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Die Gräfin Isabella war begraben worden, und angeblich hatte man einen letzten Wunsch der Verstorbenen vorgefunden, in der diese die Bitte aussprach, achtspännig zur letzten Ruhestätte gefahren zu werden, jedenfalls erzählte Graf Kuno das jedem, ganz einerlei, ob er es hören wollte oder nicht. In Wirklichkeit hatte die verstorbene Gräfin natürlich nie daran gedacht, einen derartigen Wunsch zu äußern, der Gedanke, seine Frau mit allem nur denkbaren Prunk beerdigen zu lassen, war lediglich dem Gehirn des Grafen Kuno entsprungen. Einmal wollte er dadurch der Welt zeigen, wie lieb er seine Gemahlin auch nach dem Tode habe, dann aber war es ihm, der so selten Gelegenheit fand, ein Fest zu geben, ein aufrichtiges Bedürfnis, wenigstens ein anständiges Totenfest zu feiern, das den Glanz und den Reichtum seines Hauses zeigte. Aber er erreichte das Gegenteil von dem, was er bezweckt hatte, man fand sein Verhalten albern und etwas pietätlos, und alle waren der Ansicht, daß eine einfachere Feier auch würdiger gewesen wäre. Diesen Standpunkt hatte Cäcilie auch von Anfang an vertreten, aber sie hatte nur zu schnell merken müssen, daß Graf Kuno einen sehr dicken Schädel besaß. Sollte es ihr überhaupt gelingen, die Zügel der Regierung in die Hand zu nehmen, so mußte sie dabei sehr schlau und sehr vorsichtig zu Werke gehen. Während der Tage, in der die Leiche der Gräfin noch im Schlosse stand, hatte Graf Kuno seiner großen Trauer dadurch Ausdruck gegeben, daß er, ebenso wie es bei Hof üblich ist, ein genaues Zeremoniell für das Trauerjahr ausarbeitete, und nach der Beisetzung hielt er mit aller Strenge darauf, daß die von ihm erlassenen Vorschriften in bezug auf den Anzug auf das genaueste befolgt wurden. Ja, als sein Pächter, der ihn in einer dringenden geschäftlichen Angelegenheit zu sprechen wünschte, in seinem Arbeitszimmer ohne schwarze Handschuhe erschien, wurde er höchst ungnädig entlassen und zum Nachmittag wieder befohlen. Allerdings war es da zu spät, die in Frage stehende Angelegenheit noch zugunsten des Grafen Kuno zu erledigen, aber das war diesem auch einerlei, lieber Geld verlieren, als sich in der Form oder in seinem Verhalten irgendwie etwas vergeben.
Überhaupt war Graf Kuno als Witwer tadellos. Im ersten Monat fuhr er tagtäglich in seinem Viererzug zur benachbarten Stadt, in deren Kirche sich die Familiengruft der Grafen von Adlershorst befand, und am Sarge verrichtete er, wie man das so nennt, ein stilles Gebet. In Wirklichkeit aber freute er sich darüber, wie hübsch und vornehm das große Fenster aussah, das er gestiftet hatte, und wie stolz sich dort das vereinigte Wappen derer von Adlershorst und Hohenburg auf dem Sarkophag ausnahm. Erst wenn er zur Tür der Gruft hinausschritt, fiel ihm ein, warum er eigentlich gekommen war; dann gab er einen schweren Seufzer von sich, daß man es draußen hörte, und die Schuljungen, die bewundernd den schönen Viererzug umstanden, riefen dann: »Der Graf kommt!« Und wenn Graf Kuno dann erschien, freute er sich über die mehr oder weniger große Menschenmenge, die sein Gespann umstand, denn auch Erwachsene blieben zuweilen stehen, um die schönen Rappen zu bewundern. Graf Kuno tat zwar so, als hätte er für die Leute nicht das geringste Interesse, aber im stillen zählte er doch jedesmal, wie viele da waren, und je mehr da waren, desto glücklicher war er. Fritz, der Jäger, half ihm dann in seinen Wagen, und sobald er Platz genommen hatte, befahl er jedesmal mit lauter Stimme: »Nach Schloß Adlershorst.« Er hätte ja auch sagen können: »nach Haus«, das wäre genau dasselbe gewesen, aber nach Schloß Adlershorst klang vornehmer. Und auf Gummirädern, von vier stolzen Rappen gezogen, den Jäger neben dem Kutscher auf dem Bock, fuhr er dann seinem heimatlichen Herde entgegen.
Dieses Schauspiel wiederholte sich einen Monat hindurch jeden Tag um dieselbe Stunde.
Einmal hatte er Besuch von seinem Rechtsanwalt, und die sehr wichtige Konferenz war noch nicht halb beendet, als der Wagen vorfuhr, der ihn zur Familiengruft bringen sollte. Der Rechtsanwalt, der noch an demselben Abend wieder abreisen mußte, bat, ihm noch eine Stunde Gehör zu schenken, aber Graf Kuno sagte einfach: »Meine selige Gemahlin Isabella, die hochselige Gräfin Hohenburg, erwartet mich,« und damit war die Sache erledigt.
In Wirklichkeit nahm er natürlich auf seine verstorbene Gattin viel weniger Rücksicht als auf die Schuljugend und auf die andern Müßiggänger, die da ganz genau wußten: mit dem Glockenschlag fünf Uhr kommt der Viererzug. Diese Zuschauer waren dem Grafen Kuno ein Lebensbedürfnis, und wenn sie ehrerbietigst die Mützen lüfteten und mit einem halbunterdrückten: Aaah! den Riesenkranz bewunderten, den der Graf täglich am Sarge niederlegte, kam erst die richtige Trauerstimmung über ihn.
Nach Ablauf des ersten Trauermonats fuhr er nur noch alle acht Tage zur Familiengruft, dann ein halbes Jahr lang nur einmal monatlich, an dem Datum des Sterbetages, an jedem 14., und als das Jahr herum war, nur noch einmal jährlich. Nicht etwa aus Pietätlosigkeit, aber seitdem seine Frau gestorben war, sah er sie nach seiner Meinung viel öfter im Sarge vor sich, als er sie je bei Lebzeiten gesehen hatte, und er wußte nicht, was er der Toten sagen, wie er sich mit ihr in Gedanken beschäftigen sollte. Das hatte er ja nicht einmal im Leben gekonnt, er hatte keine Interessen und hielt es unter seiner Würde, seine in vieler Hinsicht höchst mangelhaften Kenntnisse zu bereichern.
In der ersten Zeit seiner Ehe hatte er allerdings seiner blendend schönen, jungen Frau zuliebe versucht, gute und ernste Bücher zu lesen, aber bei seinen geringen geistigen Fähigkeiten hatte er das meiste nicht verstanden. Und wenn er dann zu seiner Isabella gekommen war und gebeten hatte: »Erkläre mir, bitte, was der Verfasser hiermit sagen will, ich kann ihm nicht folgen,« dann hatte sie ihn ausgelacht und ihn geneckt, weil sie glaubte, er mache nur einen Scherz und er schütze seine Unkenntnis nur vor, um in ihre Nähe zu gelangen und mit ihr zusammen zu sein. Bis sie dann später, als die erste Leidenschaft verraucht war, und sie ihn mit nüchternen Augen betrachtete, merken mußte, daß es ihm damals doch Ernst gewesen war mit seinem Wort: »Ich verstehe das nicht.« Da aber war es zu spät, da hatte er die Bücher schon für immer verschlossen und las nur noch die Tageszeitung und französische Sittenromane.
Wie in so vielen anderen Dingen versuchte Cäcilie auch hierin eine Änderung herbeizuführen, aber es gelang ihr nicht. Sie selbst war eine kluge, gebildete Person, die es nicht begriff, wie Kuno mit dem geistig armen Leben, das er führte, zufrieden sein konnte. Sie hielt es für ihre Pflicht, geistig auf ihn einzuwirken, sie wollte ihm des Abends nach dem Diner vorlesen, die Tagesfragen mit ihm besprechen, sein Interesse für die verschiedensten Sachen erwecken, aber alles scheiterte an seinem Phlegma und an der Familientradition.
Er kannte es von seinem verstorbenen Vater her gar nicht anders, als daß um sieben Uhr diniert wurde, und daß man dann in den Salon ging und dort bei einer Zigarre über irgendeine adlige Familie miteinander plauderte, bis es Zeit war, sich schlafen zu legen. Er saß Tag für Tag auf demselben Platz, auf demselben Stuhl, auf dem schon sein Vater gesessen hatte, und sein Wunsch war, daß in späteren Jahren, wenn er einst nicht mehr auf der Welt sei, Udo Bodo dort ebenso sitzen möge wie er jetzt. »Familientraditionen sind heiliger und wertvoller als leere unnütze Wissenschaften,« pflegte er zu sagen. »Für den Bürgerstand, der noch nichts ist, wo ein jeder, der ihm angehört, danach ringen muß, etwas zu werden, ist die Weiterbildung natürlich unerläßlich, für unsereins aber ist sie nur schädlich. Wir brauchen keine neuen Ideen, wir können nicht mehr werden, als wir sind, für uns kommt es nur darauf an, das zu bleiben, was wir sind, den von unsern Vätern ererbten Besitz und die uns überlieferten Anschauungen festzuhalten, damit die Schranke, die uns von den andern trennt, nicht eines Tages zusammenstürzt.«
Tante Cäcilie fand diese Anschauung zwar mehr als töricht, aber sie hütete sich, das auszusprechen, denn gerade bei ihr setzte Graf Kuno ja voraus, daß sie genau so dachte wie er selbst, nur deshalb hatte er ihr ja die Erziehung des Kindes übertragen.
