Honoré de Balzac
Die Kleinbürger
Honoré de Balzac

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Nach dem Diner im Familienkreise ließ sich der Notar, zu dem man am nächsten Tage sich ohne weitere Feierlichkeit begeben wollte – denn eine zweite Auflage der verunglückten Soiree war nicht möglich –, bei Fräulein Thuillier melden. Der Beamte war gekommen, um den Beteiligten den Entwurf des Kontraktes zu unterbreiten, bevor er die Reinschrift fertigen ließ. Diese Aufmerksamkeit war erklärlich bei einem Manne, der zu einer so wichtigen Persönlichkeit wie Thuillier in Beziehungen trat, und der nichts versäumen wollte, um ihn als ständigen Klienten zu bekommen.

La Peyrade war zu klug, um den Anschein zu erwecken, als schenke er der Vorlesung irgendwelche Aufmerksamkeit. An einigen von Brigitte verlangten Änderungen, die dem Notar einen hohen Begriff von den Fähigkeiten der alten Jungfer in bezug auf Geschäftsangelegenheiten beibrachten, konnte der Provenzale leicht erkennen, daß man ihm gegenüber ein wenig mehr Vorsichtsmaßregeln traf, als anständig war, aber er wollte keine Schwierigkeiten machen; er wußte, daß die Maschen eines Kontraktes niemals so eng sind, daß nicht ein entschlossener kluger Mann hindurchzuschlüpfen vermöchte; es wurde dann die Zusammenkunft im Notariatsbureau auf den nächsten Tag um zwei Uhr verabredet, wo nur die Familie zugegen sein sollte.

Während des Abends trieb la Peyrade, indem er die entgegenkommende Haltung, die er Céleste angeraten hatte und die sie, so gut sie konnte, zeigte, gewissermaßen sein Spiel mit dem armen Mädchen und zwang sie, indem er warme Dankbarkeit und beglückte Liebe heuchelte, ihm in einem Tone zu antworten, der himmelweit von dem wahren Empfinden ihres Herzens entfernt war, das Felix Phellion ganz und gar ausfüllte.

Als Flavia den Provenzalen so alle seine Verführungskünste entwickeln sah, mußte sie an die Art denken, mit der er sich einst bemühte, sie zu umgarnen. »Dieses Ungeheuer!« sagte sie ganz leise vor sich hin; aber sie mußte trotz ihrer Qual ein freundliches Gesicht zeigen, und einen Augenblick später gab ein von la Peyrade dem Hause Thuillier anscheinend geleisteter wichtiger Dienst seinem Einfluß und seinem Ansehen die letzte Weihe.

Minard wurde jetzt gemeldet.

»Meine lieben Freunde,« sagte er beim Hereintreten, »ich komme, um Ihnen eine kleine Eröffnung zu machen, die Sie sicherlich überraschen wird, und die uns allen eine Lehre ist, wie vorsichtig man mit der Einführung von Fremden bei sich sein soll.«

»Wieso denn?« fragte Brigitte neugierig.

»Diese Ungarin, von der Sie so begeistert waren, diese Frau Torna, Gräfin von Godollo . . .«

»Nun, und?« bemerkte die alte Jungfer.

»Nun,« fuhr Minard fort, »die ist nichts von alledem, und Sie haben zwei Monate lang ein ganz gemeines ausgehaltenes Frauenzimmer auf jede Weise verhätschelt.«

»Wer hat Ihnen denn das erzählt?« fragte Brigitte, die nicht so leicht zugeben wollte, daß sie so zum Narren gehalten worden war.

»Man hat mir das nicht erzählt,« antwortete der Bürgermeister, »ich habe mich selbst davon überzeugt, de visu.«

»Was? Sie verkehren also mit ausgehaltenen Frauenzimmern?« sagte Brigitte, die ihrerseits zum Angriff überging. »Das ist ja reizend, wenn das Zélie wüßte!«

»Nicht er verkehrt mit ihnen,« bemerkte Thuillier schlau, »sondern sein Herr Sohn, von dem wir nette Sachen erfahren haben!«

