Hermann Bahr
Leander
Hermann Bahr

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Leander

I

Der Stationschef wurde ungeduldig.

»Bedaure sehr – aber ich kann Ihnen eben nicht helfen«, sagte er, noch höflich, doch nervös, und sah nach der Uhr.

Doch Herr von Handl gab nicht nach. In seiner nonchalanten, ein bißchen gezierten, hochmütigen Weise sagte er: »Aber das gibt's ja nicht. Irgendein Zug muß doch gehen.«

Der Stationschef zuckte die Achseln, rief einem Arbeiter etwas zu und sagte dann noch einmal zu Herrn von Handl, der immer noch unschlüssig dastand: »Haben Sie denn die Zeitungen nicht gelesen?«

Herr von Handl verzog den hübschen Mund: »Ah, was die Zeitungen schreiben!«

»Pardon«, sagte der Chef mit Nachdruck, »ich bitte sehr: es sind unsere amtlichen Mitteilungen, die die Zeitungen bringen.«

Er schien förmlich zu wachsen in dem Gefühl, einer Staatsbahn zu dienen.

»Amtlich«, sagte Herr von Handl geringschätzend, »das kennt man, dann is es schon ganz gewiß nicht wahr –«

Der Chef ärgerte sich. Er hätte ihn gern zurechtgewiesen, aber Herr von Handl war doch zu gut gekleidet. Man muß vorsichtig sein, man kann ja nie wissen. So sagte er bloß: »Sie entschuldigen jetzt – der Dienst!« Und er legte, kurz grüßend, die Hand an die Mütze, ging und ließ Herrn von Handl stehn.

Herr von Handl war wütend. Das war ihm noch nicht vorgekommen! So eine Wirtschaft! Wenn es einmal zwei Tage regnet, kann man nicht einmal mehr nach Ischl fahren – das ist das berühmte System der Verstaatlichung!

Er ging vom Perron wieder in die Halle, sah nach dem Träger, der sein Rad hielt, und rief ihm zu: »Warten's noch ein bissel!« Er wußte nun wirklich nicht mehr, was er tun sollte. Er stand eine Weile und sah dem Trubel in der Halle zu. Immer neue Leute kamen, schrien, drängten sich um die Beamten, gestikulierten und lärmten, überall lagen Koffer, Kisten und Körbe. Die Beamten beteuerten, daß es unmöglich sei; niemand wollte es glauben. Und immer neue Menschen kamen, niemand ging.

Er wollte sich überzeugen, wie denn die Sache eigentlich war, und kaufte sich ein Morgenblatt. Schrecklich! Drei Seiten nichts als Hochwasser! Überschwemmungen in Böhmen, Überschwemmungen im Salzkammergut, Überschwemmungen in Niederösterreich! Eisenbahnunglück bei Amstetten, Eisenbahnunglück bei Seekirchen, Eisenbahnunglück bei Vöslau! Brücken eingestürzt, Dämme gebrochen, überall der Verkehr eingestellt! Es war schrecklich.

Wie sie sich ängstigen würde! Er las die Ischler Telegramme nach: Die Verbindung mit Salzburg unterbrochen, die Verbindung mit Gmunden unterbrochen, Gefahr für die Brücke, die Esplanade unter Wasser, in Gries muß alles delogiert werden! Die arme kleine Frau! Wie sie sich ängstigen würde! Und sie war so ungeschickt und verzagte so leicht! Nun hatte er sie zum ersten Mal eine Woche allein gelassen, zum ersten Mal, seit sie verheiratet waren – und gerade da mußte das geschehen! Es war zu dumm. Sie fürchtete sich so leicht und hatte immer Angst. Es konnte ihr ja nichts geschehen: sie wohnte in der Post, da war man vor dem Wasser sicher. Aber sie würde sich zu Tode ängstigen.

Vor allem wollte er ihr telegrafieren. Er schrieb ein paar Zeilen, die sie beruhigen sollten, behandelte die Sache komisch und versicherte ihr, daß er gewiß in ein paar Tagen, auf irgendwelchen Umwegen, wieder bei ihr sein werde. Bis dahin sollte sie sich gedulden, sich nicht fürchten, sondern sich, in Galoschen und mit dem Regenschirm, alles schön ansehen, um es ihm später genau zu erzählen.

So! Er nahm das Formular und gab es dem Beamten. Der Beamte sah die Adresse an und sagte geschäftlich: »Ischl? Kann nicht expediert werden.«

»Aber man wird doch noch telegrafieren können«, schrie Herr von Handl.

»Nach Ischl nicht, bedaure sehr. Die Verbindung ist unterbrochen. Vielleicht morgen.« Und er schob das Fenster zu.

Herr von Handl stand wieder da. Es wurde immer schöner! »Jetzt möchte ich aber doch sehen«, schrie er den Portier an. Der Portier lächelte freundlich. Herr von Handl schwieg. Er wußte offenbar selbst nicht, was er sehen wollte. »Echt österreichisch«, murmelte er grimmig vor sich hin.

Instinktiv ging er jetzt wieder an die Kassa. Dort hatte es angefangen. Er war zu dem Zug um drei Uhr auf die Bahn gekommen und hatte ein Billett nach Ischl haben wollen. Als er von den Störungen hörte, war er zum Stationschef gegangen, in dem österreichischen Gefühl, daß alles geht, wenn man mit dem Stationschef redet. Aber dieser Stationschef war ein rechter Flegel. Nun wollte er noch einmal mit dem Kassier reden. Der Kassier, ein freundlicher, dicker Herr, mit dem Habitus eines Trinkers, erkannte ihn und triumphierte: »No alsdann! Was hab ich gsagt? Hat Ihnen der Stationschef –?«

»Der Stationschef – ist ein Esel«, sagte Herr von Handl.

Der Kassier freute sich. »No ja! Da laßt man die jungen Leut einen Haufen Prüfungen machen – und am End? Was haben s' davon? Außer, daß sie arrogant werden! No ja!« Er zwinkerte mit den listigen kleinen Augen unter der Brille hervor, drückte diese mit zwei Fingern nieder und lachte. »No, was werden Sie denn also machen?«

Herr von Handl lehnte sich an. Er wollte mit dem Kassier plauschen. Vielleicht ging es doch irgendwie. »Wie lange kann denn die Geschichte dauern?« fragte er.

Der Kassier stützte sich auf. »No, wissen's, das ist nicht so einfach«, explizierte er, »die Sache ist nämlich die: es is ja bei uns alles schlecht organisiert! Wir haben zu viele Leut in den Kanzlein und keine bei der Arbeit, das is es! In der Kanzlei tut niemand was, und draußen fehlt's überall. Man fragt ja jetzt bloß, wieviel Prüfungen einer hat! No, für gewöhnlich geht es gerad, aber wie einmal was is, is das Malheur fertig. Glauben Sie mir: es is nur die schlechte Organisation – nur die schlechte Organisation!« Er drückte wieder auf seine Brille.

»Ich kann mir doch nicht vorstellen«, sagte Herr von Handl, »daß man gleich die ganze Verbindung einstellen muß.«

»No natürlich«, sagte der Kassier.

»Denn«, erklärte Herr von Handl, »nehmen wir an, man kann an drei, fünf, sieben Stellen nicht passieren, so geht man halt ein Stücke zu Fuß, nicht? Und dort sollte halt schon wieder ein anderer Zug warten! Das war doch keine solche Kunst.«

»No natürlich«, sagte der Kassier. »Wenn die Sache etwas organisiert wär!«

»Aber daß, wenn es einmal ein bißchen regnet, nicht einmal der Orientexpreß mehr gehen kann, das ist ja doch eine Schand!«

»Österreichisch!« sagte der Kassier.

Herr von Handl sah auf die Uhr. »Jetzt ist es schon halb fünf, sagte er ärgerlich. »Und ich muß nach Ischl!«

»Sie sind verheiratet?«

Herr von Handl nickte.

»Hat die gnädige Frau wenigstens Galoschen mit?« fragte der Kassier.

»Aber ja! Sie ist nur sehr ängstlich und für eine junge Frau, die noch nie allein war –«

»No ja! Aber wenn sie nur Galoschen hat! Das is die Hauptsach! Ich laß die Meinige nie ohne Galoschen fort. Nur keine kalten Füß, sag ich.«

»Heute ist gar keine Aussicht mehr vorhanden?« fragte Herr von Handl.

Der Kassier zuckte die Achseln: »Ich glaub nicht. Zuerst müssen die Ingenieure einen Bericht an den Oberingenieur machen, dann werden sie morgen erst eine Sitzung im Ministerium halten und dann führen sie vielleicht bei der Gelegenheit geschwind noch eine neue Prüfung ein, das kann man bei uns nie wissen. Also! Aber vielleicht, wenn Sie es mit der Franz-Josefs-Bahn versuchen!«

»Über Budweis nach Linz, meinen Sie!« fragte Herr von Handl.

»Nein, da haben Sie ja nichts davon; dann sitzen Sie in Linz! Aber über Eger – München – Salzburg, das geht!«

»Und dann?«

»Ja, dann!« sagte der Kassier. »No, Salzburg is sehr eine schöne Stadt.«

Herr von Handl beugte sich vor und fragte leise, zutraulich: »Sie können mir wirklich kein Billett geben?«

»I darf net. Es tut mir leid, aber i darf net. Und es nützt Ihnen ja auch nichts, wenn doch kein Zug geht.«

»Nach Valentin wenigstens oder nach Amstetten«, bat Herr von Handl.

Der Kassier zuckte die Achseln. »Leider –«

»Also, es geht überhaupt heute gar kein Zug!« rief Herr von Handl verzweifelt aus.

»Ja, nach Purkersdorf! Wenn Sie wollen! Nach Purkersdorf, fünf Uhr zehn Minuten!«

So geben Sie mir ein Billett nach Purkersdorf!«

»Zweite?«

»Erste, bitte!«

»Sechzig Kreuzer.«

»Ich habe die Ehre.«

»Ich habe die Ehre.«

Der Kassier drückte auf seine Brille und sah ihm vergnügt nach.

Herr von Handl rief seinen Träger und gab das Rad nach Purkersdorf auf.

In der Halle lärmten die Leute sehr. Jeder hatte neue Nachrichten. An der Wien war eine Mauer eingestürzt, im Prater stieg das Wasser, an der Donau wurden die Leute delogiert. Man schrie. Ein alter Herr las vor, was Falb geschrieben hatte.

Herr von Handl saß endlich im Waggon. Es dauerte noch eine Ewigkeit. Es wurde fünf Uhr fünfzehn, es wurde halb sechs. Er war schon nervös. Wenn auch dieser Zug nicht ging? Und er mußte fort. Er mußte nach Ischl. Er mußte einfach. Endlich zog die Maschine langsam an. Langsam, ganz langsam fuhr der Zug aus der Station.

Endlich! Er hatte schon eine solche Wut, daß er sich kaum mehr halten konnte. So eine Wirtschaft!

Nun dachte er erst nach und da mußte er lachen. Es war eigentlich ein Unsinn. Was wollte er in Purkersdorf? War es nicht gescheiter, in Wien zu bleiben, wo er seine gemütliche Wohnung hatte, und geduldig zu warten, bis alles wieder in Ordnung war, wie lange konnte denn das dauern? Vier, fünf Tage, eine Woche, wenn es schlimm war! Konnte er keine Woche mehr ohne sie leben? So verliebt war er? Er hätte das gar nicht von sich gedacht. Es amüsierte ihn. Er hatte nicht gewußt, daß er so leidenschaftlich sein konnte. So lieb war sie ihm in der kurzen Zeit geworden? Er war ganz gerührt und dachte zärtlich an sie.

II

Herr von Handl war jetzt zweiunddreißig Jahre alt.

