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Frau Marie saß und sann. Ihr war bang. Und dies alles tat ihr weh.
Und den hätte sie einmal heiraten sollen! Das war der Wunsch des Vaters. Undankbar bin ich, dachte sie, wirklich undankbar gegen das Schicksal, davor hat es mich doch bewahrt! Und sie lachte. Frau Professor! Und »immerhin« und »wie gesagt« und »womit ich andererseits«! Und so das ganze Leben! Nein. Sie war wirklich undankbar. Sie hatte doch wenigstens gelebt! Einmal wird man eben alt. Früher, später, darauf kommt es nicht an. Jetzt war der Franz an der Reihe. Nein, sie klagte nicht, sie hätte nicht tauschen mögen. Was wußten denn die? Das Hütl schief, den Hals frei, die Knie nackt, wie auf dem Bild dort, so sah sie ihn, lachend und singend und die Zither schlagend und neckend und spottend, und die Menschen wurden froh und es war hell, was wußten denn die? Ein verbummelter Student, hatte der Vater gesagt. Der liebe gute Vater, der es halt nicht besser verstand! Was wußten denn die? Aber dann sollte der Franz nur auch so verbummeln! Ja, das wollte sie! Ihr ganzer Trotz war wieder da. Aber leise war ihr bang.
Und sie dachte weit zurück. An das stille Leben mit dem alten Vater. Und er sammelte Spieldosen und sie hatten einen Kanarienvogel und abends kam der Herr Major Klemm; und Allerseelen fuhren sie nach Grein, wo die Mutter begraben lag; und an schönen Sonntagen manchmal hinaus; und Herr Rechnungsrat hin und Herr Rechnungsrat her, das war die Hauptsache; und so Jahr um Jahr und das sollte Leben sein. Und dann vermieteten sie das kleine Zimmer und Herr Samon zog ein und er gefiel dem Herrn Rechnungsrat sehr. »Das ist kein solcher Springerl,« sagte er; »die heutigen jungen Leute sind ja lauter Springerln!« Herrn Samon aber fand er gediegen. An alles erinnerte sie sich noch so genau. Nur das fiel ihr auf, an sich selbst konnte sie sich nicht erinnern. Sie wußte gar nichts mehr von sich. Was war denn damals mit ihr? War sie froh? War ihr weh? »Wenn das Mädl nur nicht so bockig wär', ein verstocktes Mädl!« pflegte der Vater zu sagen. Das hatte sie noch im Ohr, ganz deutlich, mit dem knurrigen Klang seiner alten Stimme. Aber es gelang ihr nicht, sich vorzustellen, wie sie damals war. So viele Jahre! Wie verging die Zeit? Kränkte sie sich? Sehnte sie sich? Den ganzen langen Tag, so viele Jahre; und abends kam der Herr Major Klemm, sie sang ein Lied, Herr Samon begleitete; und manchmal an einem Sonntag hinaus. Aber das war alles nur, wie man sich an einen alten Traum erinnert. Nein, sie hatte sich nicht gekränkt, sie hatte sich nicht gesehnt, nein, gar nichts. Sie stand geduldig wartend da, das Leben erwartend. Denn, das wußte sie, das konnte doch nicht das Leben sein! Deshalb war ihr alles so schwer und sie war träge und der Vater nannte sie verstockt, denn dies hatte ja doch alles keinen Sinn, alles war unnütz und es half nichts, solange das Leben noch nicht da war. Nur warten, die Geduld nicht verlieren, es muß ja kommen. Plötzlich wird es in der Ferne pfeifen und schnaubend ist der Zug da und sie steigt ein, in den Zug des Lebens! Und brausend fort und hinaus, über alle Berge! Denn hier war es ja nicht, das konnte das Leben nicht sein! Nein, Herr Samon nicht. Der Vater verriet ihr, Herr Samon würde ihr einen Antrag machen. Es klang so komisch! Aber sie glaubte das gar nicht: er hätte doch sonst schon etwas gesagt. Aber der Vater belehrte sie, daß man dies nicht tut, bevor man seiner Frau ein Heim zu bieten hat. Diese Worte wußte sie noch genau. Ein Heim! Ganz feierlich hatte der Vater das gesagt. Aber es reizte sie gar nicht. Nein, hinaus, fort! Und dann versank sie wieder und der eine Tag hieß Montag und der nächste Dienstag, aber sonst war kein Unterschied; und sie wartete.