»Jawohl,« sagte Minard, ärgerlich über die Art, wie seine Neuigkeit aufgenommen wurde; »da dieser Bursche die Keckheit gehabt hat, Ihnen seine Komödiantin zu empfehlen, brauche ich Ihnen ja nichts mehr zu verschweigen. Herr Julian brüstet sich in der Tat damit, daß er eine Schauspielerin von einem kleinen Theater aushält, und in Gesellschaft dieses Geschöpfs habe ich ›Ihre Freundin‹, Frau von Godollo, getroffen. Ich denke, daß ich mich klar ausdrücke und daß danach Zweifel nicht mehr möglich sind.«

»Für Sie mag das klar sein,« entgegnete Brigitte, »aber vorausgesetzt, daß Sie nicht einer von den netten Vätern sind, die die Kinder mit ihren Mätressen bekannt machen, möchte ich Sie doch fragen, wie Sie sich in der Gesellschaft von Herrn Julians ›Blondine‹ befinden konnten.«

»Ah, Sie scheinen anzunehmen,« sagte Minard, in Eifer geratend, »daß ich imstande wäre, die Ausschweifungen meines Sohnes noch zu unterstützen?«

»Ich nehme gar nichts an,« erwiderte Brigitte; »aber Sie selbst haben uns doch gesagt: ›Ich befand mich in der Gesellschaft von . . .‹.«

»Das habe ich nicht gesagt,« unterbrach sie Minard, »ich habe nur erklärt, daß ich Frau von Godollo, die Frau Komorn heißt und ebensowenig Gräfin ist wie Sie und Frau Colleville, in Gesellschaft der gemeinen Kreatur gesehen habe, mit der mein Sohn sein Geld und seine Zeit durchbringt. Soll ich Ihnen nun noch Näheres über das Wie und Warum dieser Begegnung berichten?«

»Aber gewiß,« sagte Brigitte in ungläubigem Tone, »eine solche Erklärung halte ich nicht für überflüssig.«

»Also um Ihnen zu zeigen, wie ich über die Ausschweifungen meines Sohnes denke, muß ich Ihnen mitteilen, daß ich, durch einen anonymen Brief davon in Kenntnis gesetzt, sofort Schritte tat, um mich mit eigenen Augen von der Richtigkeit zu überzeugen, denn im allgemeinen weiß ich wohl, was man von anonymen Briefen zu halten hat.«

»Merkwürdig,« wandte sich Brigitte mit einer Zwischenbemerkung an la Peyrade, »daß wir noch keine über Sie, Herr Advokat, erhalten haben!«

»Wenn Sie mir nicht zuhören wollen,« sagte Minard, durch dieses Unterbrechen verletzt, »dann hätten Sie mich nicht nach den Einzelheiten zu fragen brauchen.«

»Gewiß,« erwiderte Brigitte, »aber ich höre zu. Sie wollten sich also mit eigenen Augen überzeugen . . .«

»Ja,« begann Minard wieder, »und an dem Tage, wo Sie bei Ihrem Diner auf mich warteten, war ich in die Folies Dramatiques gegangen, dem Schauplatz der Verirrungen Julians, wo das Debüt seines Frauenzimmers stattfinden sollte. Ich wollte mich vergewissern, ob der Bursche, der angeblich krank war, nicht gleich nach uns das Haus verlassen hatte, um auf seinem Posten bei der Claque zu sein; es ist wirklich traurig, wenn man konstatieren muß, wie tief diese Unsinnigen sinken können, wenn sie sich in eine Person vom Theater verlieben.«

»Und er war dort?« fragte Brigitte, die sehr wenig Anteil an dem väterlichen Schmerz des Herrn Bürgermeisters zu nehmen schien.

»Nein, mein Fräulein, er war nicht da. Im Zuschauerraum habe ich ihn nicht bemerkt; aber als der Vorhang aufging, und ich infolge einer Bewegung auf der Bühne mein Auge dorthin richtete, erblickte ich meinen Jungen, die Schande meines Alters, wie er in der gemütlichsten Weise mit einem Feuerwehrmann plauderte und dabei so weit aus der Kulisse heraustrat, daß einer der groben Stammgäste des Parterres ihm zurief: ›Nimm doch deine Visage zurück, du Störenfried!‹ Sie können sich vorstellen, wie erfreut mein väterliches Herz über diese freundliche Aufforderung war.«

»Ja,« sagte Brigitte, »Sie haben ihn zu sehr verwöhnt, den lieben Herrn Julian.«

»Ich verwöhne ihn so wenig,« fuhr Minard fort, »daß ich ohne die dringenden Vorstellungen seiner Mutter schon die schärfsten Maßregeln gegen ihn ergriffen hätte; nachdem ich aber gestern die verständigen und so toleranten Worte des Abbés Gondrin mit angehört hatte, kam ich auf den Gedanken, seinen Rat einzuholen, dementsprechend ich dann folgendermaßen vorging . . .«

»Verstehen sich denn Geistliche auch auf solche Sachen?« bemerkte Brigitte verächtlich.

