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Es war in einem der schönsten Privathäuser der Rue Neuve des Mathurins, um halb zwölf Uhr abends. Zwei Damen saßen vor dem Kamin eines Boudoirs, dessen Wände mit dem zartschillernden, schmeichelnden blauen Samt ausgeschlagen waren, dessen Herstellung dem französischen Gewerbefleiß erst in den letzten Jahren gelang. Einer jener Tapezierer, die wahre Künstler sind, hatte die Türen und Fenster mit weichen Kaschmirvorhängen drapiert, deren Blau dem der Wandbekleidung entsprach. Eine mit Türkisen geschmückte silberne Lampe hing an drei schön gearbeiteten Ketten von einer hübschen Rosette an der Mitte der Decke herab. Das System dieser Ausstattung ist bis auf die kleinsten Einzelheiten durchgeführt, bis auf die Zimmerdecke aus blauer Seide mit weißen Kaschmirsternen, deren lange, gefältelte Streifen, durch Perlenschnüre gerafft, in gleichmäßigen Abständen auf die Wandbekleidung herabfallen. Ihre Ränder stoßen an das warme Gewebe eines flandrischen Wandteppichs, der dicht wie ein Rasen ist und auf dessen leingrauem Grunde blaue Blumensträuße prangen. Die Möbel, ganz aus Palisanderholz, nach den schönsten alten Mustern geschnitzt, beleben mit ihren reichen Tönen die Blässe dieser, wie ein Maler sagen würde, zu weichen Ausstattung. Die Rückenlehnen der Stühle und Lehnstühle zeigen dem Beschauer kleine Felder aus weißer, mit blauen Blumen durchwirkter Seide, die ein Holzrahmen aus fein geschnitztem Blattwerk umspannt. Beiderseits des Fensters sieht man Ständer mit kostbaren Nippsachen, den Blüten des Kunsthandwerks, die an der Sonne des Gedankens gediehen sind. Auf dem Kamin aus bläulichem Marmor stehen die seltsamsten Altmeißner Porzellane, Hirten, die mit zarten Sträußen in der Hand zu ewigen Hochzeiten schreiten, eine Art deutscher Chinaware, und in ihrer Mitte eine Stutzuhr aus Platin mit eingelegten Arabesken. Darüber glänzen die gerippten Schliffe eines Venezianischen Spiegels in einem Ebenholzrahmen mit Relieffiguren, der aus irgendeiner Königsresidenz stammt. Zwei Blumenständer bergen den kranken Luxus blasser, himmlischer Treibhausblumen, der Perlen der Botanik. In diesem kalten Boudoir, das so wohlgeordnet und blitzsauber war, als stände es zum Verkauf, war nichts von der launischen, mutwilligen Unordnung zu spüren, aus der das Glück spricht. Alles stimmte überein, denn die beiden Damen weinten. Alles in dem Zimmer schien zu leiden.
Der Name des Besitzers, Ferdinand du Tillet, eines der reichsten Pariser Bankiers, rechtfertigt den maßlosen Luxus des Hauses, von dem das Boudoir eine Probe ablegte. Obwohl ein Mann ohne Herkunft, ein Emporgekommener (Gott weiß, auf welche Weise!), hatte du Tillet 1831 die jüngere Tochter des Grafen Granville geheiratet, eines der berühmtesten Namen im französischen Richterstand, der nach der Julirevolution Pair von Frankreich geworden war. Diese Heirat aus Ehrgeiz hatte du Tillet dadurch erkauft, daß er im Ehekontrakt eine nicht erhaltene Mitgift quittiert hatte, die ebenso bedeutend war, wie die der älteren Schwester, die den Grafen Felix von Vandenesse geheiratet hatte. Diese Verbindung mit dem Haus Vandenesse hatten die Granvilles seinerzeit durch die Höhe der Mitgift erkauft. So hatte der Bankier die Lücke ausgefüllt, die der Edelmann in das Vermögen des Beamten gerissen hatte. Hätte der Graf von Vandenesse vorausgeahnt, daß er nach drei Jahren der Schwager eines Herrn Ferdinand und angeblichen du Tillet sein würde, er hätte seine Frau vielleicht nicht geheiratet. Aber wer hätte im Jahre 1828 die seltsamen Umwälzungen vorausgesehen, die die politische Verfassung, die Vermögensverhältnisse und die Moral Frankreichs erfahren sollten? Man hätte jeden für verrückt erklärt, der dem Grafen Felix von Vandenesse gesagt hätte, er würde bei diesem Umschwung seine Pairskrone verlieren und sie auf dem Kopf seines Schwagers wiederfinden.