Und dann er! »Ein verbummelter Student,« sagte der Vater. Aber er lachte und sagte: »Der Vater hat ja recht!« »Aus dem wird nichts,« sagte der Vater. Und er lachte und sagte: »Nein, aus mir wird nichts, ich bin schon genug!« Und er verteidigte sich nie. Er lachte und sagte: »Da bitte sich bei meinen Herrn Eltern zu beschweren. Ich kann nichts dafür!« Und später noch, als sie schon verheiratet waren und es ihnen manches Mal recht schlecht ging und ihr der Mut sank, und sie fragte dann ängstlich: »Solltest du nicht doch vielleicht versuchen –«, da ließ er sie niemals ausreden, sondern sagte: »Ich weiß nicht, was ich sollte, und ich frage nicht, was ich dürfte, sondern ich tue, was ich muß; und was ich nicht muß, aus mir muß, verstehst du: muß, das mag ich nicht, kann ich nicht, werd' ich nicht, Punktum und Streusand drauf, sagen's bei uns!« Und nahm sie und schwang sie und flog mit ihr im Zimmer herum. »Solang der Mensch«, sagte er, »noch springen und tanzen kann, hat's mit dem andern noch Zeit; das gescheit sein lassen wir uns auf die alten Tag', bis die Gicht kommt!« »Man kann mit ihm nicht streiten,« sagte sogar der Rechnungsrat, »man kann dem Menschen nicht bös sein!« Denn er war so froh, daß die anderen sich schämten. »Wenn man so sein dürfte,« sagte Samon, »dann wäre es freilich leicht.« Aber auch ihr wurde manchmal Angst vor ihm: es war zu schön. Da lachte er sie aus und sagte: »Morgen wird marschiert!« Das war sein Hausmittel für jedes Leid: den Rucksack und auf in die Berge! Tagelang durch die Felsen, im ewigen Schnee. Und ihr kam vor, daß er dort oben noch ganz anders war. Unten trieb er immer nur Spaß. Aber auf dem Winklerturm sagte er einmal zu ihr: »Nicht zu laut, Kind, du störst den lieben Gott!« Und so was seltsam Lauschendes hatte er dann und war ernst und schwieg. Und sie, ganz still neben ihm, hätte weinen mögen, vor Glück. Und sie dachte nur noch: Ein solcher Mensch ist auf der Welt! Und seitdem war es gut und schön.
Manchmal fing er zu lachen an und sagte: »Und da glaubt man, daß ich ein verbummelter Student, Turnlehrer in einer Privatanstalt, Preisjodler, Zitherspieler und Bergkraxler bin. Und so glauben sie, sie haben mich. Sixt es, das ist der Spaß, du gehst durch die Welt und hast einen großen Mantel um, den sehen sie! Und jetzt soll ich mir den Kopf zerbrechen, ob ihnen mein Mantel gefällt! Wer mich lieb hat, weiß es schon.«
Und eines Tages brachten sie ihn von der Rax, zerschmettert. Der Franz war gerade drei Jahre. Sonst hätte sie nicht weiter leben müssen. Nun war sie eine Witwe, die ihr verwaistes Kind erzog. In jenen dumpfen und leeren Tagen sagte sie sich das oft vor. Die Witwe, das verwaiste Kind! Und so war jetzt alles aus. So schnell geht es vorbei. So schnell. Aber jetzt fing das Kind an. Sie war jetzt nur noch für das Kind da. Bis vor ein paar Jahren, da hieß es immer: Der Vater, der alte Vater! Und jetzt wird es immer heißen: Das Kind, das kleine Kind! Und dazwischen, die paar Jahre nur, war sie gewesen, sie selbst. Und schon vorbei. So schnell! Eine Witwe! Wie traurig das klang! Eine alte Frau, denkt man sich dabei, mit weißen Haaren, die sitzt und näht und nichts mehr will, und die Hände sinken ihr und rings ist es ganz still. Nein, Gott sei Dank, der Bub machte Lärm. Was wollte sie denn? Da hielt sie doch das Leben in Armen, zappelnd und quiekend! Was wollte sie denn? Und ihr eigenes Leben war es, das da zappelnd und quiekend schlug!
