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XII.

Das Säulentor.

– Heut ist es neblig. Wollen wir gehn?

Poterloo hat diese Frage an mich gerichtet und sieht mich an mit seinem gutmütigen, blonden Kopf, dem das blaue Augenpaar eine gewisse Durchsichtigkeit verleiht.

Poterloo ist von Souchez gebürtig, und seit die Jäger Souchez endlich wieder zurückerobert haben, möchte er das Dorf wiedersehn; er hatte dort einst glücklich gelebt, zur Zeit, als er noch ein Mensch war.

Eine gefährliche Wallfahrt. Nicht, dass es weit wäre; Souchez liegt dort ganz in der Nähe. Seit sechs Monaten sitzen und arbeiten wir, sozusagen auf Sprechweite vom Dorf entfernt, im Schützengraben und in den Laufgräben. Es handelt sich einfach drum, von hier aus gerade hinauf auf die Strasse von Béthune zu klettern, an der sich der Graben hinschlängelt und darunter die Zellen unserer Schutzlöcher liegen. Dann geht's noch vier- oder fünfhundert Meter die Strasse abwärts nach Souchez. Aber diese ganze Gegend wird regelmässig und fürchterlich beschossen. Seit ihrem Rückzug schicken die Deutschen mächtige Geschosse hinüber, die von Zeit zu Zeit unsere unterirdische Behausung donnernd erschüttern; dabei sieht man bald hier bald dort schwarze Erde und Schutt über die Böschung hoch aufspritzen und senkrechte Rauchsäulen turmhoch aufsteigen. Warum sie Souchez beschiessen, weiss man nicht; denn kein Mensch, kein Haus steht mehr im Dorf, das erobert und wieder erobert wurde, nachdem man es sich gegenseitig hartnäckig immer wieder entrissen hatte.

Heute morgen allerdings hüllt uns ein dichter Nebel ein; unter dem Schutze dieses grossen Schleiers, den der Himmel auf die Erde wirft, könnte man es wagen ... Jedenfalls wird man bestimmt nicht gesehn werden. Der undurchsichtige Nebel verschleiert die Fernsicht für die Instrumente, die irgendwo dort oben in der Nebelwatte eingewickelt sind, und der Nebeldunst bildet eine leichte und undurchsichtige Mauer zwischen unseren Linien und dem Beobachtungsposten von Lens und Angres, wo der Feind auf der Lauer liegt.

– Abgemacht! sag ich zu Poterloo.

Adjutant Barthe, den wir einweihten, nickte mit dem Kopfe und senkte die Lider zum Zeichen, dass er die Augen zudrücken wolle.

Es war das erstemal, dass ich tags über dieses Gelände ging. Wir hatten sie immer nur von weitem gesehn, diese schreckliche Strasse, die wir oft in der Dunkelheit und unterm Sausen der Granaten sprungweise überschritten hatten oder auf der wir hin- und hergelaufen waren.

– Nun, kommst du, alter Knabe?

Kaum aber hatten wir im Nebel, der seine Baumwollfäden über die Strasse zerrupfte, ein paar Schritte gemacht, da blieb Poterloo mitten auf der Strasse stehn und riss seinen roten, halboffenen Mund und seine horizontblauen Augen auf.

– O je, o je, o je! ... murmelt er.

Und als ich mich nach ihm umschaute, deutete er auf die Strasse und sagte kopfschüttelnd:

– Das wär's also. Du lieber Gott, wie die aussieht! ... Hier grad kenn ich mich so gut aus, dass ich es ganz genau sehe, wie's war, wenn ich die Augen zumache, und ich brauch gar nicht weiter nachzudenken. Das Wiedersehn aber ist schrecklich. So schön war die Strasse, mit lauter Bäumen auf beiden Seiten ... Und jetzt, wie sieht sie aus? Da schau nur mal einer her: wie so 'n langes, verrecktes Zeug, traurig, traurig ... Guck mal her, die beiden Gräben rechts und links, der ganzen Länge nach aufgerissen, das aufgewühlte Pflaster mit Löchern drin und die ausgerissenen Bäume, durchgesägt, brandicht, zu Scheiterhaufen zerhackt, überall hingeschmissen, mit Kugellöchern drin, da guck mal her, wie 'n Sieb sieht das aus! – Herrgott! kannst dir nicht vorstellen, wie die Strasse entstellt ist!

Dann schreitet er vorwärts und sperrt bei jedem Schritt mit schrecklichem Erstaunen die Augen auf.

Die Strasse sieht in der Tat furchtbar aus, nachdem sich auf beiden Seiten anderthalb Jahre lang zwei Armeen geduckt, dran festgeklammert und ihr von hüben und drüben die entsetzlichsten Schläge versetzt hatten. Sie ist eine grosse Bahn der Wirrnis, auf der nur Kugeln einherjagen. Granaten haben sie gefurcht; sie ist aufgerissen und mit Ackererde bespritzt, zerwühlt und umgestochen bis auf die Knochen. Sie ist wie ein vermaledeiter Steg, farblos, alt und zerschunden, schaurig und grossartig anzuschaun.

– Wenn du sie früher gesehn hättest, sagt Poterloo, wie sauber und glatt war sie damals! Alle Bäume standen aufrecht, es fehlte kein Blatt und keine Farbe; wie Schmetterlinge schimmerten sie, und immer ging gerade jemand vorbei, der einem guten Tag wünschte: ein altes Frauchen, die zwischen zwei Körben wackelte, oder sonst Leute, die auf einem Wagen sassen und laut miteinander sprachen, im gütigen Wind mit aufgeblasenen Blusen. Ach, war das ein glückliches Dasein früher!

Er geht an den Rand jenes dunstigen Flusses, der über das Strassenbett fliesst, bis zur aufgeworfenen Brustwehr. Er bückt sich und bleibt vor verschwommenen Erdhaufen stehn, auf denen man Kreuze entdeckt: es sind Gräber, die in gewissen Abständen in die Nebelmauer eingelassen sind, wie Kreuzstationen in einer Kirche.

Ich rufe ihn. Wir kommen niemals hin, wenn wir laufen wie 'ne Prozession. Los!

Wir kommen an eine Geländesenkung, ich zuerst und dann Poterloo, der mit wirrem und schwerem Kopfe vergebens mit den Dingen Blicke zu tauschen versucht. Dort senkt sich die Strasse und verschwindet nach Norden in einer Geländefalte. An dieser geschützten Stelle herrscht ein wenig Verkehr.

Auf der verschwommenen, schmutzigen und kranken Erde, wo Gras in schwarzer Schmiere versumpft, liegen Tote nebeneinander. Sie werden nachts dorthin gebracht, wenn man die Schützengräben und die Ebene säubert. Dort warten sie, die einen schon lange, darauf, nachts in die Kirchhofe hinter die Front gebracht zu werden.

Wir treten leise an sie heran. Sie liegen dicht aneinander; ein jeder zeigt noch, mit den Beinen oder den Armen, die eigentümliche Gebärde seines erstarrten Todeskampfes. Manche haben halbverweste Gesichter, brandige, gelbe Haut mit schwarzen Punkten. Mehrere haben ein vollständig verkohltes, teeriges Gesicht, geschwollene und ungeheure Lippen. Aufgedunsene Negergesichter. Zwischen zwei Leichen hervor starrt, diesem oder jenem angehörend, ein durchhackter Handknöchel, an dem ein Faserknäul hängt.