»Der Beweis, daß sie sich darauf verstehen, ist, daß das, was mir der Herr Vikar vorgeschlagen hatte, vollkommen geglückt ist. Ich ging zu der Mutter dieser gefährlichen Person und sagte ihr, daß ich, um ein Ende mit dieser garstigen Sache zu machen, über die sie gewiß ebenso traurig sei wie ich, mich zu einem Opfer entschließen wolle; daß ich bis zu einer Rente von fünfzehnhundert Franken, oder einem Kapital von dreißigtausend Franken, das, auf einmal ausbezahlt, eine Mitgift für ihre Tochter sein würde, gehen wolle, und fügte hinzu, daß sie von meinem Sohne nichts zu erwarten hätte, da ich ihm nichts mehr geben würde. ›Das trifft sich gut‹, antwortete mir die Frau, ›da ist gerade ein Sekretär beim Friedensrichter des zwölften Bezirks, der ein Auge auf Olympia geworfen und der jetzt eben wieder eine Anknüpfung versucht hat‹.«

»Hat sie Ihnen nicht den Namen dieses Sekretärs genannt?« fragte la Peyrade.

»Ich glaube nicht,« antwortete Minard; »jedenfalls weiß ich ihn nicht mehr; alles wurde in einem Augenblick mit der Mutter geordnet, die mir eine sehr ordentliche Frau zu sein scheint.«

»Aber bei alledem«, bemerkte Brigitte, »sehe ich immer noch nichts von Frau von Godollo.«

»Haben Sie nur Geduld,« sagte Minard, »›das einzige, was ich fürchte‹, erklärte mir die Mutter der Schauspielerin, ›das sind die bösen Ratschläge einer Polin, einer Frau Cramone, in die meine Tochter sich vernarrt hat und von der sie sich leiten läßt; vielleicht, wenn Sie sie sehen und ihr ein Geschenk in Aussicht stellen wollten, daß sie dann auf unsere Seite treten würde; sie ist gerade hier, soll ich sie rufen? Ich werde ihr, ohne Ihren Namen zu nennen, sagen, daß ein Herr sie zu sprechen wünscht.‹ Ich stimme zu, die Fremde wird geholt, und nun stellen Sie sich mein Erstaunen vor, als ich Ihre Frau von Godollo vor mir sehe, die, sobald sie mich erblickt hat, mit einem tollen Lachen davonrennt.«

»Und sind Sie auch ganz sicher, daß sie es war?« fragte Brigitte. »Wenn Sie sie nur flüchtig gesehen haben . . .«

Der schlaue Provenzale war nicht der Mann, der sich eine solche Gelegenheit entgehen ließ, gegen den Schwindel der Ungarin aufzutreten.

»Der Herr Bürgermeister hat sich nicht getäuscht«, sagte er in bestimmtem Tone.

»Was? Sie wußten das?« sagte Fräulein Thuillier, »und Sie haben uns mit einem solchen Gezücht verkehren lassen?«

»Im Gegenteil,« sagte la Peyrade; »ohne Skandal und ohne jemandem etwas mitzuteilen, habe ich Ihr Haus von ihr befreit. Sie erinnern sich noch, wie plötzlich diese unglückselige Person ihre Wohnung verlassen hat: ich war es, der ihr, nachdem ich entdeckt hatte, wer sie war, zwei Tage Zeit gab, den Platz zu räumen, indem ich ihr drohte, im Weigerungsfalle alles zu enthüllen.«

»Mein Lieber,« sagte Thuillier und drückte dem Advokaten die Hand, »du hast da ebenso klug wie entschlossen gehandelt. Wir haben damit noch eine Verpflichtung mehr gegen dich.«

»Also Schwamm über die ganze Sache, Papa Minard!« sagte Brigitte. »Wir werden unsererseits über die Streiche des Herrn Julian reinen Mund halten. Wollen Sie nicht eine Tasse Tee trinken?«

»Gern«, erwiderte Minard.