Er hatte immer angenehm gelebt. Man erinnert sich, daß in den fünfziger Jahren bei uns die Zither das Instrument nach der Mode war, alle Welt wollte damals Zither spielen, und die Handl-Zither galt für die Beste. Ihr Erfinder, der alte Handl, wurde in ein paar Jahren ein reicher Mann. Der Alte hatte auch sonst eine gute Hand: was er begann, glückte, und aus dem unscheinbaren Handwerker, der mit aller Welt so höflich war und sich kaum ein lautes Wort zu sagen traute, war bald ein großer Fabrikant geworden. Als er starb, ließ er seinem einzigen Sohn ein schönes Vermögen und ein glänzendes Geschäft zurück. Der junge Paul war nun freilich nicht der Mann, es weiter zu führen. Er hatte gar keinen Sinn für das Kaufmännische. Er gehörte zu jenen Menschen, die alles ein bißchen können, aber nichts ordentlich. Er zeichnete ganz hübsch, musizierte gern, hatte viel gelesen, machte schöne Reisen, sammelte Alt-Wiener Sachen und hatte gar nicht die Zeit, sich auch noch um das dumme Geschäft zu kümmern, das ja bei dem alten Buchhalter, dem er vertrauen konnte, in den besten Händen war. So kam er denn zwei- oder dreimal die Woche in das Haus und auch da mehr zum Plauschen und weil ihm die ganze Piaristengasse so sympathisch war. Im übrigen ging er seinem Vergnügen nach, auf die Jagd, ins Theater, zu seiner Tarockpartie, doch alles mit Maß, wie es in seiner unleidenschaftlichen Art war, die vieles anfing, gern alles versuchte, aber wenn der erste Eifer gelöscht war, in ihren Launen leicht nachgab. Vor allem liebte er es, bequem zu leben: ein kleines Hauskonzert mit nicht zu schwerer Musik, einen Plausch mit heiteren, jungen Frauen aus den guten Familien, ein Gespräch mit alten Herren, die den Nestroy noch gesehen hatten und von der Therese Krones erzählen konnten, das hatte er gern, und am liebsten war es ihm, an milden Tagen im April oder Mai mit ein paar Freunden und ihren Frauen in die Brühl zu fahren und über die Krauste Linde auf den Anninger zu gehen, wo er dann in dem stillen Wirtshaus seine berühmte Bowle braute. So glücklich war er doch sonst nirgends. Er hatte ganz Europa bereist, war in der Schweiz und am Rhein, in Italien und in Holland, in der Provence und in Norwegen gewesen, aber er fand, daß es in der Brühl doch am schönsten war, oder wenigstens am gemütlichsten. So viel Wald, die sanften Hügel, die kleinen Villen, die komischen falschen Ruinen, das gab ein Bild, das er nie vergessen konnte, und wenn er am weißen Kreuz stand und in das lustige Tal sah, fühlte er sich so froh wie sonst nirgends. Andere Gegenden, pflegte er zu sagen, mögen großartiger sein, aber das ist halt gar so eine gute Gegend. Im Winter hatte er förmlich Heimweh nach ihr, und er konnte es gar nicht erwarten, bis wieder die ersten schönen Tage kamen. Er hatte den Winter nicht gern: auf Bälle ging er selten und machte nicht viel mit, weil er um elf Uhr schon schläfrig wurde. Er war es gewohnt, seine neun Stunden zu schlafen. Oft blieb er abends zu Hause, ließ sich recht schön einheizen und legte sich schon um neun Uhr nieder, um dann noch, während es im Ofen knisterte, lange zu lesen. Er las ziemlich viel, freilich nichts von den neueren Sachen, die ihm zu wenig Handlung hatten und gar soviel herumredeten, das mochte er nicht. Er liebte alte Geschichtenbücher, wo recht viel drin stand, große wilde Sachen und fürchterliche Abenteuer.

Wenn er nichts zu lesen hatte, ordnete er seine Sammlung; da waren alte Zeitungen aus der Wiener Revolution, Theaterzettel, Almanache, Miniaturen und besonders Bilder von Wiener Schauspielern, die ihm eine große Freude machten. Oder er sah auch wieder die Photographien an, die er im Sommer aufgenommen hatte; er war ein recht geschickter Amateur und wanderte fleißig mit seinem Kasten durch den Wiener Wald, bis er einen »schönen Blick« oder auch einen seltsamen Kopf fand, das feiste Antlitz eines Weinbauers oder das lustige Gesichtet einer Kellnerin. Dieser Sport hatte ihm schon viele Freude bereitet, doch hütete er sich auch da, ein »Fex« zu werden, das war ihm in allen Dingen schrecklich. Nur kein »Fex« sein, sagte er immer, der Mensch soll alles betreiben, aber mit Maß, sonst wird es zuwider. Das war seine Devise. So hielt er es immer.

So hatte er es auch mit den Frauen gehalten. Als Knabe war er neugierig gewesen, den Jüngling amüsierten sie, in Paris machte er mit, was dazu gehört: heiß war ihm noch von keinem Weib geworden. Wenn andere erzählten, wunderte er sich oft, wie laut es in ihren Empfindungen zuging. Es mußte eigentlich ganz schön sein, sich so zu berauschen; aber er wünschte es sich doch nicht. Es war doch wahrscheinlich recht unbequem, davor fürchtete er sich sehr. Er hatte sich schon manchmal gedacht, daß es auch seinen Reiz hätte, einmal die ganz große Leidenschaft kennenzulernen. Er war ja kein Pedant. Aber wenn er sich dann ausmalte, daß es ihn ganz aus der Ordnung bringen würde, so sah er ein, daß es doch für ihn besser war, in seiner ruhigen Weise zu leben. Er hatte auch Glück mit seinen Verhältnissen. Sie waren sehr hübsch und spielten sich ohne Aufregungen ab. Sie begannen schnell, weil er ja lustig war und sich traute, dauerten dann in der angenehmsten Weise und schliefen schön langsam wieder ein. Eine Gouvernante, ein paar Damen vom Theater, dann eine kleine blonde Witwe, die eine Tabaktrafik in der Schlösselgasse hatte, das waren seine ganzen Erlebnisse, bis auf ein paar Abenteuer auf Reisen und besonders in Paris. Bei der Witwe war er, mehr faul als treu, drei Jahre geblieben, bis er sich im vorigen Herbst verheiratet hatte.

Das war aber so gekommen: Herr von Handl hatte sich im vorigen Sommer nach Kreuzen begeben, um da eine kleine Kaltwasserkur zu machen. Es fehlte ihm zwar eigentlich nichts, aber er war um seine Gesundheit sehr besorgt und, wie er zu sagen pflegte: schaden kann es auf keinen Fall. Wenn einem seiner Bekannten eine Methode geholfen hatte, nahm er sie auch vor. Er war ein paar Jahre in Karlsbad gewesen, er hatte Moorbäder gebraucht, nun wollte er es mit dem kalten Wasser versuchen. Kreuzen ist ein kleiner Ort für Leute, die kein Geld haben, aber doch gern reich tun; da sind sie unter sich und spielen sich Luxus vor. Herr von Handl fand das zuerst sehr lustig. Später langweilte er sich und bekam eine Wut auf diese schlechten Manieren, die man sich doch eigentlich erst von einer Million aufwärts gefallen zu lassen braucht. Da taten ihm die paar Familien aus der Provinz wohl, die ihm in Wien vielleicht pedantisch vorgekommen wären. So lernte er Ida kennen, die mit ihrem Vater da war. Der alte Herr, ein Gymnasialprofessor aus Ried, machte ihm viel Spaß. Dieser gute Professor Weinlich war nämlich ein Original: er saß den ganzen Tag auf dem kleinen Balkon vor seinem Zimmer und arbeitete, daß er schwitzte, und wenn er spazieren ging, erzählte er in einem, fort von seiner Arbeit. Er schrieb ein Lexikon zum Vergil: Bei jedem Wort sollte da genau verzeichnet sein, an welchen Stellen es vorkam. Er machte das so: er schrieb Zeile für Zeile jedes Wort für sich auf einen Zettel ab und setzte dazu die Nummer des Gesanges und des Verses. Diese Zettel ordnete Ida alphabetisch. Fünf Gesänge waren schon fertig; er sah das als sein Lebenswerk an. Herr von Handl fragte ihn einmal, was die Menschheit davon hätte, zu lesen, wie oft »et« im Vergil vorkommt. Nun, sagte er, sie wird dann etwas wissen, was sie jetzt nicht weiß, und darin besteht der ganze menschliche Fortschritt. Herr von Handl hätte gern gespottet, aber Ida bat ihn mit den Augen so flehentlich, daß er schwieg. Das Verhältnis der beiden war rührend. Wie Ida den Vater bemutterte, der wieder tat, als ob sie ein kleines Kind wäre, das noch keinen Schritt allein gehen könnte, das kam Herrn von Handl komisch und doch heilig vor. Sie band dem alten Herrn bei Tische die Serviette um, sie legte ihm vor, sie schnitt ihm die Zigarre ab; man sah die beiden immer Arm in Arm, und sie trug ihm den Plaid. Auch war sie sehr besorgt, ob es ihm nicht zog; er hatte die schreckliche Angst der alten Österreicher vor dem Verkühlen. Mitten im Walde sagte er oft auf einmal: Hier wäre es sehr schön, wenn es nur nicht ziehen möchte! Dann gab ihm Ida den Plaid noch fester um und so saßen sie, während sie mit ihren dünnen Händchen ihm den Schirm gegen die Sonne hielt, damit er es nur recht behaglich hätte. Herr von Handl war gern mit ihnen. Er fühlte, daß ihm diese Luft von Güte und Zärtlichkeit wohltat, und er gewöhnte sich an das stille Lachen des kleinen Mädchens so, daß er es sich gar nicht mehr denken konnte, ohne sie zu leben. Er hatte zuerst nur vierzehn Tage bleiben wollen, es wurden vier Wochen. Als sie endlich abgereist waren, war er sehr traurig. Er fuhr fort, nach der Schweiz, um auf andere Gedanken zu kommen. Es half aber nichts, alles war ihm zuwider. Es kam ihm vor, daß er noch nie so glücklich gewesen war, wie auf den stillen Spaziergängen mit dem jungen Wesen, das eigentlich gar nicht hübsch war, aber so gut, so gut! Dieses arme, ängstliche und doch tapfere Kind in die Arme zu nehmen, recht zu schützen und durch das Leben zu tragen, das dachte er sich wunderschön. Er wußte nicht, ob das denn eigentlich Liebe war, aber er empfand, daß es ihn sehr glücklich machen würde. So entschloß er sich rasch. Es waren noch nicht vier Wochen vergangen, fuhr Herr von Handl nach Ried und hielt um ihre Hand an, die ihm der Alte, mit manchen Ermahnungen und vielen Lehren, gab. Er hatte es nicht zu bereuen. Seine ruhige, stillen Genüssen zugeneigte Natur konnte sich keine bessere Frau wünschen, und sie lebten nun schon bald ein Jahr in der glücklichsten Ehe, nicht leidenschaftlich, aber zärtlich. Nun hatten sie sich zum ersten Mal auf ein paar Tage trennen müssen. Die Frau des alten Buchhalters war gestorben, und er wollte ihr die letzte Ehre erweisen. Er war Montag zu ihrem Begräbnis gefahren und blieb dann noch in Wien, damit der alte Buchhalter nicht gleich am anderen Tage schon wieder ins Geschäft müßte, sondern sich erst ein bißchen erholen sollte. Nun wollte er wieder zurück, und gerade da mußte das dumme Wasser kommen!

III

An dies alles dachte Herr von Handl, während der Zug behutsam, als traue er sich nicht recht, durch die Vororte fuhr, und er freute sich, so verliebt zu sein. Das hätte er sich gar nicht zugemutet. Er hatte Ida sehr gern, aber es schien ihm doch nur eine stille Neigung zu sein, mehr zärtlich als ungestüm, gar nicht die gewisse große Leidenschaft aus den Romanen. Er hatte jetzt in Wien sogar gefunden, daß es recht angenehm war, wieder einmal allein zu sein, und nahm sich vor, sie im Herbst auf ein paar Wochen zu ihrem Vater zu bringen, während er vielleicht eine kleine Reise machen und sie dann wieder abholen würde. Und nun zeigte es sich plötzlich – war das nicht komisch? Diese Ungeduld, zu ihr zu kommen, diese Leidenschaft! Konnte er nicht die paar Tage warten? Nein, mitten durch das Wasser mußte er! Der reine Leander, sagte er sich, und lachte.

Purkersdorf, alles aussteigen! Ja, was nun? Er war selber neugierig. Dieselbe Situation wie in Wien: es gab keinen Zug. Er ging zum Stationschef. »Ich bitte, meine Herrschaften, ich weiß gar nichts! Ich weiß gar nichts! Ich bitte, ich weiß gar nichts«, schrie der Chef, ein ganz junger Mann, rot vor Aufregung und mit den Händen fuchtelnd. Er rannte wie besessen hin und her, wischte sich mit einem großen, blauen Tuch den Schweiß ab und schrie jeden an, der fragen wollte: »Ich bitte, ich weiß gar nichts!« Herr von Handl sagte, um ein Gespräch anzufangen: »Können Sie mir vielleicht sagen, Herr Stationschef, ob –« Aber der hörte ihn gar nicht an. »Ich bitte«, schrie er, »ich weiß gar nichts! Ich bitte, sich an das Bureau in Wien zu wenden! Wir können hier gar nichts wissen!« Und er rannte schon wieder fort, immer mit dem großen, blauen Tuche wehend. No, mit dem ist nichts zu machen, dachte Herr von Handl; der ist froh, wenn er selber das Leben hat! .

Herr von Handl ging zum Portier, um sein Rad einzustellen. Er gab dem Alten eine Zigarre und begann mit ihm zu plauschen. Immer dasselbe: Von allen Seiten Nachrichten über das Wasser, und es stieg noch immer. Alle Brücken sind weg, die Straßen zerrissen, auf der Bahn rutschten die Dämme. Das kann sechs, sieben Tage dauern. An einen Verkehr mit St. Pölten ist gar nicht mehr zu denken. Schöne Aussichten!

Da bemerkte Herr von Handl einen Zug in der Station: die Lokomotive in der Richtung nach St. Pölten und zwei Wagen dritter Klasse. Die Lokomotive dampft, er sieht einen Heizer, jetzt steigen sogar schon ein paar Leute ein. »Da ist ja ein Zug«, sagte er zum Portier.

»Ja«, sagte der Portier, »das war schon ein Zug, aber da können Sie nicht fahren.«

»Warum denn nicht? Wo fahrt denn der hin?«

»Da fahren die Arbeiter nach Pottenbrunn, wegen der Brücken vor St. Pölten. Es ist Nachmittag telegraphiert worden um sie.«

»Da fahre ich doch mit«, sagte Herr von Handl. »Das ist ja sehr einfach,«

»Das wär schon schön«, sagte der Portier, »aber das dürfen's ja nicht. Der nimmt keine Passagier'«.

»Ich werde mit dem Stationschef reden!«

Der Portier lachte. »Reden Sie lieber nicht mit dem Stationschef! Der weiß gar nichts! Der weiß nie was! Der laßt Ihnen höchstens arretieren.«

»Wenn die Arbeiter fahren, kann ich auch fahren«, erklärte Herr von Handl.