Frau du Tillet saß aufgerichtet auf einem niedrigen Stuhl, einem sogenannten Kaminstuhl, in aufmerksamer Haltung und drückte in mütterlicher Zärtlichkeit die Hand ihrer Schwester, Frau Felix von Vandenesse, an ihre Brust oder führte sie bisweilen an die Lippen. In der Gesellschaft pflegte man vor ihren Familiennamen den Vornamen ihres Gatten zu setzen, zum Unterschied von ihrer Schwägerin, der Marquise und Gattin des früheren Gesandten Charles von Vandenesse, der die reiche Witwe des Grafen Kergarouet, eine geborene de Fontaine, zur Frau hatte. Halb auf ein Kanapee hingegossen, ein Taschentuch in der andern Hand, unterdrückte die Gräfin das Schluchzen, das ihr den Atem benahm, und mit feuchten Augen machte sie ihrer Schwester soeben Anvertrauungen, wie sie nur zwischen zwei sich liebenden Schwestern möglich sind; und diese zwei Schwestern liebten sich zärtlich. Wir leben in einer Zeit, wo zwei so eigenartig verheiratete Schwestern sich sehr wohl nicht lieben können. Der Historiker muß also die Gründe für diese Zärtlichkeit angeben, die sich trotz aller gegenseitigen Verachtung ihrer Gatten, trotz allen gesellschaftlichen Gegensätzen stark und rein erhalten hatte. Ein kurzer Überblick über ihre Kindheit wird ihr gegenseitiges Verhältnis erklären.
Sie waren in einem düstren Haus im Marais aufgewachsen, von einer frömmelnden, beschränkten Frau erzogen, die von ihren Pflichten durchdrungen war (so lautet der klassische Ausdruck) und die erste Aufgabe einer Mutter gegenüber ihren Töchtern erfüllt hatte. Als Marie Angelika und Marie Eugenie heirateten, die erste mit zwanzig, die zweite mit siebzehn Jahren, hatten sie noch nie den häuslichen Dunstkreis verlassen, über dem der Blick ihrer Mutter schwebte. Sie waren in kein Theater gegangen. Für sie waren die Pariser Kirchen das Theater. Kurz, ihre Erziehung zu Hause war so streng wie im Kloster. Als sie die erste Kindheit hinter sich hatten, schliefen sie in einem Zimmer neben dem Zimmer der Gräfin Granville, dessen Tür die ganze Nacht offen stand. Soweit sie ihre Zeit nicht mit Anziehen und Körperpflege, religiösen Pflichten oder Unterricht verbrachten, wie er sich für Mädchen aus vornehmem Hause geziemte, machten sie Handarbeiten für die Armen oder unternahmen Spaziergänge nach dem Muster der englischen Sonntagsspaziergänge, d. h. nach dem Grundsatz: »Wir wollen nicht so schnell gehen, sonst sieht es aus, als gingen wir zu unserm Vergnügen.« Ihre Bildung ging nicht über das hinaus, was ihre Beichtväter, unduldsame und streng jansenistische Geistliche, erlaubten. Nie kamen Frauen reiner und jungfräulicher in die Ehe. In diesem, allerdings recht wichtigen Punkt hatte ihre Mutter die Erfüllung all ihrer Pflichten gegen Gott und die Menschen erblickt. Die beiden armen Geschöpfe hatten vor ihrer Ehe weder Romane gelesen, noch etwas anderes gezeichnet als Figuren, deren Anatomie einem Cuvier als Meisterstück des Unmöglichen erschienen wäre. Die Vorlagen waren derart gestochen, daß sie auch den Farnesischen Herkules zum Weibe machten. Diesen Zeichenunterricht erhielten sie bei einer alten Jungfer. Ein ehrwürdiger Priester unterwies sie in Grammatik, Französisch, Geschichte, Geographie und dem bißchen Rechnen, das die Frauen brauchen. Ihre Lektüre am Abend bestand in lautem Vorlesen erlaubter Bücher, wie der »Erbauungsbriefe« und der »Literaturstunden« von Noël, und zwar in Gegenwart des Seelsorgers ihrer Mutter, denn es konnten doch Stellen vorkommen, die ohne geschickte Erläuterungen ihre Phantasie erregt hätten. Fénélons »Telemach« erschien bereits bedenklich. Die Gräfin Granville liebte ihre Töchter so sehr, daß sie sie zu Engeln nach Art der Marie Alacoque machen wollte, aber die Töchter hätten eine weniger tugendstrenge und etwas liebenswürdigere Mutter lieber gehabt.
