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Ich möchte jetzt englisch lernen. Von den neuen Dichtern dort erzählt man ganz merkwürdige Sachen. Da muß ich doch selber sehen. Es wird ja nicht so schwer sein. Nur anfangs verdrießt's einen.
Aber wie das schon mit den guten Plänen geht! Man verbummelt's immer. Jeden Morgen, wenn ich aufstehen soll, fällt es mir ein und gibt einen Vorwand, nachdenklich noch etwas im Bette zu bleiben. Den ganzen Tag vergesse ich es. Und abends erinnere ich mich dann, daß wieder nichts geschehen ist.
Neulich treffe ich meinen Freund Breindel. Der kommt mir recht. Der ist ausgezeichnet, wenn man was braucht. Ich habe es oft erprobt seit Jahren. Ich weiß nicht, woher ich ihn eigentlich kenne. Jeder kennt ihn, keiner weiß, woher. Es gehört so zu den selbstverständlichen Kenntnissen. Man kann es sich gar nicht vorstellen, daß man ihn nicht kennen würde – wie wenn ein Wiener den Graben oder den Ring nicht kennen würde: Er erinnert sich auch nicht, woher. Und mein Breindel ist sehr nützlich. Er hat für alles Rat und Hilfe. Wenn man einen seltenen Teppich oder alte Stiche braucht, er findet unterderhand eine billige Gelegenheit. Wenn man eine Reise macht, er gibt einem für jede Stadt die nötigen Adressen. Wenn man das Herz verwaist und einsam hat, er arrangiert das schon. Man kann sich auf ihn verlassen.
Ich erzähle ihm meine englischen Begierden. Natürlich hat er jemanden parat. »Ganz in Ihrem Stil! Wie für Sie geschaffen. Sie werden sich famos unterhalten. Nämlich ein alter Engländer . . .«
Ich verziehe den Mund. Eine junge Engländerin wäre mir lieber.
»Aber Sie wollen doch was lernen!«
»Gerade darum. Die Liebe ist die beste Meisterin. Und wer weiß, was man nicht alles von einer Engländerin lernen kann!«
Er wird ärgerlich. Er wird gern ein bißchen Despot. Er mag nicht, daß man ihm seine Pläne stört. »Hören Sie auf, da gewöhnen Sie sich höchstens ganz gefehlte Ausdrücke an. Wenn Sie dann wirklich einmal nach London kommen und reden so, wirft man Sie überall heraus.«
Da hat er wieder Recht. Und es nützt ja doch nichts, wenn ich widerspreche. Er bildete sich jetzt einmal den alten Engländer ein. Da kann man nichts machen. Meinetwegen. Und vielleicht hat er eine Tochter.
Der Engländer nennt sich Captain Smith. Er heißt eigentlich anders. Seine Familie gehört dem ältesten Adel des Landes. Aber er ist ein bißchen verbummelt, mit den Verwandten durch manches Abenteuer entzweit, ein Zigeuner durch Europa. Breindel rühmt seinen Schliff, seine Kenntnis der Künste, seine Erfahrung im Leben. »O ja, er wird Ihnen riesig gefallen«, meint er. »Es ist ganz Ihr Fall. Gescheit, fesch und total verrückt.«
»Ist er verheiratet?«
»Nein oder eigentlich – das heißt ambulant!«
»Na also, meinetwegen! Anschauen kostet ja nichts. Schicken Sie mir ihn halt einmal!«
Ich wohne bei einer dicken Frau. Sie könnte jünger sein. Sie ist die Witwe eines pensionierten Majors. Sie schnupft, liebt das Lotto und fürchtet sich vor Räubern. Die Tür ist immer doppelt gesperrt und verriegelt. Wer nach mir fragt, wird erst lange peinlich verhört, ob es nicht etwa ein heimlicher Mörder ist. Sie möchte, daß nur Damen zu mir kämen. Ich möchte das auch. Sie glaubt, die sind nicht so gefährlich. Ich glaube das nicht. Übrigens, wenn sie nicht gerade an Mord und Totschlag denkt, ist sie ganz gemütlich. Sie sorgt für einen sehr. Sie scheut keine Opfer. Sie liest sogar meine Werke. Sie liest überhaupt schrecklich viel, den ganzen Tag, französisch, englisch, alles durcheinander. Sie ist früher, glaub ich, einmal Gouvernante gewesen.
Vorige Woche einmal, wie ich nach Hause komme, finde ich sie ganz verzweifelt. Ich rege mich deswegen nicht auf. Ich bin das schon gewöhnt. Wahrscheinlich ist irgendwo in Favoriten wieder ein Tandler erschlagen worden. Dann kann man ein paar Tage mit ihr nicht verkehren. Dann traut sie auch mir nicht mehr. Dann hält sie auch mich für einen heimlichen Räuber.