»Aber natürlich!« sagte der Portier. »Sagen's erst nix, fragen's net lang, nehmen's Ihr Radel und steigen's ein! Bei dem Durcheinander kümmert sich kein Mensch. Aber er wird gleich fahren.«

Herr von Handl gab dem Portier einen Gulden, nahm sein Rad und stieg ein. Er setzte sich in eine Ecke und war neugierig. Es stiegen Arbeiter mit Stangen und Hacken ein, es waren Italiener; sie achteten nicht auf ihn. Der Zug fuhr aus der Station, sie fingen zu singen an. Herr von Handl hielt sein Rad und freute sich; als blinder Passagier war er noch nie gereist. Draußen dunkelte es schon, es sah seltsam aus: Schwarze Bäume, Wasser, es regnete in einem fort, und man hörte rauschen. Die Italiener sangen.

Hinter Neulengbach hielt der Zug auf einmal. Herr von Handl öffnete das Fenster. Er hörte den Zugführer mit jemandem debattieren, ob es noch möglich sei.

Dann fuhr der Zug eine Strecke zurück, fuhr langsam wieder vor, hielt noch einmal. Es war doch unbehaglich. Der Regen wurde immer ärger, die Italiener sangen.

Es war neun Uhr, als der Zug plötzlich mit einem Rucke auf der Strecke hielt. Man hörte wieder rufen, der Zugführer verhandelte mit einem Wächter, der, die rote Fahne in der Hand, sich näherte. Hier war die gefährliche Stelle. Der Zugführer schrie, daß die Arbeiter aussteigen sollten. Die Italiener hörten zu singen auf und stiegen aus. Herr von Handl folgte ihnen. Draußen konnte man nichts sehen, es goß. Die Italiener lärmten hin und her, sie wollten wissen, was sie jetzt tun sollten. Ein großer Mann mit einem verwegenen Gesicht, der ihr Anführer schien, beruhigte sie und versuchte, sich mit dem Wächter zu verständigen. Der Wächter wußte nichts; Nachmittag war der Herr Ingenieur dagewesen und hatte ihm befohlen, keinen Zug mehr über die Brücke zu lassen. Sonst wußte er nichts.

Herr von Handl sah nun die Italiener im Kreise um den Anführer treten und ungestüm und, wie es schien, erbittert gegen ihn gestikulieren. Der Anführer entgegnete heftig. Einer aus der Menge machte sich zum Sprecher für alle. Die beiden wurden immer lauter und näherten sich im Eifer, so daß ihre Köpfe sich schon zu berühren schienen. Der Wächter stand dabei und ließ seine Laterne, die er ein wenig gehoben hatte, auf ihre finsteren und leidenschaftlichen Köpfe scheinen.

Der Wächter meinte schließlich, es sei am gescheitesten, nach St. Pölten zu gehen; heute wäre es doch schon zu spät; dort würden sie morgen schon alles erfahren. Er gab ihnen seine Laterne mit, die der Anführer nahm. Die anderen murrten noch, aber sie folgten langsam. Hinter ihnen schob Herr von Handl sein Rad. Er sah den Schimmer der Laterne vor sich, dann die dunklen Gestalten und hörte ihre dumpfen, schweren Tritte. Sie sangen nicht mehr, sie redeten nichts, und rings war in der tiefen Finsternis ein großes Rauschen.

Herr von Handl ging in St. Pölten sogleich wieder zum Stationschef, um sich zu erkundigen, wann er nach Linz fahren könnte. »Ja, heute nicht mehr«, sagte der Stationschef, ein eleganter junger Mann mit etwas hochmütigen Manieren. »Sie haben ja den ganzen Fernverkehr eingestellt, die gescheiten Herren in Wien! Aber unsere Lokalzüge gehen wie gewöhnlich. Uns geniert das bissel Regen nicht. Sie können also morgen in der Frühe um sieben Uhr fahren.«

Herr von Handl dankte, empfahl sich, ging in die Stadt zum »Roten Krebsen«, nahm dort ein Zimmer und setzte sich dann in den Speisesaal. Er war vergnügt. Er fand es eigentlich viel amüsanter, so zu reisen. Es schmeichelte ihm, daß er so tapfer gewesen war, ein gewisser Mut gehörte schon dazu. Was Ida sagen würde! Er wird ja Sensation machen, wenn er plötzlich in Ischl ankommt! Vorderhand war er freilich erst in St. Pölten.

Er sah sich um. Er hatte die Hotels in den kleinen Städten gern, wo die Honoratioren sitzen und der Wirt, der meistens auch Gemeinderat ist, mit einem altväterischen Eifer bedient, den in Wien nur noch die Friseure haben. Er aß, las ein bißchen in den lokalen Zeitungen, beobachtete die Gäste und horchte, was sie redeten. Am Tische neben ihm saßen »Nationale«. Er hatte sich das gleich gedacht und hörte es nun aus ihren Reden. Er bemerkte, daß sie eigentlich alle dasselbe Aussehen hatten, wie von derselben Familie. Er fing an, darüber nachzudenken, wie es kommen mag, daß man den Leuten ihre politische Partei ansehen kann. Er vertiefte sich, indem er seine Nachbarn betrachtete, in diesen Gedanken und meinte, es würde sich verlohnen, mit dieser Vermutung zu experimentieren. Wie der Dieb seinen besonderen Schädel hat und es einen Schädel des Geizes und einen Schädel des Erotikers gibt, warum sollte es nicht ebenso einen liberalen Schädel, einen klerikalen Schädel und einen demokratischen Schädel geben? Es machte ihm Vergnügen, sich das vorzustellen; das müßte ein lustiges Buch geben, mit Illustrationen, gewiß von einem Italiener geschrieben, aus der Schule Lombroso. Er fing an, auf der Speisekarte die Herren von nebenan abzuzeichnen. Es war lustig, wie sie sich glichen. Er nahm jeden Teil besonders auf. Sie hatten alle dieselben scharfen und gekrümmten Nasen, eigentlich recht jüdisch, dasselbe breite, massive und grobe Kinn und dieselbe Art, an einem vorbei, ein bißchen blinzelnd, ins Leere zu schauen. Mit der Zeit bildete er sich ein, daß sie auch alle dieselbe Stimme hatten. So werden Entdeckungen gemacht, sagte er sich.

Es war halb eins, als er endlich schlafen ging.

IV

Um sieben war er wieder auf der Bahn, aber es wurde neun, bis der Zug abging.

»Eine schöne Wirtschaft, was?« rief ihm der Stationschef zu. »Ja, unsere hohen Herren in Wien, das ist schon ein Vergnügen! Ich möchte einmal Minister sein, nur drei Tage lang! Aber da möchten Sie was erleben!«

Herr von Handl ging auf dem Perron auf und ab. Es waren nicht viele Leute da. Ein paar Bauern, die geduldig warteten, Weiber mit großen Butten auf dem Rücken, ein Pionieroffizier mit der Feldbinde. Dieser sprach mit einem geschniegelten jungen Herrn, den alle grüßten und der offenbar von der Bezirkshauptmannschaft war; er wurde »Herr Baron« genannt, hatte großartige Gamaschen und tat sehr wichtig. Er wollte jeden Augenblick etwas von dem Stationschef wissen, der aber, in seiner mokanten Weise, immer gerade keine Zeit hatte.

Herr von Handl ging in guter Laune auf und ab. Er hatte nichts zu versäumen, es war schließlich wirklich gleich, ob er einen Tag früher oder später nach Ischl kam. Ida würde sich ein bißchen ängstigen, aber sie hatte ja den Vater bei sich; der war auch kein Held, doch es konnte nicht so schrecklich sein: der Kaiser war dort.

Er fragte den Portier, was aus den italienischen Arbeitern geworden war. Das war eine lange Geschichte. Sie hatten gestern auf der Bahn schlafen wollen, man erlaubte es ihnen nicht, sie wurden wild, bis ihnen der Stationschef mit der Gendarmerie drohte. Heute waren sie schon um vier in der Früh gekommen, man schickte sie hin und her, aber niemand wollte sie behalten. Der Stationschef wußte von nichts; er hatte nicht um sie telegraphiert, sie sollten zum Ingenieur gehen. Der Ingenieur konnte sie nicht brauchen, sie sollten bei dem anderen Ingenieur fragen, bei dem von der unteren Strecke, in Purkersdorf. Endlich wies man sie von der Bahn zu der Bezirkshauptmannschaft, wo sie erfuhren, daß es Sache der Bahn sei. Dann hätten sie ihren Anführer geprügelt, die Polizei kam, der größte Schreier war verhaftet worden. Um sie nur loszuwerden, hatte ihnen der Chef befohlen, wieder nach Pottenbrunn zu gehen; dort würde man schon auf sie warten. »Diese verfluchten Katzelmacher hätten uns gerade noch gefehlt«, hatte der Chef gesagt. Herr von Handl sah sich den Chef an und mußte wieder an seine Theorie der politischen Schädel denken: der hatte auch jene Nase der »Nationalen«.

Es wurde neun Uhr, bis der Zug abging. Herr von Handl setzte sich in eine zweite Klasse. Er fuhr sonst in der ersten, aber dieses Coupé war gleich hinter dem Tender, das schien ihm gefährlich, man konnte ja doch nicht wissen. Die letzten Wagen waren die sichersten. Ein Herr von etwa fünfzig Jahren stieg zu ihm ein. Er grüßte kurz, warf einen kleinen Koffer in das Netz, seinen nassen Schirm auf den Sitz, öffnete das Fenster, sah hinaus, fluchte, schloß es wieder, zündete sich eine Virginier an, trat heftig das Zündhölzchen aus und lachte höhnisch, indem er den Kopf beutelte. »So ein Pech«, sagte er halb zu Herrn von Handl, wie um ein Gespräch anzufangen. »Aber das kann nur mir passieren. Glück muß man haben!« Er öffnete das andere Fenster, sah hinaus, warf es zu, daß es schepperte, nahm den nassen Schirm weg, schleuderte ihn in das Netz, setzte sich und zündete sich die Virginier wieder an, die immer ausging. Der Koffer rutschte und fiel herab. Er gab ihm einen Tritt und stieß ihn unter die Bank.

»Das Wetter ist wirklich ungemütlich«, sagte Herr von Handl, um etwas zu sagen.

»Ungemütlich?« schrie der andere. »Das nennen Sie ungemütlich? Herr, Sie müssen ein sanfter Mensch sein. Und jedenfalls sind Sie kein Beamter! No, also! Seid sanft wie die Tauben – ja, aber die Tauben sind keine Beamten. Wissen Sie, was ein Beamter ist?«

Herr von Handl lachte. Der andere zündete die Virginier schon wieder an und sagte grimmig: »Ein Beamter ist ein Mensch, der das ganze Jahr sekkiert wird, zehn Tage Urlaub hat, und dann ist so ein Sauwetter. Aber das kann nur mir passieren!« Er zog an der Virginier, drehte sie um, drückte sie, quetschte sie, zog wieder, blies und pustete, brach ein Stück ab und zündete sie noch einmal an. »Andere Leute«, sagte er dann höhnisch, »andere Leute reisen monatelang, aber mir muß das gleich am ersten Tag passieren! Wer Glück hat, hat eben Glück. Passen Sie auf: Das dauert genau zehn Tage, genau. Wie ich wieder im Bureau bin, wird das schönste Wetter sein. Das ist geradeso: Wenn ich eine Tramway brauche, kommt keine. Deswegen habe ich mich ja eigentlich von Wien versetzen lassen, aus lauter Wut. In St. Pölten ist wenigstens keine Tramway.« Er hob seinen Koffer, riß ihn auf und warf alles durcheinander, bis er eine Karte fand. »Sehen Sie: Da!« sagte er und zeigte auf die Karte, indem er den Koffer und die Sachen auf den Boden schob. »Über St. Valentin nach Admont und ins Gesäuse. No, Sie werden zugeben; daß das eigentlich sehr bescheiden ist. Andere Leute reisen nach Italien und es regnet nicht. Aber mir hat schon meine selige Mutter immer gesagt: Du hast kein Glück, du hast kein Glück, du hast kein Glück!« Er wiederholte es dreimal, wie eine Litanei. Dann nahm er die Virginier, die ihm ausgegangen war, haute den Stummel auf die Erde und riß wieder das Fenster auf.

Herr von Handl mußte heimlich lachen. Der Fremde hatte ganz winzige, verkniffene Augen, eine kurze platte Nase, die Lippe und das Kinn rasiert und der »Greislerbart«, der bloß umgehängt schien, schnitt das zornige Gesicht förmlich vom Kopfe ab, so daß es wie eine Larve aussah. Dabei war er keinen Moment still, sondern trat und stieß und stolperte stets mit Getöse herum.

Sie kamen nun ins Gebiet der Pielach. Hier war gestern das große Unglück geschehen, zwischen Prinzersdorf und Loosdorf. Sie fuhren bis an die Brücke. Da mußten, sie aussteigen. Es war schauerlich anzusehen. Von der Brücke blieben nur ein paar Trümmer; die zweite Lokomotive lag unten im Bach, die erste, die noch hinübergekommen war, war aus dem rechten Geleise, auf dem sie fuhr, über das linke geworfen worden und hatte sich da eingebohrt; es sah aus, als ob sie vor Schmerz in die Knie gesunken wäre. Rings Trümmer, die Wand eines Waggons, Eisenstangen, ganz verbogen und wie geschmolzen. An der Seite war ein schmaler Steg geschlagen. Da gingen sie, schaudernd über die Verwüstung, langsam, bei jedem Schritte rutschend, ängstlich hinüber. Das Gepäck wurde nachgetragen. Drüben wartete ein anderer Zug. Es dauerte lange, bis sie wieder fuhren.