Diese Erziehung trug ihre Früchte. Als Joch auferlegt und in aller Strenge gehandhabt, ermüdete die Religion ihre jungen, unschuldigen Herzen mit ihren Pflichten, denn sie wurden wie Missetäterinnen behandelt. Sie unterdrückte ihre Empfindungen, und obwohl sie tiefe Wurzeln in ihren Herzen schlug, gewann sie sich doch keine Liebe. Die beiden Marien mußten entweder verblöden oder ihre Selbständigkeit herbeisehnen. Sie wünschten sich, zu heiraten, sobald sie eine Ahnung von der Welt hatten und ein paar Vorstellungen verknüpfen konnten, aber ihre rührende Anmut und ihre Herzensgüte blieb ihnen unbewußt. Sie kannten ihre eigene Reinheit nicht: wie sollten sie da das Leben kennen? Sie waren wehrlos gegen das Unglück und ohne Erfahrung, um das Glück schätzen zu können; so fanden sie in dem mütterlichen Kerker keinen anderen Trost als in sich selbst. Ihre sanften Anvertrauungen, die sie sich des Abends zuflüsterten, oder die paar Worte, die sie miteinander tauschten, wenn ihre Mutter sie für ein Weilchen verließ, enthielten manchmal mehr Gedanken, als Worte auszudrücken vermögen. Oft war ein heimlich gewechselter Blick, durch den sie sich ihre Empfindungen mitteilten, wie ein Gedicht von herber Schwermut. Der Anblick des wolkenlosen Himmels, der Blumenduft, ein Gang Arm in Arm durch den Garten bereitete ihnen unerhörte Wonnen. Die Beendigung einer Stickerei machte ihnen eine harmlose Freude. Der Verkehr ihrer Mutter dagegen war weit entfernt, ihr Herz zu bereichern oder ihren Geist anzuregen. Er verdüsterte ihr Denken nur und trübte ihre Gefühle, denn er bestand nur aus steifen, trocknen, anmutlosen alten Damen, deren Unterhaltung sich um die Vorzüge der Prediger und Beichtväter drehte, um ihre kleinen Unpäßlichkeiten oder um die nichtigsten religiösen Ereignisse, die selbst der »Quotidienne« und dem »Religionsfreund« entgingen. Die Männer aber, mit denen ihre Mutter verkehrte, hätten die Fackel der Liebe ausgelöscht: so kalt, trüb und entsagensvoll waren ihre Gesichter. Sie standen alle in den Jahren, da die Männer mürrisch und grämlich werden, wo ihre Freuden sich auf die Tafel beschränken, und sie nur noch an Dinge des leiblichen Behagens denken. Die Selbstsucht der Frömmigkeit hatte diese Herzen ausgedörrt, die ganz ihrer Pflicht lebten und in frommen Übungen aufgingen. Einsilbige Kartenspiele erfüllten fast den ganzen Abend. Die beiden Kleinen, gleichsam in Acht und Bann bei diesem Synedrium, der die mütterliche Strenge unterstützte, haßten unwillkürlich diese trostlosen Menschen mit ihren hohlen Augen und mürrischen Gesichtern.
Vom Dunkel ihres Daseins hob sich kräftig eine einzige Männergestalt ab, die eines Musiklehrers. Die Beichtväter hatten entschieden, daß die Musik eine christliche Kunst sei, im Schoß der katholischen Kirche entstanden und von ihr entwickelt. Ein bebrilltes Fräulein, das im nächsten Kloster Gesang- und Klavierstunden gab, quälte sie mit Übungen. Als aber die Ältere zehn Jahre alt wurde, bestand Graf Granville darauf, einen Musiklehrer zu nehmen. Seine Gattin fügte sich notgedrungen, unterstrich aber die ganze Bedeutung ihres ehelichen Gehorsams, wie es ja die Art der Betschwestern ist, sich erfüllte Pflichten als Verdienst anzurechnen. Der Lehrer war ein deutscher Katholik, einer jener Männer, die zeitlebens alt sind, die stets fünfzig Jahre zählen, selbst mit achtzig. Sein hohles, runzliges, braunes Gesicht bewahrte etwas Kindliches und Harmloses in seinen dunklen Schatten. Das Blau der Unschuld belebte seine Augen, und das heitre Lächeln des Lenzes wohnte auf seinen Lippen. Seine ergrauten Haare, die wie die des Heilands natürlich gelockt und ungescheitelt waren, erhöhten sein schwärmerisches Aussehen und gaben ihm etwas Feierliches, das über seinen Charakter täuschte; hätte er doch mit der exemplarischsten Würde eine Torheit begangen. Seine Kleider waren eine notwendige Hülle, auf die er keinerlei Wert legte, denn seine Blicke streiften zu hoch in die Wolken, um sich mit irdischen Dingen zu befassen. So gehörte dieser große unbekannte Künstler denn zu der liebenswerten Klasse der Vergeßlichen, die ihre Zeit und ihre Seele anderen leihen, wie sie ihre Handschuhe auf allen Tischen liegen und ihre Schirme an allen Türen stehen lassen. Seine Hände gehörten zu denen, die auch nach dem Waschen schmutzig sind. Und sein alter Körper wackelte auf seinen alten gichtischen Beinen und bewies, wie sehr der Mensch das bloße Zubehör seiner Seele sein kann. Er gehörte zu jenen schnurrigen Geschöpfen, die nur ein Deutscher, Hoffmann, richtig schildern konnte – der Dichter dessen, was nicht zu leben scheint und dennoch lebt. Das war Schmuke, ein früherer Kapellmeister des Markgrafen von Ansbach, ein Gelehrter, der, als er von einem Rat der Frommen verhört wurde, ob er auch faste, am liebsten geantwortet hätte: »Seht mich doch an!« Aber wie kann man mit Betschwestern und jansenistischen Beichtvätern Scherze treiben?