Sie bringt mir eine Karte und einen Brief. »Ist denn das wirklich ein Bekannter von Ihnen?«
Ich öffne den Brief. Aber erstens kann man ihn überhaupt nicht lesen, und wenn man endlich mühsam einen Satz entziffert, dann versteht man erst recht nichts. Ich sehe die Karte. »Captain Smith.« Aha, mein Engländer! »Der Herr kommt doch hoffentlich wieder?«
»Um Gottes willen!« Sie sieht mich an wie einen Irren. Und jetzt wird ihre Angst zur Wut.
»Nein, alles was Recht ist – aber das geht zu weit. Eher ziehen Sie aus. Es tut mir sehr leid – Sie sind ein sehr solider und achtbarer Herr, aber bevor ich den Menschen noch einmal in meine Wohnung lasse, da ist's mir lieber, Sie ziehen aus. Alles hat seine Grenzen!«
»Ja, aber was ist denn eigentlich geschehen?«
Es dauerte eine Stunde, bis ich es allmählich erfahre. Erst schreit und jammert und weint sie bloß mit immer neuen Eiden, daß der fürchterliche Mensch ihr nie mehr kommen darf. Nur mühsam kann ich es nach und nach so ungefähr erraten. Später kommt dann die Pepi und erzählt mir die ganze Geschichte. Jetzt verstehe ich alles.
Ich war gerade fort, die Pepi räumt das Zimmer auf, da wird geläutet. Der dicken Frau gibt's natürlich gleich wieder einen Stich, ob es nicht ein Attentat ist, und sie horcht. Die Pepi geht hinaus, schauen, wer es ist. Ein spaßiger Herr, der noch nie da war, mit so einem gespitzten Gesicht, aber sonst recht anständig. Sie versteht ihn nicht ordentlich, weil er die Worte ganz verdepscht und vermudelt. Aber endlich bringt sie doch heraus, daß er etwas für mich aufschreiben will, und läßt ihn herein. Er setzt sich an den Tisch, sucht ein Stück Papier und schreibt. Sie nimmt wieder ihren Besen und kehrt ruhig weiter; in solchen Sachen ist sie groß, das geniert sie gar nicht. Nebenan lauscht die dicke Frau. Sie ist schon ängstlich, was der unheimliche Kerl denn eigentlich so lange treibt. Es scheint ihr verdächtig. Man hört durch die dünne Wand jedes Wort.
Plötzlich ruft er die Pepi. »Komm Sie, komm Sie! Sie mussen mich helf! Sagt sich in deutsch: geehrte Herr oder geehrtes Herr?« Und er nimmt ihr den Besen, der ihn stört, stellt ihn weg, zieht sie hin, und sie muß jetzt von Satz zu Satz, von Wort zu Wort entscheiden, aber auch verteidigen und begründen, wie es heißen soll. Er glaubt es ihr nicht gleich. Er fragt drei-, viermal und beutelt den spitzen Schädel, wenn es ihm nicht paßt. Und dann schlägt er immer erst noch was anderes vor, ob es nicht vielleicht auch so geht. Er hat viele Bedenken. Er will durchaus »das Herr« sagen, weil man ja auch das Mädchen sagt und nicht der Mädchen. Ordnung muß doch sein. Und warum will sie durchaus »der Herr« sagen? Dann soll sie wenigstens einen Grund nennen. Aber so bloße Kaprizen läßt er sich nicht gefallen. Sie darf nicht glauben, daß er trotzig und eigensinnig ist; wenn sie ihn erst ein bißchen besser kennen wird, wird sie das selber zugeben, aber es muß doch alles ordentlich erklärt werden. Das kann man verlangen. Eine Sprache, die sich nicht erklären läßt, ist »ein dummes Sprach«. Da wird die Pepi wild und schimpft auf ihn und nimmt wieder den Besen. Er läuft ihr nach und packt sie, stößt mit dem dünnen, langen, harten Zeigefinger in sie und schreit und fleht sie an. Er hat ihr doch nichts getan. Er hat sich doch bloß gewundert. Wenn man sich nicht wundert, lernt man eine Sprache nie. Sie soll sich eher freuen; gerade das ist das beste Zeichen, daß es vorwärts geht. Nur wenn man sich wundert und genau fragt, merkt man sich die Schwierigkeiten. Dadurch darf sie sich nicht abschrecken lassen. Im Gegenteil. Sie wird schon sehen, wie gut es ist. Sie wird schon sehen, wie rasch er lernt. Und er zieht sie wieder an den Tisch und nimmt wieder die Feder und fragt und zweifelt und streitet weiter, mit tausend Einwänden, von Wort zu Wort. Er ist bald eine Stunde da und hat noch nicht drei Zeilen.
Die Geduld der dicken Frau nebenan ist erschöpft; Sie hält sich nicht länger. Es scheint ihr im höchsten Grade verdächtig. Man geht doch nicht in fremde Wohnungen, um sich mit dem Mädchen in der Sprache zu üben. Es ist am Ende nur ein Vorwand. Er will die Pepi bloß vertraulich machen und dann – dann wird er hinterrücks mit dem Dolche über sie fallen. Man kann nicht wissen. Es war alles schon da. Die Menschen sind heute zu schlecht. Und abgesehen davon – es paßt sich doch auch gar nicht.