Das Bild wurde immer trauriger. Die Wiesen, die Äcker, der Wald, alles schien langsam zu versinken; nur der graue Himmel und Wasser, Wasser. Als sie hinter Melk aus dem Tunnel kamen, war nur noch der schmale Damm in der Mitte, auf dem sie fuhren, während sie rings ein ungeheures gelbes Meer bis an die Berge sahen. Aus ihm ragten Wipfel, Dächer, Stangen mit Drähten, so konnten sie die Ortschaften und die Straßen vermuten. Sie passierten einen Schranken, da plätscherten und spritzten die Wellen schon bis auf den Damm. Es schien immer noch anzuschwellen und rauschte von allen Seiten.

Herr von Handl stand am Fenster. Der Fremde sah hinter ihm hinaus. Dieser war ganz still geworden. Er konnte die geborstene Maschine in Loosdorf nicht vergessen. Leise sagte er immer: »Schrecklich, schrecklich!« Und er schüttelte sich, wie um etwas zu verscheuchen. Er war ganz bleich.

»Was ist denn das?« schrie er plötzlich auf. Herr von Handl horchte und beugte sich hinaus. »Jetzt fahren wir schon ganz im Wasser«, sagte er dann. Hier rannen die Fluten wirklich schon über die Schienen und der Zug schlug Wellen, indem er weiterrutschte, wie ein kleines Dampfschiff.

Der Fremde konnte es gar nicht ansehen. Er setzte sich und schaute vor sich hin, immer leise den Kopf schüttelnd. Man glaubte jetzt das Plätschern schon fast zu fühlen. »Nein, nein!« sagte der Fremde und faltete die Hände. Da pfiff es. Er sprang auf, sah hinaus und hatte schon den Schirm und den Koffer genommen. Der Zug fuhr in Pöchlarn ein und hielt. »Bei meinem Pech, es wäre doch –«, sagte er noch hastig und war schon draußen. Herr von Handl sah ihn rasch in die Station waten.

Herr von Handl staunte, daß er sich noch immer nicht fürchtete. Es fing doch eigentlich jetzt schon an, ungemütlich zu werden. Nichts zu sehen, als diese ungeheure Wüste von Wasser, nichts zu hören, als in jeder Station neue Nachrichten von Zerstörungen, Unfällen und Schrecken! In den Stationen standen die Leute beisammen und erzählten und jammerten. Eine große Angst war auf allen Mienen, und sie wagten nichts mehr zu hoffen. Und es regnete und regnete noch immer. Gescheiter wäre es wirklich, hier irgendwo in einem Wirtshaus zu bleiben und geduldig zu warten. Nach Ischl konnte er doch nicht kommen, davon war ja keine Rede mehr. Die Beamten erzählten, daß es oben noch viel schrecklicher sei: Bei Enns die Brücke gestürzt, die Strecke zwischen Kleinmünchen und Linz nicht mehr fahrbar, und es werde noch immer kritischer, da es, nach den Depeschen, im Gebirge immer noch regnete und die Wasser immer noch stiegen; die eigentliche Katastrophe sei erst noch zu erwarten. War es da nicht dumm, ins Ungewisse zu fahren? Was hatte er schließlich davon? Er war nicht zum Helden geboren, diese Ambition hatte er gar nicht. Durch das Meer zu ihr zu schwimmen, so als ein neuer Leander, war ja ganz ein hübscher Gedanke, solange es eben auf bequeme Weise ging, aber man durfte es nicht übertreiben. Er konnte mit sich zufrieden sein, daß er sich noch immer nicht fürchtete. Aber nun war es genug. Er fühlte doch, daß er kaum länger die Kraft haben würde. Es strengte ihn an, so mutig zu sein. Trotz der Kälte schwitzte er fast, so heftig waren seine Nerven gespannt. Und er war müde, als ob er zehn Stunden über Berge gelaufen wäre, ganz angenehm müde, aber doch unfähig, es noch länger auszuhalten. Wenn man schläfrig ist, kann man nicht mehr Leander sein. Er entschloß sich, in der nächsten Station zu bleiben, in der er nur hoffen könnte, ein halbwegs anständiges Hotel zu finden. Er war so müde.

So kamen sie nach Kemmelbach. Hier ging es nicht weiter: die Brücke über die Ybbs war nicht mehr zu passieren. Herr von Handl stieg aus und erkundigte sich nach einem Gasthaus. Aber in dem Ort war nur eine elende Schenke, ungemütlich und schmutzig, mit Betten, die nichts Gutes versprachen. Der Wirt, der selber über den städtischen Gast nicht sehr erfreut schien riet ihm, lieber einen Wagen zu nehmen und nach Amstetten zu fahren, wo er sich besser unterbringen könne; sein Wirtshaus hier sei nur »für die niederen Leut«. Herr von Handl erfuhr, daß er nicht mehr als anderthalb Stunden zu fahren hätte; die Straße, höher gelegen als die Bahn, sei ohne Gefahr. Er dachte sich, es werde ihm guttun, nach der Aufregung in dem dumpfen Waggon ein bißchen in der frischen Luft zu fahren. Er handelte mit dem Wirt aus, bald stand ein ländliches Zeugl da, von einem schmächtigen Buben mit einem alten und traurigen Gesicht kutschiert. Herr von Handl stieg ein, zog das Spritzleder auf, das Rad war hinten angebunden; das Pferd, ein kurzes schweres Tier, begann zu trotten. Der Weg war besser, als er gedacht hatte; da die Straße sich leise ein wenig senkte, lief das Wasser immer gleich ab. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Die Gegend zeigte sich verwüstet, Bäume lagen entwurzelt da. Schlamm und Kot bedeckte die Wiesen, das Getreide sah wie niedergeritten und von schweren Hufen zerstampft aus. Es hatte zu regnen aufgehört, die Wolken wurden heller, schon schimmerte leise die Sonne ein wenig durch. Der Wind fing frisch zu blasen an. Herr von Handl hatte sich zurückgelegt, ließ die Luft über sich streichen, öffnete den Mund, atmete tief und sog das Frische ein, wie einen guten Trunk. Leise hörte er das Pferd trotten, dem das Eisen am linken Hinterfuß, das sich gelockert hatte, ein wenig schepperte; mit Hü und Schnalzen trieb der Bub es an. Herr von Handl nickte langsam ein. Er wußte noch, daß er im Wagen fuhr, aber alles vermengte sich: Er glaubte, den Fremden, der mit ihm von St. Pölten gefahren war, wieder neben sich schimpfen zu hören und wollte ihn beruhigen, aber da vernahm er die liebe Stimme seiner Frau, die schluchzte, weil er so verwegen gewesen war, und er wurde so gerührt, daß er gar nichts sagen konnte, sonst hätte er auch zu weinen angefangen. Da riß ihn ein Ruck aus dem leisen Träumen, er schlug mit dem Kopf auf die Lehne: das Pferd war vor einem glitzernden Tümpel an der Straße gescheut und auf die Seite gesprungen. Der Bub riß es herum, Herr von Handl fuhr auf, erschrak und mußte sich erst besinnen, da sah er schon die Häuser von Amstetten glänzen. Er freute sich, das Wehen der Luft tat ihm wohl, es war blau geworden, die Sonne hatte etwas Frisches und Luftiges, Neues, in der Ferne läutete es von einer Kirche. Er fühlte sich munter, gar nicht mehr müde, bereit, wieder in Abenteuer zu gehen. Er war entschlossen, nicht in Amstetten zu bleiben; wenn es irgend ging, wollte er gleich weiter. Er wollte doch etwas erleben. So eine schöne Gelegenheit kam nicht wieder. Jetzt oder nie. Er hatte heute gesehen, daß er sich nicht fürchtete. Nun hätte er gern eine wirkliche Gefahr bestanden. Einmal im Leben! Man soll doch alles kennenlernen. Er war neugierig, wie er sich da benehmen würde. Der Gedanke prickelte ihn, das war doch einmal etwas Neues. Er hatte, Lust, sich einmal recht schön aufregen zu lassen vom Leben. Sein Mut hatte sich gut ausgeschlafen, nun fühlte er sich wieder ganz als Leander.

V

Auf dem Bahnhof zu Amstetten ging es laut und lustig zu. Der Orientexpreß, der nicht weiter konnte, lag seit zwei Tagen hier und hatte seine Passagiere ausgeleert. Alle Hotels waren voll, gestern hatten ein paar Familien auf der Bahn in Waggons schlafen müssen. Alles stand den ganzen Tag auf dem Perron herum, um gleich das Neueste zu hören und in der Hoffnung, doch endlich befreit zu werden. Herr von Handl ging auf und ab und betrachtete die Gruppen. Er konnte nichts Besseres tun. Er hatte sich erkundigt, es war ungewiß, ob und wann heute noch ein Zug nach Linz abgelassen würde. Es wurde erst der Herr Ingenieur erwartet. Der hatte das, nach den letzten Depeschen aus den Stationen und auf seine Verantwortung zu bestimmen. Nach dem Fahrplan ging um sieben ein Zug nach Linz, »Hoffentlich«, sagte der Stationschef, »wird es gehen, wir sind ja selber froh! Aber bei Enns schaut es halt bös aus, hör ich. Da um Asten und Kleinmünchen soll es fürchterlich getobt haben.« Der Chef war ein ruhiger älterer Herr, nur ein bißchen müde und schon ganz heiser. Er war seit drei Tagen nicht aus den Kleidern gekommen, hörte jeden geduldig an und hatte immer einen Rat, einen Trost, eine kleine Hoffnung für jeden. Nur manchmal ging er vom Perron geschwind auf das erste Geleise hinüber und sah zu dem Fenster im Erker des Gebäudes hinauf, wo seine blasse junge Frau, ein kleines Kind im Arm, lehnte und, wenn sie ihn erblickte, ihm zulächelte.

Herr von Handl ließ sich einen Kaffee und einen Kognak geben und machte es sich bequem. Es war ein buntes und lustiges Bild. Da saß eine große russische Familie im Kreise, der Vater in einer Zeitung lesend, die Mutter sah müde in den Regen hinaus, die Mädchen lehnten in der dumpfen und trägen Art ihrer Nation herum, in den Sesseln mehr liegend als sitzend, und bliesen Ringeln aus ihren Zigaretten. Ein Engländer ging mit großen Schritten, im Bädeker lesend, auf und ab. Zwei Berliner schrien laut mit dem Portier: »Wir haben doch Rundreisekarten, das muß berücksichtigt werden.«

Herr von Handl rief den Kellner. Er hatte den Kognak gekostet und verlangte einen besseren. Der Kellner entschuldigte sich, daß keiner da sei. Herr von Handl wurde ärgerlich. Einen ordentlichen Kognak sollte man doch auf jeder Station haben. Während er sich beschwerte, trat ein eleganter junger Mann in der Livree der Schlafwagen zu ihm, verneigte sich artig und trug ihm mit Anstand ein Glas von seinem Kognak an: Eine recht angenehme Marke, wie er versicherte, Prunier mit drei Sternen. Herr von Handl nahm gern an, und da er gehört hatte, daß der Kondukteur etwas mühsam deutsch sprach, dankte er ihm französisch. Der junge Mann war sehr erfreut und lachte liebenswürdig. Herr von Handl fand an der heiteren und zierlichen Art des hübschen Parisers Gefallen, bot ihm eine Zigarre an und lud ihn ein, sich an seinen Tisch zu setzen. Der Pariser war es zufrieden und begann, ihm mit Laune seine Erlebnisse der letzten zwei Tage zu schildern, lustig und mit Spott den Zorn und die Angst seiner Passagiere nachahmend und wie er jeden auf eine andere schlaue Manier zu beschwichtigen hatte. Dann beschrieb er Amstetten. Er hatte gestern versucht, das Amstettner Nachtleben zu studieren, man will doch Land und Leute kennenlernen; aber er wäre beinahe geprügelt worden, weil er an ein falsches Fenster geraten war. Er lachte von ganzem Herzen, wie er es schilderte. Das Nachtleben von Amstetten – nein, das war nicht sein Fall. Herr von Handl hörte ihm mit Vergnügen zu. Er hatte seit ein paar Jahren nicht französisch gesprochen und empfand den Zauber dieser eleganten Sprache sehr. Er dachte nach, ob er in Wien unter seinen sämtlichen Bekannten einen einzigen Menschen wußte, der so lustig und so fein, mit so viel Anstand und Laune, so amüsant und so diskret erzählen könnte wie dieser Pariser, der doch gewiß nicht viel gelernt hatte und ein ganz einfacher Mann zu sein schien. Wie der beobachtete, wie der schildern konnte! Er bekam plötzlich eine große Sehnsucht nach Paris. Es war doch ganz eine andere Nation. Dieser Witz, dieses Leben! Alles hatte ganz ein anderes Tempo! Er stellte sich vor: Wenn er dieselbe Reise, mit solchen Hindernissen, in Frankreich gemacht hätte! Dort erlebt man noch Abenteuer! Dort hätte er gewiß – er fing mit offenen Augen zu träumen an. Es ist ja charakteristisch für uns, dachte er, daß man bei uns zwei Tage auf der Bahn liegen kann, ohne eine Sache mit einem weiblichen Wesen zu erleben. Das wäre doch in Frankreich nicht möglich gewesen. Er hatte auf einmal große Sehnsucht. Hier muß man ja Philister werden und verkommen.

