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Theodosius beherrschte jetzt die Familie ohne Widerspruch; und auch die Freunde des Hauses hatten nichts gegen ihn einzuwenden. Man wird gleich sehen, weshalb. Die Phellions, die von Brigitte und Thuillier ein Loblied auf Theodosius singen hörten, fürchteten, diese beiden mächtigen Persönlichkeiten zu verstimmen, und stimmten daher mit ein, selbst wenn diese ewigen Lobgesänge ihnen unangenehm waren oder übertrieben schienen. Ebenso verhielt es sich mit der Familie Minard. Übrigens war das Benehmen La Peyrades, der »Hausfreund« geworden war, andauernd großartig; er entwaffnete das Mißtrauen durch die Art, wie er sich beiseite hielt; er schien nichts anderes als ein Möbelstück mehr zu sein; er ließ die Phellions und Minards in dem Glauben, daß er von Brigitte und von Thuillier gezählt und gewogen und zu leicht befunden war, so daß er niemals etwas anderes werden konnte als ein netter junger Mann, dem man nützlich sein wollte.
»Er denkt vielleicht,« sagte Thuillier eines Tages zu Minard, »daß meine Schwester ihn in ihrem Testament bedenken wird; aber da kennt er sie noch nicht.«
Dieses Wort, eine Idee von Theodosius, beschwichtigte die Bedenken des mißtrauischen Minards.
»Er ist uns ja sehr ergeben,« sagte an einem andern Tage die alte Jungfer zu Phellion, »aber er ist uns auch einigermaßen zu Dank verpflichtet: wir lassen ihn umsonst wohnen, und er ißt fast immer bei uns . . .«
Diese Ablehnung von Seiten des alten Fräuleins, die Theodosius angeregt hatte, ging in den Familien, die im Salon Thuillier verkehrten, von Mund zu Mund und zerstreute alle Befürchtungen, und Theodosius unterstützte die Äußerungen, die Thuillier und seine Schwester fallen gelassen hatten, durch die Unterwürfigkeit eines Schmarotzers. Beim Whist rechtfertigte er die Fehler, die sein »Freundchen« machte. Sein Lächeln, starr und gütig wie das der Frau Thuillier, begleitete alle kleinbürgerlichen Albernheiten der Schwester und des Bruders.
So erreichte er, wonach er mit aller Macht strebte, daß er von seinen wirklichen Gegnern übersehen wurde, und schuf sich einen Schirm, hinter dem sein Einfluß verborgen blieb. Vier Monate hindurch zeigte er den starren Ausdruck einer Schlange, die ihre verschluckte Beute verdaut. Zuweilen ging er mit Colleville oder Flavia in den Garten, um sich dort auszulachen, seine Maske abzulegen, sich zu erholen und neue Kräfte zu sammeln, und überließ sich vor seiner zukünftigen Schwiegermutter nervösen Leidenschaftsausbrüchen, über die sie erschrak, oder die sie rührten.
»Tue ich Ihnen nicht leid?« . . . sagte er am Abend vor dem provisorischen Zuschlag des Hauses, das Thuillier für fünfundsiebzigtausend Franken an sich brachte. »Ein Mann wie ich muß mit Katzentritten schleichen, seinen Spott zurückhalten und seine Galle hinunterschlucken! . . . und dann noch bei Ihnen Widerstand finden!«
»Aber lieber Freund, mein liebes Kind!« . . . sagte Flavia, die sich noch nicht entschieden hatte.
Diese Worte zeigten, bis zu welcher Temperatur der gewandte Künstler seine Intrige mit Flavia gesteigert hatte. Die arme Frau schwankte zwischen den Ansprüchen ihres Herzens und ihres Gewissens, zwischen ihrem religiösen Gefühl und ihrer ihr selbst unerklärbaren Leidenschaft hin und her. Inzwischen gab der junge Felix Phellion mit rühmlicher Hingebung und Beharrlichkeit dem jungen Colleville Stunden; er opferte seine Zeit und glaubte damit für seine zukünftige Familie zu arbeiten. Um sich dafür dankbar zu zeigen, lud man auf Theodosius' Anraten den Professor an den Donnerstagen bei Collevilles zum Essen ein, und der Advokat fehlte niemals dabei. Flavia häkelte ihm bald eine Börse, bald stickte sie ihm Pantoffeln oder eine Zigarrentasche, und der glückliche junge Mann erklärte:
»Ich bin doch schon genügend belohnt, gnädige Frau, durch das Glück, Ihnen nützlich sein zu können.«
»Wir sind nicht reich, Herr Phellion,« erwiderte Colleville, »aber, Teufel noch mal, wir wollen auch nicht undankbar sein!«
Der alte Phellion rieb sich die Hände, wenn sein Sohn nach solchen Abenden zu Hause davon erzählte, und er sah seinen geliebten edlen Felix bereits als Célestes Gatten.