So blieb alles wie es war, und in steter Einsamkeit und Einförmigkeit gingen die Tage, die Wochen und die Jahre dahin. Auch nach dem Tod der Gräfin Isabella blieb es still und einsam auf Adlershorst. Cäcilie hatte auf den Nachbargütern Besuche gemacht, die erwidert worden waren, hin und wieder fand bei dem einen oder anderen Nachbarn ein offizielles Diner statt, und einmal hatten Graf Kuno und Cäcilie auch die Genugtuung gehabt, die Herren von den Nachbargütern mit ihren Damen bei sich zu sehen. Aber dann schlief der Verkehr wieder ein, und Cäcilie entbehrte ihn schließlich auch nicht mehr. Sie hatte mit der Erziehung des Knaben, mit der Leitung des großen Haushaltes, mit der Beaufsichtigung der vielen Dienstboten und mit tausend anderen Dingen, um die sie sich sehr gewissenhaft kümmerte, mehr als genug zu tun, und Graf Kuno saß jahraus, jahrein an seinem Schreibtisch, von dem aus er den ganzen Hof und einen Teil der Chaussee übersehen konnte, rauchte eine Importzigarre nach der andern und blätterte in alten Familienchroniken. Unterdessen entwickelte sich Udo Bodo mehr und mehr zu einem kräftigen, gesunden Knaben. Er war jetzt schon zwölf Jahre alt und stark an körperlichen Kräften, er war ein gewandter Turner, ein geübter Ringer und sein größtes Vergnügen bestand darin, sich mit den Kindern des Pächters oder mit denen des Kammerdieners Franz, der auf Grund seiner Vertrauensstellung beinahe für voll angesehen wurde, zu prügeln, wobei es natürlich den andern Kindern auf das strengste verboten war, den jungen Grafen wieder zu schlagen, so daß Udo Bodo im Kampf stets Sieger blieb, was ihn immer von neuem wieder mit großer Genugtuung erfüllte.
Aber so stark und gewandt Udo Bodo in allen körperlichen Übungen war, in einer Hinsicht war es mehr als traurig mit ihm bestellt, das war sein Geist. Der Hauslehrer rang oft die Hände, denn er sah es ja deutlich genug, daß es bei Udo Bodo nicht an dem guten Willen lag, sondern lediglich an dem Mangel jeder geistigen Befähigung. Aber das Händeringen half nichts und verzweifelt klagte er oft Tante Cäcilie sein Leid. Aber auch die konnte nichts ändern, und es war ja eigentlich ganz selbstverständlich, daß Udo Bodo nicht allzu begabt war; er hatte die Dummheit seines Vaters und seines Großvaters geerbt, und es wäre ja mehr als ein Wunder gewesen, wenn er ganz aus der Art geschlagen und ein begabtes Kind geworden wäre.
In der ersten Zeit war sie über diese Entdeckung allerdings doch etwas erschrocken, denn was der Lehrer sagte, stand so gänzlich im Widerspruch mit dem, was sie seinerzeit an der Wiege des Neugeborenen prophezeit hatte. Aber was noch nicht war, konnte ja noch werden, es passierte ja oft genug, daß jemand in der Jugend schwer lernt und daß dann plötzlich doch noch die Erleuchtung über ihn kommt. Und vor allen Dingen, wie mancher wirklich Begabte erleidet in dieser Welt nicht Schiffbruch und bringt es trotz aller Befähigung und trotz allen ernsten Strebens zu nichts, während so manchem Minderbegabten das Glück in den Schoß fällt und ihn doch eine glänzende Karriere machen läßt. Und viel mehr als das leere Wissen konnten Udo Bodo später sein Name, seine tadellosen Manieren, sein Vermögen und vor allen Dingen seine hohen verwandtschaftlichen Beziehungen nützen. Und Udo Bodo hatte hohe Beziehungen, ein Onkel von ihm war an einem kleinen Fürstenhof Kammerherr, ein anderer war Intendant an einem Hoftheater, eine Tante war Hofdame, eine andere sogar Oberhofmeisterin, man hatte mit den meisten Fürstenhäusern Beziehungen, da mußte Udo Bodo ja später Karriere machen, selbst wenn er gar nicht wollte. Und sie, Tante Cäcilie, würde später schon ihre Hand schützend über ihn halten und ihn zu lancieren wissen. Es sollte doch schon noch etwas Großes aus ihm werden.
»Soll ich nicht einmal mit dem Herrn Grafen über die geistigen Fähigkeiten seines Herrn Sohnes sprechen?« fragte eines Tages der Hauslehrer.
Aber Cäcilie verbat sich das auf das energischste, einmal, weil sie fürchtete, daß Graf Kuno dann an der Wahrheit ihrer Prophezeiungen irre würde, dann aber auch, weil sie den Grund dieser Aussprache nicht einsah. Graf Kuno konnte seinen Sohn doch nicht klüger machen, als er war, einmal, weil das überhaupt nicht ging, dann aber auch, weil er, selbst wenn es gegangen wäre, hierzu die am wenigsten geeignete Persönlichkeit war. Und außerdem, warum dem Vater unnötige Sorge machen, warum ihn unnötig ängstigen, er war so stolz auf sein Kind, warum ihn da betrüben. Später, wenn Udo Bodo sich wirklich nicht weiter entwickelte, war es ja immer noch Zeit genug, und vor allen Dingen würde Graf Kuno ihm gar nicht glauben, der sah bei seinem Jungen in den goldenen Kelch, alles, was er sagte und tat, war vollkommen, und in seiner Vaterliebe und in seinem Vaterstolz hatte er sich ein Buch angelegt, in das er gewissenhaft alle bedeutsamen Äußerungen seines Kindes eintrug, so zum Beispiel: »Anständige Menschen waschen sich nur mit französischer Seife.« – »Von den Kindern eines Pächters kann man nicht verlangen, daß sie wissen, wie man anständig ißt.« – »Wenn ich einmal groß bin, werde ich es den Leuten schon beizubringen wissen, daß ich Udo Bodo, Graf von Adlershorst bin.«
Jeder andere Vater hätte seinen Sohn wegen solcher Aussprüche zur Rede gestellt, aber Graf Kuno war stolz auf diese Worte, die ihm der beste Beweis dafür waren, daß sein Sohn ganz in seinem Sinne erzogen wurde, und wenn er einen solchen denkwürdigen Ausspruch in sein Buch hatte eintragen können, dann war er gegen Cäcilie von einer doppelten Aufmerksamkeit und segnete stets von neuem den Tag, an dem er sie zu sich ins Haus genommen hatte. Und dabei war Cäcilie an diesen Anschauungen des Knaben ganz unschuldig, sie versuchte zwar in ihm schon in der frühesten Jugend das Bewußtsein zu erwecken daß er als Träger eines alten Namens später auch besondere Pflichten zu erfüllen habe, aber für die Ausschreitung seines jugendlichen Adelsstolzes konnte man sie nicht verantwortlich machen. Oft lag es ihr sogar auf den Lippen, dies offen und ehrlich einzugestehen, aber was hätte es für einen Zweck gehabt, Graf Kuno hätte sie doch nicht verstanden, im Gegenteil, er hätte ihr höchstens Vorwürfe gemacht. So hatte sie denn auch den Hauslehrer gebeten, nicht mit dem Grafen zu sprechen.
»Aber was wird nur später aus dem jungen Grafen werden?« hatte der ganz zerschmettert gefragt.
»Kommt Zeit, kommt Rat.« hatte Cäcilie erwidert, »die Stunde wird schon noch kommen, in der Graf Udo Bodo für irgendeinen Beruf Lust und Talent bezeugt. Er ist ja noch jung.«
Aber Udo Bodo wurde immer älter, die Jahre gingen dahin, er war nun schon konfirmiert, und es wurde Zeit, daß er ein Gymnasium besuchte, um die Reife für das Einjährigenzeugnis zu erhalten, oder um die Abiturientenprüfung zu bestehen, falls er studieren wollte. Vorher aber sollte er als neukonfirmierter Jüngling, der dadurch einen gewissen Grad der geistigen Reife und der männlichen Vollkommenheit erreicht hatte, der Familie vorgestellt werden. Hierzu gab es zwei Möglichkeiten. Man mußte entweder eine Rundreise von Stadt zu Stadt, von Gut zu Gut antreten und allen Verwandten einen Besuch abstatten, und das war dem Grafen Kuno viel zu umständlich, oder aber man mußte den nächsten Familientag abwarten. Der aber fand erst im Januar statt, und spätestens zum Herbst mußte Udo Bodo auf das Gymnasium. Graf Kuno fand keinen Ausweg, da kam ihm Cäcilie zu Hilfe.
»Wie wäre es, Kuno, wenn Du alle Verwandten oder wenigstens diejenigen, an deren Urteil Dir etwas gelegen ist, auf ein paar Tage zu uns bätest? Wir können sie ja alle bequem unterbringen, wir verleben dann ein paar frohe Tage, Du gibst ein offizielles Diner, von den kleinen Festlichkeiten abgesehen, und bei dieser Gelegenheit können wir dann über Udo Bodos Zukunft beraten. Mir persönlich tätest Du damit einen großen Gefallen, denn mir ist natürlich sehr viel daran gelegen, aus dem Munde der Verwandten zu hören, wie ich mein schweres, verantwortliches Amt erfüllte.«
Er stimmte ihr lebhaft bei, er freute sich, einmal wieder den Glanz seines Hauses entfalten zu können und eine besondere Gelegenheit zu haben, gut zu essen und noch besser zu trinken, auch schmeichelte es seiner Eitelkeit, seine ganze Verwandtschaft einmal bewirten zu können. So setzte er sich denn gleich hin, um die Sache in die Wege zu leiten.
Zunächst wandte er sich natürlich an die alte Kammerherrin, die trotz ihres hohen Alters immer noch von einer seltenen geistigen und körperlichen Frische war, und bat sie, selbst den Tag bestimmen zu wollen, an dem es ihr angenehm wäre, Adlershorst mit ihrem Besuch auszuzeichnen. Gleichzeitig schrieb er an alle anderen Verwandten, er hege die Absicht, sie zu sich einzuladen, sie möchten sich reisefertig halten, um auf eine telegraphische Mitteilung hin sofort abfahren zu können.
An dem Abend desselben Tages geschah ein Wunder. Graf Kuno rauchte nach dem Diner nur eine Zigarre im Salon, dann zog er sich mit seinem Sohn in sein Wohnzimmer zurück und dort setzte er Udo Bodo in längerer feierlicher Rede auseinander, daß demnächst in seinem Leben ein wichtiger Wendepunkt eintrete und daß er sich nun zu einem ernsten Menschen entwickeln würde, die goldenen, sorglosen Kinderjahre lägen jetzt hinter ihm.
Udo Bodo, der in seinem Vater das Ideal eines klugen, vollkommenen Menschen sah, dessen Menschenkenntnis und Lebensweisheit über allen Zweifel erhaben sei, hörte diese Worte andächtig an, dann meinte er: »Ja, Papa.« Das war alles, was er zu sagen wußte.