Der Pariser erzählte nun von seinem Dienst. Es war ja gerade kein Vergnügen: Immer auf der Reise und ja doch immer in Gefahr; aber er hoffte eben, sich in ein paar Jahren genug zu ersparen, um in Paris ein kleines Geschäft anzufangen, am liebsten einen Handschuhladen, das war sein Ideal. Herr von Handl fragte ihn, ob es denn nicht aber gescheiter wäre, mit seinen Ersparnissen dann lieber in die Provinz zu gehen; mit demselben Gelde könnte er in der Provinz ein viel größeres Geschäft anfangen, zum Beispiel in Amstetten. Der Pariser lachte laut auf, indem er seine kleinen weißen Zähne zeigte, die ihm etwas von einem lustigen Nagetier gaben. Er fand den Witz sehr gut. Nicht in Paris leben! Er konnte sich das gar nicht denken. Es gibt ja doch nichts außer Paris. Andere Gegenden sind auch schön – zum Reisen. Zum Leben gibt es doch nur Paris. Il n'y a que Paris.

Indessen war der Ingenieur angekommen und verhandelte mit dem Stationschef. Er machte ein ernstes Gesicht und schüttelte den Kopf. Es war unmöglich, den Abendzug zu expedieren. Nach den Meldungen der Depeschen konnte er das unmöglich wagen. Die Brücke bei Enns, hinter Asten war die Strecke auch gefährdet, dabei stieg das Wasser noch immer; die Nachrichten aus Passau und Linz waren arg. Der Stationschef wendete dagegen das öffentliche Interesse ein: Es gehe nicht an, den Verkehr noch länger stocken zu lassen, die Stadt sei überfüllt, der Unmut des Publikums kaum mehr zu beschwichtigen – und das gerade in der besten Saison! Der Ingenieur zuckte die Achseln und sagte ruhig: »Das ist ja alles recht schön, aber wenn dann ein Unglück geschieht? Ich kann das nicht verantworten.« Er sah nachdenklich vor sich hin, indem er den Kopf ein wenig senkte und die grauen Stoppeln seines Bartes kratzte. Dann setzte er den Zwicker auf und las noch einmal die Depeschen, die er in der Hand hielt.

Herr von Handl beobachtete ihn. Er schien nicht mehr ganz jung, etwa an die Fünfzig, aber rüstig, sehr männlich und sah wie ein Jäger aus; aber auch unter den Offizieren der Landwehr gibt es diesen Schlag. Er trug einen Rock und kurze Hosen aus grünem Loden, hohe Stiefel und eine Kappe. Beim Gehen bog er die Knie ab, wie jemand, der viel im Gebirge gewandert ist. So schritt er auf dem Perron hin und her, ein wenig vorgebeugt, die eine Hand mit den Depeschen auf dem Rücken, in der anderen den Zwicker, und konnte nicht schlüssig werden.

Der Stationschef, der in sein Bureau getreten war, kam zurück. »Nun wird uns auch noch aus Linz um zwei Maschinen telegraphiert«, sagte er kurz.

»Wozu denn?« fragte der Ingenieur. »Was gibt's denn da wieder?«

»Ich weiß nicht, aber er macht es sehr dringend.«

Der Ingenieur schwieg einen Moment; dann sagte er: »Und?«

Der Stationschef zuckte die Achseln: »Ich kann ja nicht. Wenn Sie sagen, daß es nicht möglich ist!«

Der Ingenieur dachte nach. Dann fragte er: »Haben Sie denn genug Maschinen?«

»Eine Menge.«

»So«, sagte der Ingenieur gedehnt. Er schwieg einen Moment, las wieder die Depeschen und sagte dann plötzlich auf eine fast grobe, gewaltsame Art: »Meinetwegen!«

Der Stationschef sah ihn an. »Das heißt also, daß wir –« sagte er zögernd.

Der Ingenieur besann sich eine Weile, dann antwortete er: »Ja, in Gottes Namen! Lassen Sie den Dreizehner ab, aber mit einem Vortrain: Ich will vorausfahren. Wir werden ja sehen, wie weit wir kommen.«

»Danke, Herr Ingenieur«, sagte der Stationschef.

»Also in einer halben Stunde«, und der Ingenieur ging zur Trafik und kaufte sich Zigarren.

Herr von Handl gab sein Rad auf und nahm ein Billett. Das Wetter schien nun wieder schlecht zu werden, die Wolken wurden schwärzer, es raschelte wie vor einem Sturm. Es war sehr kalt, langsam fielen ein paar schwere Tropfen. Herr von Handl war nervös; er hatte es in den Gliedern wie vor einem Gewitter. Er sah auf die Uhr: es war kaum halb sechs. Er wunderte sich, daß es schon so finster war. Es war aber auf eine besondere Art finster. Diese Finsternis schien an ihrem Rande zu leuchten: sie war gleichsam in einen gelben Ring gefaßt. Es sah aus, als ob es in der Ferne, unter dem Horizont, brennen würde. Herrn von Handl war es unheimlich. Er hatte plötzlich die Idee: so mag es vor einem Erdbeben sein. Die Augen schmerzten ihn, von der strahlenden Finsternis geblendet, er fror und er war sehr ungeduldig.

Um sechs ging der Zug ab; der Ingenieur fuhr auf einer Hilfsmaschine voraus. Der Zug hatte bloß drei Wagen. Es waren keine zehn Personen mit; man traute sich nicht. Herr von Handl saß allein. Er streckte sich aus, schlug den Kragen auf und kreuzte die Arme über der Brust, um sich zu wärmen. Er dachte an Ida; er mußte sie doch furchtbar gern haben! Wie sie schauen wird, wenn er es ihr schildert! Das gute Kind! Jetzt saß sie wohl in ihrem Zimmer und dachte an ihn und hatte Angst. Die Arme! Sie war so furchtsam. Er mußte zu ihr.

Der Regen schlug an die Scheiben, auf das Dach. Es war gar kein Regen mehr, ein Strom schien aus dem schwarzen Himmel zu brechen. Es prasselte, es knarrte, dazu das schwere Keuchen der schnaubenden Maschine, die Räder ächzten, und ein großes Brausen, er wußte nicht, ob es der Wind war oder das Wasser der wilden Bäche. Oft schien der Zug minutenlang zu stehen und schwer zu atmen, um durch den Sturm zu kommen. Dann war es, als ob er aus dem Geleise gehoben würde. Oder man hatte das Gefühl, als wollte er sich ducken und auf die Seite drücken. Von Zeit zu Zeit hörte man die erste Maschine in der Ferne pfeifen, die zweite antwortete schrill; es war, als ob sie sich in der Not zugerufen hätten. Manchmal standen sie lange; der Ingenieur stieg ab, sie mußten warten. Sie wußten nicht, was er eigentlich tat. Nach einiger Zeit hörte man ihn in der Ferne rufen. Dann durfte die erste Maschine ihm folgen. Er stieg ein und sagte: »Es wird schon gehen!« Langsam kam der Zug nach.

So ging es bis Enns. Hier standen sie eine Ewigkeit in der Station. Herr von Handl wollte wissen, was es gab, und öffnete das Fenster. Aber er konnte nichts sehen: wie mit einer Peitsche schlug ihm der Regen ins Gesicht. Es dauerte lange. Dann hörte man schreien, von der Maschine her wurde geantwortet. Die Kondukteure rissen die Türen auf: »Aussteigen, alles aussteigen!« Herr von Handl kroch über die nassen Stufen und rannte hinüber. Es regnete spitze, kleine Körner; das mußte ein Hagel sein. Der Ingenieur hatte eine Kapuze umgenommen, er troff, auf dem Boden war eine große Lacke um ihn. Herr von Handl grüßte ihn, der Ingenieur nickte, sie waren auf einmal alte Bekannte. Der Ingenieur sagte: »Es tut mir sehr leid, aber jetzt geht es nicht mehr. Es ist so schon ein Wunder, daß uns nichts passiert ist. Bei diesem Wetter! Man sieht ja keine zehn Schritte. Man weiß ja nie, ob man nicht gleich im Wasser sein wird. Aber weiter geht's nicht mehr.«

»Aber die zwei Maschinen«, fragte der Stationschef, »um die man mir aus Linz telegraphiert hat?«

»Ihnen auch?«

»Schon dreimal! Es scheint sehr dringend. Und dann die Post! Könnten wir nicht wenigstens die zwei Maschinen mit dem Postwagen ablassen?« Der Stationschef, ein kleiner Herr von großer Geschwindigkeit, schien sehr eifrig im Dienste zu sein. »Es geht nicht«, sagte der Ingenieur kurz.

Der Stationschef ließ sich nicht beirren: »Wir nehmen halt keine Passagiere mit, bloß die zwei Maschinen mit dem Postwagen. Ich möchte nämlich nur nicht – der Herr Ingenieur wissen ja –«

»Ich weiß«, sagte der Ingenieur. »Sie möchten wieder eine Belobung kriegen. Aber dann fahren Sie halt selbst. So ein Heizer ist schließlich auch ein Mensch.« Der Ingenieur wandte sich zu Herrn von Handl. Der Stationschef wurde abgerufen.

»Der Herr Stationschef geht es gar scharf an«, sagte Herr von Handl, der sich über den Ingenieur freute.

»Ja, die jungen Herren sind jetzt sehr strebsam.«

Herr von Handl trank wieder einen Kaffee. Er erkundigte sich, wie weit es nach Linz zu Wagen sei. Er erfuhr, daß man daran nicht denken könnte: die Straße war überschwemmt; gestern war ein Knecht aus der Brauerei, der nach Kleinmünchen wollte, samt den Pferden elend ertrunken. In Linz sollte es gar schrecklich sein. Seit hundert Jahren war die Donau nicht so hoch gewesen. In den »Erzherzog Karl« konnte man nur noch mit Booten gelangen.

Herr von Handl erinnerte sich, daß er auf seiner Hochzeitsreise die erste Nacht im »Erzherzog Karl« gewesen war. Er dachte wieder an Ida. Das arme Kind! Wie sie damals gezittert hatte! Es war ihm so leid um sie gewesen. Die Liebe ist doch eine rohe Sache. Er wurde sentimental.

Der Stationschef schoß aus dem Bureau, er hatte etwas von einer Eidechse. »Bitte, Herr Ingenieur«, sagte er und tat sehr wichtig.

»Was ist denn?«

»Jetzt hat gar der Herr Direktor selbst aus Linz telegraphiert, wegen den zwei Maschinen. Es muß sehr dringend sein. Da werden wir doch – meinen der Herr Ingenieur nicht?«

»Was hat er denn telegraphiert?«

»Dasselbe. Er muß absolut zwei Maschinen haben. Also, wenn die Brücke irgendwie passierbar ist –!«

Der Ingenieur sagte nichts; der Stationschef wartete, dann bemerkte er: »Sonst müßten der Herr Ingenieur halt die Güte haben, selbst an den Herrn Direktor zu telegraphieren. Ich möchte nämlich nicht gern, daß der Herr Direktor, am Ende glaubt – ich für meinen Teil bin bereit, die zwei Maschinen abzulassen. Außer natürlich, wenn Herr Ingenieur erklären, daß die Brücke absolut nicht mehr passierbar ist. Ja dann geht es eben nicht. Aber sie wird vielleicht doch noch passierbar sein; der Herr Direktor ist in diesen Dingen sehr genau.«

Der Ingenieur sagte: »Passierbar! Was heißt passierbar? Passierbar ist eine Brücke immer, außer wenn sie gerade einstürzt.«

»Was darf ich also dem Herrn Direktor telegraphieren?«

Der Ingenieur sah in den grauen Regen hinaus. Die zwei Maschinen standen dampfend da. Der Stationschef hatte den Postwagen anhängen lassen. Der eine Maschinist, ein großer, dicker Kerl, saß und aß etwas aus einem Topfe; der andere, hager und noch sehr jung, stand unten und schien heftig mit dem Kameraden zu sprechen. Der Ingenieur sagte endlich: »Gut, fahren wir.«

Der Stationschef erschrak: »Der Herr Ingenieur wollen selbst –?«

Der Ingenieur sah ihn ruhig an; dann wandte er sich ab. Herr von Handl bat, ihn mitzunehmen.

»Es soll eigentlich nicht sein«, sagte der Ingenieur. »Aber –! Es ist mir sogar ganz angenehm, damit die Maschinisten sehen, daß es keine Gefahr hat. Also, wenn Sie wirklich wollen – ich würde es mir aber an Ihrer Stelle überlegen!«

»Ich habe keine Angst«, sagte Herr von Handl stolz. Er bedauerte, daß ihn Ida jetzt nicht sehen konnte. Der Ingenieur lächelte. Der Stationschef ließ das Signal geben, sie stiegen ein.