Dieser unscheinbare Greis spielte im Leben der beiden Marien eine große Rolle. Sie faßten solche Vorliebe für den lauteren und großen Künstler, dem es genug war, seine Kunst zu verstehen, daß beide ihm nach ihrer Heirat eine Lebensrente von je 300 Franken aussetzten, eine Summe, die für seine Wohnung, sein Bier, seine Pfeife und seine Kleidung hinreichte. 600 Franken Rente und seine Stunden schufen ihm ein Eden. Schmuke hatte sein Elend und seine Wünsche nur den beiden anbetungswürdigen jungen Mädchen anzuvertrauen gewagt, diesen zwei Herzen, die unter dem Schnee mütterlicher Strenge und unter dem Eis der Frömmigkeit blühten. Das erklärt den ganzen Schmuke und die Kindheit der beiden Marien.
Später wußte kein Mensch, welcher Abbé, welche alte Betschwester den nach Paris verschlagenen Deutschen entdeckt hatte. Sobald die Hausmütter hörten, die Gräfin von Granville hätte für ihre Töchter einen Musiklehrer gefunden, wollten alle seinen Namen und seine Adresse wissen. Schmuke bekam dreißig Häuser im Marais. Sein später Erfolg drückte sich durch Schuhe mit bronzierten Stahlschnallen und Roßhaarsohlen sowie durch häufigeren Wechsel seiner Wäsche aus. Seine harmlose Fröhlichkeit, durch seine edle, verschämte Armut lange unterdrückt, brach wieder hervor. Er machte kleine geistreiche Bemerkungen. Wenn z. B. der Straßenschmutz durch einen Nachtfrost getrocknet war, sagte er: »Meine jungen Damen, heute nacht haben die Katzen den Pariser Schmutz gefressen,« aber er sagte das in einem deutsch-französischen Kauderwelsch: »Montemisselles, lè chas honte manché lâ grôttenne tan Bâri sti nouitte.« Befriedigt über diese Art von Vergißmeinnicht, das er den beiden Engeln darbot, nahm er beim Überreichen dieser Geistesblüten eine pfiffige, geistreiche Miene an, die den Spott entwaffnete. Er war so glücklich, ein Lächeln auf die Lippen seiner beiden Schülerinnen zu locken, deren unglückliches Dasein er durchschaut hatte, daß er sich freiwillig lächerlich gemacht hätte, wäre er es nicht von Natur gewesen. Aber sein Herz hätte auch den gewöhnlichsten Plattheiten etwas Neues gegeben; er hätte, nach einem schönen Wort des weiland Saint-Martin, mit seinem Lächeln auch den Schmutz vergoldet. Nach einem der edelsten Grundsätze der religiösen Erziehung gaben die beiden Marien ihrem Lehrer achtungsvoll das Geleit bis zur Haustür. Hier sagten ihm die beiden armen Dinger ein paar freundliche Worte, froh, diesen Mann beglücken zu können; konnten sie sich doch nur ihm gegenüber als Frauen erweisen. So wurde ihnen die Musik bis zu ihrer Verheiratung zum zweiten Leben, ebenso wie der russische Bauer seine Träume für Wirklichkeit und sein Leben für einen schlechten Traum halten soll. In ihrem Verlangen, sich all der Erbärmlichkeiten zu erwehren, die sie zu ersticken drohten, und um den ertötenden asketischen Vorstellungen zu entgehen, vertieften sie sich mit Feuereifer in die Schwierigkeiten der musikalischen Technik. Melodie, Harmonie und Komposition, diese drei Himmelstöchter, deren Chorus der alte, musiktrunkene katholische Satyr anführte, belohnten sie für ihre Mühen und umgaben sie mit ihrem schirmenden luftigen Reigen. Mozart, Beethoven, Haydn, Paësiello, Cimarosa, Hummel und die kleineren Talente erweckten in ihnen tausend Gefühle, die zwar die keusche Umfriedung ihrer verhüllten Herzen nicht überschritten, aber in die Schöpfung eindrangen, wo sie ihre Flügel machtvoll entfalteten. Hatten sie einige Stücke tadellos gespielt, so drückten sie sich die Hand, umarmten sich in lebhafter Begeisterung, und ihr alter Lehrer nannte sie seine heiligen Cäcilien.