Andre wieder sind nur noch unförmige, beschmutzte Larven, aus denen unerkennbares Rüstzeug oder Knochenfetzen ragen. Etwas weiter weg liegt ein so schrecklich zugerichteter Leichnam, dass man ihn an zwei Pfählen in ein Drahtnetz legen musste, um ihn unterwegs, beim tragen, nicht zu verlieren. So haben sie ihn, wie einen Ballen, in der metallenen Hängematte herübergetragen und hier niedergelegt; dran ist kein Unten und kein Oben mehr zu unterscheiden; aus dem unförmigen Haufen ist nur eine klaffende Hosentasche erkennbar, aus der ein Insekt herauskriecht und wieder hineinschlüpft.

Um die Toten flattern Briefe, die aus ihren Kleidern oder ihren Patronentaschen geflogen sind, als man den Leichnam niederlegte. Auf einem dieser schneeweissen Papierfetzen, die im Wind umherflattern und die der Kot beschmiert, lese ich, leise darübergeneigt, diesen Satz: »Lieber Henri, wie schön das Wetter zu deinem Geburtstage ist! ...« Der Soldat liegt auf dem Bauch; von einer Hüfte zur andern klafft eine tiefe Furche; sein Kopf liegt halb nach hinten gedreht; man sieht ein hohles Auge und auf der Schläfe, auf der Backe und dem Hals ist sowas wie grünes Moos gewachsen.

Eine eklige Luft kriecht mit dem Wind um die Toten und die Schutthaufen: Zelttücher oder Kleiderfetzen verdreckten Stoffes, durch das trockene Blut steif geworden oder durch Geschossbrand verkohlt, hart, erdig und schon verfault; darauf krabbelt und wühlt eine lebende Schicht. Man hält den Geruch kaum aus. Wir schauen uns kopfnickend an und wagen es nicht, laut zuzugestehn, dass es hier übel riecht. Und doch entfernen wir uns nur langsamen Schrittes.

Dann sahen wir im Nebeldunst Männer auftauchen. Sie waren vornübergebeugt und die Last, die sie trugen, kettete sie aneinander. Es sind Träger von der Landwehr, die einen frischen Leichnam herbringen. Keuchend schreiten sie vorwärts mit ihren alten, abgezehrten Köpfen und schwitzen; die Anstrengung verzerrt ihre Gesichter zu Fratzen. Zu zweit einen Leichnam im Kot durch die Gräben tragen, ist eine fast übermenschliche Aufgabe.

Sie legen den Toten ab; er trägt noch eine frische Uniform.

– Noch nicht lange, stand er noch aufrecht, meint einer der Träger. Grad vor zwei Stunden ist ihm die Kugel in den Kopf gefahren, als er ein deutsches Gewehr in der Ebene holen wollte: nächsten Mittwoch hätte er gerade Urlaub gehabt und wollte das Gewehr nach Hause mitnehmen. Es ist ein Sergeant vom 405ten, von der Klasse 14. Ein netter kleiner Kerl.

Dann zeigte er ihn uns; er lüftete das Taschentuch, das ihm das Gesicht verdeckte: er ist blutjung und schien zu schlafen; nur dass der Augapfel verdreht war, die Wange wachsfarbig, und ein rötliches Wasser nässte ihm Nasenlöcher, Mund und Augen.

Dieser Leib, der wie ein reiner Ton in jener Leichengegend liegt und noch gelenkig beim Tragen den Kopf auf die Seite neigt, als mache er sich's bequem, erweckt die kindliche Illusion, er sei weniger tot als die andern. Er ist auch weniger entstellt und hat etwas pathetischeres, mitteilsameres, und merkt auf, wenn man ihn anschaut. Und wenn wir überhaupt angesichts dieser Anhäufung erloschner Wesen ein Wort herausbrächten, so wär's: »Der arme Junge!«

Dann gingen wir auf die Strasse zurück; von hier ab führte sie hinunter nach Souchez. Und auf der bleichen Nebelstrasse war es wie in einem schrecklichen Jammertal. Ein stets wachsendes Durcheinander von Schutt, Ueberresten und Auswurf häuft sich an auf dem zerschundenen Rückgrat des Pflasters bis an die kotigen Strassenränder. Die Bäume liegen auf dem Boden oder sind verschwunden und ausgerissen, wie zerfleischte Stummel. Die Geschosse haben die Böschungen über den Haufen geworfen und zerfetzt. Längs der Strasse auf beiden Seiten, oder auch vereinzelt, stehn nur noch die Kreuze auf den Gräbern aufrecht; sonst sieht man nur zwanzigmal verschüttete und wieder ausgegrabene Gräben, Löcher mit Uebergängen oder Flechtwerk über sumpfigen Stellen.

Je weiter wir kommen, desto schrecklicher, zerwühlter, verfaulter und sündflutlicher erscheint alles. Man schreitet auf einem Pflaster von Granatsplittern. Auf Schritt und Tritt stösst der Fuss daran und verfängt sich alle Augenblicke in ihre Fallen. Man stolpert über einen Wust von zerbrochenen Waffen, Scherben von Kochgeschirren, Kannen, Oefen, Nähmaschinen und über elektrische Drahtknäuel, über deutsche und französische, zerrissene Ausrüstungen, die eine trockne Kotrinde bedeckt, über zweifelhafte Kleidungsstücke, an denen eine rotbraune Kittmasse klebt. Dazu muss man auf die Blindgänger aufpassen, die überall ihre Spitzen herausstrecken, ihr Verschlussstück zeigen oder auch auf der Flanke liegen, rot, blau oder schwarzbraun angestrichen.

– Das ist der alte deutsche Schützengraben, den sie endlich aufgegeben haben.

Stellenweise ist er verstopft, dann wieder wütend durchschossen. Die Erdsäcke sind zerrissen, aufgeschlitzt, zertrümmert und wehn leer im Winde; die Stützbalken sind zerbrochen und strecken ihre Stümpfe nach allen Seiten. Die Unterstände sind bis obenan mit Erde und Gott weiss womit noch, verstopft. Alles das sieht aus wie ein halb ausgetrocknetes, zertretenes, aufgerissenes und sumpfiges Flussbett, das vom Wasser und von den Menschen sich selbst überlassen ist. An einer Stelle hat die Beschiessung den Graben wörtlich weggewischt; der ausgehöhlte Graben ist hier nur noch ein Feld frischer Erde und symmetrisch der Länge und der Breite nach nebeneinander liegender Löcher.

Ich mache Poterloo auf dieses aussergewöhnliche Feld aufmerksam, worüber ein Riesenpflug gegangen zu sein scheint.

Aber ihn beschäftigt bis in sein tiefstes Innere die Aenderung, die die Landschaft erlitten hat.

*

Plötzlich, als erwache er aus einem Traum, zeigt er verblüfft mit dem Finger nach einer Stelle in der Ebene.

– Das Cabaret Rouge!

Man sieht dort ein flaches Feld mit zerbrochnen Backsteinen belegt.

Und das? Was ist das?

Ein Randstein? Nein, es ist kein Randstein. Es ist ein Kopf, ein schwarzer, gegerbter, gewichster Kopf. Der Mund sitzt ganz schief, und man sieht Schnurrbarthaare, die auf beiden Seiten nach oben starren: ein dicker, verkohlter Katzenkopf. Darunter sieht man einen Leichnam – es ist ein Deutscher –, der aufrecht in der Erde steckt.

Und das?