Dem Grafen Kuno genügte das auch vollständig, er hörte aus dieser Entgegnung heraus, daß sein Sohn nicht nur ein gehorsames Kind war, sondern den Ernst der Situation vollständig verstand. So etwas verdiente Belohnung und so sagte er denn: »Udo Bodo, willst Du eine Zigarette haben?«
»Eine Zigarre wäre mir lieber, Papa. Nein, die nicht,« wehrte er ab, als Graf Kuno ihm eine kleine, leichte Zigarillo geben wollte. »Weißt Du, an dem Tag meiner Konfirmation hast Du mir eine kleine Uppmann gegeben, die ist mir noch in angenehmster Erinnerung.«
»Ach so, ja richtig,« und der Vater beeilte sich, den Wunsch seines sechzehnjährigen Sohnes zu erfüllen.
Mit großem, berechtigten Vaterstolz betrachtete Graf Kuno seinen Sohn, wie dieser ihm mit übereinandergeschlagenen Beinen gegenübersaß, den Rauch durch die Nase zog und dann kunstvolle Ringe von sich blies. Aber das letztere fand doch nicht so ganz seinen Beifall und so sagte er denn:
»Merke Dir eins. Udo Bodo, wer Ringe bläst, achtet dabei mehr darauf, ob das Kunststück ihm auch gelingt, als auf den Geschmack der Zigarre selbst. Ein ernster Raucher verabscheut daher solche Mätzchen. Merke es Dir.«
»Ich werde es mir merken, Papa, wie alle ernsten und guten Lehren, die Du mir bisher in meinem Leben gegeben hast.«
»Du bist ein guter Junge, komm her und gib mir einen Kuß.«
Udo Bodo eilte auf seinen Vater zu, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn stürmisch.
Endlich machte sich der Graf lachend aus dem Arme seines Sohnes frei. »So, Udo Bodo, jetzt ist es genug, in allem muß man Maß halten. Setz Dich mir wieder gegenüber.«
Udo Bodo tat, wie ihm geheißen wurde, und sah seinen Vater erwartungsvoll an.
»Udo Bodo,« begann jetzt Graf Kuno, »wie ich Dir vorhin schon kurz sagte, wirst Du in der nächsten Zeit der Familie vorgestellt werden und bei dieser Gelegenheit wird über Deinen ferneren Lebensweg beraten werden. Das ist aber natürlich nur so zu verstehen, daß ich den Verwandten die Pläne, die ich mit Dir habe, mitteile, und daß diese sie stillschweigend billigen. Ernsthaft denkt natürlich niemand daran, sich um eine so ernste und wichtige Sache, wie es Deine Erziehung ist, zu kümmern, das liegt allein Deinem Vater ob, und Dein Vater bin ich.«
»Ja, Papa,« stimmte Udo Bodo ihm bei, »ich weiß.«
»Ich bin aber nicht nur Dein leiblicher Vater,« fuhr Graf Kuno fort, »sondern ich bin auch Dein geistiger Vater. Ich habe Dich, seitdem Spuren Deines Geistes zu entdecken sind, scharf beobachtet und Deine geistige Weiterentwickelung beständig verfolgt. Ich meine nicht insofern, als es sich um das Lernen trockener Wissenschaften handelte, sondern soweit es sich um Deine Entwickelung als denkender Mensch handelt. Und da muß ich sagen, Du hast mir bisher nur Freude gemacht, und ich bin stolz auf Dich. Wie Du äußerlich mit Deiner schönen, strammen Figur, mit Deinem frischen Gesicht und den blauen Augen ein ganzer Adlershorst bist, so bist Du das, soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, auch in Deinen ganzen Anschauungen. Noch nie ist ein Wort über Deine Lippen gekommen, daß Deiner Ahnen unwürdig gewesen wäre. Meine Hoffnung ist, daß Du auch in Zukunft so bleibst. Nicht wahr, das wirst Du?«
»Ja, Papa,« sagte Udo Bodo, dann sah er sich suchend um: »Hast Du nicht irgendwo Papierspitzen, Papa?«
»Dort auf dem kleinen Tisch neben dem Schrank,« gab Graf Kuno zur Antwort, dann fuhr er fort: »Wenn in den nächsten Tagen der Familientag hier zusammentritt, ist es notwendig, daß ich ihm einen bestimmten Plan für Deine Zukunft vorlegen kann. Ich habe die Frage, was Du werden willst, noch nie mit Dir erörtert, weil ich der Ansicht bin, daß man durch solche Fragen nur beeinflussend auf das Kind wirkt, während dieses sich selbst aus eigenem Empfinden und aus eigenem Antrieb heraus darüber einig werden soll, zu welchem Beruf es Lust und Neigung verspürt. Und ich glaube, meine Ansicht ist die einzig richtige.«
»Ja, Papa,« stimmte Udo Bodo ihm bei, und weder Vater noch Sohn betrachteten diese kurze Zustimmung als etwas ganz Ungehöriges.
Im Gegenteil, Graf Kuno freute sich, daß sein Sohn seine Anschauungen teilte, und so sagte er denn: »Wenn Du mir beipflichtest, kann ich also sicher sein, daß Du schon ernstlich über Deine Zukunft nachgedacht hast. Es interessiert mich natürlich sehr, zu erfahren, für welchen Beruf Du Dich interessierst? Also, Udo Bodo, was willst Du eigentlich werden?«
Es dauerte lange, bis Udo Bodo antwortete, er nahm noch ein paar kräftige Züge aus der Zigarre, strich langsam und bedächtig die Asche an der Schale ab und meinte dann, seinen Vater fragend ansehend: »Sag mal, Papa, muß man denn überhaupt etwas werden?«
Graf Kuno war über diese Antwort so entzückt, daß er sie am liebsten in das, für die denkwürdigen Aussprüche seines Sohnes eigens angelegte Buch, das auf dem Deckel natürlich das große Wappen derer von Adlershorst trug, eingetragen hätte. In Gegenwart seines Sohnes hielt er das jedoch nicht für ganz passend, damit er diese Worte aber nicht vergäße, machte er sich einen Knoten ins Taschentuch. Dann sagte er: »Natürlich muß jeder Mensch einen Beruf ergreifen. Du kannst doch nicht durch die Welt gehen, ohne irgend etwas zu tun. Die Arbeit ist der köstlichste Besitz des Menschen.«
Udo Bodo machte ein ganz erstauntes Gesicht. »Wirklich, Papa? Ich habe immer gemeint, die Arbeit, die wirkliche Arbeit, sei das Vorrecht des Bürgerstandes, wohingegen der Adel seit Jahrzehnten und seit Jahrhunderten das Vorrecht hätte, von der Arbeit der unteren Volksklassen zu leben.«
»Ein famoser Bengel,« dachte Graf Kuno, dann sagte er anscheinend etwas unwillig: »Was Du da sagst, ist im gewissen Sinne richtig, aber wer hat Dir diese Weisheit beigebracht?«
»Du selbst, Papa.«
Graf Kuno hatte vorhin über die Weisheit seines Sohnes gestaunt, jetzt staunte er über sich selbst: Hatte er wirklich seinem Sohn solche Lebensweisheit mit auf die Welt gegeben, so viel Klugheit hatte er sich gar nicht zugetraut. Dann aber nahm er das alte Thema wieder auf: »Wenn ich die Worte, die Du eben anführtest, in irgendeinem Zusammenhang, dessen ich mich augenblicklich nicht erinnere, gesagt habe, so tat ich es auf keinen Fall, wie Du anzunehmen scheinst, um Dich dadurch zur Trägheit zu erziehen. Jeder Mensch muß einen Beruf haben, wenn er nicht körperlich, sittlich und moralisch zugrunde gehen soll –«
Graf Kuno kam sich als Erzieher seines Sohnes mit seiner billigen Lebensweisheit heute sehr stolz vor. ihm imponierten seine eigenen Worte entschieden viel mehr als seinem Sohn, denn Udo Bodo meinte ganz gelassen: »Aber Papa, Du selbst hast doch auch keinen Beruf.«
»Erlaube mal,« brauste Graf Kuno auf, »wie kannst Du so zu Deinem Vater sprechen?« Aber als er sah, daß Udo Bodo seine Worte gar nicht böse gemeint, und daß ihm nichts ferner gelegen hatte, als irgendwie die Autorität und den Gehorsam, den er seinem Vater schuldete, zu verletzen, tat es Graf Kuno leid, zu hart gewesen zu sein, und er gab seinem Sohn die Hand: »Sei mir nicht böse, Udo Bodo, ich tat Dir unrecht, und wenn Du noch eine Zigarre haben willst, bitte, bediene Dich, oder sind Dir zwei zu viel?« »Aber Papa,« sagte Udo Bodo, »wie in jeder Hinsicht so bin ich doch auch im Rauchen Dein Sohn.«
»Da hat Udo Bodo mal wieder recht«, dachte Graf Kuno, dann aber sagte er: »Du hast vorhin erklärt, ich hätte auch keinen Beruf. Das ist richtig und doch ist es falsch. Ich bin der Erbherr auf Adlershorst. Das ist eine Stellung, die viel Arbeit mit sich bringt, wenngleich ich Dir auch im Augenblick nicht auseinandersetzen kann, worin dieselbe besteht. Außerdem aber bin ich auch der Familienälteste und als solcher habe ich eine Tätigkeit, von deren Ausdehnung Du Dir keine Vorstellung machen kannst. Alle Anfragen, die irgendwie die Familie betreffen, gelangen an mich, und die Erledigung dieser Angelegenheiten nimmt mich so ganz in Anspruch, daß ich für andere Sachen selbst bei dem besten Willen keine Zeit übrig hätte. Vor allen Dingen aber vergiß eins nicht. Ich bin jetzt ein alter Mann, ich bin jetzt nicht mehr weit von den Sechzig, da hat man das Recht, auszuruhen von der Arbeit seines Lebens, und ich habe gearbeitet.«
Graf Kuno sprach die letzten Worte mit einer solchen Überzeugung, daß er mit einem Male den denkbar größten Respekt vor sich selbst bekam. In diesem Augenblick glaubte er wirklich, daß auch auf ihn das Wort der Schrift passe: »Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, dann ist es Mühe und Arbeit gewesen.«
Und Bodo hatte das Empfinden, seinem Vater vorhin schwer unrecht getan zu haben, und so sagte er denn: »Verzeih mir, Papa.«
»Ich habe Dir bereits verziehen,« klang es zurück. »Nun laß uns aber wieder von Dir sprechen. Einen Beruf mußt Du ergreifen, das bist Du nicht nur Deiner Familie, sondern dem Staate schuldig. Wozu hättest Du also am meisten Lust?«
Das war eine schwierige Frage, denn Udo Bodo hatte noch nie über seine Zukunft nachgedacht. Früher, ganz früher, hatte er wie jeder Knabe die feste Absicht gehabt, Kutscher zu werden, aber inzwischen hatte sich doch bei ihm die Überzeugung befestigt, daß das doch keine ganz standesgemäße Beschäftigung sei, und daß man als Graf Adlershorst wohl einen Viererzug lenken dürfe, aber nicht als Kutscher, sondern als Herr!