Trotzdem, je mehr Céleste ihn liebte, um so ernster und schwermütiger zeigte sie sich gegen Felix, nachdem ihre Mutter sie eines Abends ernsthaft zur Rede gestellt und ihr gesagt hatte:
»Du darfst dem jungen Phellion keine Hoffnung machen, mein Kind. Weder dein Vater noch ich können über deine Verheiratung bestimmen; du hast Rücksicht auf deine Aussichten zu nehmen; es handelt sich weniger darum, einem vermögenslosen Professor zu gefallen, als dir die Zuneigung Fräulein Brigittes und deines Paten zu sichern. Wenn du deine Mutter nicht umbringen willst, mein Engel, jawohl, ins Grab bringen . . . dann mußt du mir hierin blindlings gehorchen, und sei fest überzeugt, daß wir vor allem doch dein Glück wollen.«
Da die endgültige Erteilung des Zuschlags auf Ende Juli festgesetzt war, so riet Theodosius Ende Juni Brigitte, sich bereit zu halten; sie verkaufte also am Tage vorher alle ihre Staatspapiere und die ihrer Schwägerin. Die Aufhebung des Vier-Mächte-Vertrages, eine richtige Beleidigung für Frankreich, ist eine historische Tatsache; aber es muß hier daran erinnert werden, daß zwischen Juli und Ende August die französische Rente bei der Beunruhigung durch die Kriegsaussichten, denen Herr Thiers nicht genügend widersprach, um zwanzig Franken fiel, so daß die dreiprozentige auf Sechzig stand. Das war aber noch nicht alles: Die finanzielle Deroute hatte auch auf die Grundstückspreise in Paris einen unheilvollen Einfluß, und alle Grundstücke, die zum Verkauf standen, gingen zu niedrigem Preise fort. Diese Ereignisse ließen Theodosius als Propheten erscheinen, als einen genialen Menschen in Brigittes und Thuilliers Augen, dem das Haus endgültig für fünfundsiebzigtausend Franken zugeschlagen wurde. Der Notar, der während dieses politischen Zusammenbruchs angezeigt und dessen Amt verkauft worden war, sah sich genötigt, für einige Tage aufs Land zu gehen; aber er behielt die zehntausend Franken Claparons. Auf Theodosius' Rat schloß Thuillier mit Grindot zu einem festen Preise ab, der für den Notar zu arbeiten glaubte, wenn er das Haus fertig baute; und da in dieser Periode ängstlicher finanzieller Zurückhaltung die unterbrochene Bautätigkeit die Arbeiter ohne Beschäftigung ließ, so konnte der Architekt für billigen Preis seine Lieblingsschöpfung in vollendeter Weise zu Ende führen.
Für fünfundzwanzigtausend Franken stellte er vier Salons mit Vergoldung fertig! . . . Theodosius verlangte, daß der Kontrakt schriftlich gemacht und daß an Stelle von fünfundzwanzigtausend fünfzigtausend Franken gesetzt wurden. Diese Grundstückserwerbung erhöhte Thuilliers Ansehen beträchtlich. Der Notar hatte angesichts der politischen Ereignisse, die wie ein Wirbelsturm an einem schönen Tage hereingebrochen waren, den Kopf verloren. In seiner Machtstellung sicher, gestützt auf so viele geleisteten Dienste und Thuillier durch das Buch, das sie zusammen verfaßten, an sich gefesselt haltend, besonders aber von Brigitte wegen seines zurückhaltenden Wesens verehrt, denn er hatte niemals eine Anspielung auf seine eigene Bedürftigkeit gemacht oder von Geld gesprochen, gab sich Theodosius nun etwas weniger unterwürfig als bisher. Brigitte und Thuillier sagten zu ihm:
»Nichts kann Ihnen unsere Achtung rauben, Sie sind bei uns jetzt wie zu Hause; Minards und Phellions Meinung über Sie, die Sie zu fürchten scheinen, bedeuten für uns nicht mehr als ein Vers von Victor Hugo. Also lassen Sie sie reden, . . . und tragen Sie den Kopf hoch!«
»Wir brauchen sie noch für Thuilliers Wahl in die Kammer!« sagte Theodosius. »Folgen Sie nur meinen Ratschlägen; Sie fahren doch recht gut dabei, nicht wahr? Wenn Sie das Haus erst endgültig haben, dann kostet es Sie nichts, denn Sie können dreiprozentige Rente zum Kurse von Sechzig für Frau Thuillier kaufen, damit sie wieder in den Besitz ihres ganzen Vermögens gelangt . . . Warten Sie zunächst ab, bis die Frist für das Höherbieten abgelaufen ist, und halten Sie die fünfzehntausend Franken für unsere Gauner bereit.«
Brigitte wartete nicht so lange: sie machte ihre gesamten Kapitalien bis auf eine Summe von hundertzwanzigtausend Franken flüssig und kaufte für Rechnung ihrer Schwägerin und auf deren Namen zwölf Stücke der dreiprozentigen Rente für zweihundertvierzigtausend Franken und zehn auf ihren Namen und beschloß, sich nicht weiter mit den Darlehnsgeschäften zu befassen. Ihr Bruder würde nun, außer seiner Pension, vierzigtausend Franken Einkommen haben, Frau Thuillier zwölftausend und sie selbst achtzehntausend, im Ganzen also sechzigtausend Franken und freie Wohnung, die sie auf achttausend Franken schätzte.
