auch! Man möcht doch wissen, was der Lackner kann!«

»Der Lackner muß auch dichten!« brüllte der Bezirksrichter, mit dem Krügel aufschlagend. »Lackner! Lackner!«

»Lackner! Lackner!« schrie Herr Jautz, durchs Zimmer surrend.

»Lackner! Lackner!« flog das Geschrei durch den Dunst.

Lackner sprang auf den Tisch und sagte: »Ich bin gerührt. Ich bin bis zu Tränen gerührt. Ich bin entsetzlich gerührt. Aber indem ich für das allgemeine Vertrauen meinen herzlichsten Dank ausspreche, und obzwar ich mir bewußt bin, mindestens ebenso so b'soffen zu sein wie die anderen Herrschaften, bin ich leider nicht begabt genug, um mich berufen zu fühlen, in diesem edlen Kreise, und so weiter und so weiter, ich habe die Ehre!« Und indem er vom Tisch sprang, sagte er noch: »Nein, zum Dichter muß man geboren sein, danke ergebenst!«

»Pfui, Lackner!« brüllte der Öhacker. »Bin ich geboren? Pfui, Toifl! Das Gericht muß sich ja schämen, Lackner! Tuan's ma das nicht an, Lackner! Lackner!« Er torkelte zum Adjunkten hin, der fing ihn auf und sagte leichthin: »Sie wissen ja, wie ich Sie verehre, Herr Bezirksrichter! Wie einen wahren Vater verehre ich Sie! Aber leider, bedaure sehr, ich muß nicht von allem haben.« Er ließ den Schimpfenden in den Stuhl fallen und setzte sich zur Fräuln Theres auf die Bank.

Da fing die Frau Apothekerin mit ihrer tiefen warmen Stimme zu singen an: »O Tannenbaum, o Tannenbaum! Wie grün sind deine Blätter!« Und unbekümmert sang sie das ganze Lied, mit seinen lieben alten Worten.

Da setzte die Frau Verwalterin mit ihrem gicksenden Sopran ein: »O Furnian, o Furnian! Unglücklicher Bezirkshauptmann!«

Da sangen alle durcheinander, jedes eine andere Strophe: »Schau dir doch nur dein Weiberl an! Ein so ein Menscherl laßt man stahn! Jetzt fangt das b'soffne Elend an!«

Der Herr Apotheker Jautz lehnte sich mitten im Singen manchmal plötzlich zurück, schloß die heißen Augen und sagte seufzend: »Das wird heut ein schwerer Gang werdn! Dein lieber Jautz! Es dreht sich schon alles!« Und leise begann er zu summen: »O Furnian, o Furnian!« Und sich schüttelnd, fing er plötzlich wieder zu schreien an: »Blamiertester Bezirkshauptmann!«

Der Doktor Lackner fragte die Fräuln Theres leise: »Geht's dir schon besser?«

Sie sagte mit einem hohlen Lächeln: »Es geht mir schon wieder ganz gut! Das is nur so merkwürdig! Rein als ob dann das Herzerl plötzlich ausgesprungen wär! Und da hängt's nirgends mehr und pumpert nur so herum! Ganz unheimlich wird einem!«

»Weil du auch immer alles übertreiben mußt!« sagte der Doktor Lackner besorgt und nahm heimlich ihre Hand.