»Wir fahren halt bis zur Brücke bei Asten«, sagte der Ingenieur. »Es wird sich ja zeigen.«

Herr von Handl öffnete eine Flasche Kognak, er hätte sie in Amstetten von dem Pariser gekauft. Er bot dem Ingenieur an, der dankte, kostete selbst zweimal und nahm dann erst noch einen ordentlichen Schluck; »wegen der Kälte«, sagte er. Der Ingenieur blieb stumm. Da hatte Herr von Handl das Bedürfnis, über seinen Mut zu sprechen. »Ich staune selbst, daß ich gar keine Angst habe, aber gar nicht. Ich würde mich nicht im geringsten schämen, ich bin nicht Offizier, ich kann so feig sein, als ich will. Ich war auch immer überzeugt, daß ich es bin. Aber ich weiß nicht, woher es kommt: ich spüre nichts.« Er trank wieder Kognak, dann sprach er weiter, er mußte sprechen. »Es ist merkwürdig: Wenn ich zum Beispiel über eine finstere Stiege gehe, fürchte ich mich. Es ist mir überhaupt schrecklich, im Finstern zu sein. Sie sehen, ich bin gar kein Held. Dagegen in einer wirklichen Gefahr, wie jetzt – das kommt vielleicht daher, weil ich Fatalist bin. Wenn man ängstlich ist, dürfte man ja überhaupt nicht auf der Bahn fahren. Wenn es mir bestimmt ist, kann ich mir im Zimmer den Fuß brechen und auf der Gasse fällt mir ein Ziegel auf den Kopf, denk ich mir halt. Ist das nicht das Gescheiteste? Wer kann denn leben, wenn er es ernst nimmt? Lustig sein, das ist die einzige Philosophie. Es lebe das Leben! Wollen Sie nicht noch einen Kognak? Er ist wirklich sehr gut. Wer weiß, wo wir in einer halben Stunde liegen? Da wollen wir doch wenigstens fidel gestorben sein.« Er schwenkte die Flasche und lachte. Er redete ungeheuer schnell. Bald saß er, bald stand er auf, bald ging er durch den Wagen. Er hatte nie einen Postwagen gesehen und bat, ihm die Manipulation zu erklären. Der Assistent, ein bescheidenes, schweigsames Männchen, tat es lakonisch. Herr von Handl hatte tausend Fragen. Der Ingenieur saß in der Ecke und ließ seine kleine hölzerne Pfeife qualmen. Da gab es ihnen einen Stoß, es wurde gebremst, sie hielten mit einem Ruck. Sie waren an der Brücke. »Kommen Sie!« sagte der Ingenieur und stieg aus. Herr von Handl folgte mit dem Assistenten. Sie gingen vor, man sah kaum zwei Schritte weit, alles war in einem dicken Qualm, sie rutschten bei jedem Schritt, der Damm gab nach. »Ihr tut's hier warten, ich werd schon rufen«, sagte der Ingenieur zu den zwei Maschinisten. Diese waren abgestiegen und standen neben ihren Maschinen. Sie antworteten nichts. Der Große nahm bloß die Mütze ab und grüßte. »Also gehen wir!« sagte der Ingenieur. Sie gingen. Herr von Handl trug die Flasche in der Hand, er hätte sie in Gedanken mitgenommen. »Donnerwetter!« sagte der Assistent, der der erste war. Das Wasser spritzte schon über den Rand auf die Brücke. Es konnte unten nicht mehr durch, sondern staute sich. Man sah keinen Pfeiler mehr. Jeden Moment, schien es, mußte die ungeheure Woge über das Geländer schlagen. Der Ingenieur stand in der Mitte der Brücke und sah das furchtbare Schauspiel. Der Gischt stob ihnen ins Gesicht. Sie gingen hinüber. Der Ingenieur blieb stehen, Herr von Handl wartete mit dem Assistenten, keiner sprach. Mühsam sagte der Ingenieur endlich leise zu sich: »Passierbar – passierbar ist sie!« Er wischte sich mit einem großen, geblümten Tuch den Schweiß ab; er war ganz rot. Dann wandte er sich um, hob winkend den Arm und schrie hinüber: »Abfahren!« Drüben regte sich nichts. Der Ingenieur hielt die hohle Hand an den Mund und rief wieder: »Was is denn? Abfahren!« Er dehnte das A und ließ das R schnarren. Aber es wollte sich drüben noch immer nichts regen. Sie sahen bloß den großen Schatten des Zuges, ein rotes Feuer und zwei unbewegliche schwarze Flecken. »Herrgott, ist der Kerl blöd!« sagte der Ingenieur. Sie gingen nun alle drei ein paar Schritte zurück, stellten sich nebeneinander auf, der Ingenieur zählte und auf »Drei« schrien sie, so laut sie konnten, jede Silbe betonend: »Ab-fah-ren!« Der Ingenieur winkte dazu mit seinem Tuch. Dann horchten sie. Eine Weile blieb es still. Sie sahen nur die zwei schwarzen Flecken sich bewegen. Endlich schien der eine sich etwas zu nähern und nun hörten sie, hell und hart durch den Nebel: »Nein!«

»Was is?« schrie der Ingenieur.

»Nein«, klang es wieder.

»Das verstehe ich nicht«, sagte der Ingenieur, »was da geschehen ist.« Er kehrte um, Herr von Handl und der Assistent gingen mit. Als sie in der Mitte der Brücke waren, konnten sie die zwei Maschinisten sehen. Sie standen unbeweglich da. »Also was is denn?« schrie der Ingenieur ungeduldig. Da wandte sich der Große langsam um und schlich, wie ein alter Hund, zu seiner Maschine. Aber der andere fuhr los: »Und i fahr net, i fahr net! Machen S', was Sie wollen: i fahr net! Das is der reine Mord, Herr Ingenieur! Ich hab Weib und Kind z' Haus. I tu's net. Unsereiner is ja a a Mensch!« Er zitterte, seine Stimme war rauh, er schrie gewaltsam und fuchtelte mit den Armen, ohne den Ingenieur anzusehen, indem er mit dem Tuch mechanisch an der Maschine rieb, als ob er das nur so nebenbei sagen würde. Er redete immer hastiger, immer schneller. Dabei keuchte er vor Müdigkeit und Angst, seine Augen stierten, das Gesicht war ganz gelb. »Unsereiner is doch a a Mensch. I verkauf mei Leben net – wegen die paar Netsch! I hab Weib und Kind z' Haus! Des kann man von kein Menschen verlangen!« Er sagte in einem fort dasselbe und schrie immer lauter.

Der Ingenieur hatte sich seine Pfeife angezündet, jetzt sagte er ruhig: »Also vorwärts! Das wär das Neueste, daß man jetzt die Herrschaften erst fragen müßt, ob es ihnen gefällig ist.«

Der Große, der schon wieder auf der Maschine stand, sagte ganz leise: »Herr, es is schwer.« Große Tränen rannen ihm über die schwarzen Wangen.

Der Ingenieur wurde ungeduldig: »Das is der Dienst! Der Rothschild hat's besser.«

Der Große sagte nichts mehr; er wischte sich das Gesicht ab, schneuzte sich und sah stumm in den Regen, der wieder heftiger wurde. An der Brücke hörte man das Wasser tosen. Es prasselte und knatterte und knallte.

Aber der andere schrie: »Und i tu's net, i tu's net, i tu's net! Ich hab Weib und Kind z' Haus. Sollen s' mi fortjagen!« Seine Stimme schlug um, er weinte. »Sollen mi nur fortjagen!«

Der Ingenieur trat vor ihn hin und fragte: »Wollen Sie fahren oder nicht?«

Der kleine Maschinist schüttelte den Kopf. »Man kann's von an Familienvater net verlangen«, sagte er flehentlich.

»Feige Bagage!« schrie der Ingenieur.

Da fuhr der Kleine auf, als ob man ihn geschlagen hätte. Er schien dem Ingenieur förmlich ins Gesicht zu springen. »Feig! Ah, da war man dann feig, wann man ka Viech ist! Wer is feig? Sagen S' dös noch amal! Wer is feig? Sie haben leicht reden: Sie schaffen bloß an. Warum fahren denn Sie net? Fahren Sie! Sie möchten schön zu Fuß gehen, gelten S'? Weil man ja do net waß! Fahren Sie! Zeigen Sie, daß Sie net feig sein. Wann Sie fahren, fahr i a! Aber dös laß i mer net sagen, daß i feig bin!«

Der Ingenieur hörte ihn an, klopfte seine Pfeife aus und stieg dann gelassen auf die erste Lokomotive. »In Linz reden wir weiter«, sagte er. »Vorwärts!«

Der kleine Maschinist sah den Ingenieur erschrocken an. Er blieb noch einen Moment stehen und konnte es nicht gleich begreifen. Dann stieg er auf, ohne ein Wort mehr zu reden.

Der Assistent stieg in den Postwagen. Herr von Handl zögerte noch. Er hätte eigentlich ganz gut über die Brücke gehen können. Der Ingenieur sah ihn an, er sagte nichts, aber Herr von Handl fühlte, was er von ihm erwartete. Er wollte sich nicht beschämen lassen; gerade in einem solchen Falle, dachte er sich, müssen die »intelligenten« Menschen den »manuellen« ihre Überlegenheit zeigen. So ging er zum Postwagen. Er hatte Mühe, sich zu bewegen. Wie wenn einem der Fuß eingeschlafen ist, so war sein ganzer Körper; wahrscheinlich von der Nässe, dachte er.

Es dauerte noch zwei Minuten, bis sie fuhren. Der Assistent hatte sich in die Ecke gesetzt und deckte die Stirne mit der Hand zu. Herr von Handl war froh, daß er nicht sprach. Er hätte jetzt nichts sagen können; beim ersten Wort würde er zu weinen anfangen, so heiß hatte er es in der Kehle. Er zwang sich, bloß immer an den Ingenieur zu denken. Den bewunderte er. Solche Helden hatte die Gegenwart und man wußte gar nichts von ihnen!

Er fing wieder an, das Verhältnis der »intelligenten« Menschen zu den »manuellen« zu betrachten und wurde stolz auf sich. Dieser Arbeiter, der doch die Pflicht hatte, dachte an Weib und Kind und war feige, während der Ingenieur und er selbst, er, der gar nicht verpflichtet war und ganz gut über die Brücke gehen konnte – nun begriff er erst, was der kategorische Imperativ ist. Im öffentlichen Interesse, sozusagen als ein Exempel für das Volk, sein Leben zu wagen, wie er es jetzt tat, das war mehr als aus Liebe durch das Meer schwimmen, wie Leander. An diese Gedanken klammerte er sich an.

Es pfiff, nun fuhren sie endlich. Langsam, ganz langsam krochen die Maschinen, man wäre schneller gegangen. Jetzt kamen sie auf die Brücke. Man hörte das Wasser brüllen. Herr von Handl trat an das Fenster; von da sah es aus, als ob der Strom mit dem Rande schon in gleicher Höhe sei. Das Wasser schien wie ein Ungetüm an der Brücke zu hängen und sich an dem Geländer heraufzuziehen: schon sah man seine bösen Augen funkeln, gleich würde es sich herüberschwingen. Herr von Handl schrie auf und taumelte. Jetzt spürte er, daß er Angst hatte. Er hatte eine entsetzliche Angst. In der Mitte der Brücke hielt der Zug auf einmal und man hörte schrill pfeifen, fünfmal, sechsmal, immer kürzer und immer greller, in die Nacht hinaus, wie wenn jemand erwürgt würde und noch aufschreit. In seiner Todesangst stieg Herr von Handl auf die Bank, er wollte klettern, um nur dem Wasser zu entfliehen. Es war aber nichts, jetzt fuhren sie wieder. Immer wurde so schrecklich gepfiffen, offenbar wollte der Maschinist sein Entsetzen betäuben. Aber jetzt mußten sie ja gleich da sein. Es dauerte ewig. Noch ein Stoß, noch ein Krach und immer das entsetzliche Pfeifen! Herr von Handl setzte sich neben den Assistenten und hängte sich ein. Es tröstete ihn, die Wärme eines Menschen zu spüren. Der Assistent war ganz eingesunken, er kaute an einer kalten Virginier und hatte die Augen zu. Es schien ihm wohl zu tun, daß sich Herr von Handl an ihn lehnte, er rückte zu ihm. So saßen sie Arm in Arm und hörten sich atmen. Mit der linken Hand wischte sich Herr von Handl die Augen aus, da flimmerte es so. Er sagte sich, daß er ja nicht aus Angst weinte, sondern er dachte an Ida und sah sie schon an seiner verstümmelten Leiche und hörte sie klagen. Was sollte aus dem armen hilflosen Kinde ohne ihn werden? Aus Erbarmen mit ihr weinte er, sie tat ihm so furchtbar leid! Er stellte sich sein Begräbnis vor: Hier in der Nähe, in Asten, nur ein paar Leute, der Priester mit den Ministranten, die arme Frau und ihr Vater, die Freunde waren jetzt alle auf Ferien, dazu glänzte die Sonne lieb und still, wie sie auf dem Lande über die Dörfer glänzt, und eine leise Glocke läutete in der Ferne, es war zu traurig! Er mußte wieder an Leander denken, der hatte es auch büßen müssen.

Da gab es ihnen einen Stoß, sie prallten zusammen und schlugen sich die Köpfe an, Herr von Handl schrie auf, der Assistent wollte zum Fenster, aber schon sausten sie wie besessen dahin: sie waren drüben.

»Wir sind drüben«, sagte Herr von Handl ganz leise. Der Assistent nickte bloß. Herr von Handl öffnete das Fenster. »Drüben sind wir«, sagte er noch einmal und seine Stimme war plötzlich lustig geworden. »Aha, schaun Sie, wie der jetzt frech wird! Jetzt kann er rennen. Der reine Orientexpreß! Das sind auch Helden, die Herren Maschinisten! Da waren halt wir zwei – was?« Er lachte, klopfte den Assistenten auf die Schulter und rieb sich die Hände. Er war so aufgeregt, daß er nicht sitzen konnte. Er rannte wie in einem Käfig hin und her, trommelte an den Scheiben, redete, lachte, gestikulierte. Der Assistent sagte kein Wort, er kauerte noch immer in der Ecke und biß an seiner kalten Virginier. Sie wurden so gerüttelt, daß sie sich anhalten mußten, mit Getöse flog der Zug. Herr von Handl trommelte mit den Füßen im Rhythmus; wie sie fuhren. Auf einmal fing er zu singen an: »Margarethe, Mädchen ohnegleichen!« »Merken Sie nicht?« sagte er dann, »der Zug singt! Passen Sie einmal auf! ›Mar-ga-rethe, Mädchen oh-ne-gleichen!‹« Er teilte die Silben nach den Stößen des Zuges ab und klopfte dazu. »Hören Sie? Der Zug fährt genau im Takt! Das ist sehr spaßig.« Und er sang laut: »Ich liebe dich, erhöre mich – wenn nicht, so laß es gehn!« An den Refrain hängte er sich an: »Wenn nicht, so laß es gehn; wenn nicht, so laß es gehn!« Er sang es bald drohend, bald traurig, bald spöttisch, immer im Takt der Fahrt.