»Die ganze Welt steht Dir offen,« fuhr Graf Kuno nach einer kleinen Pause fort. »Du hast einen der besten Namen im ganzen Lande, wenngleich Du auch nicht übertrieben reich bist, so bist Du doch immerhin sehr wohlhabend, außerdem hast Du, wie sowohl Dein Lehrer als auch Cäcilie mir sagen, sehr gute geistige Fähigkeiten, Du hast also alles, was Du brauchst, um Dir eine bedeutende Stellung in der Welt zu verschaffen. Wie ich Dir vorhin schon sagte, möchte ich in keiner Weise bestimmend auf Dich einwirken, aber mein stiller Wunsch ist, daß Du Jura studierst, gerade da können und werden Dir Dein Name und Vermögen sehr viel nützen. Du mußt natürlich die diplomatische Karriere ergreifen, Du wirst dann zunächst Attaché bei einer Gesandtschaft, später Gesandter an einem fremden Hofe, und es ist nicht ausgeschlossen, daß Du später sogar Minister werden kannst. Hättest Du nicht hierzu Lust?«
Udo Bodo hatte von den Pflichten und der Tätigkeit eines Ministers nicht die leiseste Vorstellung, er wußte kaum, was ein Minister war, aber er mußte etwas sehr Hohes sein, denn es wurde oft im Hause seines Vaters von den Ministern gesprochen und jedesmal mit einer gewissen Ehrfurcht. Und wenn sein Vater schon jemand als ein höheres Wesen anerkannte, dann war ein Minister sicher etwas ganz Großes.
»Wie denkst Du darüber?« fragte Graf Kuno, als sein Sohn immer noch schwieg.
»Ich muß mir das noch einen Augenblick überlegen, Papa,« meinte Udo Bodo, »allerdings, wenn ich dann doch einen Beruf ergreifen soll und daß ich das muß, sehe ich jetzt ja auch ein, dann ist vielleicht wirklich das beste, ich studiere Jura und werde Minister oder so was ähnliches. Es ist das wenigstens die standesgemäßeste Laufbahn.«
Der Vater stimmte ihm bei. »Also überleg Dir die Sache nochmals in Ruhe und sprich auch mit Deinem Hauslehrer darüber.«
»Aber Papa, was weiß denn der davon? In seinem Fach ist der Mann gewiß sehr tüchtig, aber sonst? Ich wüßte nicht, was der mir raten sollte?«
»Wie Du meinst, so wollen wir denn für heute das Gespräch abbrechen, beschlaf Dir die Sache, wir können ja an einem der nächsten Tage nochmals darüber sprechen.«
Und nachdem Udo Bodo sich die Sache dreimal beschlafen hatte, stand sein Entschluß unweigerlich fest, und nicht um sich Rat zu holen, sondern lediglich um seinem Hauslehrer zu imponieren, sagte er eines Tages zu diesem: »Ich bin mir jetzt völlig darüber einig, ich werde später Jura studieren, dann als Attaché zu einer Gesandtschaft ins Ausland gehen und, nachdem ich selbst einige Zeit lang Gesandter gewesen bin, mich um einen Ministerposten bewerben.«
Hätte der Hauslehrer es sich im Laufe der Jahre nicht schon lange abgewöhnt, über die Antworten seines Schülers mit dem Kopf zu schütteln, so wäre ihm derselbe jetzt sicher von den Schultern gefallen. So begnügte er sich denn damit, ein: »Ach nein, wirklich?« auszurufen.
»Gewiß,« versicherte Udo Bodo, »oder haben Sie etwas anderes von mir erwartet?«
»O nein, gewiß nicht.« Dann fuhr er fort: »Für Juristen ist es aber sehr wichtig, daß Sie im Latein und im Griechischen sehr bewandert sind, wir wollen daher jetzt einmal die griechischen Verben revidieren.«
Vor diesen Verben hatte Udo Bodo trotz seiner Körpergröße und trotz seiner großen Kräfte eine gräßliche Angst, und je mehr Antworten er schuldig blieb, um so kleinlauter wurde er. Aber schließlich sagte er sich: »Der Lehrer redet ja Unsinn, er will mich nur bange machen. Als wenn ein Minister in Deutschland Griechisch oder Lateinisch spräche! Das ist ja Unsinn. Es geht auch ohne dem.« Und der frohe Mut. der ihn vorhin beseelt hatte, der dann aber plötzlich geschwunden war, kehrte zurück und hielt auch stand, als ihm der Hauslehrer eine große Strafarbeit aufgab.
»Ich werde Jurist, Gesandtschaftsattaché und Minister.« Dies Wort machte ihn ebenso stolz und glücklich wie den Grafen Kuno die Nachricht, daß die alte Kammerherrin mit Freuden einige Tage auf Adlershorst zubringen würde, denn diese Zusage brachte zugleich auch die Gewißheit, daß von den übrigen Verwandten niemand absagen würde, wenn er nicht unbedingt müsse.
Graf Kuno strahlte, und Tante Cäcilie strahlte mit, es schmeichelte ihrer Eitelkeit, sich als stellvertretende Hausfrau bewundern zu lassen, sie wußte, die Verwandten würden mit Späheraugen in alle Ecken und Winkel gucken, sie würden suchen, um etwas zu finden, was sie tadeln konnten, um dann hinterher zu sagen: wie konnte Kuno nur Cäcilie zu sich nehmen, wir haben es ja gleich gewußt, daß sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen sein würde. Aber die lieben Verwandten sollten und würden sich täuschen, alles befand sich in tadellosester Ordnung, aber trotzdem stellte Cäcilie noch ein Heer von Scheuerfrauen an, sie wollte mit einem großen Schlußeffekt, gewissermaßen mit einer Apotheose der Reinlichkeit von dem Schauplatz ihrer bisherigen Tätigkeit abtreten, denn wenn Udo Bodo in die Pension kam. war auch ihr Amt hier erledigt.
Darüber hatte sie schon verschiedentlich mit Graf Kuno gesprochen, aber der hatte sie gebeten, wenigstens noch ein oder zwei Jahr bei ihm zu bleiben, ihm graute vor dem Alleinsein auf dem großen Gut; ging Cäcilie auch fort, dann hatte er außer Franz niemand auf der Welt, mit dem er ein Wort sprechen konnte, denn mit seinem Pächter verkehrte er nicht. Es hatte Stunden gegeben, in denen er daran gedacht hatte, sich wieder zu verheiraten, aber er hatte es unterlassen, in der Erinnerung an die einsamen Jahre, die er trotz seiner ersten Ehe gehabt hatte, mit Rücksicht auf Cäcilie, die er zu sich ins Haus genommen hatte, und schließlich auch mit Rücksicht auf Udo Bodo. Aus eigener Erfahrung kannte er das schöne Gefühl, das einzige Kind reicher Eltern zu sein, und diese Freude wollte er Udo Bodo nicht rauben, er hatte ihn viel zu lieb, um ihm sein dereinstiges Erbe durch etwaige Geschwister zu schmälern. Aber die Aussicht, bis an sein Lebensende ganz allein auf Adlershorst zu sitzen, stimmte ihn manchmal ganz traurig und mehr als einmal ertappte er sich in der letzten Zeit trotz seines Alters wieder bei Heiratsgedanken, um so mehr, als Cäcilie seinen Bitten, auch in Zukunft bei ihm zu bleiben, Widerstand entgegensetzte. Sie sehnte sich zurück nach ihrer kleinen Stadt, nach ihren wenigen Freunden und Bekannten, die sie noch besaß, nach ihren Kaffeegesellschaften und dem Stadtklatsch, für den sie von jeher ein besonders reges Interesse gehabt hatte.
Und eines Tages kam dem Grafen Kuno sogar der Gedanke: »Ob Cäcilie auch wohl dann nicht bei mir bleiben wird, wenn ich sie bitte, meine Frau zu werden?« Die Sache beschäftigte ihn so lebhaft, daß ihm sogar die Zigarre dabei ausging. Von einer leidenschaftlichen Liebe konnte natürlich nicht die Rede sein, er war Sechzig, sie nahe der Fünfzig, aber er hatte sie sehr gern, er hatte sich so an sie gewöhnt, daß er sich ein Leben ohne sie gar nicht mehr denken konnte; was ihn an sie fesselte, war aufrichtige Freundschaft. Er zerbrach sich den Kopf, wie Cäcilie wohl seinen Antrag aufnehmen würde. Allerdings, an einen Korb glaubte er nicht, denn die Herrin auf Adlershorst zu werden, war doch sehr verlockend.