Eine grausige Zusammenstellung: ein ganz weisser Schädel, dann zwei Meter vom Schädel abseits ein Paar Stiefel und zwischen beiden ein Haufen zerfaserten Lederzeugs und in brauner Kotmasse erstarrte Lumpen.

– Komm. Der Nebel hat nachgelassen. Beeilen wir uns.

Hundert Meter vor uns, in den durchsichtigeren Nebelwellen, die vor uns herwehn und ihre Schleier mehr und mehr lüften, pfeift ein Geschoss und platzt ... Es schlug gerade in die Stelle ein, an der wir im Augenblick vorübergehn werden.

Dann geht's bergab. Die Senkung ebnet sich allmählich. Wir gehn nebeneinander her. Mein Begleiter spricht kein Wort, er schaut nach rechts und schaut nach links.

Dann bleibt er wieder stehn, wie vorhin auf der oberen Strasse. Ich höre ihn halblaut stottern:

Ja? Wir sind doch da ... ja, ja, hier ist es.

Wir haben in der Tat die Ebene nicht verlassen und stehn immer noch in jener öden, ausgebrannten Wüste, – und dennoch sind wir im Dorfe Souchez!

*

Das Dorf steht nicht mehr. Nie hab ich ein derartig verschwundenes Dorf gesehn. Allain-Saint-Nazaire und Carency haben noch den äusseren Anschein einer Ortschaft gewahrt, mit ihren eingefallnen und abgebrochnen Häusern, ihren mit Kalk und Ziegeln verschütteten Höfen. Hier dagegen hat alles jegliche Form verloren; übrig blieb nur noch der Rahmen niedergerissener Bäume, der uns mitten im Nebel, mitten in einer Scheinumgebung umgibt. Nicht eine Wand, kein Gitter, kein Tor ist stehn geblieben; überrascht bemerkt man ein Pflaster im Durcheinander von Balken, Steinen und Eisen; hier also war eine Strasse!

Alles das sieht aus wie verworrenes, schmutziges und sumpfiges Vorstadtgelände, auf das die Stadt jahrelang, ohne ein leeres Plätzchen zu schonen, ihren Schutt, ihre Abfälle, ihr morsches Baumaterial und ihr altes Geschirr regelmässig abgelagert hätte: es ist eine gleichmässige Schutt- und Abfallschicht, in der man einsinkt und langsam und mühevoll vorwärtskommt. Die Beschiessung hat die Dinge so sehr entstellt, dass sie den Lauf des Mühlenbaches abgelenkt hat; dieser bildet, dem Zufall anheimgelassen, auf dem übrigen Stück des kleinen Platzes, wo ein Kreuz stand, einen Teich.

Hie und da ein paar Granatenlöcher, in denen verzerrte und aufgeblähte Pferde faulen; in anderen Löchern liegen die Ueberreste dessen, was ein menschliches Wesen war und durch die entsetzliche Wunde der Granate entstellt wurde.

Quer über dem Pfad, der uns über diesen Zusammenbruch führt und über jene Schuttflut unter der tiefen Trübsal des Himmels, liegt ein Mann, als ob er schliefe; aber er liegt platt auf der Erde, woran man die Toten von den Schläfern unterscheidet. Es ist ein Suppenträger mit seinem Brotkranz, den ein Lederriemen zusammenhält, und die Kannen der Kameraden hängen ihm an einem Riemenbündel traubenförmig über die Schulter. Letzte Nacht hat ihm offenbar ein Granatsplitter den Rücken, eingestossen und durchlöchert. Wir sind jedenfalls die ersten, die ihn entdecken, diesen verborgenen Soldaten, der im Verborgenen gefallen ist. Vielleicht ist er schon zersetzt, wenn andere hier vorbeikommen. Ich suche nach seiner Erkennungsmarke; sie klebt im geronnenen Blut, in welchem seine rechte Hand liegt. Ich schreibe den mit blutigen Buchstaben gezeichneten Namen ab.

Poterloo lässt mich das alleine besorgen. Er sieht aus wie ein Nachtwandler. Er schaut und schaut in einem fort wie wahnsinnig überall hin; er sucht und sucht in diesen zerfetzten, verwischten Dingen, in dieser Leere, er sucht und forscht den dunstigen Horizont aus.

Dann setzt er sich auf einen querliegenden Balken, nachdem er einen ausgerenkten Kochkessel mit dem Fuss heruntergeschlagen hat. Ich setze mich neben ihn. Ein Nebelregen rieselt leise. Die Feuchtigkeit des Nebels fliesst zu Tropfen zusammen und belegt die Dinge mit einen leichten Schimmer.

Poterloo murmelt:

– Herr Gott!

Er wischt sich die Stirne ab und blickt mich flehentlich an. Er möchte verstehn, die Zerstörung dieses Erdstrichs möchte er umarmen und diese Trauer zur seinen machen. Er stottert unzusammenhängendes Zeug und nimmt seinen grossen Helm vom Kopfe und man sieht wie sein Schädel dampft. Dann sagt er mühevoll zu mir:

– Kannst dir nicht vorstellen, du kannst es nicht, kannst es einfach nicht ...

Dann keucht er:

– Das Cabaret Rouge, wo der deutsche Schädel liegt mit nichts als Abfall drum herum ... diese Kloake, das war früher ... am Weg, ein Backsteinhaus mit zwei niederen Gebäuden neben dran ... Wie oft, Herr Gott, da gerade wo wir stehn geblieben sind, wie oft hab ich der alten Frau, die auf der Türschwelle lachte »auf Wiedersehn« gesagt und wischte mir dabei den Mund ab und guckte nach Souchez hin und ging dann heim! Und nach ein paar Schritten drehte ich mich immer noch mal um und rief ihr noch einen Witz zu! Ach! du kannst dir das gar nicht vorstellen ... Ja, und das hier?

Er führte den Arm im Kreis um sich und deutete damit die ganze Leere an, die ihn umgab ...

– Wir wollen nicht zu lange hier bleiben. Der Nebel steigt wieder auf, weisst du.

Dann stand er mühevoll auf.

– Gehn wir ...

Das schwerste war noch nicht getan. Sein Haus ... Er stutzt, orientiert sich und geht ...

– Da ist es ... Nein, ich bin schon dran vorbei. Da stand es nicht. Ich find die Stelle nicht mehr wo es stand. Gott, ist das ein Elend!

Er ringt verzweifelt die Hände und hält sich nur schwer aufrecht auf dem Durcheinander von Verputz und Balken. Dann plötzlich fühlt er sich verloren in dieser verschütteten Ebene, ohne Anhaltspunkt und schaut zum Himmel wie ein unbewusstes Kind, wie ein Wahnsinniger. Er sucht das Heimelige jener in den unendlichen Raum verwehten Zimmer und sucht die Gestalt und das Halbdunkel der Wohnungen, die in den Wind gestreut sind.

Nachdem er verschiedene Male hin und hergegangen ist, bleibt er an einer Stelle stehn und tritt ein wenig zurück.

– Da war es. Ganz bestimmt. Guck her: an diesem Stein erkenn ich's wieder. Da war das Kellerloch. Hier hat das Gittereisen noch eine Spur zurückgelassen, bevor es davongeflogen ist.

Er schnäuzt die Nase, denkt nach und schüttelt in einem fort den Kopf.

– Wenn nichts mehr da steht, dann begreift man erst recht, wie glücklich man war. Ach! wie war man doch glücklich!