»Wir sind ebenso reich, wie Minards!« rief sie aus.
»Wir wollen noch nicht Viktoria rufen,« sagte Theodosius zu ihr, »der zweite Bietungstermin ist erst in acht Tagen. Ich habe nur für Ihre Angelegenheiten gesorgt, aber meine eigenen Verhältnisse sind recht zerrüttet . . .«
»Mein liebes Kind, rechnen Sie auf Ihre Freunde! . . .« rief Brigitte; »wenn Sie fünfundzwanzig Louisdors nötig haben, werden Sie sie immer bei uns finden! . . .«
Bei diesen Worten wechselte Theodosius einen lächelnden Blick mit Thuillier, der ihn mit hinaus nahm und zu ihm sagte:
»Nehmen Sie das meiner guten Schwester nicht übel, sie sieht die Welt aus der Froschperspektive . . . Wenn Sie aber fünfundzwanzigtausend Franken nötig haben, so würde ich Sie Ihnen leihen . . . nach meinen ersten Mieteinnahmen«, setzte er hinzu.
»Thuillier, ich trage einen Strick um den Hals«, rief Theodosius aus. »Ich habe Wechselschulden, seitdem ich Advokat bin . . . Aber still! . . .« fügte er hinzu, erschrocken darüber, daß ihm dies Geständnis seiner Lage entschlüpft war. »Ich bin in den Krallen von Schurken . . . aber ich werde sie schon klein bekommen . . .«
Als er sein Geheimnis verriet, hatte Theodosius dabei eine doppelte Absicht: er wollte Thuillier auf die Probe stellen, und er wollte einem verhängnisvollen Schlage zuvorkommen, den er bei dem verbissenen, unheilvollen Kampfe, den er führen mußte, seit langer Zeit erwartete. Wenige Worte werden seine furchtbare Lage erklären.
Als er sich im tiefsten Elend seiner Armut befand, besuchte ihn nur Cérizet in seiner Dachstube, wo er bei großer Kälte im Bette lag, da er keinen Anzug mehr hatte. Er besaß nur noch ein Hemd. Seit drei Tagen lebte er von einem Brote, das er vorsichtig einteilte, und er legte sich die Frage vor: »Was soll werden?« In diesem Augenblick erschien sein alter Beschützer, der eben begnadigt worden war und das Gefängnis verlassen hatte. Die Projekte, die die beiden Männer vor dem Holzfeuer schmiedeten, der eine in eine Decke seiner Wirtin gehüllt, der andere in seine Niederträchtigkeit, brauchen nicht erwähnt zu werden. Am andern Tage brachte ihm Cérizet, der Dutocq am Morgen getroffen hatte, eine Hose, eine Weste, Rock, Hut und Stiefel, die er im Temple gekauft hatte, und nahm Theodosius zum Essen mit. Der Provenzale verzehrte bei Pinson, in der Rue de l'Ancienne-Comédie, die Hälfte eines Diners, das siebenundvierzig Franken kostete. Beim Nachtisch, zwischen zwei Weinsorten, sagte Cérizet zu seinem Freunde:
»Willst du mir über fünfzigtausend Franken Wechsel ausstellen und dich als Advokat unterzeichnen?«
»Dafür würdest du nicht fünftausend Franken bekommen . . .« erwiderte Theodosius.
