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Drittes Kapitel

Zum Frühjahr kam eine große herumziehende Ballettgesellschaft zur Stadt, um Vorstellungen zu geben. Hög hatte es stets seiner Frau untersagt, die Kinder ins Theater mitzunehmen: es würde nur ihren Geschmack verderben, meinte er. Da William nur zur Sommerzeit in Kopenhagen gewesen war, wo die Schauspieler Ferien hatten, war er noch nie in einem Theater gewesen.

Wenn die Kameraden in der Schule vom Theater sprachen, wohin die meisten häufig gingen, schwieg er immer still, wie beschämt. Die andern merkten das und sprachen nun gerade erst recht davon, um ihn zu necken. Da konnte er oft ganz bleich werden. Wie in sich versunken, saß er dann da und biß sich die Lippen blutig.

Mitunter wenn gerade Vorstellung war, ging er am Abend nach dem »Graben« hinunter, wo das Theater stand, stellte sich beim Eingang auf und sah einem jeden, der hineinging, sehnsüchtig nach. Er wußte nicht, was er darum gegeben hätte, mit den andern hineingehn zu dürfen. Das Weinen saß ihm im Halse, und er konnte sich nicht entschließen, nach Hause zu gehn. Einmal war es ihm gelungen, bis zur Garderobe vorzudringen. Wenn die Tür aufging, konnte er den roten Vorhang sehn und die gemalten Säulen längs der einen Wand.

Und alle, die hineingingen, sahen so heiter aus! Sie lachten und flüsterten zusammen, während sie sich ihre Handschuhe zuknöpften. Am Schalter kauften sie sich Programme. Er hätte keins zu kaufen brauchen – er kannte alle Namen auswendig, ja im Schlafe!

»Nun ist er wieder unten beim Theater gewesen,« sagte Stella zu Hög, »laß ihn lieber gleich hingehn, Bester, wir bekommen doch nicht eher Ruhe vor ihm.«

Hög gab nach: »Ballett war ja etwas anderes ...« Die kleinen Stückchen, die man dazwischen spielte, hatten nicht viel zu bedeuten; außerdem war diese Gesellschaft bei weitem besser als gewöhnlich. Sie sollten schon gleich den ersten Abend hin. William war ganz aus dem Häuschen; er hatte Fieber, aß nichts zu Mittag und fing zu »laufen« an. Dies war eine merkwürdige Gewohnheit von ihm. Sowie irgend etwas Besonderes los war, ihn irgend etwas erregte, lief er, die Hände in den Taschen, wie ein Besessener herum. Am liebsten Treppen, nach den großen Böden des hinteren Hofgebäudes, hier von Boden zu Boden, treppauf, treppab, trällernd, pfeifend, wie von Sinnen. Heute war es ganz besonders schrecklich mit ihm. Er hatte sich rein das Leben aus dem Körper gerannt; die Zunge hing ihm förmlich aus dem Halse, als er hinunterkam.

Nun sollte er es sehn!

Er riß die Knöpfe von beiden Handschuhen ab vor lauter Ungeduld und Erregung, und Stella mußte ihm einen neuen Kragen geben, so hatte er den ersten beim Umnehmen zerdrückt. Er stand und trippelte mit den Füßen; es war ihm nicht möglich, auch nur einen Augenblick stillzustehen. Hög sagte, wenn das so weiterginge, käme er überhaupt nicht mit.

William kam es vor, als ob die letzte halbe Stunde überhaupt kein Ende nahm.

Endlich brachen sie auf. Hög ging mit Nina Arm in Arm. Stella und er konnten nie recht Schritt halten. William lief bald voran, bald nach, wie ein Hund. Seine Hände waren ganz feucht und fieberig.

Sie gaben ihre Sachen an der Garderobe ab, kauften ein Programm – William mußte dabei daran denken, wie oft er hier gestanden und den Leuten zugesehn, wie sie ihre vier Schillinge aus dem Portemonnaie heraussuchten. Stella nahm ihn bei der Hand. Sie sah ihn an und lächelte. Seine Augen waren glänzend, groß und voller Tränen; er war ganz bleich und bebte. »Gott steh ihm bei!« sagte sie leise vor sich hin. Die Worte klangen gleichsam wie ein Seufzer. »Was ist dir?« fragte er. Die Mutter antwortete nicht.

Der Saal war nicht groß. Die Luft schlug ihm wie eine warme, staubgeschwängerte Wolke entgegen. Er sah nicht ganz klar und mußte mit den Augen blinzeln. Richtig, da war der rote Vorhang und die Säulen, der Souffleurkasten und der Kronleuchter. Er verschlang alles gleichsam mit einem Blicke.

»Wirds hier nicht heller?« fragte er leise. Er hätte nicht laut sprechen mögen, und wenn man ihm wer weiß was dafür gegeben hätte.

Stella lachte. »Was sagt er?« fragte Hög, während sie auf ihre Plätze zugingen.