Und nun die langen Jahre der stillen Sorgen um das Kind. Ihr Vater starb. Sie zog mit dem Fräulein Modl zusammen, einer Schulfreundin von ihr. Das Kind wuchs. Da hatte sie keine Zeit zu Gedanken mehr, immer war das Kind fordernd da. Eigentlich, dachte sie, war ich früher entsetzlich dumm. Was man von einem Kind alles lernt! Sie hatte doch gar nicht gewußt, wie schöne Märchen und alte Lieder es gibt. Und dann wollte der Bub alle Namen der Blumen wissen. Und dann lernte sie in der Schule mit. Und dann fing das Lateinische an, schwer für ihren harten alten Kopf. Manchmal dachte sie, vor dem Spiegel: Ich bin ja noch gar nicht so alt! Aber das war ja jetzt gleich. Der Bub kam, der Bub forderte, der Bub fragte. Der Bub hatte plötzlich eine Leidenschaft für Chemie. Da wußte sie nun gar nichts. Gab es denn das zu ihrer Zeit schon? Da merkte sie, daß sie doch alt war. Sie meldete sich zu den volkstümlichen Vorlesungen, an der Universität. Da saß sie nun abends und plagte sich und schrieb mit. Wenn sie dann den weiten Weg heimging, sank ihr wohl manchmal der Mut und es wollte in ihr klagen. Aber sie schämte sich. Der Bub braucht es, sei nicht undankbar, du hast doch schon alles gehabt! Und da war sie wieder stark und schritt tapfer zu. Sie hatte doch alles gehabt! Sie wußte doch: einmal war ein solcher Mensch auf der Welt! Das konnte sie nie mehr verlieren. Das blieb ihr. Das mußte sie bewahren, für den Franz. Wenn der Franz einmal groß war, sollte er es haben. Dann konnte dem Franz nichts geschehen. Und stundenlang saß sie oft und dachte an alles zurück, was er gesagt hatte und wie er gewesen war, um nur ja nichts zu vergessen. Denn, sagte sie sich, ich muß den Vater für den Buben aufheben!
Dies alles hatte Samon jetzt wieder in ihr aufgeregt. Sie haßte Samon. Die Menschen sind da, sagte ihr Mann immer, damit der liebe Gott ein Vergnügen hat! Das fand sie so schön. Seitdem war ihr eigentlich alles klar. Wenn sie manchmal unsicher war, sagte sie sich das vor: Die Menschen sind da, damit der liebe Gott ein Vergnügen hat! Und gleich wurde sie ruhig und wußte, was zu tun war. Aber Samon? Sie hätte sich als lieber Gott dafür bedankt. Nun sprach er aber immer so, daß er ihr, solange er sprach, recht zu haben schien; sie konnte ihm nichts entgegnen, er hatte bessere Reden als sie. Sie gab ihm also nach und das kam ihr dann so feig vor. Schon damals war es immer so, vor siebzehn Jahren. Es klang alles wahr, doch wußte sie, daß es falsch war. Das erbitterte sie so. Und solche Menschen waren es, die ihren Mann verkannten! Was wußten denn die von ihm? Aber nun strecken sie ihre plumpen Hände auch nach dem Buben aus! Einfangen wollten sie ihn, gemein machen, abrichten für ihre schwätzende, jammernde Weisheit!
Sie sprang auf und nahm von ihrem Tisch ein Bild. Darauf war der Franz als Kind, noch in Kleidern, die blonden Ringeln in die Stirne herein, die dicken kleinen Fäuste geballt, denn er wehrte sich und wollte nicht. Sie hielt das Bild und strich mit der Hand über das Glas und rieb daran, wie um es abzuwischen, als ob es von der Luft des Professors beschmutzt worden wäre. Und dann sah sie dem bösen Buben in das dicke Gesicht und mußte lachen und wurde ganz lustig. Aber nein, dachte sie, dich kriegen sie nicht, du wehrst dich schon, mir ist gar nicht bang!
Aber sie kam nicht los. Was wollte Samon eigentlich? War es nur die Lust, sie seine Macht fühlen zu lassen? Der alte Groll gegen den Vater des Buben? Nein, sie tat ihm Unrecht, so war er doch wirklich nicht, er war nicht schlecht. Es gibt Luft- und Lichtmenschen, sagte ihr Mann, und es gibt Stadt- und Staubmenschen. Ja, Samon war ein Stadt- und Staubmensch. Der konnte nun ihren Franz freilich nicht verstehen. Aber in seiner Art meinte er es mit dem Buben sicher gut. Schon aus Eitelkeit. Sie kannte das an ihm. Gerade weil er den Buben eigentlich nicht mochte, kam er sich sehr groß vor, gerecht gegen ihn zu sein. Und vielleicht, vielleicht war der Franz wirklich –? Ja, was? Samon wußte doch selber nichts. Was warf er ihm denn eigentlich vor? Wie hatte er es genannt? Laxwerden oder Laschwerden des inneren Menschen. Kein Wunder: seine gesalbten Reden anzuhören, ihr wurde davon auch lax und lasch, beim bloßen Gedanken! Und: gemütsabwesend! Sie mußte lachen. Wie er sich das dachte? Das Gemüt soll wohl auch auf Kommando flink aus dem Bett, um brav Punkt acht in der Schule zu sitzen, die Hände auf der Bank. Bereiten Sie sich gut vor, morgen wird Gemüt geprüft, es muß sonst am Ende nachsitzen! Das waren doch Flausen eines Pedanten. Nein, der Schulmeister wollte sich nur wichtig machen.