Dann aber dachte er wieder an Udo Bodo. Allerdings, daß seiner neuen Ehe Kinder entspringen würden, war ja ausgeschlossen, aber wenn er, Graf Kuno. vor seiner Frau starb, was bei dem Unterschied der Jahre doch sehr wahrscheinlich war, dann mußte Udo Bodo seiner Stiefmutter bis an ihr Lebensende eine jährliche Rente zahlen, die seine Einkünfte bedeutend schmälern würde. Das durfte nicht sein, das konnte er seinem einzigen Sohn nicht antun. Aber einer mußte Cäcilie ja doch bezahlen, wenn Udo Bodo es später nicht tat, dann mußte er es jetzt tun. Und auch das machte ihm manche schlaflose Stunde. Der Tag kam näher und näher, an dem er Cäcilie das bei Udo Bodos Geburt versprochene Kapital auszahlen sollte. Damals in der ersten Vaterfreude hatte er daran gedacht, ihr hunderttausend Mark zu geben, aber im Laufe der Zeit war diese Summe bei ruhiger Überlegung zuerst auf fünfundsiebzig, dann auf fünfzig, dann auf dreißigtausend Mark zusammengeschrumpft, und in den letzten Tagen war er sich darüber einig geworden, daß zwanzigtausend Mark auch genügen würden. Aber er wußte nicht, woher er dies Geld nehmen sollte, bares Vermögen auf der Bank besaß er nicht, seine Einkünfte bestanden aus der großen Pachtsumme, die er bezog, und aus den Zinsen einer großen Majoratsstiftung, die dem jedesmaligen Besitzer von Adlershorst auf Lebenszeit zufielen. Seine Frau hatte allerdings ein großes Vermögen besessen, doch hatte er ihr sowohl das Kapital wie auch die Zinsen stets überlassen und sich nie um ihre Finanzen gekümmert. Erst nach ihrem Tode stellte sich heraus, daß sie auf ihren Reisen trotz des großen Zuschusses, den er ihr gab, fast alles verbraucht hatte, zumal sie leidenschaftlich dem Spiele gehuldigt hatte. Der kleine Rest, den er noch vorfand, war für Udo Bodo angelegt worden. Also woher die zwanzigtausend Mark nehmen?! Schließlich fünfzehntausend taten es ja auch, aber auch diese besaß er nicht. Es war ja allerdings nicht das erstemal, daß er sich in Geldverlegenheit befand, und sein Freund, der Rechtsanwalt, hatte bisher stets ausgeholfen. Hypotheken durften auf das Gut nicht aufgenommen werden und so war es nicht immer leicht, den Gelddarleihern die nötige Sicherheit zu geben. Bisher aber war es noch immer geglückt und auch die Anschaffung der zwanzigtausend Mark würde nicht die geringste Schwierigkeit machen, aber Graf Kuno kannte sich. Er würde sich nicht zwanzig, sondern hunderttausend Mark borgen. Einmal, um den Leuten nicht zu zeigen, daß er wegen einer lumpigen Bagatelle von zwanzigtausend Mark in Verlegenheit sei, dann aber auch, weil er Bargeld immer gebrauchen konnte. Und vor einer neuen Hunderttausend-Mark-Anleihe graute ihm. Er mußte schon jetzt jährlich etwa dreißigtausend Mark an Schulden abbezahlen, und wenn nun noch eine jährliche weitere Ratenzahlung von fünftausend Mark dazu kam, dann waren das summa summarum allein schon fünfunddreißigtausend Mark.
Der Graf stöhnte schwer auf: »Dies niederträchtige Geld!« Er zündete sich seine Zigarre von neuem an und brütete vor sich hin. Die Tage, an denen er sich Geldsorgen machte, waren sehr selten, aber wenn er sich einmal ernsthaft mit seinen Finanzen beschäftigte, dann sah er alles schwarz in schwarz, dann kam es ihm so vor, als wäre er das bedauernswerteste Geschöpf, als gäbe es keinen Menschen auf der ganzen Welt, dem es finanziell auch nur annähernd so miserabel ginge wie ihm.
Und der Graf kalkulierte und rechnete weiter. Wenn er die zwanzigtausend Mark nicht auszahlte, brauchte er auch keine neue Anleihe aufzunehmen, und zwanzigtausend Mark waren doch eigentlich sehr wenig, dreißig oder vierzig mußte er doch anstandshalber geben, und schließlich, wenn er bis zu seinem Tode alle seine Schulden bezahlt hatte, dann konnte Udo Bodo später ruhig seiner Stiefmutter eine anständige Witwenrente zahlen, dann stand er sich finanziell immer noch besser, als er, Graf Kuno, sich jetzt stand. So nahm sein Plan – Tante Cäcilie um ihre Hand zu bitten – eine immer greifbarere Form an, und als Graf Kuno einige weitere Stunden über diesen Punkt nachgedacht hatte, war er zu einer zweiten Heirat fest entschlossen.
Aber in der letzten Minute stiegen neue und sogar sehr gewichtige Bedenken in ihm auf: was dann, wenn Tante Cäcilie seinen Antrag annahm, aber außerdem auf der Auszahlung des ihr zustehenden Kapitals bestand, um dieses entweder für sich selbst anzulegen oder es irgendeinem ihrer Neffen oder einer ihrer Nichten zu schenken? Was dann? Ein Zurück gab es dann für ihn als Kavalier selbstverständlich nicht, aber dann war seine Spekulation mißglückt. Das war eine heikle Sache, aber auch über diesen Punkt kam er hinweg. »Ich werde ganz offen mit Cäcilie reden und sie ganz einfach fragen, was ihr lieber wäre, mit dem Kapital in ihre kleine Stadt zurückzukehren oder ohne dasselbe meine Frau zu werden. Ich werde heute noch mit ihr darüber sprechen.«
Und Graf Kuno führte seinen Vorsatz aus, sogar in Frack und weißer Binde, und Tante Cäcilie hörte ihn sprachlos an.
Als sie damals im Alter von vierunddreißig Jahren nach Adlershorst übergesiedelt war, hatte sie zuweilen in schlummerlosen Nächten wachend davon geträumt, daß es ihr gelingen würde, Graf Kunos Herz zu erobern. Aber Graf Kuno war nie ein großer Damenfreund gewesen, er hatte damals eigentlich auch nur geheiratet, um durch seine Frau seine Bequemlichkeit und vor allen Dingen einen Erben zu erhalten. Nachdem er das letzte erreicht, dachte er vorläufig noch gar nicht an eine zweite Ehe, das mußte Cäcilie zu ihrem Leidwesen nur zu bald erfahren und so hatte sie alle Hoffnungen, die sie in ihrem Busen hegte, schon vor mehr als zehn Jahren begraben. Und nun trat dieses Anerbieten doch an sie heran. Auf alles war sie vorbereitet gewesen, hierauf nicht. Sie kannte ihren Vetter viel zu genau, um nicht zu wissen, welche Gründe ihn in erster Linie bewegten, ihr jetzt noch einen Antrag zu machen. Gewiß, in mancher Hinsicht fühlte sie sich dadurch in ihrem Empfinden verletzt, und es hätte ihrer Eitelkeit mehr geschmeichelt, wenn er lediglich aus Liebe um ihre Hand geworben hätte, aber schließlich war sie selbst ja auch eine kühle, berechnende Natur und so begriff sie ihn vollständig.
»Ich will es mir überlegen, Kuno, sagte sie endlich, »in einigen Tagen werde ich mir schlüssig sein, aber ich glaube Dir schon heute sagen zu können, daß ich mit Freuden einwilligen werde, die Deine zu werden.«
Er küßte ihr galant die Hand, dann begab er sich in sein Ankleidezimmer zurück, zog sich seinen Frack aus und damit war für ihn die Angelegenheit vorläufig erledigt. Er sah kühlen Herzens der Entwickelung der Dinge entgegen. Er würde weder vor Freude sterben, wenn er das Jawort erhielt, noch dachte er daran, sich ein Leid anzutun, falls er doch noch einen Korb bekommen sollte.
Auch Tante Cäcilie bemühte sich, ein gleichmäßiges und gleichmütiges Wesen zur Schau zu tragen, aber in ihrem Innern pochte und hämmerte es doch gewaltig. Nicht, als ob sie Graf Kuno leidenschaftlich liebte, über die Jahre war sie hinaus, aber die Aussicht, Herrin von Adlershorst zu werden, war verlockend, und sie freute sich schon jetzt auf die Gesichter, die die Verwandten machen würden, wenn Graf Kuno bei dem Familiendiner feierlichst seine Verlobung proklamierte.
Und die Neugierde, diese Gesichter kennen zu lernen, war es in erster Linie, die Tante Cäcilie eines Tages bewog, dem Grafen Kuno zu sagen: »Ich bin die Deine.«
Wiederum küßte er ihr ritterlich die Hand und damit war für ihn der Fall vorläufig erledigt, erst nach der offiziellen Verlobung am Familientag sollte die Welt etwas davon erfahren.
Und auch der Tag kam heran, beständig fuhren zwischen Schloß Adlershorst und der Bahnstation die Viererzüge, die Kaleschen und die Gepäckwagen hin und her und das sonst so stille Schloß glich einem Ameisenhaufen und in einer Stunde wurde dort jetzt mehr geredet als sonst im Lauf eines ganzen Jahres. Die Zahl der anwesenden männlichen Adlershorst war sehr gering, außer dem Grafen Egon, dem flotten Husarenoffizier, dem Sohn der Tante Konstanze, gab es noch einen früh verabschiedeten Major, ferner einen ganz aus der Art geschlagenen Vetter, der allen Ermahnungen der Familie zum Trotz Theologie studiert hatte und jetzt Professor an einer Universität war, außerdem noch einen Seeoffizier und einen Landrat. Sowohl der Kammerherr wie der Intendant des Hoftheaters waren zu ihrem größten Leidwesen am Erscheinen verhindert, der Kammerherr, weil er gerade in diesen Tagen Dienst hatte, und der Intendant, weil gerade in diesen Tagen sein Hoftheater wegen eines geringen Umbaues geschlossen war.
Diesen wenigen Herren standen fast doppelt so viele Damen gegenüber und unter diesen war eine, die Udo Bodos Herz und Sinne gleich in der ersten Stunde gefangen nahm, das war seine Cousine Betty, ein mittelgroßes, schlankes, junges Mädchen von siebzehn Jahren mit einem hübschen, frischen Gesicht, mit lachenden, schwarzen Augen und einer Fülle tiefschwarzen Haares; was aber erst Betty ihren besonderen Reiz gab, war eine gewisse Sinnlichkeit, die nicht nur aus ihren Augen, sondern aus ihrem ganzen Wesen sprach, und etwas bewußt Verführerisches, das sie kokett und absichtlich zur Schau trug.
Udo Bodo hatte es bisher nicht begriffen, warum sein Vater sich zum zweitenmal verheiraten wollte, er wußte überhaupt nicht, warum man heiratete, weil ihm das Gefühl der Liebe bisher gänzlich unbekannt geblieben war. Aber seitdem er Betty kennen gelernt, und seitdem diese ihren neuen Vetter mit einem herzhaften Kuß begrüßt hatte, war ihm ganz anders zumute als sonst, und als er heimlich und verstohlen mit Betty im Gemüsegarten spazieren ging, wo die an den langen Stangen hochgerankten Bohnen sie vor neugierigen Blicken schützten, klärte Betty ihn auch darüber auf, daß das, was er für sie empfände, Liebe sei. Lachend und kokett ließ sie sich seine Huldigungen und seine Zärtlichkeiten gefallen; gewitzigt, wie sie es in der großen Stadt geworden war, machte es ihr Spaß, dem jungen, unerfahrenen Vetter den Kopf zu verdrehen.