»Das geht dich nichts an; du wirst sie schon voll bezahlen; das ist unser Gewinnanteil, der des Herrn, der dich freihält, und meiner, bei einer Angelegenheit, bei der du nichts riskierst, während du den Advokatentitel, eine gute Klientel und die Hand eines blutjungen Mädchens mit wenigstens zwanzig- bis dreißigtausend Franken Rente haben sollst. Weder Dutocq noch ich können sie heiraten, wir müssen dich ausstatten, dir das Ansehen eines anständigen Menschen geben, für deine Nahrung und Wohnung sorgen und dir eigene Möbel anschaffen . . . Wir müssen also Garantien verlangen. Ich sage das nicht meinetwegen, ich kenne dich ja, sondern für den Herrn, der mich nur vorschiebt . . . Wir equipieren dich eben, weißt du, als einen Seeräuber, der mit weißem Fleisch handeln soll. Wenn wir diese Mitgift nicht kapern können, nun, dann werden wir andere Beutezüge unternehmen . . . Unter uns gesagt, wir brauchen die Dinge nicht mit der Zange anzufassen, das ist klar . . . Wir werden dir Instruktionen geben, denn die Sache muß von langer Hand vorbereitet werden; es wird tüchtige Arbeit geben, o ja! . . . Aber hier sind Stempelmarken . . .«
»Kellner, Tinte und Feder!« sagte Theodosius.
»So liebe ich die Leute!« rief Dutocq.
»Unterschreibe: ›Theodosius de la Peyrade‹ und setze eigenhändig hinzu: ›Advokat, Rue Saint-Dominique-d'Enfer‹ unter die Worte ›Akzeptiert für zehntausend‹; denn wir werden das Datum festsetzen, wir werden den Wechsel protestieren lassen und ausklagen, alles ganz in der Stille, damit wir auch einen Haftbefehl gegen dich erwirken können. Die Reeder müssen eine Sicherheit haben, wenn der Kapitän und die Brigg auf dem Meere schwimmen.«
Am Tage nach Theodosius' Eintragung in die Advokatenrolle leistete der Gerichtsvollzieher des Friedensgerichts Cérizet den Dienst, im geheimen alle erforderlichen Schritte zu tun; er ging am Abend zu dem Advokaten, und alles wurde ordnungsmäßig erledigt, ohne daß es an die Öffentlichkeit gelangte. Das Handelsgericht fällt hundert solche Urteile in jeder Sitzung. Man weiß, was für strenge Statuten die Kammer der Pariser Advokaten hat. Diese Körperschaft und die der Anwälte üben eine scharfe Disziplin über ihre Mitglieder aus. Ein Advokat, der genötigt wäre, nach Clichy zu gehen, würde aus der Advokatenrolle gestrichen werden. Daher hatte Cérizet auf Dutocqs Rat gegen ihren Strohmann die einzige Maßregel ergriffen, mit der sich jeder von ihnen fünfundzwanzigtausend Franken von Célestes Mitgift sichern konnte. Als er die Wechsel ausstellte, hatte Theodosius sich nur die Lebensmöglichkeit verschaffen wollen; aber in dem Verhältnis, wie sich seine Aussichten erhellten, in dem Maße, wie er in der Rolle, die er spielte, von Stufe zu Stufe auf der sozialen Leiter immer höher stieg, träumte er auch davon, sich von seinen beiden Spießgesellen losmachen zu können. Als er daher die fünfundzwanzigtausend Franken von Thuillier erbat, hoffte er, bei Cérizet einen Nachlaß von fünfzig Prozent auf seine Wechselschuld durchsetzen zu können.
Solche gemeinen Spekulationsgeschäfte sind leider keine Ausnahmen; sie kommen in Paris in zu unverhüllter Form vor, als daß der Historiker sie bei einer genauen und vollständigen Schilderung der gesellschaftlichen Verhältnisse übergehen dürfte. Dutocq, dieser abgefeimte Gauner, schuldete noch fünfzehntausend Franken auf sein Amt und hoffte, in der Erwartung eines erfolgreichen Ausgangs, vulgär gesprochen, die Leine noch bis zum Ende des Jahres 1840 locker lassen zu können. Bisher also hatte keine der drei Personen sich gerührt oder aufbegehrt. Jeder war sich dessen bewußt, was er vermochte und welche Gefahr er lief. Gleich war bei allen das Mißtrauen, die gegenseitige Beobachtung, das düstere Schweigen oder der bestimmte Blick, wenn der wechselseitige Verdacht sich auf den Gesichtern malte und bei ihren Unterredungen zum Vorschein kam. Besonders seit den letzten zwei Monaten hatte die Stellung Theodosius' die Stärke eines detachierten Forts erlangt. Dutocq und Cérizet hielten in ihrem Boot eine Pulverkammer bereit, für die die Lunte immer brannte; aber der Sturm konnte sie ausblasen, und der Teufel konnte die Pulverkammer ins Wasser stürzen.