Er nähert sich mir und lacht nervös.

– Das ist keine gewöhnliche Sache, was? So was hast du sicher noch nicht gesehn; was das heisst, sein Haus nicht mehr finden, nachdem man seit jeher drin gelebt hat ...!

Dann macht er kehrt und zieht mich nach.

– Jetzt können wir uns drücken, nachdem doch nichts mehr da ist. Und wenn wir noch stundenlang die Stelle ansehn, wo das Zeug gestanden hat! Komm, wir gehn.

Und wir gingen. Wir sind wie zwei lebende Flecken an diesem dunstigen und illusorischen Ort, in diesem Dorf, das am Boden liegt und auf das wir treten.

Nun steigen wir die Strasse wieder hinauf. Das Wetter heitert auf. Der Dunst verfliegt sehr schnell. Mein Kamerad schreitet mit grossen Schritten stumm einher, die Nase auf den Boden gerichtet; dann zeigt er mir ein Feld:

– Der Kirchhof, sagt er. Da stand er früher, jetzt ist er überall und hat um sich gegriffen, unaufhörlich, wie eine Weltkrankheit.

Auf halber Höhe kommen wir langsamer vorwärts. Da tritt Poterloo näher an mich heran.

– Das alles, siehst du, es ist zu viel. Es ist zu arg ausgewischt mein ganzes früheres Leben. Ich habe Angst, so sehr ist das aufgewischt.

– Bewahre: deine Frau ist doch gesund, du weisst es doch und dein kleines Mädchen auch.

Auf diese Bemerkung hin macht er ein komisches Gesicht:

– Meine Frau? ... Ich will dir was sagen: meine Frau ...

– Nun was ist?

– Was ist? Gesehn hab ich sie.

– Gesehn? Ich dachte, sie sei im besetzten Gebiet?

– Ja, sie ist in Lens bei meinen Eltern. Und ich hab sie wieder gesehen ... Ach, übrigens pfeif ich drauf! ... Ich will dir alles erzählen! jawohl, ich war in Lens, vor drei Wochen. Es war am elften. Also vor zwanzig Tagen.

Ich schaute ihn verblüfft an ... aber er sieht wirklich aus, als sage er die Wahrheit. Er schreitet in der zunehmenden Helligkeit neben mir und fängt an zu stottern:

– Es hiess, erinnerst dich vielleicht noch ... Nein, ich glaub du warst nicht da ... Es hiess also, man müsse den Drahtverhau vor dem Billard-Parallelgraben verstärken. Du weisst, was das heissen will. Bis jetzt hatte man's noch nie machen können; sowie man aus dem Schützengraben rausgeht, sieht man einen auf dem Abhang, der so 'nen komischen Namen hat.

– Der Toboggan.

– Ganz recht; nachts oder bei Nebel ist die Stelle ebenso gefährlich als am Tag, wegen der Gewehre die schon auf Gabeln bereit liegen und wegen der Maschinengewehre, die man am Tage aufstellt. Wenn sie nichts sehn, dann beschiessen die Deutschen immer die ganze Gegend. – Man hat ein paar Pioniere aus der Genie-Kompagnie genommen, aber sie haben sich gedrückt, dann hat man an ihre Stelle ein paar ausgewählte Soldaten aus verschiedenen Kompagnien herausgesucht. Ich war auch einer davon. Also gut. Wir steigen raus. Kein einziger Gewehrschuss! Wir wussten nicht, was das bedeuten sollte. Auf einmal kriecht ein Deutscher, zwei Deutsche, zehn Deutsche aus dem Boden – die grauen Teufels! – und machen uns Zeichen und rufen: »Kamerad!« »Wir sind Elsässer«, rufen sie und kriechen in einem fort aus ihrem internationalen Schlauch. »Wir tun euch nichts«, schreien sie, »nur keine Angst, Freunde. Lasst uns nur ungeschoren unsere Toten begraben.« Und nun arbeiten wir, jeder für sich, miteinander gesprochen haben wir sogar, denn es waren Elsässer. Eigentlich schimpften sie über den Krieg und über ihre Offiziere. Unser Sergeant wusste wohl, dass es verboten war, sich mit dem Feind zu unterhalten; man hat uns sogar vorgelesen, dass wir nur mit der Knallbüchse zu ihnen sprechen sollten. Aber der Sergeant dachte eben, es sei eine aussergewöhnliche Gelegenheit, den Drahtverhau zu verstärken, und weil sie uns ruhig gegen sich selbst arbeiten liessen, war man dumm gewesen, wenn man's nicht ausgenutzt hätte ... Nun aber kommt so'n Deutscher und fragt: »Ist keiner von euch aus dem besetzten Gebiet und möchte Nachrichten über seine Familie haben?« – Weisst du, da hab ich nicht mehr widerstehn können. Ohne zu wissen ob's gut oder schlecht sei, bin ich vorgetreten und hab gesagt, ich sei so einer. Da fragt mich der Deutsche aus; ich sag ihm, dass meine Frau in Lens sei, bei ihren Eltern mit der Kleinen. Da fragt er mich, wo sie wohnt. Ich erkläre es ihm, und da meint er, es sei schon recht. »Horch mal, sagt er dann, ich bring ihr einen Brief und nicht nur den Brief; ich bring dir die Antwort zurück.« Und auf einmal haut er sich an die Stirne, der Deutsche, und tritt näher: »Hör du, wir machen's noch viel besser. Wenn du machst, was ich dir sag, sollst du sie sehn, deine Frau und deine Kinder auch und alles, wie ich dich jetzt sehe.« Dann sagt er, ich müsse ihm nur nachgehn um die und die Zeit mit einem deutschen Mantel und einer Feldmütze, die er mir verschaffen wolle. Er wolle mich in Lens schon unter die Kohlenmannschaft bringen; und so könnten wir bis zu mir heim. Dort könnte ich alles sehn, müsste mich aber gut verstecken und mich nicht sehn lassen; er stehe schon für die Leute von der Kohlenmannschaft ein, aber im Haus seien Unteroffiziere, für die er nicht garantieren könne ... Weiss Gott, Alter, ich hab's angenommen!

– Das war gefährlich!