Betty war auch daran schuld, daß Udo Bodo seinen weiblichen Verwandten nicht so gut gefiel, wie diese es erwartet hatten. Daß er geistig sehr beschränkt war, merkten alle sehr schnell, aber dafür konnte er ja nichts, dafür war er ja ein Adlershorst. Aber man fand. daß er keine gute Erziehung genossen hatte. Und zu diesem Schluß kamen die Verwandten, weil er nicht nur nicht still hielt, sondern sich sogar energisch sträubte, wenn die andern Tanten und Basen ihn küssen wollten. So gern er Bettys frische, rote Lippen küßte, ebenso unangenehm waren ihm die Küsse der andern, selbst nach dem Kuß der alten Kammerherrin hatte er sich die Lippen gewischt und dadurch die alte Dame auf das tiefste beleidigt. Er hatte sie zwar auf Veranlassung seines Vaters hierfür um Verzeihung gebeten, aber die sonst so gutmütige alte Dame war und blieb verstimmt.
Aber das nicht allein, er hörte gar nicht zu, wenn die Tanten mit ihm sprachen, er gab ganz zerstreute Antworten, wenn er gefragt wurde und benutzte jedesmal die erste, beste Gelegenheit, zu entfliehen und draußen mit Betty zusammenzutreffen, und sie beide wollten sich dann zusammen über die Alten totlachen, und so dumm Udo Bodo auch sonst war, in einer Hinsicht war er über alles Erwarten schlau, kein Mensch merkte ihm an, daß er verliebt war.
Allerdings hatte die kluge und gerissene Betty ihn in die Lehre genommen. »Nur nichts merken lassen, Udo Bodo. Die andern sind ja so gräßlich neidisch, die gönnen uns ja nicht das harmloseste Vergnügen. Natürlich haben sie es in ihrer Jugend ebenso gemacht wie wir, vielleicht sogar noch schlimmer, aber was sie damals als etwas ganz Selbstverständliches betrachteten, ist heute in ihren Augen Sünde. Nur nichts merken lassen. Sobald sie wissen, daß wir uns liebhaben und daß wir uns küssen, dann ist es für immer vorbei, dann passen sie auf wie die Schießhunde. Ich kenne das von zu Haus her, schlau sein ist für die Liebe das erste Gebot. Merk Dir das für Dein späteres Leben. Und wenn Du mir später mal schreiben willst, dann darfst Du mir Deine Briefe nicht nach Haus schicken, sondern nur in die Konditorei, in der wir verkehren, der Kellner weiß Bescheid, der hebt alle Postsachen für uns auf.«
Er hörte aus ihren Worten gar nicht heraus, daß sie sich nicht nur von ihm, sondern auch noch von andern den Hof machen ließ, er war in dergleichen Dingen viel zu unerfahren, und er war so ganz von der ersten, keuschen Liebe erfüllt, daß er gar nicht auf den Gedanken kam, man könne sein Herz gleichzeitig an mehrere verschenken. So sagte er denn nur mit glühenden Wangen: »Gewiß, werde ich Dir schreiben, so oft Du es mir erlaubst, aber nicht wahr, Du wirst mir auch wieder schreiben?«
»Aber natürlich,« versicherte sie ihm, »ich habe Dich doch lieb,« und sie nahm sein frisches, hübsches Knabengesicht zwischen ihre schlanken, feinen Hände und küßte ihn immer und immer wieder. Aber dann fragte sie noch einmal: »Nicht wahr, Du verrätst uns nicht? Denn auch Dir würde es doch leid tun, wenn ich Dich nicht mehr küssen könnte.«
»Ich würde es nicht überleben,« sagte er ganz ernsthaft. »Ich muß überhaupt noch eins gestehen, ich habe gestern die ganze Nacht wach gelegen, ich konnte gar nicht schlafen, ich habe immerfort an Dich gedacht.«
Sie schmiegte sich dicht an ihn und sah ihm verführerisch lächelnd in die Augen, daß er über und über errötete. »Hast Du wirklich an mich gedacht? Hast Du auch von mir geträumt? Was? Sag es mir, ich will alles wissen.« Und sie schmiegte sich noch enger an ihn.
Er verstand sie nicht. »Ich sagte Dir ja schon, ich habe gar nicht geschlafen, ich lag die ganze Zeit wach, und da ist es mir klar geworden, ich kann es nicht ertragen, wenn Du nicht mehr hier bist, ich weiß nicht, wie ich dann weiterleben soll, ich weiß auch nicht, wie ich überhaupt früher ohne Dich habe leben können.«
»Du bist ein lieber, guter, dummer Junge.« Im stillen lachte sie ihn zwar aus, aber seine Worte und seine Liebe schmeichelten doch ihrer Eitelkeit.
»Meinst Du?« fragte er. »Vielleicht hast Du recht, aber das weiß ich, wenn ich älter bin, dann heirate ich Dich, wie jetzt Papa unsere Tante Cäcilie.«
Betty, die ihre Arme noch immer um seinen Nacken geschlungen hielt, ließ ihn jetzt plötzlich los und sah ihn mit ihren großen Augen verwundert an. Dann schlug sie vor Freude über diese große Neuigkeit die Hände zusammen: »Was sagst Du da? Dein Vater will Tante Cäcilie heiraten? Das ist ja furchtbar komisch!« Und sie fing hell an zu lachen.
Ganz verwirrt stand Udo Bodo ihr gegenüber. Er begriff den Grund ihrer Heiterkeit gar nicht, aber wenn auch zu spät, sah er ein, daß er eine große Dummheit begangen hatte, aber das nicht allein, er hatte auch etwas Schlechtes getan. Er hatte seinem Vater, der ihm seine Verlobung gleich mitgeteilt hatte, fest versprochen, darüber gegen jedermann zu schweigen, nun hatte er es doch verraten.
Endlich hatte Betty sich wieder beruhigt. »Sag mal, Udo Bodo, ist das wirklich wahr, was Du mir da sagtest?«
»Es ist wahr, ein Graf Adlershorst spricht niemals die Unwahrheit. Aber ich hätte besser getan, es Dir nicht zu sagen. Heute mittag bei dem großen Diner werden es alle erfahren, aber bis dahin sollte es ein Geheimnis bleiben. Und nicht wahr, Betty, das versprichst Du mir. Du schweigst gegen jedermann?«
»Selbstverständlich,« versicherte sie ihm. »aber jetzt laß uns ins Schloß gehen, man wird uns schon vermissen.«
Sie wandten sich zum Gehen, aber er hielt sie zurück, und mit zitternder Stimme sagte er: »Du hast mir noch keine Antwort gegeben auf das, was ich Dir vorhin erklärte.«
Sie sah ihn verständnislos an. »Ich weiß nicht, was Du meinst.«
Er wurde abermals ganz verlegen, trotzdem sagte er mit fester Stimme: »Ich habe Dir erklärt, wenn ich groß und erwachsen bin, dann will ich Dich heiraten. Willst Du mich dann aber auch heiraten?«
Sie hatte nicht den Mut, ihn auszulachen. Aus seinen Augen sprach so viel Liebe, sein ganzes Wesen verriet so deutlich, daß es ihm heiliger Ernst war mit seinen Worten, daß selbst sie es nicht wagte, seinen Kindertraum zu zerstören. Sie war nur ein Jahr älter als er und doch, wie viel klüger und wie viel erfahrener und wie viel gewitzigter!
»Wir sind ja beide noch so jung,« sagte sie ausweichend, »aber eins will ich Dir versprechen, ich heirate später keinen andern Mann, ohne nicht erst bei Dir anzufragen, ob Du mich noch liebst und wenn Du später noch ebenso denkst wie heute – –«
»Ich werde nie aufhören, Dich zu lieben,« sagte er mit fester Stimme.
»Herrgott, ist dieser Udo Bodo noch ein Kind,« dachte sie, »das sieht einem Adlershorst in dem Alter eigentlich gar nicht ähnlich. Wir Mädchen sind Gott sei Dank anders,« dann sagte sie: »Vielleicht begegnet Dir später in Deinem Leben doch noch einmal ein junges Mädchen, das Dir noch viel besser gefällt als Deine kleine Cousine Betty. Aber wenn Du mich wirklich lieb behältst, und mich später heiraten willst, dann heirate ich Dich auch.«
»Ich danke Dir,« sagte er ganz feierlich, »und jetzt bitte gib mir noch einen Kuß, damit ich sehe, daß es Dir auch Ernst war mit Deinen Worten.«
Sie schlang von neuem die Arme um seinen Hals, bot ihm ihre frischen Lippen und küßte ihn immer und immer wieder. Dann riß sie sich los und eilte so schnell sie konnte, ins Schloß.
Sie wußte, ihre Mutter würde schon ungeduldig sein und unter keinen Umständen durfte sie auch nur den Argwohn aufkommen lassen, als ob sie so lange mit Udo Bodo zusammen gewesen wäre. Seitdem ihre Mutter einmal einen Brief abgefangen hatte, den ein Student ihr in die Wohnung geschickt hatte, war sie sehr mißtrauisch, denn sie kannte das leichte Blut ihrer Tochter.
»Nur nichts merken lassen,« dachte Betty sich, dann trat sie ganz unbefangen in das Zimmer ihrer Mutter, einer verwitweten Frau Regierungsrat, einer noch immer schönen und eleganten Fünfzigerin.
»Wo bist Du denn nur so lange gewesen? Ich hatte Dir gesagt, Du solltest um elf Uhr hier sein, um ein paar Briefe für mich zu schreiben, jetzt ist es schon nach zwölf und um ein Uhr wird die Post abgeholt. Wo warst Du?«
»Natürlich im Garten, Mama, wo soll man hier sonst wohl hingehen.«
»Allein?«
Betty sah ihre Mutter ganz verwundert an. »Aber selbstverständlich, die Herren sitzen ja den ganzen Tag bei Vetter Kuno im Rauchzimmer, sie sind ja nicht zu bewegen, einmal hinauszugehen.«
»Wie kommst Du nur gleich auf die Herren?« fragte die Mutter, mißtrauisch geworden, »Du hättest doch auch mit einer der Tanten zusammen sein können?«
»Ach so, ja richtig, aber ich dachte, das hätte Dich nicht interessiert. Du glaubst ja doch immer von mir, daß ich etwas Unrechtes tue, nur weil ich damals den einen Brief erhielt, an dem ich noch dazu ganz unschuldig war. Von der Stunde an traust Du mir ja gar nicht mehr, und ich habe Dir doch fest versprochen, daß die Kindertorheit die erste, aber auch die letzte gewesen sein soll.« Betty fühlte das Bedürfnis in sich, aus einer Angeklagten eine Anklägerin zu werden, und so fuhr sie denn fort: »So viel weiß ich, Mama, wenn ich einmal eine Tochter habe, ich werde nicht so mißtrauisch sein wie Du, Du verdirbst dadurch nicht allein mir, sondern auch Dir das Leben.«
»Du bist ein ganz ungezogenes Kind,« schalt die Mutter, »und Deine Worte beweisen mir nur zu deutlich, daß ich doch einmal wieder recht habe. Du bist nicht allein im Garten gewesen, ich will wissen, mit wem. Wenn Du mir nicht die Wahrheit sagst, werde ich dafür sorgen, daß Du heute mittag nicht an dem großen Diner teilnimmst.«
Betty kannte ihre Mutter, die machte ihre Drohungen auch wahr. Jetzt half alles Lügen nichts mehr, denn das Diner wollte sie unter allen Umständen mitmachen, sie hatte dazu sogar extra ein ganz neues Kleid bekommen, und da sollte sie oben einsam in ihrem Zimmer essen? Das fiel ihr nicht ein. Beichten mußte sie, aber es hieß jetzt, sehr schlau sein und so sagte sie denn: »Wenn Du es denn absolut wissen mußt, dann will ich es Dir sagen, schon damit Du siehst, wie unrecht Du mir wieder getan hast, ich war mit Udo Bodo zusammen.«
»Also doch.« Die Mutter war empört und ging in großer Erregung auf und ab.