Der Augenblick, wo die wilden Tiere ihr Futter erhalten, war von je als der kritischste angesehen worden, und dieser Augenblick war für die drei ausgehungerten Tiger gekommen. Cérizet sagte zuweilen zu Theodosius mit dem Blicke des Revolutionsmannes, den die Souveräne zweimal in diesem Jahrhundert kennengelernt haben:
»Ich habe dich zum König gemacht, und ich selbst bin nichts. Ist man nicht alles, so ist man gar nichts.«
Ein starkes Gefühl des Neides riß Cérizet mit Lawinengeschwindigkeit fort. Dutocq war von der Gnade seines wohlhabend gewordenen Sekretärs abhängig. Theodosius hätte seine beiden Teilhaber und ihre Wechsel am liebsten auf zwei Scheiterhaufen verbrannt. Alle drei wußten zu genau, daß jeder seine Gedanken verbarg, als daß sie sich nicht gegenseitig beargwöhnt hätten. Theodosius machte eine dreifache Hölle durch, wenn er an das Aufdecken der Karten bei seinem Spiel und an seine Aussichten dachte! Was er Thuillier sagte, war ein Schrei der Verzweiflung; er warf die Angel im Wasser des alten Bourgeois' aus und konnte nur fünfundzwanzigtausend Franken herausfischen.
›Und vielleicht auch gar nichts, in einem Monat!‹ sagte er sich, als er heimgekehrt war.
Es ergriff ihn ein tiefer Haß gegen Thuillier. Aber er hielt ihn an einer Harpune, die bis ins Innerste der Eigenliebe gedrungen war, mit dem projektierten Werke fest, das den Titel »Über Steuern und Amortisation« tragen sollte, worin er die Gedanken, die in dem saint-simonistischen »Globe« publiziert worden waren, zusammenzustellen gedachte, indem er sie in seinen warmen Südländerstil übertrug und sie in ein System brachte. Thuilliers Vertrautheit mit dieser Materie mußte Theodosius dabei sehr nützlich sein. Er hielt sich an diesem Stricke fest und beschloß, auf diese so kümmerliche Basis gestützt, die Eitelkeit eines Dummkopfs auszunützen. Bei so etwas baut man, je nach dem betreffenden Charakter, entweder auf Granit oder auf Sand. Nach reiflicher Überlegung war er froh über sein Geständnis.
›Wenn er sich überzeugt hat, daß ich ihm für ein Opfer von fünfzehntausend Franken ein Vermögen gesichert habe, wo ich selbst so nötig Geld brauche, dann wird er mich für den Inbegriff der Ehrenhaftigkeit halten müssen.‹
Claparon und Cérizet waren am Abend vor dem Ablauf der Frist für das Mehrbieten gegen den Notar in folgender Weise vorgegangen: Cérizet, dem Claparon das Losungswort gegeben und den Rückzug des Notars gemeldet hatte, ging zu diesem und sagte ihm:
»Ein Freund von mir, Claparon, den Sie ja kennen, hat mich gebeten, Sie aufzusuchen; er erwartet Sie übermorgen abend, wie verabredet; er hat das Papier, auf das Sie warten, im Besitz und wird es Ihnen gegen die stipulierten zehntausend Franken aushändigen, aber ich muß dabei zugegen sein, denn mir gehören davon fünftausend Franken . . . und ich teile Ihnen mit, verehrter Herr, daß die Unterschrift unter dem Revers noch nicht ausgefüllt ist.«
»Ich werde erscheinen«, sagte der Exnotar.
Der arme Teufel wartete die ganze Nacht mit einer Angst, die man sich vorstellen kann, denn es handelte sich um seine Rettung oder seinen definitiven Ruin. Bei Sonnenaufgang aber erschien an Stelle Claparons ein Amtsbote des Handelsgerichts mit einem regelrechten Urteil und ersuchte ihn, ihm nach Clichy zu folgen.