Warum aber erschrack sie dann so? Ja, sie war erschrocken. Gleich, als er kam. Ihr erster Gedanke war gleich: Der Franz! Was ist geschehen? Was hat der Franz getan? Denn seit Wochen schon, die ganze letzte Zeit schon ahnt sie, daß der Franz was hat. Er ist anders. Was geht mit ihm vor? Was verbirgt er ihr? Das hat es doch früher nie gegeben; sonst kam er mit allem gleich zu ihr. Er hatte gar keine Furcht, darauf war sie ja so stolz. Wie ihr Mann immer sagte: »Der Mensch muß von Zeit zu Zeit eine Dummheit machen, zur Erholung!« Darum lachte sie nur, über die Streiche des Buben. Und sagte höchstens einmal: Aber diesen Monat hast du jetzt schon dein Deputat! Und dann lachte der Franz auch und sah es ein. Und gar nie hätte sie sich denken können, daß er je vor ihr ein Geheimnis haben könnte. Und jetzt? Was konnte da sein? Sie wurde ganz eifersüchtig auf den kleinen Beer, bei dem er jetzt den halben Tag saß, bis in die Nacht hinein. Aber nein, sie lernten zusammen; und so junge Leute haben sich wohl auch manches zu sagen, wovon sie nichts mehr verstand, eine alte Frau. Konnte sie verlangen, daß er immer bei ihr hocken blieb? Wie lange noch, und er rannte fort, in die weite Welt hinaus! Dazu zieht man sie sich auf, mit so viel Not und Angst.
Daran durfte sie gar nicht denken. Es nahm ihr allen Mut. Dann sank alles in ihr und sie saß oft stundenlang, unfähig, sich zu regen, irgendwas zu denken oder zu wollen oder bloß die Hand zu heben. Das Leben war ihr zu stark, sie konnte nicht mehr; und wozu auch? Sie war dann in ihrer Schwäche ebenso trotzig. Und wenn sie, um was aufzuheben, sich bücken oder auch nur die Lampe anzünden oder was immer verrichten sollte, war ihr dies alles zu schwer und sie dachte: Es steht doch gar nicht dafür, es steht doch alles nicht dafür! So preisgegeben und ausgesetzt fühlte sie sich, was konnte sie denn machen? das rauschte doch alles über sie so hin. Soll alles geschehen, nur ohne mich, ich mag nicht mehr! Und da war es ihr schon geschehen, daß sie sich ein großes Unglück wünschte. So daß man gar keine Besinnung mehr hat und gar nichts mehr weiß, sondern es geschieht. Nur nicht das kleine Schicksal, bei dem man immer noch gefragt wird und antworten soll! Und doch bloß zum Hohn, es nützt ja nichts: wir werden in einem fort gefragt, aber dann hört man es nicht an. Sie war nicht feig, sie hatte Kraft, nur nicht diese kleine von Minute zu Minute, an tausend alberne Sorgen verteilt, bald dies, bald das, keine Rast und doch auch keine Tat, dazu kam es ja gar nicht, sondern sie wurde zerrieben, es stand wirklich nicht dafür.
Sie schüttelte sich. Da kam das wieder. Nein, nur das nicht! Das kannte sie. »Wenn ihm kalt wird, sagte ihr Mann immer, beutelt sich der Spatz und fliegt ein Astl weiter; o Mensch, flieg um ein Astl weiter!« Aber sie war halt so allein, da wird es einem schwer das Fliegen. Ich bin undankbar, sagte sie, ich hab' doch den Franz! Und plötzlich begann sie sich zu strecken und zu senken, in die Knie, mit geschlossenen Fersen, und wieder empor, genau nach der Regel. »Dreißig schöne Kniebeugen,« sagte ihr Mann, »und der Mensch hat sich wieder.« Er nannte das: den Teufel austreiben. Und sie mußte lachen, als sie sich im Spiegel sah. Ich bin ja noch ganz jung, dachte sie. Und setzte sich und fing vergnügt zu nähen an.