Erst mit sechzehn Jahren gingen die beiden Marien zum Tanzen in ein paar ausgesuchte Häuser und nur viermal im Jahre. Sie verließen den Rockschoß ihrer Mutter erst, nachdem sie Verhaltungsmaßregeln über ihr Benehmen gegenüber den Tänzern erhalten hatten und zwar so strenge, daß sie ihren Herren nur mit Ja oder Nein antworten konnten. Die Gräfin ließ ihre Töchter nicht aus den Augen und schien ihre Worte aus der Bewegung der Lippen zu erraten. Die armen Dinger trugen höchst schickliche Ballkleider, Musselinroben, die bis zum Kinn reichten, mit einer Unzahl von Rüschen überladen und mit langen Ärmeln. Diese Kleidung, die ihre Anmut verbarg und ihre Schönheit verhüllte, gab ihnen eine entfernte Ähnlichkeit mit ägyptischen Mumiensärgen. Immerhin tauchten aus diesen Kattunsäcken zwei entzückend schwermütige Gesichter hervor. Es ergrimmte sie, so oft bemitleidet zu werden. Welches weibliche Wesen, und sei es noch so keusch, möchte nicht Lust erregen? Keine gefährliche, ungesunde oder auch nur zweideutige Vorstellung befleckte also die Blütenweiße ihrer Gedanken. Ihre Herzen waren rein, ihre Hände furchtbar rot, sie platzten vor Gesundheit. Eva ging aus Gottes Händen nicht unschuldiger hervor, als die beiden Mädchen an dem Tage, wo sie das Elternhaus verließen, um zum Standesamt und zur Kirche zu fahren, mit der einfachen, aber furchtbaren Weisung, den Männern, mit denen sie in der Nacht schlafen oder wachen sollten, in allem zu Willen zu sein. Nach ihrer Meinung konnte es ihnen in dem fremden Hause, in das sie gebracht wurden, nicht schlechter ergehen, als in dem mütterlichen Kloster.
Warum schützte der Vater dieser beiden Mädchen, Graf Granville, dieser große, gelehrte und rechtschaffene Jurist (wenn ihn auch bisweilen die Politik fortriß) die beiden kleinen Geschöpfe nicht vor diesem zermalmenden Despotismus? Ach! Beide Gatten lebten infolge einer denkwürdigen Vereinbarung, die sie nach zehnjähriger Ehe schlossen, in ihrem eignen Hause voneinander getrennt. Der Vater hatte sich die Erziehung der Söhne vorbehalten und der Mutter die der Töchter überlassen. Die Anwendung dieses Bedrückungssystems erschien ihm bei Mädchen weit ungefährlicher als bei Männern. Die beiden Marien waren ja dazu bestimmt, eine Tyrannei, die der Liebe oder der Ehe, zu ertragen. Somit verloren sie dabei weniger als die Knaben, deren Verstand frei bleiben mußte und deren Charakter unter dem gewaltsamen Druck übertriebener religiöser Vorstellungen gelitten hätte. Von vier Opfern hatte der Graf wenigstens zwei gerettet.
Die Gräfin betrachtete ihre beiden Söhne, deren einer Staatsanwalt und der andere Richter werden sollte, als zu schlecht erzogen, um ihnen irgendeinen vertrauten Umgang mit ihren Schwestern zu gestatten. Der Verkehr der armen Kinder wurde streng überwacht. Zudem hütete sich der Graf wohl, als seine Söhne die Schule verlassen hatten, sie ans Haus zu fesseln. Sie kamen zwar hin, um mit der Mutter und den Schwestern zu frühstücken, dann aber unternahm der Vater mit ihnen irgend etwas, um sie zu zerstreuen. Restaurant, Theater, Museen, im Sommer eine Landpartie, dienten zu ihrer Erholung. Eine Ausnahme bildeten die großen Familientage, wie die Geburtstage der Eltern, der Neujahrstag oder die Verteilung der Schulpreise. Dann wohnten und schliefen beide Knaben im Elternhause, fühlten sich hier höchst verlegen und wagten ihre von der Gräfin bewachten Schwestern nicht zu umarmen. Und da die Mutter diese keinen Augenblick allein ließ, sahen die beiden armen Mädchen ihre Brüder so selten, daß irgendein Verhältnis zwischen ihnen sich nicht entwickeln konnte. An diesen Tagen hörte man bei jedem Anlaß die Frage: »Wo ist Angelika?« – »Was tut Eugenie?« – »Wo sind meine Kinder?« War von ihren beiden Söhnen die Rede, so erhob die Gräfin ihre kalten, erstorbenen Augen zum Himmel, als bäte sie Gott um Vergebung dafür, daß sie sie nicht dem Unglauben entrissen habe. Ihre Ausrufe, aber auch ihr Schweigen, wenn von ihnen die Rede war, kamen den kläglichsten Jeremiaden gleich und gaben den beiden Schwestern ganz falsche Begriffe: sie hielten ihre Brüder für verdorben und für ewig verloren. Als die jungen Leute achtzehn Jahre alt wurden, gab der Graf ihnen zwei Zimmer in seiner Wohnung. Er ließ sie unter der Obhut eines Advokaten, seines Sekretärs, Jura studieren und sie von ihm in die Geheimnisse ihres künftigen Berufes einweihen. Die beiden Marien lernten also ihre Brüder nur abstrakt kennen. Als sie heirateten, war der eine Staatsanwalt an einem fernen Gerichtshof, der andere Anfänger in der Provinz, und beide mußten wegen großer Prozesse der Hochzeit fern bleiben. In vielen Familien, wo ein inniges, einmütiges Familienleben, ein innerer Zusammenhalt zu herrschen scheint, geht es folgendermaßen zu. Die Brüder sind weit fort und mit ihrer Zukunft, ihrem Fortkommen beschäftigt, sie gehen im Staatsdienst auf, und die Schwestern sind in einen Wirbel von fremden Familieninteressen verstrickt. So leben alle Familienmitglieder ohne Zusammenhalt und vergessen einander. Das einzige, was sie zusammenhält, sind die schwachen Bande der Erinnerung – bis zu dem Augenblick, wo der Stolz sie zusammenruft, der Vorteil sie wieder vereinigt oder auch innerlich entzweit, wie sie es schon äußerlich sind. Eine Familie, die geistig und körperlich zusammen lebt, ist eine seltene Ausnahme. Das moderne Gesetz, das aus einer Familie mehrere macht, hat das schrecklichste aller Übel geschaffen: die Vereinzelung.