»Er findet, daß es hier zu dunkel ist,« antwortete Stella.

»Ja, hier müßte es doch heller sein,« meinte William ernst.

Sie setzten sich, William neben Stella. Der Junge sprach kein Wort mehr; er saß ganz still und starrte auf den Vorhang, der sich mitunter, durch einen Luftzug von der offenen Tür her, bewegte. Er wußte selbst nicht recht, ob es so war, wie er es sich vorgestellt hatte. Alle seine Vorstellungen und Bilder glitten wie im Nebel fort; seine Ehrfurcht war so groß, daß er alles als richtig nahm, wie es war.

Es kamen immer mehr Leute; Stella nickte nach rechts und links und erzählte aller Welt, daß ihr Mann endlich erlaubt hatte, die Kinder mitzunehmen.

William hörte es um sich herumsummen gleichsam wie das einförmig steigende und fallende Schwirren eines Bienenstocks in Aufruhr. Der Schuldirektor schlug ihn von hinten auf die Schulter und flüsterte ihm etwas zu. Der Junge trocknete sich den Schweiß von der Wange, ohne zu antworten, ohne überhaupt zu hören, was gesprochen wurde. Er saß mit dem Kinn auf die Brust gesenkt und wackelte ganz langsam auf seinem Sitz hin und her.

Das Orchester hörte er nur undeutlich; seine Augen hingen an den Goldfransen des Vorhangs. Endlich ging er auf. Der Junge fuhr zusammen, sah dann im Rampenlicht zwei Damen; es war ihm, als ob sie aus einem Nebel kamen.

Stella hatte wenig Auge für das, was auf der Bühne vorging; sie saß hinter ihrem Fächer versteckt und sah von der Seite auf ihren Sohn. Er saß ganz stille da. Sie beugte sich zu ihm nieder und flüsterte ihm etwas zu, aber er schüttelte nur den Kopf und starrte weiter krampfhaft auf die Bühne. Die ganze Komödie spiegelte sich in seinen Zügen.

Stella konnte den ganzen Abend nicht die Augen von ihm lassen.

Sie war mit ihrer Mutter zum erstenmal als fünfzehnjähriges Mädchen im Theater gewesen. Wie gut sie sich noch daran erinnerte! Man gab »Romeo und Julia«. Sie hatte es zwar nicht verstanden, die glühenden Worte waren an ihrem Ohr nur wie eine Art Musik vorbeigeglitten – aber wie schön war es doch gewesen! Sie hatte damals tief in ihrem Innersten etwas gefühlt wie eine Erwartung, eine Sehnsucht, ein Seufzen nach dem Leben, was kommen sollte.

Der Fächer bewegte sich immer lebhafter in ihrer Hand. Sie wandte sich um und sah Hög an. Er saß müde, den Kopf auf die Hand gestützt, da; ein starker Duft von Eßbukett schlug ihr aus seinen Sachen entgegen.

Einen Augenblick beschattete sie ihr Gesicht mit dem Fächer, während ihr Auge auf der zusammengesunkenen Gestalt ruhte. Darauf schlug sie den Blick nieder und eine Träne rollte langsam die Wange hinab ...

Ihr ganzes Leben bis heute hatte sie in diesem einen Augenblick gesehn. Und plötzlich stand es wie ein fürchterliches Rätsel vor ihr, wie sie an diesen Mann gekettet worden war, der hier in der Hitze des Theaters frierend dasaß. Es war ihr, als ob sie in eine weite Einöde blickte, über der ein schwerer Nebel hing. Und eine unsagbare, trostlose Bitterkeit schnürte ihr die Kehle zusammen.

Eine Bekannte beugte sich vor und sprach zu ihr. Sie lächelte mechanisch, ohne zu hören, und dieses Lächeln blieb gleichsam wie versteinert auf ihrem Antlitz liegen.

Sie sah wieder William an: er hatte sich halb erhoben, und den Kopf weit nach vorn zwischen die vor ihnen Sitzenden gedrängt, lebte er ganz auf der Bühne. Sie beugte sich nieder und küßte ihn leidenschaftlich auf die Stirn.

In diesem Kusse gab sie ihm alle Hoffnungen ihres Lebens zum Erbe.

Der Vorhang fiel. William setzte sich. »Es war nicht besonders,« sagte er und fing zu kritisieren an. So machte man nicht – oder so, und das hieß nicht lieben, der Liebhaber hatte ja ganz ruhig dagestanden! Er hätte beinahe an der rührendsten Stelle gelacht, so ein Klotz! Und der Liebhaberin fehlte am rechten Schuh die Schnalle! Und wirkliche Gräfinnen hielten nicht so den Kopf, wenn sie Tee tranken! Und so ging es weiter.

Es war etwas in diesem allem, was Stella nicht verstand, nicht begreifen konnte. »Amüsierst du dich denn nicht?« fragte sie ganz erstaunt.