»Céleste,« sagte die alte Jungfer, »klingle doch nach Henri, er soll den großen Kessel aufs Feuer setzen.«

Obgleich sie sich erst am Nachmittag des nächsten Tages zum Notar begeben sollten, begann Brigitte bereits vor acht Uhr mit ihrem »Herumgewirtschafte«, wie es ihr Bruder nannte.

Brigitte erklärte, daß man, wenn man sich nicht zeitig zurecht mache, niemals fertig werden würde. Sie verhinderte Thuillier daran, in das Bureau der Zeitung zu gehen, indem sie behauptete, daß man ihn, wenn er einmal weggegangen wäre, nicht mehr wiedersehen würde; sie stieß die Köchin Josephine herum, damit das Déjeuner früher bereit sei, und trotz der Vorgänge des vorhergehenden Abends mußte sie sich große Mühe geben, Frau Thuillier nicht wieder vor den Kopf zu stoßen, die sich nicht so, wie sie wollte, nach dem berühmten Grundsatz richtete: lieber zu früh als zu spät.

Sie machte dann bei Collevilles denselben Lärm, legte ihr Veto gegen eine zu elegante Toilette ein, die Flavia anziehen wollte, und bezeichnete Céleste genau das Kleid und den Hut, den sie wählen sollte. Was Colleville anlangt, der, wie er sagte, von seinem Bureau im Rathause nicht wegbleiben durfte, so zwang sie ihn, schon morgens den Frack anzuziehen, stellte seine Uhr nach ihrer und erklärte ihm dann, daß man, wenn er zu spät käme, »zunächst« nicht auf ihn warten würde.

Recht komisch war es, daß Brigitte, die alle andern gehetzt hatte, beinahe selbst nicht zur festgesetzten Zeit fertig geworden wäre. Da sie allen helfen zu müssen glaubte und von ihren gewohnten Beschäftigungen um keinen Preis etwas versäumt hätte, war sie mit Nachsehen und Handanlegen überall so sehr dabei, daß sie schließlich selbst nicht fertig wurde. Die Schuld an der Verzögerung, die sie beinahe verursacht hätte, wurde übrigens dem Friseur zugeschoben, den sie hatte holen lassen, damit er ihr »den Scheitel mache«. Da der Künstler sich für verpflichtet gehalten hatte, ihr eine moderne Frisur zu machen, so mußte er alles wieder aufmachen und eine Frisur herstellen, die den hergebrachten Gewohnheiten seiner Kundin entsprach, welche gerade darin bestanden, daß sie überhaupt niemals richtig frisiert war, sondern beständig, vulgär gesprochen, wie eine »wütende Katze« aussah.

Gegen einhalb zwei Uhr waren la Peyrade, Thuillier, Colleville, Frau Thuillier und Céleste im Salon versammelt. Flavia erschien gleich darauf; um ein Schimpfen zu vermeiden, hatte sie ihre Armbänder erst unterwegs befestigt und sah nun zu ihrer Freude, daß sie Brigitte noch zuvorgekommen war. Diese war nicht nur ärgerlich über ihre Verspätung, sondern auch noch aus einem andern Grunde in Wut. Unter den gegebenen Umständen hatte sie es für erforderlich gehalten, ein Korsett anzulegen, ein Raffinement, das sie sonst für entbehrlich hielt. Die Unglückliche, die sie jetzt, und zwar gerade an der gewünschten Stelle, schnüren mußte, hatte allein einen Begriff davon, wie schrecklich und stürmisch solche Korsett-Tage zu verlaufen pflegten.

»Ich möchte lieber eine Obeliske zu schnüren haben«, sagte das Mädchen; »ich glaube ›die‹ würde sich besser dabei benehmen und jedenfalls kein solches Geschimpfe loslassen.«

Während man sich so in aller Stille darüber lustig machte, die Königin Elisabeth bei einem solchen Zeitvertrödeln ertappt zu haben, erschien der Portier und übergab Thuillier ein verschlossenes Paket, das eben bei ihm abgegeben worden war und die Aufschrift trug: »Herrn Thuillier, Direktor des Echos de la Bièvre. – Sehr eilig!«

Der Adressat beeilte sich, die Hülle zu öffnen und fand darin eine Nummer eines offiziösen Blattes, das schon einmal sich wenig entgegenkommend und wohlwollend gegenüber der neuen Redaktion gezeigt hatte, indem es den »Austausch«, den die periodisch erscheinenden Journale von Zeitung zu Zeitung gern untereinander zu vollziehen pflegen, ablehnte.