– Freilich war das gefährlich. Aber ich hab mich plötzlich dazu entschlossen, ohne weitere Ueberlegung, ich wollte es gar nicht überlegen, so sehr blendete mich der Gedanke, dass ich die Meinen sehn sollte. Und wenn ich nachher auch erschossen würde, meinetwegen: für nichts hast du nichts. Das ist die Geschichte von Angebot und der Nachfrage, nicht? – Gegangen ist die Sache wie geschmiert. Das einzig Schwierige war, eine Mütze zu finden, weisst, ich hab einen dicken Schädel. Aber auch das haben sie gedeichselt; sie haben mir schliesslich einen Flohsack ausfindig gemacht, der mir passte. Ich hatte grad dem Caron seine deutschen Stiefel, das weisst du ja. So sind wir rüber in die deutschen Gräben (die übrigens den unsern verdammt ähnlich sehn) mit den deutschen Kameraden, die mir sagten, ich soll nur keine Angst haben, und zwar gut französisch – so 'n gutes Französisch, wie ich red. – Kein einziges Hindernis, nichts. Der Hinweg ist glatt abgelaufen. Alles hat sich so leicht und einfach abgewickelt, dass ich ganz vergessen hatte, dass ich nur ein geschminkter Deutsche war. Abends sind wir in Lens angekommen. Ich weiss noch, dass ich an la Perche vorbei in die rue du Quatorze-Juillet eingebogen bin. Die Leute hab ich in der Stadt rumgondeln sehn wie in unsern Quartieren. Erkannt hab ich niemand, es war zu dunkel; auch mich hat keiner erkannt, auch weil's zu dunkel war und auch weil keiner an so 'ne Geschichte dachte ... Finster war's, dass man 's Aug mit dem Finger nicht mehr fand, als ich in den Garten meiner Eltern gekommen bin. – Das Herz pochte mir; gezittert hab ich am ganzen Leib, wie wenn ich nur 'n Herz gewesen wäre. Zurückhalten hab ich mich müssen, sonst war ich vor Lachen geplatzt und noch auf französisch dazu, so glücklich war ich, so gerührt. Der deutsche Kamerad sagte dann zu mir: »Jetzt gehst du einmal und dann noch einmal an der Tür und am Fenster vorbei, und schaust hinein, aber ohne dir was anmerken zu lassen ... Pass auf.« Dann hab ich mich zusammengenommen, hab die Aufregung hinuntergeschluckt mit einem Ruck. Ein feiner Mensch war's schon, der Kerl, er war nämlich elend reingeflogen, wenn ich mich ertappen liess! – Weisst du, bei uns, wie im ganzen Pas-de-Calais sind die Eingangstüren alle zweiteilig: der untere Teil bis zur Hälfte ist eine Art Gitter und oben ist es wie so 'n Laden. So kann man die untere Hälfte schliessen und ist halb draussen, halb drin. Der Laden nun, der stand offen, und im Wohnzimmer, das als Esszimmer und zugleich als Küche dient, war Licht und man hörte Stimmen. Nun geh ich vorbei und streck den Hals nach der Seite. Da sah ich helle und rosigbeschienene Männer- und Frauenköpfe um den runden Tisch, auf dem die Lampe stand. Da hab ich sie direkt angeschaut, die Clotilde. Ich hab sie gut gesehn. Sie sass zwischen zwei Kerlen, Unteroffiziere, so viel ich weiss, und die sprachen mit ihr. Und weisst du, was sie tat? Nichts; sie lächelte, neigte ganz lieb ihr Gesicht mit ihrer leichten, blonden Haareinfassung, auf die die Lampe einen goldigen Schein legte. – Sie lächelte, Sie war zufrieden. Sie schien sich wohl zu fühlen neben diesen deutschen betressten Kerlen, an der Lampe und dem Feuer, dass mir seine Wärme entgegenhauchte und das ich wieder erkannte. Dann bin ich vorübergegangen, hab mich umgedreht und bin nochmal durchgegangen, und hab sie wiedergesehen mit dem gleichen Lächeln. Und zwar war's kein erzwungenes Lächeln, mit dem man bezahlt. nein, ein ehrliches Lächeln, das aus ihrem Innersten kam und das sie selbst hergab. Und während den beiden, blitzkurzen Augenblicken, die ich hineingeschaut habe, hab ich auch mein kleines Mädchen sehen können, wie sie gerade einem dicken betressten Kerl die Hände reichte und versuchte, ihm auf die Knie zu klettern und daneben hab ich noch jemand erkannt, nun wer war's doch gleich? ja, es war Madeleine Vandaërt, dem Vandaërt seine Frau, ein Kamerad von mir vom 19ten, der an der Marne, bei Montyon, gefallen ist. – Sie wusste, dass er gefallen war, sie war nämlich in Trauer. Und sie, sie lachte und lachte fest, sag ich dir ... und guckte den einen und den andern an mit 'nem Aussehn, als wollte sie sagen: »Wie glücklich bin ich hier!« – Ach ja! Ich aber bin raus und an die Kameraden gerannt, die draussen auf mich warteten und mich zurückführen sollten. Wie ich zurückgekommen bin, könnt ich nicht sagen. Ich war wie geschlagen. Gestolpert bin ich beim Gehn wie 'n Gehetzter. Und es hätte mich keiner anscheissen sollen in dem Moment! Laut herausgebrüllt hätte ich; Skandal hätt ich gemacht, um mich erschiessen zu lassen, dass es mit dem Schweineleben ein End hätte. Verstehst du? Gelächelt hat sie, meine Frau, meine Clotilde, an diesem Kriegstage! Also genügt es, dass man eine Zeitlang fort ist und man kommt einfach nicht mehr in Betracht. Du schiebst ab von zu Hause in den Krieg und alles scheint unterzugehn; und während du's glaubst, so gewöhnt man sich an deine Abwesenheit und allmählich ist es, als ob du überhaupt nicht existiertest; man kommt ohne dich aus und ist glücklich wie vorher und lächelt. Gottver...! ich red nicht von der andern Schickse, die laut lachte, aber meine Clotilde, die Meinige, die grad in dem Augenblick, wo ich zufällig dazukam, grad in dem Augenblick sich nicht schlecht um mich futierte; da kannst du sagen, was du willst. – Wenn sie schliesslich noch mit Freunden oder Verwandten zusammen gewesen wäre; aber nein, gerade mit deutschen Unteroffizieren! Das musst du doch selber sagen, das war doch zum Hineinspringen ins Zimmer, ihr ein Paar rechts und links runterhauen und der andern Schneppe in Trauer den Hals drehn! – Jawohl, ich hab auch einen Augenblick dran gedacht. Ich weiss schon, dass ich zu weit ging ... aber, was willst du, ich war eben ausser mir. – Weisst du, ich will nicht mehr sagen, als ich meine. Sie ist ein gutes Mädel, die Clotilde. Ich kenn sie schon und hab Zutrauen zu ihr. Das ist mal sicher, weisst du: wenn ich was abkrieg, weint sie sich mal vorerst alle Tränen aus dem Leib. Ich weiss ja schon, sie weiss, dass ich lebe, aber darum handelt es sich gar nicht. Nur dass sie einfach glücklich ist und zufrieden und aufgeht, sobald sie ein gutes Feuer, eine gute Lampe und Gesellschaft hat, ob ich nun da bin oder nicht ...

Ich zog Poterloo weiter:

– Du übertreibst, alter Kerl. Du machst dir dumme Gedanken, meinst du nicht? ...

Wir waren ganz langsam weitergegangen und standen noch am Fusse der Anhöhe. Der Nebel war am Verfliegen und schimmerte silbern. Bald wird die Sonne scheinen. Jetzt schien die Sonne.

*

Poterloo hielt Umschau und sagte:

– Wir wollen hinten rum über die Strasse von Carency.

Wir gingen quer über die Felder. Nach einer Weile sagte er zu mir:

– Ich übertreibe, meinst du? Du sagst, ich übertreibe?

Dann grübelte er nach:

– So! Dann schüttelte er den Kopf, wie er es den ganzen Morgen getan hatte und sagte:

– Aber schliesslich, es ist doch eine Tatsache ... Wir stiegen die Anhöhe hinauf. Es wehte eine wärmere Luft und als wir auf einen Geländevorsprung kamen, schlug Poterloo vor, noch einen Augenblick abzusitzen, bevor wir den Rückweg anträten.

Er setzte sich hin unter der Last jener Gedanken, die ihm den ganzen Kopf durcheinanderbrachten. Er runzelte die Stirn. Dann wandte er sich verlegen zu mir, als wolle er mich um einen Dienst bitten.