Und die dicke Frau nimmt ihren ganzen Mut und geht in mein Zimmer. Dem Engländer kommt sie ungelegen. Er erklärt ihr kurz in seinem holprigen und ungelenken Deutsch, daß er etwas an mich zu schreiben hat. Sie antwortet englisch, das sie geläufig spricht, und möchte ihm zeigen, daß es einfacher ist, sich an sie zu wenden. Aber er läßt sie gar nicht weiter.
»Oh, Sie sprechen englisch?«
»Ein bißchen – was man gerade braucht.«
»Oh, das ist schade. Da sind Sie nicht für mich. Ich spreche nicht gern englisch, weil ich schon kann. Ich spreche lieber deutsch. Oh, das ist schwer!«
»Aber jedenfalls ist das Mädchen, das Sie nicht versteht –«
»Oh, das Mädchen ist gut. Schimpf Sie nicht das Mädchen! Das Mädchen ist sehr gut. Ich bin ganz zufrieden.« Und er setzt sich wieder, nimmt die Feder und achtet nicht weiter auf die dicke Frau.
Sie versucht es noch einmal. Aber er läßt sie nicht mehr reden. Er winkt ihr ungeduldig ab. Die Sache ist erledigt. Sie soll ihn jetzt nicht weiter stören. »Sie könn' gehen. Ich brauch Sie nicht. Sie könn' gehen!«
Sie kocht vor Wut. So ein ungezogener Mensch ist ihr noch nicht vorgekommen. Aber sie würde ihm ihre Meinung schon sagen, gehörig, daß er sich's merken sollte – wenn nur, wenn man nur sicher wäre, daß es nicht am Ende ein Räuber ist, der vielleicht absichtlich Streit anfangen will! Das ist halt doch eine bedenkliche Geschichte. Solche Leute tragen heimlich Waffen bei sich. Wer kann denn wissen?
Ich habe mir dann den Captain Smith angesehen, die nächste Woche. Ich bin zu ihm. In meine Wohnung darf er natürlich nicht mehr. Ich kann es der dicken Frau nicht antun. Ich habe es ihr versprechen müssen. Ich verspreche ihr alles, was sie will. Es ist bequemer. Sonst redet sie erst viel. Da gebe ich lieber gleich nach. Man nennt das seine Freiheit und heiratet deswegen nicht.
Aber ich bin zu ihm, in seine Wohnung, einmal gegen Abend. Er macht mir selber auf. Ich nenne meinen Namen. Er freut sich sehr. Es trifft sich gut, daß ich gerade heute komme, weil heute »Seminar« ist. Dreimal die Woche hat er »Seminar«.
Er schreitet mir mit großer Würde voran, wie wenn jemand in einen geheimen Bund eingeführt wird. Die Pepi hat wirklich recht: Alles ist an ihm gespitzt – das schmale, lange, hagere Kinn, die jähe Nase, die wie ein Pfeil aus dem Fall der Miene schwirrt, und hinten starren aus dem kahlen Schädel die paar grauen Härchen wie Stacheln, borstig und steif. Er sticht auch so die Schritte in den Boden.
Wir kommen durch einen engen Gang, mit Kisten, Flaschen und Gerümpel. Er öffnet die schmalen Türen, und ich staune vor einem lieben und traulichen Bilde: Um den Tisch mit Tee und Wurst und Bäckerei sitzen elf junge Mädchen, gerade nicht besonders nobel, aber eine hübscher wie die andere, lachend, plaudernd, scherzend.
Das ist sein »Seminar«. Er stellt mich vor und erklärt es. Wenn er auf der Gasse eine sieht, die ihm gefällt, eine Näherin, Verkäuferin, Putzmacherin, ladet er sie ein, ob sie nicht englisch lernen möchte. Es ist doch viel gescheiter, als daß sie den Abend müßig versitzt oder so mit irgendeinem Fant läuft! Und wer weiß, ob sie es später nicht noch einmal brauchen kann. Sie haben es warm und gemütlich bei ihm, zu essen gibt's auch, er erzählt Geschichten, kosten tut's nichts, und keine kann sich beklagen. Nur geht's natürlich etwas langsam vorwärts – nämlich, so recht angefangen haben sie eigentlich noch nicht, er will sie nicht abschrecken, er muß sie erst allmählich gewöhnen. Vorderhand machen sie erst bloß sein Deutsch nach. Das ist schon auch etwas und bringt sie dem Geiste der englischen Sprache näher. Man darf nichts überstürzen.
»Oh«, sagt er stolz. »Man muß nur praktisch sein. Das ist so schlecht in den Wienern. Sie sind nicht praktisch. Sie haben kein gutes Idee. Deswegen machen sie nicht Geschäft. Ich bin praktisch. Ich hab Idee. Deswegen ich hab auch schon Schuler – oh, eine viele Menge! Nur noch kein Geld. Oh, gar kein Geld!«
Ich komme jetzt fleißig in das Seminar. Gelernt habe ich nichts. Aber ich kann es nur bestens empfehlen.