Nein, irgendwas war mit dem Franz. Das fühlte sie seit Wochen. Aber sie wollte nicht fragen. Das mochte sie gar nicht, in einem fort, wie manche Mütter tun, in den Kindern herumzustochern. Er wird schon selbst kommen. Er hat ja doch sonst immer alles gesagt. Sie reden doch über alles. Er weiß ja, daß sie ihn immer gleich lieb hat, auch wenn ihr einmal an ihm was nicht recht ist. Das sagt sie ihm halt und manchmal schreit sie schon auch ein bißl, aber er weiß ja, daß sie ein Pulverfaßl ist, und deswegen bleibt er doch ihr geliebter Bub. Und es war immer so, daß er ihr alles sagte und sie über alles mit ihm sprach. Über alles? Nein, lüg dir doch nichts vor! Das war es ja.
Und jetzt warf sie sich das vor. Feig war sie gewesen! Immer verschob sie es wieder, es hat noch Zeit! Sie las darüber viel. Ja, die Bücher hatten sicher recht. Sie wußte doch, was ihr Mann erzählt hatte. »Es ist ein Riß durch den ganzen Menschen, wenn er es auf eine häßliche und rohe Art erfährt; man merkt es einem noch nach Jahren an.« Wie sollte sie den Buben davor bewahren, in der großen Stadt? Nein, es war ihre Pflicht, ihn, wie die Bücher es nannten, sexuell aufzuklären. Sie fand nur den Ausdruck so gemein. Aber die Bücher hatten sicher recht. Sie war auch entschlossen. Sie stritt immer mit der Fanny Modl darüber. Die Fanny sagte: Das ist auch so eine Art Impfen, ich mag aber das Impfen überhaupt nicht, sonst hätte es der liebe Gott schon selbst erfunden! Nun, die Fanny war eine gute Haut, aber wenn man ihr zuhörte, wurde einem schon manchmal angst und bang. Das verstand sie auch nicht, sie steckte zu viel mit den Pfaffen zusammen. Nein, die Bücher hatten sicher recht. Nur die Mutter kann das. Sie nahm es sich ja auch tausendmal vor. Aber das war dann seltsam: sie konnte nicht. Beim ersten Wort schämte sie sich so, daß es ihr im Halse stecken blieb. Sie konnte nicht. Sie durfte gar nicht daran denken, sie wurde gleich ganz rot. Wie dumm! Aber sie konnte nicht, sie schämte sich so. Zum Umsinken. Überhaupt, auch sonst, es war eigen. Sie schämte sich so vor dem Buben. Wenn er ins Zimmer trat, während sie sich wusch, kroch sie schreiend hinter den Kasten. Er lachte sie aus und wollte nicht weg, bis sie ganz zornig war. Lieber hätte sie sich einem wildfremden Mann gezeigt. Wie dumm! Er war doch ihr Bub. Aber es half alles nichts. Ihr wurde heiß, wenn sie nur daran dachte. Ja, dumm! Aber sie konnte nicht, es war zu stark.
Sie ließ das Nähen. Es trieb ihr das Blut in den Kopf. Ihr war so heiß. Sie trat zum Fenster. Der Nebel war dick, das Licht der Laternen fast erstickend; und in diesem langsam niedersinkenden Dickicht von gelblichem Nebel war ein Zittern. Nun kommt bald der Frühling wieder, dachte sie. Und sie hatte Furcht. Sie fühlte sich umringt von bösen Dingen. Da draußen die Stadt in dem dicken Nebel, endlos ausgestreckt. Und da war ihr Bub irgendwo. Und sie hatte niemanden. So allein, so verlassen, unter den vielen Menschen in der großen Stadt. Der Nebel wurde so dick, daß er über das Fenster zu kriechen schien, wie ein langsames, fettes Tier mit schleimigen Augen. Wie ein tückischer alter Fisch, an die Scheibe gepreßt, starrte er auf sie herein. Ihr war heiß. Ihr war bang.
Sie trat vom Fenster, ging zur Wand, klopfte. »Bist du da?« fragte sie horchend. Und krächzend kam es durch die Wand: »Nur herein, kannst helfen.«