»Aber schön is es halt!« sagte sie leise, seine Hand fühlend. »Und was hätt ich denn auch sonst? Unter die B'soffnen da! Soll's halt reißen, wann's nicht mehr mag! Aber schön war's doch!« So saßen sie, Hand in Hand, am Ofen still und hörten den anderen johlen und stampfen zu. Plötzlich fragte sie leise: »Und was wird denn jetzt eigentlich werden? Was wird denn der Furnian tun?« Lackner sagte: »Der arme Kerl!« Sie sagte; »So hübsch hat sie neulich noch ausg'schaut, in dem lila Kleid! Weißt es noch, beim Stelzhamerabend? Und wie sie's da mit ihr getrieben haben! Is schon g'scheiter, 's Herzerl reißt einem zur rechten Zeit!« Er sagte: »Jetzt wird sich's halt zeigen! Einem Menschen, der Kurasch hat, schad't bei uns alles nix! Und wenn's selbst wahr wär, wann er Kurasch hat, macht's ihm nix. Wann er aber keine Kurasch hat, nutzt's ihm nix, wenn's auch tausendmal nicht wahr ist! Aushalten muß er halt! Die Menschen wollen nur probieren, ob einer Kurasch hat. No, besser is's noch, wenn man eine Rente hat; ich bin schon recht froh. Ja, jetzt wird sich's ja zeigen!« Sie sagte: »Der arme Kerl!«

Drei Tage später bekam Klemens einen Brief von dem jungen Baron Chrometzky, seinem Nachfolger bei Döltsch, im Präsidium. Der Freund schrieb ihm, man wundere sich, warum er denn die gebräuchliche Hochzeitsreise bisher noch immer nicht gemacht, er könne sich wirklich einstweilen vom Grafen Sulz ganz gut vertreten lassen, was auch die Meinung des Ministers sei, der ihn schön grüßen und ihm ausdrücklich sagen lasse, daß Italien gerade um diese Zeit am schönsten sei und Ostern in Rom ihm sicher stets ein unauslöschlicher Eindruck bleiben werde. Und schließlich hieß es noch, Döltsch habe ausdrücklich gesagt: »Er soll sich nur gar nicht beeilen! Wenn wir ihn brauchen sollten, werden wir's ihn schon wissen lassen!« Mit diesen Worten habe der Minister das ausdrücklich gesagt, avis au lecteur! Und der Freund bemerkte noch: »Nehmen Sie meine besten Wünsche mit auf die Reise und unterhalten Sie sich so gut als möglich und so lang als möglich! Sie sind schon einmal ein Glückspilz, mein lieber Kle!«