Cérizet hatte sich mit einem Gläubiger des unglücklichen Notars verständigt, dem er ihn auszuliefern sich für die Hälfte der Schuld verpflichtet hatte. Von den für Claparon bestimmten zehntausend Franken mußte das in den Hinterhalt gelockte Opfer, um sich die Freiheit zu bewahren, stehenden Fußes sechstausend Franken hergeben. Soviel betrug diese Schuld.
Als er seinen Anteil an dieser Erpressung einstrich, sagte Cérizet zu sich:
»Mit diesen tausend Talern werde ich Claparon aus dem Lande schaffen.«
Als der Notar zurückkam, sagte Cérizet zu ihm:
»Claparon ist ein Elender, mein Herr! Er hat von dem Ersteigerer, der nun rechtmäßiger Eigentümer ist, fünfzehntausend Franken erhalten . . . Drohen Sie ihm, daß Sie seinen Gläubigern seinen Zufluchtsort verraten und eine Klage gegen ihn wegen betrügerischen Bankrotts anhängig machen werden, dann wird er Ihnen die Hälfte herausgeben.«
In seiner Wut schrieb der Notar einen flammenden Brief an Claparon. Dieser befürchtete in seiner Verzweiflung eine Verhaftung, und Cérizet nahm es auf sich, ihm einen Paß zu verschaffen.
»Du hast mir viele Streiche gespielt, Claparon«, sagte Cérizet; »aber höre, du sollst mir Gerechtigkeit widerfahren lassen. Alles was ich besitze, sind tausend Taler . . . und die will ich dir geben! Geh nach Amerika und fang dort von neuem an, dir ein Vermögen zu verschaffen, wie ich es hier tue.«
Am Abend reiste Claparon, von Cérizet als alte Frau verkleidet, mit der Schnellpost nach le Havre ab. Cérizet sah sich nun als Herrn der von Claparon verlangten fünfzehntausend Franken und konnte ruhig, ohne daß ihn etwas drängte, auf Theodosius' Erscheinen warten. Dieser ungewöhnlich scharfsinnige Mensch hatte unter dem Namen eines Gläubigers, dem ein Betrag von zweitausend Franken geschuldet wurde, eines Zwischenmeisters, der dazu nicht ordnungsmäßig berechtigt war, den Antrag auf einen Höherbietungstermin gestellt. Es war das eine Idee von Dutocq, die er sich zur Ausführung zu bringen beeilte. Man konnte nun noch einmal fünfzehntausend Franken verlangen, um diese neue Konkurrenz aus dem Wege zu räumen: das bedeutete ein Mehr von siebentausendfünfhundert Franken in seine Tasche, und er brauchte sie, um eine der Thuillierschen ganz gleiche Angelegenheit in Szene zu setzen, auf die ihn Claparon, der infolge seines Unglücks stillgelegt war, aufmerksam gemacht hatte. Es handelte sich um ein Haus in der Rue Geoffroy-Marie, das für die Summe von sechzigtausend Franken verkauft werden sollte. Die Witwe Poiret wollte zehntausend Franken dazu hergeben, der Weinhändler ebensoviel und außerdem, noch Wechsel über zehntausend Franken ausstellen. Diese dreißigtausend Franken zusammen mit dem, was er noch bekommen sollte, und den sechstausend Franken, die er hatte, würden ihm erlaubt haben, sein Glück zu versuchen, um so mehr, als die von Theodosius geschuldeten fünfundzwanzigtausend Franken ihm sicher zu sein schienen.
›Die Frist für den zweiten Bietungstermin ist abgelaufen‹, sagte sich Theodosius, als er Dutocq bat, Cérizet her zu bestellen; ›wenn ich jetzt versuchte, mich von meinem Blutsauger zu befreien?‹
»Sie können über die Angelegenheit nirgends anderswo als bei Cérizet verhandeln, da sich Claparon dort befindet«, erwiderte Dutocq.
Theodosius ging also zwischen sieben und acht Uhr abends in die Höhle des Armenbankiers, den der Gerichtsvollzieher am Morgen von dem Besuche ihres wandelnden Kapitals benachrichtigt hatte.
La Peyrade wurde von Cérizet in der scheußlichen Küche empfangen, in der, wie wir gesehen haben, das Elend kleingehackt und der Jammer gekocht wurde. Ganz wie zwei Tiere im Käfig schritten sie auf und ab, während sich folgende Szene zwischen ihnen abspielte:
»Bringst du die fünfzehntausend Franken?«
»Nein, aber ich habe sie zu Hause.«
»Warum hast du sie nicht bei dir?« fragte Cérizet scharf.
»Das wirst du gleich hören«, antwortete der Advokat, der auf dem Wege zwischen der Rue Saint-Dominique und der Estrapade seinen Entschluß gefaßt hatte.