In der tiefen Einsamkeit, in der ihre Jugend verfloß, sahen Angelika und Eugenie ihren Vater nur selten. Übrigens erschien er in der großen Wohnung im Erdgeschoß, in der seine Frau wohnte, stets mit bedrückter Miene. Auch zu Hause bewahrte er den ernsten, feierlichen Ausdruck des auf seinem Richterstuhl sitzenden Juristen. Als die beiden Mädchen aus dem Alter des Spielzeugs und der Puppen herausgewachsen waren und vernünftig zu werden begannen, etwa mit zwölf Jahren, als sie über den alten Schmuke schon nicht mehr lachten, errieten sie das Geheimnis, das die Stirn des Grafen in Sorgenfalten legte, und erkannten unter seiner strengen Maske die Zeichen eines guten Herzens und eines freundlichen Charakters. Sie begriffen, daß er in seinem Hause der Religion das Feld geräumt hatte, daß er in seinen Erwartungen als Gatte getäuscht, in den zartesten Regungen seines Vatergefühls verletzt war: der Liebe des Vaters zu seinen Töchtern. Derartige Schmerzen versetzen junge Mädchen, die der Zärtlichkeit entwöhnt sind, in eigentümliche Erregung. Bisweilen, wenn er mit ihnen einen Gang durch den Garten machte, die Arme um ihre schmalen Hüften schlingend und mit ihren Kinderschritten gleichen Schritt haltend, blieb er mit ihnen in einem Gebüsch stehen und gab einer nach der andern einen Kuß auf die Stirn. Sein Mund, seine Augen, sein ganzer Ausdruck verrieten dann tiefstes Mitgefühl.
»Ihr seid nicht sehr glücklich, meine lieben Kleinen,« sagte er zu ihnen. »Aber ich werde euch bald verheiraten, und ich werde zufrieden sein, wenn ihr das Haus verlaßt.«
»Papa,« sagte Eugenie, »wir sind entschlossen, den ersten besten zu heiraten.«
»Das ist die Frucht eines solchen Systems!« rief er aus. »Man will Heilige erziehen und erzieht . . .«
Er vollendete den Satz nicht. Oft fühlten beide Mädchen die lebhafteste Zärtlichkeit aus den Abschiedsworten des Vaters oder aus seinen Blicken, wenn er zufällig mit ihnen speiste. Sie bedauerten diesen Vater, den sie so selten sahen, und wen man bedauert, den liebt man.
Diese strenge religiöse Erziehung war die Ursache für die Verheiratung der beiden Schwestern, die das Unglück zusammengeschweißt hatte. Viele heiratslustige Männer nehmen ja lieber ein Mädchen zur Frau, das im Kloster erzogen und mit Frömmigkeit übersättigt, als ein Mädchen, das in weltlichen Lehren aufgewachsen ist. Ein Mittelding gibt es nicht. Ein Mann muß entweder ein sehr erfahrenes Mädchen heiraten, das die Zeitungsannoncen gelesen und sich seinen Vers darauf gemacht hat, das mit tausend jungen Männern Walzer und Galopp getanzt hat, in alle Theater gegangen ist, Romane verschlungen hat, der ein Tanzmeister die Knie gelenkig gemacht hat, indem er sie gegen die seinen drückte, das nicht nach Religion fragt und sich seine eigene Moral geschaffen hat, – oder ein unwissendes, reines junges Mädchen, wie Marie Angelika und Marie Eugenie. Vielleicht ist die Gefahr bei beiden gleich groß. Und doch zieht die erdrückende Mehrzahl der Männer, die nicht im Alter von Molières Arnolphe stehen, eine fromme Agnes einer künftigen Celimene vor.
Die beiden Marien waren klein und zart. Sie hatten den gleichen Wuchs, die gleichen Füße und Hände. Eugenie, die jüngere, war blond wie ihre Mutter. Angelika war dunkel wie ihr Vater. Aber beide hatten die gleiche Hautfarbe: jenes Perlmutterweiß, das den Reichtum und die Reinheit des Blutes verrät, eine Haut mit lebhaften Farben, die sich von ihr abheben wie von fleischigen Jasminblättern, gleich ihnen zart, glatt und weich anzufühlen. Eugenies blaue und Angelikas braune Augen hatten einen Ausdruck naiver Sorglosigkeit und ungewollten Staunens, der sich besonders in dem unbestimmten Schwimmen ihrer Pupillen auf dem flüssigen Weiß des Augapfels äußerte. Sie waren gut gewachsen; ihre etwas mageren Schultern sollten sich erst spät runden. Ihr so lange verhüllter Busen fiel durch seine Vollkommenheit auf, wenn ihre Gatten sie baten, für einen Ball ausgeschnittene Kleider anzulegen. Beide Frauen genossen dann jene reizende Scham, die diese ahnungslosen Geschöpfe erst im eigenen Hause und dann einen ganzen Abend lang erröten ließ.