Klemens las immer wieder diesen so freundlichen Brief seines Nachfolgers. Sie wußten es also dort auch schon! Aber natürlich, natürlich wußten sie's! Das war ihm keinen Augenblick zweifelhaft gewesen, dafür hatte man schon gesorgt! Wenn sie's nicht am Ende schon vorher gewußt hatten! Früher als er selbst. Früher als irgendein Leser hier. Früher vielleicht als der Schreiber sogar. Das kam vor, so wurde das doch gemacht! Es war ihm bekannt, er erinnerte sich aus seiner Zeit. War einer unbequem, so ließ man einen Skandal entstehen, draußen irgendwo, man sorgte bloß für das »Material«; um den Unbequemen unmöglich zu machen, woran dann alle herzlichen Versicherungen des aufrichtigsten Bedauerns nichts mehr ändern konnten. Nach dieser Methode machten sie's doch immer! Das war ja sein erster Gedanke gewesen, als er vor drei Tagen das schändliche Märchen las. Und seit drei Tagen saß er jetzt die ganze Zeit und dachte nur darüber nach. Wo kommt das her? Wer kann es sein? Denn hier ist das nicht gewachsen! Was hätte der Reinlich für einen Grund? Was hat er dem dicken Kapuziner denn je getan? Nein, aus Eigenem hätte der sich auch gar nicht getraut. Nein, das kam von dort, er kennt die Methode doch! Aber wer? Wer von seinen Freunderln hat ihm das ausgeheckt? Es konnte sein, daß es eigentlich nur sozusagen zur Übung geschehen war, ohne damit weiter irgendeine Wirkung zu wollen; auch das kam vor, er kannte auch das, es gab manchen, den es einfach reizte, sich auch einmal als Döltsch im kleinen zu versuchen, und man hatte dann noch das Vergnügen, neugierig zuzusehen, wie sich das Opfer dabei benahm, man konnte die Kraft der eigenen List zugleich mit der Courage des Kollegen prüfen. Schließlich kam es dann immer nur darauf an, was Döltsch dazu sagte, der solche Manöver seiner jungen Herrn, wie er's nannte, zuweilen ganz gern sah. Er lachte zuweilen und sagte nur: »Früh übt sich, wer ein Meister werden will!« Und so war's erledigt. Zuweilen aber konnte er sich auch ärgern. Und dann wußte man nie, wen sein Ärger traf, den, der es verübt, oder den, an dem er es verübt hatte, den Täter oder das Opfer, darin war er unberechenbar. Es konnte dem Opfer zum größten Glück ausschlagen, wenn Döltsch eben die Laune hatte: »Nun gerade nicht, nun erst recht!« Aber Döltsch konnte auch sagen: »Wer sich erwischen läßt, hat kein Talent. Es kann jedem passieren, aber es darf einem nicht passieren. Und daran, ob's einem passiert oder nicht passiert, lassen sich die Menschen erkennen, die ich brauchen kann!« Seit drei Tagen dachte Klemens nichts anderes mehr. Was wird nun Döltsch sagen? Jetzt wird sich's zeigen! Was wird Döltsch dazu sagen? Und jene ganze Zeit stand wieder in ihm auf, er sah Döltsch mit seinen unabwendbaren Blicken vor sich, er hörte seine klare, kalte, langsam ins Ohr einsickernde Stimme wieder, die keiner jemals mehr vergaß, er fürchtete seine wesenlos grauenden, wie Steine starren Augen. Jetzt war dies alles plötzlich wieder da! Er schämte sich vor Drut. So durfte sie ihn nicht sehen! Es ging ja sicher auch wieder vorüber, er war doch jetzt nicht mehr wie damals, er war doch jetzt stark! Es ging sicher wieder vorüber, er war nur einen Augenblick wie gelähmt, vor Wut, natürlich vor Wut. Er sagte ihr nichts davon. Er wollte ihr doch auch die Kränkung ersparen. Sie sollte gar nichts erfahren. Denn sie, sie hätte sich ja gekränkt, sie war anders als er, sie verstand das auch nicht, sie hätte nicht geglaubt, daß das doch alles nur von irgendeinem seiner Freunderln