So kamen sie in Linz an.

VI

Nachdem sich Herr von Handl bei dem Ingenieur bedankt und von dem Assistenten empfohlen hatte, nahm er sein Rad, gab es dem Portier und trat in die Restauration.

In der Nacht ging noch ein Zug, er konnte bis Attnang kommen. Die Station sah seltsam aus, da waren ganze Berge von Kisten und Körben und Schachteln, man konnte kaum vorbei. In der Restauration war eine große Tafel, da waren die Störungen aufgeschrieben: keine Verbindung mit Salzburg, Unglück bei Straßwalchen; keine Verbindung mit Ischl, nur bis Gmunden; keine Verbindung mit Wien, außer über Budweis. Schöne Situation, dachte Herr von Handl.

Er war aber ganz zufrieden. An diesen Tag konnte er sich erinnern. Das war doch einmal etwas, er hatte endlich etwas erlebt. Immer im Schlafwagen von einem Hotel zum anderen reisen – das hatte er jetzt satt. Aufregungen, Gefahren, Abenteuer, da fühlte man sich doch erst. Seit langer Zeit war ihm nicht so wohl gewesen. Er hätte springen mögen vor Vergnügen. Er fühlte sich übermütig wie ein Student. Er war angenehm nervös, herrlich nervös.

»Heute könnte ich einen dummen Streich machen«, dachte er vergnügt, und er sah sich im Saal nach einem »Objekt« um. Es waren eine Menge Leute da, Fremde und Linzer. Er fing auf dem Tischtuch zu zeichnen an: einen Kanonikus, der ihm vis-à-vis saß, er sah wie ein Hecht aus, dessen Mama sich in einen Frosch verschaut hat; eine elegante Linzerin mit Zugstiefeletten; den Zahlkellner, der ein Wiener sein mußte, er ließ in jedem Schritt die Nostalgie der Großstadt merken.

Dann fiel ihm ein, daß er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Er wollte etwas bestellen, er hatte aber keinen rechten Hunger. Er rief den Kellner und fragte ihn, was er essen sollte. Aber das wollte er alles nicht. »Geben Sie mir eine Portion Kaviar!« Kaviar war keiner da. Er ärgerte sich. Der Kellner erklärte ihm, daß um diese Zeit der Kaviar schlecht ist. Er hatte aber gerade auf Kaviar Appetit. Der Kellner schlug ihm einen Nierenbraten vor, der auch sehr gut sei; von der Niere, mit Gurkensalat. Nein, wenn es keinen Kaviar gab, wollte er eine Linzer Torte. Die gab es auch nicht. »Ja, was gibt es denn?« schrie er gereizt. »Warum sagt man denn dann Linzer Torte, wenn man sie nur in Wien kriegt? Geben Sie mir eine Salami! Ich habe überhaupt keinen Hunger, ich will nur ein bißchen naschen!« Dazu bestellte er sich eine Flasche Medoc und eine Chartreuse. Die Chartreuse war gut. »Lassen Sie mir die ganze Flasche da!« Er erinnerte sich an seine Pariser Zeit der berühmten Mischungen, Champagner mit Bier, Absinth mit Chablis, und goß etwas Chartreuse in den Wein. Er dachte freilich, daß es ihm vielleicht nicht gesund war, aber an einem solchen Tag! Man lebt schließlich nur einmal! Und er war heute gerade in der Stimmung. Schade, daß er keinen Menschen hier kannte. Er hätte gerne gehörig gezecht.

Nach einer Stunde hatte Herr von Handl einen netten, kleinen Schwips. Wenn er beschwipst war, wurde er immer sehr gut. Er hätte dann alle Menschen beschenken mögen und weinte leicht, aber es war ein freudiges Weinen, von Milde und Liebe. Weil sonst gerade niemand da war, rief er einen alten Mops zu sich, der hinter der Kredenz lag, einen scheußlichen Köter, streichelte ihn und war mit ihm zärtlich. Einer alten Frau half er einen Koffer tragen, einem Kinde kaufte er Zuckerln. Dabei summte ihm immer noch die »Margarethe« in den Ohren. Er hatte gar nicht so viel getrunken; eigentlich war er schon betrunken gewesen, als er begann: von der Angst. Auch hatte er ja fast nichts gegessen. Es macht nichts, sagte er sich vor; heute kannst du dir schon was erlauben, heute wollen wir lustig sein! Und er pfiff so laut, daß der Kanonikus, der immer noch aß, verwundert aufsah und lächelte. Das freute ihn, er nahm sein Glas, neigte es grüßend gegen den Kanonikus und trank ihm zu. Dem alten Herrn schien das zu gefallen: er zog sein Kapperl, winkte auf eine fromme Art mit der Hand und grinste über das ganze Gesicht; sagen konnte er nichts, weil er den Mund voll hatte. Herr von Handl fand das sehr nett. »Den Geistlichen tut man auch viel Unrecht«, dachte er sich.

Jetzt mußte er sich aber doch umsehen, wann eigentlich sein Zug ging. Der Kellner beruhigte ihn: Der Zug stand schon da, mußte aber warten, bis der von Budweis kam; der hatte gewiß wieder eine Stunde Verspätung, und es wurde ja abgerufen. Herrn von Handl konnte das schließlich gleich sein, wann er heute nach Attnang kam, eine Stunde früher oder später. Wenn er nur morgen früh in Gmunden war! Von da wollte er auf dem Rad oder zu Fuß nach Ischl, das würde ein Triumph sein! Er hätte nur gern gewußt, wie lange es noch dauern konnte, bis der Zug von Budweis kam. Er hätte dann vielleicht noch ein bißchen in die Stadt gehen können, in ein Tingl-Tangl. Es gab in Linz doch gewiß ein Tingl-Tangl, das mußte zu fidel sein. Er versuchte, sich die Mädchen vorzustellen; sie waren gewiß recht arm und traurig und hatten verschossene grüne Mantillen um, das dachte er sich besonders rührend. Sie hatten sicherlich Mantillen um, und zwar grüne, er hätte wetten mögen. Schade, daß er nicht hingehen konnte! Er wäre jetzt in der Stimmung gewesen, sich recht rühren zu lassen.

Es regnete nicht mehr, der Mond sah durch die Wolken. Herr von Handl bezahlte, ließ sich noch eine Flasche einpacken und trat auf den Perron. Es war ihm heiß, er wollte in die frische Luft. Sein Zug stand drüben auf dem letzten Geleise. Er stieg in die erste Klasse ein und belegte einen Platz. Dann ging er vor dem Zuge auf und ab. Er bemerkte nun erst, daß er doch recht betrunken war. Er taumelte sogar ein bißchen, die vielen Lichter sprangen um ihn her und schienen ihm ihre Zungen zu zeigen. Wenn nur der dumme Zug endlich schon gekommen wäre! Er wurde ungeduldig. Er hatte eine große Unruhe, es trieb ihn hin und her, er sehnte sich so. Nun war er schon fast dort, nun hielt er es kaum mehr aus. Morgen war er endlich bei ihr. Die arme, kleine Frau! Was mochte sie in diesen zwei Tagen gelitten haben! Sie war so ängstlich. Morgen, sagte er sich, morgen! Aber dann wollte er sie nie mehr allein lassen, nie mehr! Er hatte ja gar nicht gewußt, wie lieb er sie hatte. Jetzt fühlte er es erst. Er hatte sie unaussprechlich lieb. »Ida«, sagte er leise vor sich hin, »meine süße, dumme, kleine Ida, oh, ich hab dich gern!« Er hätte weinen mögen, so lieb hatte er sie.

Er ging noch immer auf und ab. Der ganze Zug hatte nur fünf Passagiere: die alte Frau, der er früher geholfen hatte, ein paar Studenten, einen Herrn mit einer goldenen Brille, der das »Vaterland« las, und dann sah er jetzt, als er vorkam, im zweiten Waggon ein Mädchen am Fenster sitzen. Von der Decke schien das Licht auf ihre blonden Haare, das Gesicht war im Dunkel. Er wollte wissen, ob sie hübsch war. Er trat vor den Waggon, zündete seine Zigarre an und hob das brennende Hölzchen ein wenig, wie eine Kerze. Sie hatte ein feines, mokantes Näschen, machte aber beleidigt die Augen zu. Doch blieb sie am Fenster. Er ging bis zur Lokomotive, kehrte um und kam langsam zurück. Sie regte sich nicht und behielt die Augen zu. Sie war nett gekleidet und trug ein Plastron mit einer Krawatte, was ihr etwas von einem Knaben gab. Er ging nun mehrere Male von ihrem Waggon zur Lokomotive und von der Lokomotive zu ihrem Waggon und blieb immer eine Weile bei ihr stehen. Sie regte sich noch immer nicht und hatte die Augen zu, aber von der Seite schien sie doch ganz leise ein wenig zu blinzeln und er fand es hübsch von ihr, daß sie doch am Fenster blieb. Freilich hatte sie eine kleine Falte auf der Stirn zwischen den Brauen, als ob sie böse wäre, aber sie schien nur oben so streng zu sein, auf den Mund hatte sie vergessen, der lächelte fast. Es mußte auch ein armes Ding sein, das man bei diesem Wetter in der Nacht allein auf der Eisenbahn fahren ließ! Er war schon wieder gerührt. Als er das fünfte Mal zur Lokomotive kam und umkehrte, sah er sie nicht mehr. Nahm sie es ihm doch übel? Es war ja frech von ihm, nun tat es ihm schon leid, er hatte sie nicht kränken wollen. Er wollte sie nicht mehr so anglotzen, das schickte sich wirklich nicht. Wie er wieder an den Waggon kam, schielte er nur so ein bißchen hin. Da sah er, daß sie noch immer am Fenster war, nur lehnte sie nicht mehr, sondern stand aufrecht, ein paar Schritte zurück. Ihre Büste war voller, weiblicher, als er gedacht hatte. Nun hatte sie die Augen nicht mehr zu. Sie waren klein, grau und fidel. Sie hatte ihr Sacktuch in der Hand, hielt es vor den Mund und hustete leise. Da fuhr eben der Zug von Budweis ein, der Kondukteur rief. Herr von Handl lief geschwind in sein Coupé, nahm die Flasche, die man ihm eingepackt hatte, stieg aus, rannte zum zweiten Waggon und trat ein. Sie sagte nichts, sondern setzte sich und er setzte sich neben sie. Da pfiff es auch schon und sie fuhren. Nun sei aber auch einmal fesch, sagte er sich, da sie ganz allein im Waggon waren, bog sich zu dem Mädchen und küßte es auf den Mund. Er war aber ganz erschrocken, weil sie sich gar nicht wehrte. Sie ließ sich küssen und rührte sich nicht. Er küßte sie mehrere Male, dann wurde es ihm unheimlich. In seiner Verlegenheit nahm er sich eine Zigarette heraus und hielt ihr die Tasche hin. Sie nahm eine und zündete sie an seiner an. Er sah nun, daß sie sehr hübsch war: nicht groß, recht zierlich und noch ganz jung. »Wo fahren Sie denn eigentlich hin?« fragte er, um doch endlich etwas zu sagen.

»Wels«, sagte sie. Sie sprach es »Wölß« aus, mit einem dumpfen, gedehnten »ö« und einem sehr scharfen »ß«; und sie stieß ein bißchen mit der Zunge an.

»Ah, bravo!« antwortete Herr von Handl lebhaft. Es schien ihn riesig zu freuen. Er wußte selbst nicht, warum er so tat.

»Sö auch?« fragte das Mädchen.

»Nein, ich fahr nach Attnang.«

»Aha«, sagte das Mädchen.

Dann schwiegen sie. Herr von Handl hätte fast vom Wetter angefangen, aber das war doch so dumm, daß er sich ärgerte. Da er nichts fand, nahm er ihre Hand und tatschelte sie, dann ihre Wange und den Hals, bis sie schrie: »Aber net kitzeln! Net!« Nun tat er es erst recht, sie balgten sich ein wenig, und sie sagte: »Sie san aber a Schlimmer!« Da war er geschmeichelt.

Er hatte ja gar keine Absichten, aber es machte ihm Spaß, daß es so schnell ging. Es gibt eben Männer, dachte er sich, die doch bei allen Frauen Glück haben! Bei den Damen vom Theater konnte er meinen, daß es seine Routine war, aber eine Welserin! Darauf durfte er sich etwas einbilden! Es müßte eigentlich lustig sein, eine kleine Welserin verliebt zu machen.

»Hübsche Haare haben Sie!« sagte er und streichelte sie.

»Net wahr?« sagte das Mädchen erfreut. »Früher waren's braun, aber blond steht mir halt doch viel besser. Und es is nicht einmal so teuer, nur ein bissel fad, alle Tag die Wascherei!« Herr von Handl wunderte sich.