– Sag mal, Alter, ich überlege, ob ich wirklich recht hab.

Nachdem er mich aber angeschaut hatte, betrachtete er die Dinge, als wolle er eher diese befragen als mich.

Da wurde auf der Erde und am Himmel alles anders. Der Nebel war bis auf einen traumhaften Ueberrest verweht. Das weite Land entschleierte sich. Die enge, trübselige und graue Ebene weitete sich, verjagte die Schatten und nahm Farbe an. Allmählich kam, wie zwei Flügel, von Osten und Westen die Helligkeit über sie.

Dort unten sahen wir Souchez, zwischen den Bäumen liegen. Aus der Entfernung gesehen und im hellen Licht richtete sich die kleine Ortschaft vor unserm Auge wieder auf, im neuerstandenen Sonnenschein.

– Hab ich wirklich recht? wiederholte Poterloo mit wachsender Ungewissheit.

Bevor ich aber antworten konnte, gab er sich selbst die Antwort; zunächst mit leiser Stimme vor dem Sonnenlicht:

– Sie ist jung, weisst du: sechsundzwanzig Jahre hat das Menschenkind. Sie kann ihre Jugend eben nicht einsperren; sie bricht bei ihr überall aus und wenn sie am Feuer und vor der Lampe ausruht, muss sie eben lächeln; und wenn sie auch laut rausplatzte, so war das einfach die Jugend, die ihr aus der Kehle singt. Sie lächelt nicht wegen den andern, eigentlich sondern wegen ihr. Das ist eben Leben; sie lebt halt. Freilich, sie lebt und weiter nichts. Da kann sie doch nichts dafür, wenn sie lebt. Man kann doch nicht verlangen, dass sie sterben soll? Oder soll sie wegen mir und der Deutschen den ganzen lieben langen Tag weinen? Soll sie schimpfen? Man kann doch nicht die ganze Zeit weinen und schimpfen achtzehn Monate lang. Natürlich. Die Geschichte dauert einfach zu lange, wenn ich dir sage. Da steckt der Has im Pfeffer.

Dann schwieg er und sah sich das Panorama von Notre-Dame-de-Lorette an. Jetzt lag es vom Lichte überstrahlt vor uns.

– Und mit der Kleinen ist es dieselbe Geschichte; sie hatte es mit einem Menschen zu tun, der sie nicht fortgejagt hat, da ist sie ihm eben auf die Knie gekrabbelt. Vielleicht wär's ihr lieber, wenn's der Onkel oder ein Freund von ihrem Vater gewesen wäre – vielleicht – aber sie versucht's halt mit dem einzigen, der immer da ist, selbst wenn's ein dickes Brillenschwein ist. Ja! rief er aus, stand auf und fuchtelte vor mir in der Luft herum; man könnte mir zwar antworten, und wenn ich nicht davonkäme, würde ich sagen: »Alter Knabe, bist verratzt, keine Clotilde mehr, keine Liebe mehr! Ein anderer wird dich über kurz oder lang in ihrem Herzen ablösen. Da kannst du nicht dran wackeln: Die Erinnerung an dich, dein Bild, das sie von dir im Herzen trägt, verwischt allmählich und ein andrer wird sich draufsetzen und sie wird ein neues Leben beginnen.« Ja, wenn ich nicht davonkäme!

Drauf lacht er glücklich.

– Aber ich hab wohl die Absicht davonzukommen. Das stimmt allerdings, da musst du sein, sonst. du musst da sein, siehst du, wiederholt er mit ernsterer Stimme. Denn sonst, wenn du nicht da bist, bist du im Nachteil, und wenn du's mit Heiligen oder Engeln zu tun hast. Es ist einmal so. Aber ich bin da!

Er lacht.

– Und nicht zu knapp bin ich da!

Dann steh ich ebenfalls auf und klopf ihm auf die Schulter.

– Hast recht, alter Bruder. Das alles wird mal ein Ende nehmen.

Er reibt sich die Hände und spricht unaufhörlich weiter.

– Ja, Teufel, das wird schon mal aufhören. Nur keine Angst. Ich weiss schon, bis dahin wird's noch manches zu fressen geben. Da gibt's noch zu fausten, und nicht nur mit den Armen. – Alles wird wieder frisch angefangen werden müssen. Kein Haus mehr, kein Garten mehr. So wird man 's Haus wieder bauen, und wird den Garten wieder machen. Je mehr verschwunden ist, desto mehr wird man wieder neu machen. Schliesslich ist das Leben so, und da heisst es immer wieder von vorne anfangen, nicht? Auch das Leben und das Glück wird man von neuern wieder anfangen; die Tage, die Nächte wird man wieder neu aufrichten. Auch die andern werden ihre Welt wieder aufbauen. Soll ich dir was sagen? Das geht alles schneller als man's glaubt ... Die Madeleine Vandaërt zum Beispiel, die wird ganz gut einen andern heiraten können. Sie ist Witwe; achtzehn Monate schon ist sie Witwe. Das ist doch schon eine ganze Weile, achtzehn Monate. Ich glaub, nach so langer Zeit trägt man schon die Trauer nicht mehr! Und man überlegt gar nicht, was man spricht: »Es ist eine Dirne!« und man verlangt noch, dass sie sich's Leben nimmt! Aber man vergisst doch schliesslich, was gewesen ist, notgedrungen vergisst man das. Da sind nicht die andern dran schuld; nicht einmal wir selber; es ist einfach das Vergessen, und weiter nichts. Wie ich sie plötzlich gesehn habe und wie sie dabei lachte, da hat's mir die Eingeweide rumgekehrt, grad wie wenn ihr Mann gestern gestorben war – es ist ja menschlich – aber was willst du machen! Es ist ein schönes Stück Zeit verstrichen, seit der arme Knabe tot ist. Es ist schon lange her; viel zu lange ist es her. Man. ist eben nicht mehr derselbe Mensch. Aber nur aufgepasst, man muss davonkommen, man muss da sein! Ich werd schon wieder da sein und werd mich um's Anfangen schon kümmern.

Dabei schaut er mich an, zwinkert mit dem Auge und lebt wieder auf, nachdem er eine Idee gefunden hat, an dem er sein Denken wieder aufrichten kann.

– Ich seh's schon kommen, wie nach dem Kriege alle die von Souchez sich wieder ans Arbeiten und ans Leben machen ... Das wird was werden! Ha, der alte Ponce, die Nummer! Der war so peinlich genau, dass er das Gras in seinem Garten mit 'nem Rosshaarbesen kehrte oder auf den Knien lag und den Rasen mit der Schere stutzte. Das soll der Alte wieder haben! Und die Frau Immaginaire, die wohnte in einem der letzten Häuser, beim Schloss von Carleul zu, ein dickes Weib, das sah aus, wie wenn sie hinrollte, wie wenn sie Rädchen gehabt hätte unter ihrem dicken, runden Rock. Alle Jahre legte sie ein Kleines; wie ausgemacht, ganz genau; eine richtige Kindermitrailleuse! Na, und die soll die Beschäftigung wieder tapfer aufnehmen.

Dann blieb er stehn, dachte nach, lächelte leise in sich hinein:

– ... Noch was, was mir aufgefallen ist ... 's hat zwar keine grosse Bedeutung, sagte er nachdrücklich, als ob ihm diese Bemerkung plötzlich unangenehm wäre – aber ich hab's doch gemerkt (das sieht man so nebenbei, während man auf was anderes achtet), gemerkt hab' ich, dass es sauberer war bei uns als zu meiner Zeit ...