»Aber Mama, was hast Du denn nur?« fragte Betty mit dem unschuldigsten Gesicht von der Welt, »Warum kann ich denn nicht einmal mit Udo Bodo zusammen sein?«
»Weil ich Dich kenne, weil ich ganz genau weiß, daß Du dem armen Jungen den Kopf verdrehst, daß Du ihn küßt und Dich von ihm wieder küssen läßt. Ich kenne solchen Flirt zwischen Vetter und Cousine.«
»Ich leider nicht,« sagte Betty ganz frech, »mir hat noch nie ein Vetter den Hof gemacht, schon deshalb nicht, weil ich keinen Vetter habe. Udo Bodo zählt doch nicht mit, der ist ja noch ein Kind, und vor allen Dingen ist der viel zu dumm, ich gebe Dir die Versicherung, der weiß noch gar nicht, was Hofmachen ist. Und küssen? Ich Udo Bodo? Na, Mama, das glaubst Du doch selbst nicht, einen so schlechten Geschmack traust Du Deiner einzigen Tochter ja selbst gar nicht zu.«
Die Mutter tat, als habe sie sich täuschen lassen. »Ich glaube Dir,« sagte sie endlich, »aber Du bist ja selbst daran schuld, wenn ich mißtrauisch werde. Aber wenn Udo Bodo so gar nicht Deinen Beifall findet, warum bist Du denn so lange bei ihm geblieben, was habt Ihr denn so lange miteinander im Garten gemacht? Was habt Ihr in der ganzen Zeit miteinander besprochen?«
Betty kannte ihre Mutter ganz genau, die dachte gar nicht daran, wirklich von der Unschuld ihres Kindes überzeugt zu sein, sie versuchte jetzt nur auf andere Weise die Wahrheit zu erfahren.
»Ich muß jeden Argwohn zerstören,« dachte Betty, »denn sonst erlaubt Mama nicht, daß ich heute mittag neben Udo Bodo sitze, und ehe ich mich zwischen zwei alte Tanten einpellen lasse oder zwischen dem Mann Gottes und dem Major, eher sterbe ich. Egon ginge zur Not als Tischherr oder als linker Nachbar, aber er ist so furchtbar blasiert und betrachtet mich noch wie ein dummes Gör. Als wenn ich nicht genau so klug wäre und nicht ebensogut Bescheid wüßte wie die andern.« So sagte sie denn: »Gott, was spricht man denn so, wenn man miteinander zusammen ist. Man erzählt sich etwas aus seinem Leben, kurz und gut, man plaudert eben miteinander.«
»Aber ich will ja gerade wissen, worüber Ihr geplaudert habt?«
»Gott, Mama, fängst Du schon wieder an?« fragte Betty beleidigt. »Das ist ja wirklich mehr als gräßlich.« Sie merkte, es half ihr nichts, sie mußte schon etwas Positives berichten und so sagte sie denn plötzlich: »Udo Bodo hat mir eine Neuigkeit anvertraut, eine ganz, ganz große!«
»Ach nein, wirklich?« fragte die Mutter ironisch.
»Ach. Du glaubst mir wohl nicht?« fragte Betty ebenso. »Na, Mama, ich kann Dir nur sagen, wenn Du die Geschichte wüßtest, Du schlügst die Hände über den Kopf zusammen.«
Es gab wenige Frauen, die so neugierig waren wie Bettys Mutter. So hatte diese jetzt mit einem Male auch alles andere vergessen, sie brannte nur noch darauf, zu erfahren, worin die Neuigkeit bestände, und sie versuchte vergebens, sich zu verstellen, als sie jetzt anscheinend ganz harmlos fragte: »So, und worin besteht denn die interessante Nachricht?«
»Ja, Mama,« meinte Betty, »das glaube ich, das möchtest Du wohl gern wissen. Aber gib Dir nur keine Mühe, ich darf es nicht sagen, ich habe Udo Bodo versprochen, gegen jedermann zu schweigen.«
»Auch gegen mich? Wie soll ich Dir jemals wieder glauben, wenn ich weiß, daß Du vor Deiner eigenen Mutter ein Geheimnis hast?«
»Es handelt sich doch nicht um etwas, was mich betrifft, sondern um etwas, was mir anvertraut wurde. Fremde Geheimnisse sind fremde Schätze, die man hüten und gegen jedermann verteidigen muß. Du würdest in meinem Falle doch ebenso handeln wie ich.«
Es machte Betty ein großes Vergnügen, ihrer Mutter gute Lehren zu geben. Daß sie das Geheimnis doch würde preisgeben müssen, bezweifelte sie nicht eine Sekunde, aber wenn sie es verriet, dann wollte sie wenigstens einen praktischen Nutzen davon haben, und so sagte sie denn endlich, als ihre Mutter gar nicht aufhörte, sie mit Bitten zu bestürmen: »Gut, Mama, ich will es Dir sagen, aber Vertrauen gegen Vertrauen. Ich teile Dir das Geheimnis mit, schon damit Du siehst, daß ich Dir in keiner Weise, ich sage ausdrücklich in keiner Weise, etwas verschweige. Aber dafür muß ich auch von Dir verlangen, daß Du mir in Zukunft ohne weiteres glaubst, daß Du Deinen Argwohn mir gegenüber ein für allemal aufgibst. Versprichst Du mir das?«
Die Mutter war von Neugierde derartig erregt, daß sie kaum auf das hörte, was ihre Tochter ihr sagte. »Gewiß, ich verspreche es Dir, aber nun sag, was ist es.«
Aber Betty war vorsichtig, so leicht ließ sie sich die große Neuigkeit nicht entlocken. »Und wenn Du einmal Dein Versprechen, das Du mir jetzt gibst, vergessen solltest, darf ich Dich dann daran erinnern?«
»Gewiß, gewiß,« drängte die Mutter, »habe ich Dir jemals Veranlassung gegeben, an meinen Worten zu zweifeln? Was ich versprach, habe ich doch stets gehalten.«
»Na, na,« dachte Betty, dann sagte sie: »Und ich kann mich auch selbstverständlich felsenfest darauf verlassen, daß Du gegen niemand etwas erwähnst?«
»Ich werde schweigen, das ist doch ganz selbstverständlich.«
»Na, na,« meinte Betty, »Dein Wort in Ehren. Mama, aber leicht wird es Dir nicht werden, diese Neuigkeit für Dich zu behalten.«
»Aber so sprich doch endlich und spanne mich nicht länger auf die Folter. Du tust ja gerade, als wenn es sich um Gott weiß welche großen Dinge handelt und dabei wird doch schließlich nur eine lächerliche Bagatelle herauskommen.«
»Meinst Du?«
Betty hatte ihrer Mutter gegenüber in einem Schaukelstuhl Platz genommen, die Beine lang von sich gestreckt, die kleinen, zierlichen Füße, deren rosige Haut durch die seidnen Strümpfe hervorschimmerte, übereinandergeschlagen. Aus ihrem übermütigem Gesicht sprach deutlich die Freude über die Ungeduld ihrer Mutter, am liebsten hätte sie diese noch länger hingehalten und sie dadurch auch dafür bestraft, daß sie ihr jetzt so auf die Finger sah und in Berlin jeden ihrer Schritte überwachte. Betty wußte, daß sie oft Unrechtes tat, aber sie machte sich gar kein Gewissen daraus, die Freundinnen machten es ja auch nicht anders, und vor allen Dingen: wer zwang sie zu all den Heimlichkeiten? Doch nur die Mutter selbst. Warum erlaubte sie ihr nicht einen unschuldigen Flirt? Küssen ist keine Sünd, hieß es doch schon in dem alten Lied, und Schlimmeres tat sie doch nicht, nicht etwa, als ob es ihr an Versuchungen fehlte, sie wußte ganz genau, welchen Reiz sie auf die Männer ausübte, aber sie war viel zu klug, um Torheiten zu begehen.
Betty betrachtete immer noch sehr aufmerksam ihre kleinen Füße, die in schwarzen Lackschuhen steckten. Stiefel und Schuhe waren ihr Sport, wie der ihrer Freundinnen. Sie wußte, wie es die Herren reizte, wenn sie auf der Straße oder auf einer Gesellschaft einen kleinen Schuh oder einen eleganten Stiefel zeigte, o, und sie verstand es, ihr Kleid zu heben und gerade nur so viel zu zeigen, wie sie zeigen wollte. Und sie konnte sich dann totlachen über die Herren, die ihr manchmal straßenweit folgten. Wie oft war sie nicht schon angesprochen worden! Und sie ließ es sich auch ruhig gefallen, das reizte ihre Sinnlichkeit, und hinterher stürzte sie dann schnell in die Konditorei, um ihren Freundinnen ihren Erfolg zu berichten und brühwarm zu erzählen, welchen Antrag man ihr gemacht hatte.