In dem Augenblick, wo unsere Geschichte beginnt, als die Ältere weinte und sich von der Jüngeren trösten ließ, waren beider Hände und Arme milchweiß geworden. Beide hatten ein Kind genährt, die eine einen Knaben, die andere ein Mädchen. Die Mutter, die Eugenie für sehr mutwillig hielt, hatte ihr gegenüber ihre Wachsamkeit und Strenge verdoppelt. In den Augen dieser gefürchteten Mutter erschien die edle und stolze Angelika als eine Seele voll hoher Begeisterung, die sich allein beschützen würde, wogegen es ihr nötig erschien, die muntere Eugenie im Zaum zu halten. Es gibt reizende Wesen, Stiefkinder des Schicksals, denen alles im Leben gelingen müßte und die doch unglücklich leben und sterben, die von einem bösen Geiste geplagt werden und den unerwartetsten Umständen zum Opfer fallen. So war die harmlose, lustige Eugenie dem boshaften Despotismus eines Emporkömmlings verfallen, nachdem sie das mütterliche Gefängnis verlassen hatte. Angelika dagegen, die zu großen Herzenskämpfen gerüstet war, wurde in die hohen Sphären der Pariser Gesellschaft verschlagen und trug den Zügel im Nacken.
Offenbar war Frau von Vandenesse unter der Last von Schmerzen zusammengebrochen, die für ihre, nach sechsjähriger Ehe noch harmlose Seele zu schwer waren. Mit angezogenen Beinen und geknicktem Körper lag sie in ihrem Kanapee, den Kopf wie geistesabwesend auf die Lehne geneigt. Sie war nach kurzem Besuch des italienischen Theaters zu ihrer Schwester geeilt. In ihren Haarflechten hafteten noch einige Blumen; andere lagen verstreut auf dem Teppich neben ihren Handschuhen, ihrem seidenen, mit Pelzwerk verbrämten Umhang, ihrem Muff und ihrem Hütchen. Tränen schimmerten zwischen den Perlen auf ihrer weißen Brust. Ihre feuchten Augen deuteten auf seltsame Anvertrauungen. War das inmitten all dieses Luxus nicht furchtbar? Die Gräfin hatte nicht den Mut zu sprechen.
»Armes Liebchen,« sagte Frau du Tillet, »welchen falschen Begriff hast du von meiner Ehe, daß du auf den Einfall kamst, mich um Hilfe zu bitten!«
Der heftige Sturm, den die Gräfin im Busen ihrer Schwester entfesselt hatte, lockte diese Worte aus ihrem Herzensgrunde hervor, wie die Schneeschmelze die festesten Steine aus dem Bett eines Gießbaches hochreißt. Als sie dies Geständnis vernahm, blickte sie die Bankiersfrau stumpf an. Die Glut des Schreckens dörrte ihre Tränen und ihre Augen blieben starr.
»Bist du denn auch in einem Abgrund, mein Engel?« fragte sie leise.
»Meine Leiden werden deine Schmerzen nicht stillen.«
»Erzähle sie mir, liebes Kind. Ich bin noch nicht so selbstsüchtig, um dir nicht zuzuhören. Wir leiden also wieder gemeinsam, wie in unserer Mädchenzeit?«
»Aber wir leiden getrennt,« entgegnete die Bankiersfrau schwermütig. »Wir leben in zwei feindlichen Lagern. Ich gehe in die Tuilerien, seit du nicht mehr hingehst. Unsere Gatten gehören zwei entgegengesetzten Parteien an. Ich bin die Frau eines ehrgeizigen Bankiers, eines schlechten Menschen, mein Schätzchen! Du hast einen guten, edlen, hochherzigen Mann.«
»Oh! keine Vorwürfe,« versetzte die Gräfin. »Um sie zu verdienen, müßte eine Frau den Kummer eines trüben, farblosen Daseins ausgekostet haben und davon befreit sein, um ins Paradies der Liebe einzugehen. Sie müßte das Glück kennen, das man zeitlebens bei einem andern fände, müßte an den unendlichen Gefühlen einer Dichterseele teilnehmen, ein Doppelleben führen, mit dem Geliebten durch den Weltraum fliegen, mit ihm die Welt der Ehrsucht durchmessen, seinen Kummer mitleiden, auf den Flügeln seiner grenzenlosen Sehnsüchte emporsteigen, auf einer ungeheuren Bühne agieren – und zugleich in den Augen der beobachtenden Welt kalt und heiter erscheinen. Ja, meine Liebe, man muß oft ein ganzes Meer in seinem Herzen tragen und dabei, wie wir jetzt, zu Hause auf einem Lehnstuhl beim Feuer sitzen. Und doch, welches Glück, in jedem Augenblick einen ungeheuren Anteil zu nehmen, der alle Fibern des Herzens vervielfältigt und weitet, gegen nichts kalt zu sein, in raschem Laufe mitgerissen zu werden und aus der Menge ein Auge aufleuchten zu sehen, vor dem die Sonne erblaßt, jeden Aufenthalt als Störung zu empfinden und Lust zu haben, einen lästigen Menschen zu töten, der uns einen jener seltenen Augenblicke raubt, wo das Glück auch in den kleinsten Adern pocht. Welcher Rausch, endlich zu leben! Ach, Liebste, leben, wo so viele Frauen auf den Knien um Gefühle betteln, die vor ihnen entfliehen! Bedenke, Kind, daß es für solche Gedichte nur eine Zeit gibt, die Jugend. In ein paar Jahren kommt der Winter, der Frost. Ach, besäßest du diese lebendigen Schätze des Herzens und ihr Verlust drohte dir . . .«
Frau du Tillet hatte entsetzt ihr Gesicht in den Händen verborgen, als sie diese furchtbare Litanei hörte.