angezettelt war. Aber von wem? Von wem? Und: Was wird Döltsch dazu sagen? Jetzt wird sich's zeigen! Und eigentlich wird es vielleicht sogar ein großes Glück für ihn sein; denn er kann daran erkennen, wie Döltsch wirklich zu ihm steht! So ging's seit den drei Tagen in ihm herum. Er wird endlich wissen, wie Döltsch zu ihm steht! Und er braucht das! Er braucht das sehr! Denn seit Wochen ist ihm bang. Er weiß eigentlich selbst nicht warum; er kann es nicht sagen. Er hat nur ein so seltsames Gefühl. Es ist nichts, was sich beim Namen greifen ließe. Aber irgend etwas fühlt er hinter sich, überall; einen unsichtbaren Haß, einen Dunst von Feindschaft. Die Luft ist wie geladen, und manchmal aus einem schiefen Blick, unter einem Wort hervor schlägt's ihm entgegen, wie wenn einem der Wind im Wald aus dem Dunkel einen Zweig naß ins Gesicht schlägt! Ja wie damals! Damals als er hier zum erstenmal durch den Wald ging, er erinnert sich noch so gut! Wie damals war ihm jetzt oft, in diesem Nebel von verborgener Bosheit, den er rings um sich jetzt brenzeln fühlte. Nein, er hätte keinen Feind gefürchtet, nie! Nur dieses Schleichen im Dunkel, überall, der Spuk von bösen Augen, die Dämmerung von überall verstecktem Haß und Hohn war ihm unerträglich. Er mußte endlich wissen, wie Döltsch zu ihm stand! Wenn er seiner sicher war, dann konnte er die kriechende Feindschaft verlachen! Aber wer war denn je sicher des Döltsch? Den konnte man noch so gut kennen, man ging doch immer im Dunkel, wie damals im Wald. Darum war's vielleicht ganz gut, das Osterei des abscheulichen Kapuziners. Denn nun erfährt er wenigstens genau, wie der Döltsch zu ihm steht. Die ganzen drei Tage hat er sich das immer wieder vorgesagt, wartend. Arme Drut! Sie wird gar nicht wissen, was er hat. Die ganze Zeit merkt sie schon, daß er anders ist. Seit er dieses Schleichen von Feindschaft spürt. Und er weiß, daß sie's merkt. Und das reizt ihn gegen sie. Sie schweigt dazu, das reizt ihn nur noch mehr. Er ist oft abscheulich gegen sie. Es ist sehr ungerecht von ihm, aber er kann sich nicht helfen. Wie wenn man radelt, und es geht steil bergan und man hat schon keinen Atem mehr, will's aber den Mitfahrer nicht merken lassen, da ist es auch so, ohne Grund wird man plötzlich mit ihm grob und hat eine Wut auf ihn. Und das ärgert ihn dann und dann ärgert er sich nur noch mehr über sie. Und er läßt es sie fühlen, aber sie sagt kein Wort, sondern macht die gewisse stille Duldermiene, das aber verträgt er gar nicht. Arme Drut! Wie ein trauriges kleines Vogerl, das friert, auf einem kahlen Ast, hockt sie manchmal am Ofen, in ihrer unfertigen unwirtlichen Wohnung mit den vielen großen Zimmern und den paar ausgeborgten Möbeln, das macht ihn ja doch auch so nervös, er muß es gemütlich haben; wie lieb war's in der Lucken oben, in der stillen engen Kammer beim Schmied! Aber in ein paar Monaten müssen sie doch wieder ausziehn, für den Sommer ist das Haus schon vermietet, er hat nur in der Eile noch nichts gefunden; und so steht's erst nicht dafür, sich einzurichten, für die kurze Zeit. Arme Drut! Es quält ihn oft sehr, daß er ihr nicht helfen kann, er fühlt sich dann so schwach. Und das reizt ihn noch mehr, er will's ihr verbergen, er spielt den Lustigen, aber sie merkt, daß er ihn nur spielt. Und sie sagt nichts! Und dieses stille Dulden kann er gar nicht vertragen! Und er rennt ins andere Zimmer, sie haben ja Zimmer genug in dem großen Haus! Da geht er dann hin und her, sie hört ihn und er hört sie, jedes ist allein. Es