Der Provenzale, der sich auf dem Rost, auf den ihn seine beiden Gesellen gelegt hatten, wand, hatte einen guten Gedanken gehabt, der ihm wie ein Funke aus den glühenden Kohlen aufgeblitzt war. In der Gefahr kommt Einem die Erleuchtung. Er rechnete auf die Wirkung der Offenheit, die jedermann umstimmt, selbst einen Schurken. Man empfindet fast immer ein dankbares Gefühl, wenn der Gegner beim Duell sich bis auf den Gurt entblößt hat.
»Schön!« sagte Cérizet, »jetzt beginnt der Schwindel . . .«
Das war ein unheilverkündendes Wort, das fast ganz durch die Nase ausgestoßen wurde und dadurch eine fürchterliche Betonung erhielt.
»Du hast mich in eine vorzügliche Lage gebracht, und ich werde dir das niemals vergessen, mein lieber Freund«, entgegnete Theodosius bewegt.
»Oh, wie wahr ist das! . . .« sagte Cérizet.
»Höre mich an: du zweifelst doch nicht an meinen guten Absichten?«
»O ja! . . .« entgegnete der Wucherer.
»Nein.«
»Du willst die fünfzehntausend nicht herausrücken . . .«
Theodosius zuckte die Achseln und sah Cérizet scharf an, der sich daraufhin still verhielt.
»Wenn du dich an meiner Stelle befändest, vor der Mündung einer geladenen Kanone, würdest du dann nicht das Verlangen empfinden, ein Ende zu machen? . . . Höre mich aufmerksam an! Du machst gefährliche Geschäfte, es wäre also ein Glück für dich, wenn du innerhalb der Pariser Justizverwaltung jemanden hättest, auf den du dich verlassen könntest . . . Wenn ich meinen Weg so weiter mache, kann ich Staatsanwaltsgehilfe werden, und in drei Jahren vielleicht schon Generalstaatsanwalt sein. Ich biete dir heute meine aufopferungsfähige Freundschaft an, die dir ganz sicher von Nutzen sein wird, sei es auch nur, um später mal wieder eine ehrenhafte Stellung zurückzugewinnen. Meine Bedingungen nun sind . . .«
»Bedingungen?!« rief Cérizet aus.
»In zehn Minuten bringe ich dir fünfundzwanzigtausend Franken, dagegen händigst du mir alle Wechsel aus, die du von mir in Händen hast . . .«
»Und Dutocq? Und Claparon? . . .« rief Cérizet.
»Die wirst du schießen lassen«, sagte Theodosius leise zu seinem Freunde.
»Das ist nett!« antwortete Cérizet; »und da hast du dieses Taschenspielerkunststück ausgeheckt, wo du nur fünfzehntausend Franken in Händen hast, die dir nicht einmal gehören? . . .«
»Ich kann noch zehntausend dazu beschaffen . . . und im übrigen, wir beiden kennen uns doch . . .«
»Wenn du die Möglichkeit hast, bei deinen Bourgeois zehntausend Franken loszueisen,« sagte Cérizet lebhaft, »dann kannst du auch fünfzehn verlangen . . . Bei dreißigtausend bin ich dein Mann . . . Offenheit gegen Offenheit.«
»Du verlangst etwas Unmögliches!« rief Theodosius aus. »Wenn du jetzt mit einem Menschen wie Claparon zu tun hättest, so wären deine fünfzehntausend Franken verloren, denn das Haus gehört bereits unserm Thuillier . . .«
»Ich werde es ihm sagen«, entgegnete Cérizet, tat, als ob er mit Claparon sprechen wollte und ging in das Zimmer hinauf, aus dem sich der besagte Claparon zehn Minuten vor Theodosius' Erscheinen als Bürgerfrau verkleidet entfernt hatte.
Die beiden Gegner hatten, wie man sich denken kann, so leise verhandelt, daß man nichts verstehen konnte, denn sobald Theodosius die Stimme erhob, machte Cérizet dem Advokaten ein Zeichen, daß Claparon sie hören könne. Die fünf Minuten, während deren Theodosius das Geräusch zweier Stimmen vernahm, waren für ihn eine Tortur, denn es handelte sich für ihn um leben oder sterben. Dann kam Cérizet herunter und näherte sich seinem Genossen mit einem Lächeln auf den Lippen, die Augen von infernalischer Bosheit leuchtend und vor Freude zitternd, der leibhaftige vergnügte Luzifer!