»Ich habe nicht daran gedacht, dir den mindesten Vorwurf zu machen, meine Liebste,« sagte sie endlich, als sie heiße Tränen über das Gesicht ihrer Schwester rollen sah. »Du wirfst in einem Augenblick mehr Feuerbrände in meine Seele, als meine Tränen auslöschen könnten. Ja, das Leben, das ich führe, könnte in meinem Herzen die Liebe rechtfertigen, die du mir eben geschildert hast. Ich möchte glauben, wenn wir uns öfter gesehen hätten, stände es mit uns anders als jetzt. Hättest du meine Leiden gekannt, du hättest dein Glück richtig eingeschätzt, hättest mich vielleicht zum Widerstand ermutigt, und ich wäre jetzt glücklicher. Dein Unglück ist ein unglücklicher Zufall, dem ein anderer Zufall abhelfen wird. Ich dagegen lebe in stetem Unglück. Für meinen Mann bin ich der Kleiderständer seines Luxus, das Aushängeschild seines Ehrgeizes, eine seiner befriedigten Eitelkeiten. Er besitzt für mich weder wahre Zuneigung noch Vertrauen. Ferdinand ist hart und glatt wie dieser Marmor,« sagte sie, an den Kaminmantel schlagend. »Er mißtraut mir. Alles, was ich für mich erbitten könnte, ist im voraus abgeschlagen, aber was ihm schmeichelt und seinen Reichtum verkündet, brauche ich mir nicht erst zu wünschen. Er stattet meine Zimmer aus, vergeudet Riesensummen für meine Tafel. Meine Leute, meine Theaterlogen, alles Äußere ist vom feinsten Geschmack. Seine Eitelkeit spart nichts. Er würde die Windeln seiner Kinder mit Spitzen besetzen, aber er hört ihre Schreie nicht, errät ihre Bedürfnisse nicht. Verstehst du mich? Ich bin mit Diamanten behängt, wenn ich zu Hofe gehe; in der Stadt trage ich die kostbarsten Sachen, aber für mich habe ich keinen Heller. Frau du Tillet, auf die man vielleicht neidisch ist, die im Golde zu schwimmen scheint, verfügt über keine hundert Franken. Wenn der Vater sich nicht um seine Kinder kümmert, dann noch viel weniger um ihre Mutter! Ach, er hat es mich recht roh fühlen lassen, daß er mich gekauft hat, daß meine Mitgift, über die ich nicht verfüge, ihm entrissen ist. Käme es nur darauf an, Macht über ihn zu gewinnen, vielleicht könnte ich ihn gefügig machen. Aber ich unterliege einem fremden Einfluß, dem Einfluß einer Frau von über fünfzig Jahren, die Ansprüche macht und herrscht, der Witwe eines Notars. Ich fühle es, ich werde erst bei ihrem Tode frei sein.
»Hier ist mein Leben geregelt wie das einer Königin. Man schellt zu meinen Mahlzeiten wie in deinem Schloß. Unfehlbar fahre ich zu einer bestimmten Stunde ins Bois. Ich werde stets von zwei Lakaien in voller Livree begleitet und muß stets zur gleichen Stunde zurück sein. Statt Befehle zu geben, erhalte ich sie. Beim Ball, im Theater kommt ein Lakai zu mir und sagt: »Gnädige Frau, der Wagen ist vorgefahren.« Und oft muß ich mitten in meinem Vergnügen fort. Ferdinand würde böse werden, wenn ich mich der für seine Frau festgesetzten Etikette nicht fügte, und ich habe Angst vor ihm. Mitten in diesem verfluchten Luxus sehne ich mich zurück und finde, daß unsere Mutter eine gute Mutter war. Sie ließ uns wenigstens die Nächte, und ich konnte mit dir plaudern. Kurz, ich lebte mit einem Wesen, das mich liebte und mit mir litt. Hier dagegen, in diesem prunkvollen Hause, bin ich in einer Wüste.«