muß endlich anders werden! Und darum ist das vielleicht ganz gut. Wenn er sich des Döltsch sicher weiß, dann lacht er über allen den ungreifbaren Spuk! So hat er sich's die ganzen drei Tage vorgesagt. Und jetzt ist der Brief ja da! Jetzt weiß er, wie der Döltsch zu ihm steht! Er schickt ihn weg. Ostern in Rom! Und: er soll sich nicht beeilen, man wird's ihn schon wissen lassen, wenn man ihn wieder braucht! Und er kennt das ja, er erinnert sich noch so gut, er kennt doch den Döltsch! »Weggestellt« oder »abgelegt«, hieß es dann. Soweit war es schon! Die Freunderln mußten gut gearbeitet haben, ganz in der Stille, daß Döltsch sich nicht einmal die Mühe nahm, es auch nur zu untersuchen, ihn auch nur zu rufen, um ihn anzuhören, ihn auch nur zu tadeln, es stand ihm nicht dafür! Weggeschickt, abgelegt, ausrangiert; und man wird's ihn wissen lassen, wenn man ihn wieder braucht! Und dafür werden die schon sorgen, daß man ihn so bald nicht wieder braucht! Die guten Freunderln! Ja, Nießner hatte recht, Nießner hat ihn gewarnt, er hat's nicht glauben wollen, Nießner kennt die Gesellschaft! Aber sie sollen sich täuschen! Er ist nicht mehr der fesche Kle, der arglos so durchs Leben tappt! Er wird's ihnen zeigen! Anhören muß ihn der Döltsch. Und dann wird er ihn fragen: »Was wirft man mir vor?« Und dann wird er ihm sagen: »Ja, ich habe eine Frau geheiratet, deren Vater ein ziemlich zweifelhafter Herr war, gut, und vielleicht hat sie, bevor sie die Baronin Scharrn wurde, nicht immer gerade streng bürgerlich gelebt, sie mag immer schon einen gewissen angeborenen Hang zu einer mehr aristokratischen Auffassung der Lebensfreuden gehabt haben, gut, und wenn sie eine Landstreicherin gewesen wäre, wen geht's was an? Und dann wird der Döltsch lachen. Er kennt doch den Döltsch. Er weiß doch, wie der sich freut, wenn einer die Zähne zeigt! Und dann wird er dem Döltsch sagen: Nur zwei Dinge sind möglich, Exzellenz, entweder ich habe wirklich etwas verbrochen, dann muß man mich bestrafen, oder ich bin ungerecht verleumdet worden, dann muß man mich belohnen, um einmal ein Exempel zu geben, damit diesen Herrn endlich die Lust zu solchen Intrigen vergeht, aber Italien, nein, das ist weder eine Strafe noch ein Lohn, Exzellenz, das ist die Frettmichforttaktik des Herrn von Klauer, der sich den Pelz waschen und nicht naß machen will und nie Nein und nie Ja sagen kann, aber den Herrn von Klauer, Exzellenz, mitsamt seiner Taktik, haben wir, wenn ich nicht irre, doch längst pensioniert! Und da wird der Döltsch lachen! Und dann wird ihn der Döltsch mit seinen großen grauen Augen anschauen und wird sagen: »Also was wollen Sie denn eigentlich? Warum schreien Sie denn so mit mir? Wenn's Ihnen dort nicht mehr paßt, suchen Sie sich eine andere Stelle, denken's einmal nach und sagen Sie mir's dann!« Er kennt doch den Döltsch! Und wäre sie wirklich eine Landstreicherin und er ein Abenteuerer wie ihr Vater, was liegt dem Döltsch daran? Eher im Gegenteil! Der hat ihm doch damals gesagt, als er das erstemal unter seinen steinernen Augen stand; »Der Pizarro hat sich auch eine merkwürdige Gesellschaft mitgenommen.« Er wird ihn daran erinnern. Er muß ihm nur zeigen, daß er einer ist, für den es sich dem Pizarro lohnen kann. Und es ist ganz leicht möglich, daß ihn der Döltsch überhaupt nur prüfen will. Läßt er sich wegschicken, so verdient er's nicht besser, wir wollen einmal sehen! Es sieht ihm ganz ähnlich, einen ins Wasser zu werfen, damit sich's zeige, ob er schwimmen kann. Es soll sich zeigen!