Dann stiessen wir auf eine kleine Schiene; sie kroch am Boden hin und verlor sich im Heu, das dürr auf dem Platze lag. Poterloo deutet mit seinem Stiefel auf dieses verlassene Schienenstück und lächelt:

– Das war unsre Eisenbahn. Der Schleichwurm nannten wir sie, wahrscheinlich weil sie's nicht eilig hatte. Sie fuhr allerdings nicht schnell; eine Schnecke hätte mit ihr Schritt halten können! Auch den Schleichwurm werden wir wieder aufbauen, Aber er wird nachher wahrscheinlich wieder so langsam davonschleichen. Uebrigens darf er es gar nicht anders!

Als wir oben auf die Anhöhe kamen, wandte er sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf die gemordete Ortschaft, die wir eben aufgesucht hatten. In der Entfernung wurde das Dorf noch lebendiger als vorhin, zwischen die Ueberreste der Bäume hindurchgesehn und zwischen jene gestutzten und zernagten Stummeln, die sich jetzt wie junge Sprösslinge ausmachten. Das schöne Wetter hauchte dem Gewirr von rosigem und weissem Material jetzt erst recht ein scheinbares Leben ein und legte sogar den Schimmer eines Gedankens darüber. Die Steine lagen verklärt in jener Wiedergeburt. Die Schönheit der Strahlen kündete das Kommende an und deutete auf die anbrechende Zukunft. Das Gesicht des Soldaten, der es betrachtete, erstrahlte selbst im Widerschein jener Auferstehung. Der Frühling und die Hoffnung färbten lachend darauf ab, und seine rosigen Backen, seine hellblauen Augen und seine goldgelben Augenbrauen leuchteten, als seien sie frisch gemalt.

*

Jetzt steigen wir in den Laufgraben. Die Sonne scheint kräftig. Der Laufgraben hat eine blonde Farbe, ist trocken und klingt hell unter den Füssen. Ich bewundre seine schöne geometrische Tiefe, seine glatten und mit der Schaufel polierten Wände und habe meine besondere Freude an diesem klaren und trocknen Klang unserer Sohlen auf der harten Erde oder auf den Bodenlatten, die aneinanderliegen und einen Bretterboden bilden.

Ich schaue auf die Uhr. Sie zeigt neun und hat ein zart gefärbtes Zifferblatt, in welchem sich der blaue und rosige Himmel und die fein ausgeschnittenen Sträucher, die am Rand des Grabens eingepflanzt wurden, widerspiegelt.

Und Poterloo und ich, wir schauen uns gegenseitig an und sind seltsam beglückt; wir sehn uns freudig an, als ob's ein Wiedersehn wäre! Er spricht zu mir; ich aber, der ich mich an das Singende seiner nordischen Sprechweise gewöhnt habe, ich entdecke auf einmal, dass er singt.

Wir haben schlechte Tage gehabt, tragische Nächte, in der Kälte, im Wasser und im Kot. Jetzt, obwohl es noch Winter ist, überzeugt uns der erste schöne Morgen davon, dass es bald wiederum Frühling werden wird. Schon hat sich der Grabenrand mit zartgrünem Gras geschmückt, und in den frühen Wonneschauern dieses Grases erwachen Blumen. Jetzt hat es bald ein Ende mit diesen gestutzten und engen Tagen. Der Frühling spriesst am Himmel und auf Erden. Wir atmen freudigen Herzens in gehobener Stimmung auf.

Ja, die schlechten Tage sind aus. Auch der Krieg wird mal aus sein, zum Teufel! Wahrscheinlich schon in dieser schönen, kommenden Jahreszeit, die uns schon bestrahlt und deren Wonnewehen wir bereits verspüren.

Ein Sausen. Eine verirrte Kugel.

Eine Kugel? Gott bewahre! Es ist eine Amsel!

Komisch, wie beides ähnlich klingt ... Die Amseln, die Vögel, die mit zarter Stimme pfeifen, das Land, die Feste des Jahres, die heimeligen Stuben mit lauter Licht darin ... Oh! Der Krieg will zu Ende gehn und für immer wird man die Seinen wiedersehn: die Frau, die Kinder, oder die, die Frau und Kind zugleich ist; man lächelt ihnen entgegen in diesem jungen Lichte, das uns bereits zusammenführt.

... Bei der Gabelung der beiden Schläuche sieht man am Rand, auf dem Feld etwas wie ein Säulentor. Zwei Pfosten, die aneinanderlehnen und dazwischen von oben, wie eine Schlingpflanze herabhängend, ein Gewirr von elektrischen Drähten. Das Ganze macht sich ganz gut und sieht aus wie eine szenische Dekoration. Eine dünne Kletterpflanze schlingt sich um den einen Pfosten, und wenn man ihr mit den Blicken nachgeht, sieht man, dass sie es schon wagte, vom einen zum andern hinüberzuklettern.

Wir durchlaufen diesen Laufgraben, dessen begraste Seite erzitterte wie die Weichen eines schönen lebendigen Pferdes, und münden dann in unserm Schützengraben an der Strasse von Béthune.

Da ist schon unser Standort. Die Kameraden sind beieinander und essen und geniessen die angenehme Temperatur.

Nach dem Essen werden die Gamellen oder die Aluminiumteller mit einem Stück Brot geputzt ...

– Da, es hat keine Sonne mehr!

Stimmt. Eine Wolke streckte sich und hat sie verdeckt.

– Es schifft sogar noch, Kinder, meint Lamuse.

– Wir haben doch immer dasselbe Schwein, grad zum Abmarsch!

– Verfluchte Gegend! sagt Fouillade.

Tatsache ist, dass das nordische Klima nicht viel taugt: Ewiger Dunst, ewiger Nebel, ewiger Rauch und ewiger Regen. Und scheint die Sonne einmal, so erlischt sie wieder schnell in diesem grossen, feuchten Himmel.

Unsre vier Tage im Schützengraben sind abgelaufen. Gegen Abend werden wir abgelöst. Langsam rüsten wir uns zum Abmarsch. Die Tornister und die Brotbeutel werden gefüllt und in Ordnung gebracht. Das Gewehr wird abgestaubt und eingepackt.

Es ist schon vier Uhr. Bald überfällt uns der Nebel, so dass man einander kaum mehr sieht.

– Hol's der Teufel, jetzt regnet's schon wieder!

Zunächst tropft es ein wenig, dann giesst es. Oje, oje! Man zieht die Kapuzen über die Ohren und spannt die Zelte auf. Man verkriecht sich in die Unterschlüpfe, tappt dabei im Kot herum und beschmiert sich die Knie, die Hände und die Ellenbogen damit, denn der Boden weicht allmählich auf. Man hat im Unterstand kaum Zeit, eine Kerze auf einen Stein zu stellen, sie anzuzünden und schlotternd drum herumzuhocken.

– Vorwärts, antreten!

Wir stemmen uns in den nassen und zugigen Schatten hinaus. Ich erkenne die mächtige Kraftgestalt Poterloos: wir sind immer nebeneinander beim Marschieren. Wie wir dann abmarschieren, ruf ich ihm zu:

– Bist du da, Alter?

– Jawohl, vor dir, schrie er mich an, indem er sich umkehrte.