Beunruhigt über diese Zusendung in seine Privatwohnung und nicht in das Bureau des Echos, entfaltete Thuillier schnell das Blatt und las mit einer Erregung, die man sich vorstellen kann, folgenden Artikel, der, um die besondere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, mit roter Tinte eingerahmt war:

»Eine obskure Zeitung war schon im Begriff, im Dunkeln und eines natürlichen Todes zu sterben, als ein Streber neuesten Datums daran ging, sie künstlich zu beleben. Seine Absicht geht dahin, sie als Schemel zu benutzen, um sich von seinem städtischen Amte zu der so beneideten Stellung eines Deputierten hinaufzuschwingen. Glücklicherweise wird diese an den Tag gekommene Intrige sich als zwecklos erweisen. Die Wähler werden sich durch die fadenscheinigen Lockungen dieses Stücks Papier nicht fangen lassen, und falls die Lächerlichkeit dieser albernen Kandidatur sie nicht schon inzwischen gerichtet haben sollte, so werden wir diesem Herrn Prätendenten rechtzeitig klarmachen, daß es für die hohe Ehre, ein Repräsentant des Volkes zu sein, nicht schon genügt, das erforderliche Geld zum Ankauf einer zurückgesetzten Zeitung und zum Engagement eines Helfers zu haben, der das abscheuliche Kauderwelsch seiner Artikel und Broschüren ins Französische übersetzt. Wir begnügen uns für heute mit dieser kleinen Warnung, aber unsere Leser mögen überzeugt sein, daß wir sie auf dem Laufenden über diese Wahlkomödie halten werden, falls man den traurigen Mut besitzen sollte, sie fortzusetzen.«

Thuillier las diese Kriegserklärung zweimal durch, wobei sich seine Miene stark verdüsterte; dann nahm er la Peyrade beiseite und sagte zu ihm:

»Sieh mal, das ist eine ernste Sache.«

Der Provenzale las den Artikel.

»Nun und?« sagte er dann.

»Wie denn, nun und?« bemerkte Thuillier.

»Was siehst du denn Ernstes darin?«

»Was ich darin Ernstes sehe? Ich finde, daß man nicht gut beleidigender gegen mich schreiben kann.«

»Du bist doch wohl nicht im Zweifel,« fuhr la Peyrade fort, »daß das von irgendeinem edlen Cérizet stammt, der dir aus Rache einen Knüppel zwischen die Beine wirft.«

»Ob Cérizet oder ein anderer, wer diesen Schmähartikel verfaßt hat, ist ein unverschämter Mensch,« sagte Thuillier aufgeregt, »und ich kann dazu nicht stillschweigen.«

»Ich bin nicht der Meinung,« sagte la Peyrade, »daß man darauf antworten soll. Du bist weder genannt noch näher bezeichnet, obgleich es schwer ist, den Angriff nicht auf dich zu beziehen. Unser Gegner muß sich erst noch weiter vorwagen, dann kann man ihm zur rechten Zeit eins auf die Finger geben.«

»Keineswegs!« erklärte Thuillier; »eine solche Beleidigung darf man nicht stillschweigend hinnehmen.«

»Teufel nochmal!« sagte der Advokat, »was hast du für eine empfindliche Haut! Aber bedenke doch, mein Lieber, daß du ein Wahlkandidat und ein Journalist bist, und daß man sich dazu eine Elefantenhaut anschaffen muß.«

»Ich lasse mir grundsätzlich nicht auf den Fuß treten, lieber Freund. Außerdem wird ja schon die Fortsetzung angekündigt. Man muß daher mit solchen Frechheiten kurzen Prozeß machen.«

»Also schön! . . .« sagte la Peyrade. »Beim Journalismus wie bei Wahlkandidaturen hat ein heftiges Temperament gewiß auch sein Gutes: man verschafft sich Respekt und beugt vielen Angriffen vor.«

»Gewiß,« meinte Thuillier, »principiis obsta; heute nicht, weil wir keine Zeit dazu haben, aber spätestens morgen werde ich die Sache dem Gericht anzeigen.«