Das Mädchen war merkwürdig. Es schien doch, daß er ihr gefiel; offenbar, sonst hätte sie nicht –! Aber dabei war sie so ruhig. Fürchtete sie sich denn gar nicht? Er hätte doch gewünscht, daß sie etwas mehr verwirrt gewesen wäre. Mit den Welserinnen kennt man sich auch nicht aus.

Offenbar war sie etwas dumm. Für unschuldig hielt er sie nicht gerade – Mädchen, die nachts allein in der dritten Klasse fahren, nein! Aber man kann unverdorben sein, ohne unschuldig zu sein. Wie das auf dem Lande schon geht! Es ist doch alles viel naiver als in der Stadt; auch die Mädchen haben, sozusagen, eine bessere Luft. Er kam sich eigentlich neben ihr ganz verrucht vor: Don Juan in Wels. Er hatte Mitleid mit ihr. In der Stimmung, in der er heute war, hatte er so leicht Mitleid.

Was konnte sie eigentlich sein? Sie war so nett gekleidet – das konnten sich in Wels doch höchstens die Töchter des Bürgermeisters erlauben, aber die ließ man doch kaum allein in der Nacht reisen; oder sie war aus der Familie eines kleinen Beamten, vom Bezirksrichter vielleicht; aber färbt man sich da die Haare blond? Die Frau eines Offiziers wäre nicht in der dritten Klasse gefahren; und sie sah auch gar nicht wie eine Frau aus.

»Radeln Sie, Fräulein?« fragte er plötzlich.

»Das dürfen wir ja nicht, das ist ja das Dumme«, antwortete sie.

»Was?« sagte Herr von Handl erschrocken, »das Radeln ist in Wels verboten?«

»Na«, sagte sie. »Die anderen können schon radeln, nur wir net.«

»Wer?«

»Wir halt«, sagte sie und lachte.

Jetzt wurde er neugierig. Das intrigierte ihn, aber sie schien nichts mehr sagen zu wollen. Sie stand auf, machte das Fenster zu, setzte sich dann wieder, glättete ihr Kleid und sah in ihrer ernsten Art vor sich hin. Er mußte sie erst zutraulich machen.

»Wie heißen S' denn eigentlich, schönes Mäderl?« fragte er und nahm wieder ihre Hand. Er fand selbst, daß er noch immer nicht den rechten Ton hatte. Wenn es am Ende doch die Tochter des Bürgermeisters war!

»No, raten S' amal«, sagte sie.

»Mizi«, sagte er schnell.

»Ich bin ja doch keine Kellnerin«, sagte sie verächtlich und machte ein hochmütiges Näschen.

»Also Anastasia!« Er wollte ihr schmeicheln.

»Das gibt's ja gar net«, sagte sie.

»Ja, dann weiß ich's nicht.«

»No so schaun S'! Wie werd ich denn heißen? Wie heißt man denn halt?«

Er zögerte. »Anna«, sagte er dann schüchtern.

»Ich bitt Ihnen!« sagte sie überlegen. »Lini! No, das ist doch net so schwer!«

»Lini!« rief er aus.

»Lini«, wiederholte sie. »Aber natürlich.«

»Das ist ein lieber Name, aber Sie sind mir noch lieber.« Er fand, daß er noch immer nicht den Ton hatte. Er rückte also zu ihr, legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Sie sind so lieb, wirklich! Und die herzigen Augen, die Sie haben!« Er küßte sie auf die Augen, ganz leise und zärtlich. Da fühlte er, wie sie zitterte. Er sah sie an: Ihr Gesicht war sehr ernst geworden, fast feierlich. Sie senkte das Köpfchen, schaute ihn nicht an und atmete schwer. Er legte ihr die Hand auf die Stirne und fragte: »Linerl! Hast mich ein bisserl lieb?« Sie sagte nichts und saß ganz starr da. »Linerl! Geh!« Er wollte sie beim Kinn nehmen, um das Köpfchen zu heben. Da beugte sie sich auf seine Hand, preßte sie an ihre Lippen, küßte sie mit Leidenschaft und er fühlte ihre heißen Tränen rinnen. »Aber Linerl!« sagte er ganz erschrocken. »Aber was haben S' denn, Fräulein?«

»I bin eine Gans«, sagte sie rauh, stand auf und wischte sich das Gesicht ab. Sie trat an das andere Fenster. Er konnte es sich gar nicht erklären.

Nach einer Weile setzte sie sich wieder zu ihm und sagte in ihrer gewöhnlichen Weise: »Jetzt sin mer gleich in Wels!«

Er schwieg. So saßen sie ein paar Minuten. Plötzlich fragte er: »Sagen Sie mir, Fräulein Lini, was sind Sie eigentlich?«

Sie lachte ordinär. Sie schien auf einmal eine ganz andere Stimme zu haben, als sie jetzt sagte: »No, was werd ich denn sein? – Haben Sie's denn noch nicht gemerkt?« Sie sah ihn trotzig, fast feindselig an. Er schwieg. Nach einer Weile hörte er sie leise flehentlich sagen: »San S' nit bös!«, und sie fing bitterlich zu weinen an. Er hätte am liebsten mit ihr geweint.« Er hatte solches Mitleid mit allen Menschen. Es fiel ihm ein:

Mahadöh, der Herr der Erde,
Kommt herab zum sechsten Mal,
Daß er unsersgleichen werde,
Mitzufühlen Freud und Qual.

Er bequemt sich hier zu wohnen,
Läßt sich alles selbst geschehn.
Soll er strafen oder schonen,
Muß er Menschen menschlich sehn.

Das hörte er bei sich. Aber er konnte nichts sagen. Doch sie sah an seinen Augen, daß er nicht bös war.

Der Zug fuhr in Wels ein. Sie schneuzte sich, zog den Schleier herab und öffnete. Schüchtern sah sie sich an der Türe nach ihm um. Er gab ihr die Hand. Sie behielt sie, zauderte und sagte dann leise: »Bleiben S' doch heut in Wels, bleiben S' in Wels!« Es klang so flehentlich.

Es waren nur fünf Minuten Aufenthalt. Sie stand vor dem Waggon, ihre kleine Tasche in der Hand, und sah ihn bittend an. Er hörte noch immer ihre arme Stimme, wie sie früher gesagt hatte: »San S' net bös!«

Es waren nur fünf Minuten Aufenthalt.

Mahadöh, der Herr der Erde, dachte er sich.

Er blieb in Wels.

VII

Als Herr von Handl am nächsten Morgen um vier nach Attnang fuhr, war er in einer recht bösen Laune. Er schämte sich. Er konnte es ja selbst gar nicht glauben, war denn das möglich? Er mochte nicht daran denken. Er streckte sich in dem leeren Coupé aus und hätte gern geschlafen. Aber es ging nicht. Sein Kopf war wüst, es flimmerte ihm vor den Augen und er hatte ein leises Stechen in den Schläfen. Im Waggon war es so dunstig; er öffnete das Fenster. Da fror ihn. Es war recht unbehaglich und er dachte: Mahadöh und Leander, beides, ist zuviel.

Er versäumte übrigens nichts; der gestrige Zug ging doch nur bis Attnang, dort hätte er auf diesen warten müssen, es war also eigentlich gleich. Das tröstete ihn ein bißchen. Einen wirklichen Schaden hatte seine Frau nicht. Und er nahm sich fest vor, nicht mehr daran zu denken; jetzt konnte er es doch nicht mehr ändern. Er war einfach betrunken gewesen; das gilt ja doch nicht.

Er betrachtete die Gegend. Auch da hatte das Wasser gewütet. Er erinnerte sich, was er gestern gesehen hatte, und verglich es. Er mußte jetzt achtgeben, er sollte doch dann in Ischl alles erzählen. Es ist ungemütlich, wenn man ein schlechtes Gewissen hat, fand er. Gestern war er so stolz gewesen, als Leander; jetzt freute es ihn gar nicht mehr. Der Leander hatte es halt auch leichter, im Meer schwimmen keine Welserinnen herum. Das kam alles nur von seinem guten Herzen! Er mußte immer die Menschen beglücken. Was hat man schließlich davon? Einen Kater.

In Attnang hörte er, daß man heute schon bis Ebensee fahren konnte. Er war froh. Jetzt, in dieser Laune, über das Gebirg nach Ischl zu gehen! Von Ebensee waren es doch nur noch zwei Stunden. Wenn er nur schon dort wäre! Wenn er nur endlich wieder bei ihr war! Ihre liebe, leise Stimme hören, in die treuen Augen sehen, die guten Finger fühlen, dann waren diese dummen Sachen gleich vergessen. Er sehnte sich sehr nach ihr.

In Ebensee stieg er aus und nahm sein Rad. Es war in Ordnung, er pumpte es auf, dann erkundigte er sich. Man sagte ihm, er könne auf der Straße nicht fahren, aber es werde auch oben auf der Sohle kaum gehen; gescheiter sei es, das Rad hier zu lassen. Er wollte aber nicht. Auf dem Rade dachte er wenigstens an nichts anderes, zu Fuß würde es zu melancholisch sein. Er schob also durch den Ort, dann konnte er auf der Sole bis Steinkogl fahren, da mußte er auf die Straße; oben war der Weg aufgerissen, die Röhren der Solenleitung lagen entblößt da. Nun wurde es schwierig. Die Decke der Straße war weg, er fuhr auf dem harten und steinigen Grund. Manchmal mußte er absteigen und, das Rad tragend, durch das Wasser waten oder auch, wenn es tief war, erst über die Wiese hinaufklettern, bis er, hier über einen Zaun steigend, dort durch Gebüsch kriechend, mühsam passieren konnte. Er plagte sich sehr. Keuchend, schwitzend, todmüde kam er endlich in Weißenbach an. Hier wollte er ein wenig rasten. Er sah aus wie ein Räuber, er mußte sich doch wenigstens die Hände – waschen und sich etwas kämmen. Während er es tat, dachte er: Der Leander muß übrigens auch immer gut ausgesehen haben, nahm es die Hero nicht so genau? Warum spricht sich der Dichter darüber nicht aus?

Er setzte sich dann in die Laube vor dem Wirtshause und ließ Wein kommen. Die Kellnerin, eine kleine flinke Person mit heiteren Augen, die sehr gesprächig war, erinnerte ihn wieder an Wels. Den ganzen Weg hatte er nicht daran gedacht! Es war zu dumm: gerade jetzt vor dem Wiedersehen mit ihr! Hoffentlich wird sie so erschrecken, daß sie meine Verlegenheit gar nicht merkt; damit tröstete er sich.

Dann fragte er sich, warum er eigentlich so verlegen war. Ja, warum? Das hatte gar keinen Sinn. Was war denn schließlich geschehen? Er hatte auch einmal ein kleines Abenteuer gehabt – nun? Wurde seine Liebe dadurch schlechter? Daß er Ida liebte, bewies er durch diese Fahrt! Andere Männer saßen in Wien, schimpften und warteten. Er hatte sein Leben gewagt; es war ihm nichts geschehen, aber das konnte er ja vorher nicht wissen,. Das war wohl sicher, daß man eine Frau sehr gern haben mußte, um sein Leben für sie zu wagen. Wenn nun die menschliche Natur so ist, daß einem, der wirklich liebt, doch solche Sachen passieren können – nun, er hatte die menschliche Natur nicht gemacht. Es war traurig, aber er konnte nichts dafür. Es fiel ihm ein, daß es der Witwe von Ephesus auch so gegangen war.

Er zahlte und fuhr weiter, wieder auf der Sole. Hier war der Weg jetzt ganz gut. Er sah auf die Traun, alle Brücken waren weg, an die Ufer waren Trümmer, Balken, Bäume geschwemmt, auf der Bahn drüben lagen Telegraphenstangen, umgeworfen, Felsen und Hölzer. Das Wetter hatte sich aufgeheitert, die Sonne kam heraus. Er fuhr gemächlich, sah herum und mußte immer an die Witwe von Ephesus denken.

Im Brantôme hatte er ihre Geschichte gelesen. Als ihr Mann gestorben war, konnte sie sich nicht trösten, schreiend und weinend ging sie mit der Leiche und war von seinem Grab nicht wegzubringen. Sie hatte ihn zu sehr geliebt, sie konnte ohne ihn nicht mehr leben; da lag sie und wollte sterben. Aber es begab sich, daß um dieselbe Zeit ein Verbrecher gehängt worden war, und zu seiner Leiche stellte man einen Soldaten hin, damit sie nicht gestohlen würde, wie das wohl von den Verwandten zu geschehen pflegt. Dieser Soldat hörte die Witwe weinen, ging zu ihr, um sie zu trösten, und tröstete sie gleich auf die beste Art. Indessen kamen wirklich die Verwandten und stahlen den Verbrecher. Als der Soldat genug getröstet hatte, bemerkte er es und fing zu jammern an, denn er fürchtete sich, bestraft zu werden. Da sagte die Witwe: »Komm, wir wollen meinen Mann ausgraben und an den Galgen hängen, dann wird niemand bemerken, daß der Verbrecher gestohlen worden ist.« Und sie taten es.

Nun also, sagte sich Herr von Handl. Diese Witwe hat ihren Mann wirklich geliebt, aber die menschliche Natur ist so. Kann ich sie ändern? Ich möchte ja gern, daß wir anders wären. Dies wäre viel besser. Aber leider bin ich nicht der liebe Gott. Und er fuhr stolz in Ischl ein.

Ida weinte, alle Leute bewunderten ihn, und der alte Herr machte eine lateinische Ode auf den neuen Leander.

 


 << zurück weiter >>