Im gleichen Augenblick ohrfeigt ihn der Wind und der Regen; er aber lacht. Sein Gesicht strahlt wie heute morgen im gleichen Glücksgefühl. Ein elender Regenguss wird ihm die Freude in seinem tapfern und unerschütterlichen Herzen nicht ersticken können; auch wird ein übelgelaunter Abend die Sonne, die ich vor einigen Stunden in seinen Gedanken aufleuchten sah, nicht auslöschen.

Wir marschieren, stossen aneinander und machen einige Fehltritte ... Der Regen fällt unaufhörlich nieder und das Wasser rieselt im Graben. Die Bretter wackeln auf dem aufgeweichten Böden; einige davon liegen schief nach rechts oder nach links, sodass man auf ihnen ausgleitet. Dabei ist es so dunkel, dass man sie nicht sieht und so tappt man zuweilen bei den Biegungen mit dem Fuss daneben in die Wasserlöcher.

In der grauen Nacht schaue ich unentwegt auf die Schieferglätte von Poterloos Helm, der wie ein Dach unter dem Regen träufelt, und verliere seinen breiten, mit einem schimmernden Wachstuch bedeckten Rücken nicht aus den Augen. Ich trete in seine Spuren und rufe ihm von Zeit zu Zeit etwas zu, worauf er mir stets mit guter Laune und mit der gleichen unerschütterlichen Ruhe antwortet.

Dann hören die Bodenbretter auf und man trottet im dichten Kot weiter. Jetzt ist es stockfinster. Plötzlich bleibt man stehn und ich fahre an Poterloo. Man hört weiter vorn einen halbwütenden Ausruf:

– Was ist los? Na mal vorwärts! Wir verlieren die Fühlung!

– Ich kann meine Flossen nicht abkleben! antwortet eine weinerliche Stimme.

Endlich gelingt es aber dem Steckengebliebenen, seine Füsse aus dem Kot zu befreien und wir müssen die übrige Kompagnie im Laufschritt wieder einholen. Dann geht das Fluchen und Schimpfen gegen die Vorderen los. Man tappt, wohin 's grade hintrifft; man macht Fehltritte, hält sich an den Wänden fest und hat die Hände voll Kot. Das Marschieren wird zum fluchenden und klirrenden Laufschritt.

Der Regen setzt stärker ein. Plötzlich muss man zum zweitenmal anhalten. Es ist einer ausgerutscht und liegt am Boden! Darauf erhebt sich ein allgemeines Geschrei.

Der Mann richtet sich wieder auf und es geht von neuem weiter. Ich versuche mit grösster Aufmerksamkeit mit dem Helm Poterloos Fühlung zu behalten. Der Helm leuchtet schwach in der Nacht vor meinen Augen, und ich rufe ihm von Zeit zu Zeit zu:

– Geht's?

– Ja, ja, 's geht schon, antwortet er, schnäuzt die Nase und pustet, aber er sagt es stets mit derselben klaren und singenden Stimme.

Der Tornister wird bei diesem flutartigen Vorwärtsdrängen und unter dem Angriff der Elemente hin und her gerüttelt und drückt und schindet die Schultern. Dann ist der Graben an einer Stelle frisch eingestürzt und der Durchgang versperrt, und man sinkt in diesem kotigen Erdrutsch ein ... Die Füsse müssen aus der weichen und klebrigen Erde bei jedem Schritt herausgerissen und hoch gezogen werden. Nachdem aber diese mühsame Stelle überwunden ist, gleitet man wiederum in die glitschige Wasserrinne. Die Schuhe haben zwei enge Furchen in den Boden eingegraben; die Füsse gleiten hinein wie in eine Schiene; oder dann patschen sie wieder klatschend in die Wasserlachen. An einer Stelle geht's unter eine schwere, klebrige Grabenbrücke durch; dort muss man sich mühevoll sehr tief zur Erde bücken, in den Kot knien, sich auf die Erde drücken und ein paar Schritte auf allen Vieren auf dem Boden vorwärts kriechen. Dann müssen wir uns wieder um einen Pfosten herumdrücken, der sich infolge des Regens und der aufgeweichten Erde seitwärts geneigt hat und den Durchgang versperrt.

Wir erreichen eine Kreuzungsstelle.

– Vorwärts, Kinder, vorwärts! sagt der Adjutant, der sich in eine Nische gedrückt hat, um uns vorbeizulassen und mit uns zu sprechen. Die Stelle ist gefährlich.

– Ich kann nicht mehr, brüllt eine so heisere und atemlose Stimme, dass ich sie gar nicht erkenne.

– Ach was! Ich hör auf, ich bleib hier hocken, seufzt ein andrer in atemloser Erschöpfung.

– Ja, ich kann euch nicht helfen, antwortet der Adjutant, ich kann nichts dafür, oder? Nur vorwärts, drückt euch, die Stelle ist gefährlich. Bei der letzten Ablösung ist sie angepfeffert worden!

Dann geht's wieder weiter im Wasser- und Windsturm. Es ist als sinke man immer tiefer in ein Loch. Man rutscht aus, fällt hin und fährt gegen die Grabenwand; dann wippt man sich mit einem wuchtigen Ellenbogenruck wieder aufrecht. Und unser Marsch gleicht einem langen Absturz, bei dem man sich anklammert, wo und wie man kann. Es handelt sich darum, vor sich hinzustolpern, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.

Wo sind wir jetzt? Ich strecke, trotz der Regenwellen, den Kopf aus dem Schlund, in welchem wir uns strauchelnd wehren. Vom kaum erkennbaren Hintergrund des bedeckten Himmels hebt sich der Grabenrand nur schwach ab und plötzlich erscheint vor meinen Augen etwas wie ein schauriges Eingangstor über dem Gräben; es besteht aus zwei gegeneinandergelehnten, schwarzen Pfosten; in der Mitte aber hängt etwas, das einem ausgerissenen Haarbüschel gleicht. Es ist das Säulentor.

– Vorwärts! Vorwärts!

Ich senke den Kopf und sehe nichts mehr; aber ich höre wieder, wie die Sohlen in den Kot sinken und sich ablösen. Ich höre das Klirren der Seitengewehre, die dumpfen Ausrufe und das überstürzte Keuchen der Lungen.

Noch einmal wird man heftig zurückgedrängt; plötzlich wird gestoppt und wiederum fahre ich an Poterloo und stütze mich an seinem Rücken, an seinem starken, festen Rücken; er ist fest wie ein Baumstamm, stark wie die Gesundheit oder die Hoffnung. Er aber schreit mir zu:

– Mut, Alter, wir sind gleich da!

Man bleibt stehn, und dann muss man zurück ... Verdammt! ... Nein, jetzt geht's wieder vorwärts! ...

Plötzlich kracht über uns eine fürchterliche Explosion. Ich zittere bis an die Kopfhaut; ein metallischer Widerhall dröhnt mir den Kopf voll, und ein brennender Schwefelgeruch dringt mir zum Ersticken in die Nasenlöcher ein. Die Erde hat sich vor mir aufgetan. Ich fühle wie's mich in die Höhe und auf die Seite haut, erstickend, vom Blitz und vom Donner geblendet. Ich erinnere mich, dass ich eine Sekunde lang instinktiv wie zerschlagen und starren Blickes nach meinem Waffenbruder suchte. In diesem Augenblick aber hab ich gesehn, wie sein Körper in die Höhe fuhr, aufrecht, schwarz, die beiden Arme ausgestreckt, soweit sie konnten, und eine Flamme loderte an der Stelle des Kopfes!

*


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