»Ich weiß ja nichts! . . .« bemerkte er und zuckte die Achseln; »aber Claparon hat seine Beziehungen, er hat mit den Bankiers der Hochfinanz zusammen gearbeitet; der hat gelacht und gesagt: ›Das konnte ich mir denken! . . .‹ Du wirst gezwungen werden, mir morgen die fünfundzwanzigtausend Franken zu bringen, die du mir jetzt anbietest, und du wirst trotzdem deine Wechsel zurückkaufen müssen, mein Junge.«
»Und weshalb? . . .« fragte Theodosius, der das Gefühl hatte; daß seine Wirbelsäule sich auflöste, als ob irgendeine innerliche elektrische Entladung sie zerbrochen hätte.
»Weil das Haus uns gehört!«
»Aber wie denn?«
»Claparon hat den Antrag auf einen Termin zum Höherbieten im Namen eines Zwischenmeisters gestellt, des ersten Gläubigers, der ihn verklagt hat, einer kleinen Kröte, namens Sauvaignou; der Anwalt Desroches hat die Sache übernommen, und morgen früh werdet ihr eine Zustellung erhalten . . . Die Sache verlohnt es, daß Claparon, Dutocq und ich uns Gelder zu verschaffen suchen . . . Was wäre ich ohne Claparon geworden? Deshalb habe ich ihm auch verziehen . . . Ja, ich verzeihe ihm, und ich habe ihn sogar, du wirst mir das vielleicht nicht glauben, lieber Freund, umarmt! Also komm uns mit andern Bedingungen.«
Diese letzten Worte hörten sich fürchterlich an, besonders wenn man den Gesichtsausdruck Cérizets, der sie begleitete, beobachtete; er machte sich das Vergnügen, eine Szene aus dem »Legatar« aufzuführen, während er den Eindruck verfolgte, den das auf den Provenzalen machte.
»Oh, Cérizet! . . .« rief Theodosius aus, »mir das, der ich immer dein Bestes wollte!«
»Ja, siehst du, mein Lieber,« erwiderte Cérizet, »unter uns gesagt, das muß man haben! . . .«
Und er schlug sich aufs Herz.
»Das hast du nicht. Sobald du glaubst, daß du uns an der Kandare hast, willst du uns klein kriegen . . . Ich habe dich aus deinem Ungeziefer herausgezogen und vor dem Schrecken des Verhungerns bewahrt! Du wärst wie ein Schwachkopf zugrunde gegangen . . . Wir haben dich instand gesetzt, ein Vermögen zu erwerben, wir haben dir die schönste soziale Stellung verschafft und dich dorthin gebracht, wo etwas zu holen war . . . und nun benimmst du dich so! Aber ich kenne dich jetzt: wir werden unsre Waffen gebrauchen.«
»Das heißt also: Krieg!« sagte Theodosius.
»Du hast ja zuerst auf mich geschossen«, entgegnete Cérizet.
»Aber wenn ihr mich vernichtet, dann Adieu mit euren Erwartungen! Und wenn euch das nicht gelingt, dann habt ihr einen Feind an mir!«
»Dasselbe habe ich gestern zu Dutocq gesagt«, erwiderte Cérizet kühl; »aber was willst du? Wir werden zwischen beiden Eventualitäten zu wählen haben . . . je nach den Umständen. Aber«, fuhr er nach einer Pause fort, »ich bin ein guter Kerl: bring mir morgen früh um neun Uhr die fünfundzwanzigtausend Franken, dann kann Thuillier das Haus behalten . . . Wir werden dich auch weiterhin überall unterstützen, und du wirst uns dafür bezahlen . . . Ist das, nach dem, was gestern geschehen ist, nicht nett von mir, mein Junge? . . .« Und Cérizet schlug Theodosius auf die Schulter in so zynischer Weise, daß es vernichtender wirkte als ehemals das Eisen des Henkers.
»Also, dann laß mir Zeit bis morgen mittag,« bemerkte der Provenzale, »denn, wie du sagst, ich muß das Geld doch erst loseisen!«
»Ich werde versuchen, Claparons Einwilligung zu erlangen; er hat es sehr eilig, der Mann!«
»Also auf morgen«, sagte Theodosius wie Einer, der seinen Entschluß gefaßt hat.
»Guten Abend, lieber Freund«, sagte Cérizet mit seinem nasalen Ton, der auch das schönste Wort der Sprache verunziert hätte. – »Der hat sein Fett weg!« . . . sagte er zu sich, als er Theodosius auf der Straße mit wankenden Schritten forteilen sah.