»Ach, himmlisch!« Er sah auf; seine Augen strahlten.

Nun spielte das Orchester einen spanischen Tanz, die Introduktion zum Bolero des Programms.

Der Tanz fing schwermütig an, wie schleppend in langsamem Tempo. Dann wurde er lebhafter, und plötzlich hörte man die wilden Laute des Bolero in sausender Fahrt.

Der Vorhang ging auf. Aller Augen wandten sich der Bühne zu, die einen Wald vorstellte. Da hörte man die Kastagnetten erklingen, und mit erhobenen Armen schwangen sich die Damen über die Bühne.

William fuhr von seinem Sitze auf ... wurde puterrot, das war es also, das war es ... Und die Tanzenden jagten aneinander in verschlungenen Kreisen; die Weiber glitten in die Arme der Männer, machten sich wieder frei; und während die Musik mit immer wachsender Schnelligkeit raste, wurden die Bewegungen der Tanzenden immer wilder, und lockend klangen dazu die Kastagnetten ...

William klammerte sich an die Bank fest; das Herz klopfte ihm zum Zerspringen.

Er hatte rote Flecken auf den Wangen, die Augen glänzten, und er atmete stoßweise. Stella bemerkte es, und von einer plötzlichen Angst ergriffen, preßte sie ihn an sich.

Der Junge lächelte schwach. Die Töne des Bolero jagten noch durch seinen Kopf; es war ihm so eigentümlich beklommen zumute.

Jetzt sollte Cancan getanzt werden. Erst hatte Hög gesagt, daß sie vorher gehen sollten, nun wollte er bleiben. Seine Augen hatten einen gläsernen, starren Ausdruck bekommen. »Wenn man nun einmal erst hergegangen war, konnte man auch ebensogut jetzt noch dableiben«, meinte er. Aber Stella machte ihm Zeichen, aufzubrechen; sie hatte die ganze Zeit über William ängstlich beobachtet und war nach dem Tanz von einer unerklärlichen Angst ergriffen worden. Sie konnte sich selbst keine Rechenschaft darüber geben, weshalb, – aber sie wußte nur eins: sie wollte mit dem Jungen heim.

Dann war ja auch Nina mit ... Ach nein, für Nina brauchte man nicht zu fürchten. Sie saß ganz ruhig da und sah mit ihren klaren, vernünftigen Augen auf den Vorhang. Stella seufzte erleichtert auf. Aber fort wollte sie doch, Hög hatte ja selbst gemeint, daß ... und schon der Bolero war mehr als genug für die Kinder ...

Hög stand auf, aber während man noch rechts und links Abschiedsgrüße lauschte, hatte die Musik wieder begonnen, und der Vorhang war aufgegangen. Stella, die als Letzte ging, schob den Jungen nach dem Ausgang zu, aber ein Murmeln ließ ihn den Kopf wenden. Er sah noch vier fast nackte Weiber auf der Bühne, darauf schloß sich die Tür hinter ihm. Stella sprach mit der Garderobenfrau; Hög bestellte Billette für den nächsten Tag. William hörte die Musik von drinnen gedämpft heraustönen, darauf ein dumpfes Brausen von Bravorufen, Klatschen und Gemurmel. Als er sah, daß man nicht auf ihn achtete, ging er schnell zurück, lief den Gang hinunter und öffnete die Tür zum Parkett.

Er blieb wie angenagelt stehn. Die vier Damen standen noch immer da. Mit einem einzigen scheuen Blicke durchsuchte er gleichsam jeden Winkel dieser schamlosen Entblößung. Das Blut schoß ihm ins Gesicht.

»William«, rief Hög hinter ihm.

... Als William ins Bett kam, konnte er trotz seiner Mattigkeit nicht einschlafen. Er fühlte sich ganz wach und war nicht imstande, stillzuliegen, strampelte mit den Beinen und sprach ganz laut mit sich selbst.

Auch Stella konnte nicht einschlafen. So machte sie Licht und stand auf. In ihre Bettdecke gewickelt, schlich sie sich langsam zu Williams Zimmer und öffnete die Tür.

Sie hob das Licht in die Höhe. Der Junge schlief. Er lag ganz zusammengekrümmt da, rot im Gesicht; die Hände krampfartig an die Brust gepreßt. Stella sah ihn lange zärtlich an; sie studierte jeden Zug seines Gesichts, jede Falte.

Der Junge drehte gerade den Kopf auf die andre Seite und seufzte. Stella machte ihm Kissen und Decke ordentlich und wandte sich zum Gehen. Als sie aufsah, traf ihr Blick ein Christusbild, das über dem Bettchen hing, das Geschenk einer alten Kinderfrau.

Sie blieb stehn und sah es lange an. Es war, als ob ihr Blick das Bild durchdringen wollte.

Sechs Wochen später wurde Nina konfirmiert.


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