»Dem Gericht?« rief la Peyrade, »du willst die Sache vors Gericht bringen? Aber es liegt ja hier kein Anlaß zu einem Strafprozeß vor; weder du noch die Zeitung sind genannt, und dann ist solch ein Prozeß ja eine jämmerliche Geschichte; das sieht aus, wie wenn Kinder, die Schläge bekommen haben, sich bei der Mutter oder beim Lehrer beklagen. Wenn du noch sagen wolltest, daß Fleury dafür eintreten soll, das würde ich verstehen, obgleich es dich persönlich angeht und es sehr schwer sein dürfte, darin eine Beleidigung für die soziale Position der Zeitung, für die der verantwortliche Redakteur eintreten muß, zu sehen.«

»Was denn?« entgegnete Thuillier, »glaubst du etwa, daß ich mich mit einem Cérizet oder irgendeinem Raufbold der Regierung einlassen werde? Ich setze meinen Stolz darein, mein Lieber, nur bürgerlichen Mut zu beweisen, der sich nicht einem Vorurteil beugt, und der, statt sich selber Genugtuung zu verschaffen, sich auf die Verteidigungsmittel beschränkt, die ihm das Gesetz gewährt. Übrigens habe ich mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des Kassationshofs auch durchaus keine Lust, mich in die Lage zu versetzen, mein Vaterland zu verlassen, oder einige Jahre im Gefängnis zubringen zu müssen.«

»Wir werden über alles das noch zu reden haben«, sagte la Peyrade; »aber deine Schwester würde alles für verloren halten, wenn wir diese kleine Verlegenheit vor ihr erwähnen wollten.«

Als er Brigitte eintreten sah, hatte Colleville ausgerufen:

»Komplett!«

Und er hatte einen Refrain aus der »Pariserin« angestimmt.

»Mein Gott, Colleville, was haben Sie für schlechte Manieren!« sagte die Verspätete, indem sie sich beeilte, einen Stein in den Nachbarsgarten zu schmeißen, um keinen in ihren geworfen zu bekommen. – »Sind wir nun alle fertig?« fuhr sie fort und zog sich ihre Mantille vor dem Spiegel zurecht. »Wie spät ist es denn? Wir wollen doch nicht zu früh kommen, wie Leute aus der Provinz.«

»Zwanzig Minuten vor zwei Uhr,« sagte Colleville, »meine Uhr geht genau nach der Tuilerienuhr.«

»Also dann ist es gerade richtig«,erklärte Brigitte; »bis zur Rue Caumartin brauchen wir nicht mehr. – Josephine,« rief sie aus der Salontür, »wir essen um sechs Uhr, stecken Sie die Pute rechtzeitig an den Spieß und passen Sie ordentlich auf, daß sie nicht wie voriges Mal verbrannt ist. – Was ist denn da los?« bemerkte sie und schloß schnell die Tür, die sie geöffnet hatte; »ein Störenfried, hoffentlich war Henri so klug und hat gesagt, daß niemand zu Hause ist.«

Das war aber durchaus nicht der Fall, denn Henri erschien und meldete, daß ein älterer Herr, mit Orden geschmückt und von sehr vornehmen Äußeren, in einer dringenden Angelegenheit empfangen zu werden wünsche.

»Konnten Sie ihm denn nicht sagen, daß niemand zu Hause ist?«

»Das hätte ich schon getan, wenn das Fräulein nicht gerade die Salontür geöffnet hätte, so daß der Herr die ganze Familie versammelt sah.«

»Ja,« sagte Brigitte, »Sie haben natürlich immer Recht.«

»Was soll ich ihm für einen Bescheid geben?« fragte der Diener

»Sagen Sie,« antwortete Thuillier, »daß ich bedaure, den Herrn nicht empfangen zu können, weil mich der Notar zur Unterzeichnung eines Ehekontrakts erwartet, daß ich ihn aber, wenn er in zwei Stunden wiederkommen will . . .«

»Das habe ich ihm alles schon gesagt«, erwiderte Henri; »er hat mir aber geantwortet, daß dieser Kontrakt gerade der Grund sei, weswegen er gekommen wäre, und daß sein Besuch Sie mehr anginge als ihn.«

»Also empfange ihn und expediere ihn mit ein paar Worten«, sagte Brigitte; »das wird schneller gehn, als wenn wir uns hier Henris Auseinandersetzungen anhören, der der reine Redner ist.«


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