Klemens schrieb an den Baron Chrometzky, der Frühling sei hier grade jetzt so schön, daß er gar nicht daran denke, zu verreisen, am wenigsten nach diesem von sächsischen Hochzeitspaaren, Gymnasialoberlehrern und sonstigen minder Gebildeten verseuchten Italien, was er dem Minister zu melden bitte, mit seinem besonderen Dank für die freundliche Fürsorge und der ergebensten Mitteilung, daß er sich übrigens nächsten Freitag das Vergnügen machen werde, selbst beim Minister vorzusprechen, da er ohnedies in Wien allerhand zu besorgen und schon längst den Wunsch habe, seiner Exzellenz manches zu berichten, worüber sie sich gewiß höchlichst amüsieren werde.

Als Klemens den Brief in den Kasten warf, dachte er: »Gerade Freitag! Er soll sehen, daß ich nicht abergläubisch bin! Er hält auf solches Detail. Ich kenne ihn doch! Er ahnt ja nicht, wie gut ich ihn kenne!«

Nächsten Abend kam ein Telegramm des Chrometzky, der Minister erwarte ihn also Freitag.

Nach dem Essen sagte Klemens zu Drut: »Ich muß morgen auf zwei Tage nach Wien.«

Sie konnte vor Schreck kaum fragen: »Was ist denn geschehen?«

Er sagte, in seinem Ton des feschen Kle: »Staatsgeschäfte, Madame! Du mußt dein liebes Naserl nicht in alles stecken.« Und indem er lachend aufstand, sagte er: »Ich gehe noch ein bißchen in die Ahnengalerie eine Zigarre rauchen.« Das große leere Zimmer, in dem er das kleine Bild des berühmten alten Hofrats Furnian aufgehängt hatte, nannten sie die Ahnengalerie.

Er hörte sie nebenan weinen. Es machte ihn ungeduldig. Er konnte das jetzt nicht brauchen. Nachher wird er ihr alles erzählen! Die Furcht der Frauen steckt an.

Sie kam herein und sagte leise: »Ich weiß es doch, Kle!«

Er beherrschte seinen Zorn und sagte: »Was denn? Ich versteh gar nicht!«

Sie sagte: »Man hat mir doch das Blatt geschickt.«

Er lachte lustig. »Ach so, das ist es! Nein, Afferl, darüber brauchst du dir wahrhaftig kein graues Haar in deinem Schopferl wachsen zu lassen. Das gehört dazu. Ohne diese kleinen Aufmerksamkeiten der verehrten Presse geht's einmal nicht ab, wenn man eine gewisse Position hat! Und solang's nicht ärger kommt! Würde, Bürde! Und wenn's noch ärger kommt, liegt auch nichts dran. In einer öffentlichen Stellung darf man nicht wehleidig sein. Aber das verstehen halt Frauen nicht. Es ist mir leid, daß du den Wisch überhaupt gelesen hast. Doch da kann man ja jetzt nichts mehr machen. Aber reden wir nicht mehr davon!«

Sie wendete sich, um wieder in das andere Zimmer zu gehen. Aber an der Türe brach sie plötzlich keuchend aus: »Kle! Gehn wir doch fort! Ich mag das alles nicht, ich ertrag's nicht! Ich hab noch Geld, ein paar Jahre geht's schon und dann wird sich was finden, das ist ja doch auch alles ganz gleich! Ich bitt dich, Kle, komm fort! Dann wird alles wieder gut sein und wie in unserer lieben Lucken! Ich hab ja nie wollen, ich hab ja nie wollen!«

»Afferl!« sagte er ungeduldig. »Was sind das für törichte Sachen? Leg dich schön schlafen und morgen ist alles wieder gut, dein dummer Kopf gaukelt dir nur was vor. Also hörst du? Du sollst schön schlafen gehn!«

Sie stand noch immer starr an der Türe. »Kle! Du weißt ja nicht –! Ich hab dir doch von meinem Vater erzählt und wie wir damals lebten, und wenn das nun alles ausgegraben und alles noch verdreht und verzerrt wird –«

»Wenn der Pfaffe zu frech wird, wird man ihm schon übers Maul fahren! Das laß nur meine Sorge sein. Du hast ja schließlich einen Mann, nicht? Und jetzt geh aber schön schlafen! Ich hab wichtigere Sachen im Kopf.«

»Kle! Wenn du mich je ein bißchen lieb gehabt hast! Ich beschwöre dich –«

Er stampfte mit dem Fuß auf. »Du sollst mich jetzt in Ruhe lassen! Hörst du nicht? Ich kann das jetzt nicht brauchen!«

Ganz still glitt sie hinaus. Die Türe fiel hinter ihr zu.

Einen Augenblick zog es ihn ihr nach. Seltsam traurig war es ihm, wie sie so durch die dunkle Tür ganz still entglitten war. Aber er durfte jetzt nicht weich werden. Die Frauen machen einen nur wehleidig. Er konnte das jetzt nicht brauchen.


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