Betty hing, in den Anblick ihrer kleinen Füße versunken, so ihren Gedanken nach, daß sie die Anwesenheit der Mutter fast ganz vergessen hatte, und beinahe erschrocken zusammenfuhr, als diese nun fragte: »Wirst Du mir nun endlich das große Geheimnis nennen? Wenn Du auch jetzt nicht sprichst, muß ich annehmen, daß Du überhaupt nichts weißt, daß das Ganze nur eine Lüge war, um mich von meinem Argwohn abzubringen, Du hättest doch etwas mit Udo Bodo gehabt.«
»Mama, Deine ewigen, grundlosen Verdächtigungen sind einfach beleidigend,« fuhr Betty auf. »Udo Bodo ist mir genau so gleichgültig wie jeder andere, und vor allen Dingen wirst Du mich doch nicht für so dumm halten, mich mit einem Kind abzugeben. Na, es lohnt sich ja gar nicht, mit Dir darüber zu sprechen,« brach sie das Thema ab, »aber damit ich Dir beweise, wie unrecht Du mir in einem fort tust, will ich jetzt nicht länger schweigen. So höre denn: Tante Cäcilie hat sich mit Vetter Kuno verlobt, heute mittag wird es proklamiert.«
Die Mutter war vor Erstaunen tatsächlich sprachlos. Sie starrte Betty mit einem Gesicht an, als wäre soeben um sie herum die Welt untergegangen. Sie hatte die Augen ganz weit aufgerissen, und auch der Mund stand offen. Man merkte ihr an, sie wollte etwas sagen, aber das Sprechen ging über ihre Kraft. Endlich hatte sie sich wieder einigermaßen gesammelt. »Das ist – das ist –« rief sie, »das ist mehr als –« Aber das passende Wort fand sie nicht, sie war sich selbst nicht darüber klar, was es denn eigentlich war.
»Du meinst wohl, es ist einfach empörend,« half Betty ihr.
»Es ist sogar mehr als empörend, es ist einfach –« Aber wieder fehlte ihr das richtige Wort angesichts dieser ungeheuerlichen Tatsache.
»Aber warum denn nur?« fragte Betty, »die Neuigkeit ist ja sehr interessant, aber weiter doch nichts. Ob Vetter Kuno heiratet oder nicht, das kann uns doch eigentlich ganz kalt lassen, erben tun wir ja doch nichts von ihm. Udo Bodo ist ja da, und der ist die Kraft und die Gesundheit selbst. Und selbst wenn Vetter Kuno kinderlos geblieben wäre, ich bitte Dich, ehe Adlershorst an uns gefallen wäre, hätten noch ein Dutzend der Verwandten und mehr sterben müssen. Den Tag hätten wir doch nicht erlebt. Also ich finde, sich irgendwie darüber aufzuregen hat gar keinen Zweck.«
Die Mutter hatte kaum auf das geachtet, was Betty ihr da auseinandersetzte, sie war noch immer damit beschäftigt, sich zu sammeln, und so sagte sie denn jetzt: »Ich bitte Dich, Betty, laß mich jetzt allein, ich muß mich einen Augenblick hinlegen, mir ist ganz schwach geworden, Du kannst wieder in den Garten gehen, die Briefe können wir morgen schreiben.«
Aber Betty durchschaute ihre Mutter, sie wußte ganz genau, sie wollte sie nur los sein, um von einer Verwandten zur andern zu eilen und ihr die große Neuigkeit mitzuteilen. Das aber durfte nicht sein, wenigstens mußte sie alles tun, was sie konnte, um es zu verhindern, und so meinte sie denn: »Leg Dich nur ruhig hin, Mama, ich werde hier bleiben und lesen, ich störe Dich nicht.«
»Du kennst mich doch, mich und meine Nerven,« schalt die Mutter, die kaum den Augenblick erwarten konnte, in dem sie mit den andern die Verlobung besprach, »wenn ich meinen Nervenchok habe, dann kann ich keinen Menschen in der Nähe haben, dann muß ich ganz allein sein.«
»Arme Mama,« meinte Betty, anscheinend mit dem tiefsten Mitleid, »arme Mama, hat Dich die Nachricht so erschüttert? Dann will ich lieber gehen, ruhe Dich nur ordentlich aus, damit Du heute nachmittag wieder ganz frisch bist. Ich lasse Dich jetzt allein, aber in den Garten gehe ich nicht, die Sonne scheint ja zu stark, und das bekommt meinem Teint nicht. Ich werde schon im Hause ein stilles Plätzchen finden, wo ich ungestört lesen kann.«
Und wo dieses stille Plätzchen war, wußte sie ganz genau. Oben in der ersten Etage, in der die Fremdenzimmer lagen, war eine große Nische zu einer Art Rauchzimmer eingerichtet, orientalische Teppiche bedeckten die Wände und weiche Diwans boten eine bequeme Lagerstätte. Dort wollte Betty sich niederlassen, von dort aus konnte sie nicht nur die Zimmertür ihrer Mutter, sondern den ganzen Korridor übersehen. So half sie denn jetzt ihrer Mutter, als diese sich auf der Chaiselongue ausstreckte, deckte sie mit einem großen seidenen Schal zu, schob ihr ein Kissen unter den Kopf, zog die Gardinen vor, so daß es im Zimmer ganz dunkel wurde, und küßte ihre Mutter auf die Stirn. »Na, dann schlaf wohl, Mama.«
»Hoffentlich, mein liebes Kind, in einer Stunde kannst Du Dich einmal wieder nach mir umsehen, sollte ich aber noch schlafen, dann wecke mich bitte nicht.«
»Ganz wie Du befiehlst. Mama.«
Betty wandte sich zum Gehen, aber sie wandte sich noch einmal wieder um. »Soll ich nicht lieber die Zimmertür abschließen und den Schlüssel mitnehmen, damit Dich auch niemand stört?«
Betty war auf diesen Einfall sehr stolz, sie freute sich im stillen über den Schrecken, den diese Worte ihrer Mutter einjagen würden, die starb eher, als daß sie sich einschließen und sich dadurch die Möglichkeit nehmen ließ, sobald sie allein war, von ihrem Lager aufzuspringen und die Verwandten aufzusuchen.
Und Betty behielt recht. Ganz erschrocken richtete sich die Mutter halb auf. »Um Gottes willen, Betty, Du wirst doch nicht? Ich ängstige mich ja bei verschlossenen Türen halbtot. Es kann Feuer ausbrechen, ich kann in die Lage kommen, Hilfe zu gebrauchen, und dann kann ich nicht hinaus und kein Mensch kann zu mir. Nein, auf keinen Fall schließt Du die Tür zu, wer sollte mich auch Wohl um diese Stunde stören?«
»Ganz wie Du meinst, Mama.«
Betty ging hinaus und begab sich auf ihren Beobachtungsposten. »Lange werde ich nicht zu warten brauchen,« sagte sie sich, »nur bis Mama annimmt, daß ich unten angelangt sein kann. Jetzt ist nur die Frage, was mache ich? Soll ich sie zurückhalten, wenn sie auf den Korridor tritt? Das beste wäre es schon. Aber nein,« sagte sie sich nach kurzem Besinnen, »das wäre nicht schlau. Wenn sie das Geheimnis verraten will, kann ich es doch nicht verhindern, denn eine unbewachte Minute wird sie im Laufe des heutigen Tages doch finden können, und die genügt ihr vollständig. Besser ist schon, ich lasse sie ruhig ihren Weg gehen, wenn ich ihr dann hinterher beweisen kann, daß sie doch gesprochen hat, muß sie sich ja vor ihrem eigenen Kind schämen, und vor allen Dingen habe ich dann ihr gegenüber gewonnenes Spiel. Wenn Mama mir dann später einmal wieder Vorwürfe macht, brauche ich sie nur an den heutigen Tag zu erinnern, der gibt mir eine große Waffe in die Hand. Allerdings, wenn es die ganze Verwandtschaft erfährt, wird es auch Udo Bodo zu Ohren kommen, daß ich nicht schwieg, und er wird dann sehr böse sein. Ich muß ihm sagen, ich hätte sprechen müssen, um nicht zu verraten, daß wir uns küßten, und das ist ja auch die Wahrheit. Und dann sitze ich ja auch bei Tisch neben ihm, ich werde meinen Stuhl ganz dicht an den seinigen heranrücken, dann wird er schon wieder gut werden, der arme Junge ist ja bis über seine beiden Ohren in mich verliebt.«
Sie hatte den Vorhang, der die Nische von dem großen Korridor abschloß, vorgezogen, und hinter demselben versteckt, beobachtete sie den Korridor. Und es waren wirklich erst wenige Minuten verflossen, da »flog« ihre Mutter über den Korridor und klopfte an die Tür von Tante Berta. Das »Herein« erklang, und gleich darauf ertönte aus dem Zimmer ein Schrei!
»So,« sagte sich Betty, »Tante Berta ist jetzt unterrichtet, dieser Schrei der Überraschung beweist es mir.«
Da öffnete sich die Tür und ihre Mutter, gefolgt von Tante Berta, stürzte in das Zimmer von Tante Nelly, und wieder wenig später eilten ihre Mutter, Tante Berta und Tante Nelly zu Tante Paula, und dann gingen ihre Mutter, Tante Berta, Tante Nelly und Tante Paula zu Tante Konstanze, und dann eilten ihre Mutter, Tante Berta, Tante Nelly, Tante Paula und Tante Konstanze zu der alten Kammerherrin.
»So,« sagte Betty sich, »jetzt ist die Geschichte herum. Jetzt wird die Kammerherrin den guten Kuno fragen, ob die Sache wahr ist, dann wird Kuno seinen Udo Bodo fragen, ob er geklatscht hat, dann wird Udo Bodo furchtbare Ausschelte bekommen und Tante Cäcilie Krämpfe vor Wut, weil ihr nun die große Überraschung verdorben ist.«
Als Tante Cäcilie erfuhr, daß schon alle von ihrer Verlobung wußten, bekam sie keine Krämpfe, sondern sie fiel vor Wut tatsächlich in Ohnmacht, und Udo Bodo, der auf Befragen sofort die Wahrheit gestand, aber natürlich die mit Betty gewechselten Küsse verschwieg, bekam ganz gehörig etwas mit der Reitpeitsche. Es waren die ersten Prügel, die Udo Bodo in seinem Leben erhielt, und vielleicht wäre auch diesmal die Strafe an ihm vorübergegangen, wenn Tante Cäcilie nicht kategorisch darauf bestanden hätte. Dem Grafen Kuno war der Gedanke gräßlich, seinen eigenen Sohn schlagen zu müssen, und er dachte zuerst daran, die Strafvollstreckung dem Hauslehrer zu übertragen, aber daß ein Bürgerlicher einen Adeligen schlug, das ging doch nicht, so nahm er denn selbst die Reitpeitsche zur Hand und legte seinen Sohn über das väterliche linke Knie. Und Udo Bodo lag da, ohne sich zu rühren, ohne sich zu sträuben, ohne einen Klageton von sich zu geben, obgleich die Peitsche ganz gehörig arbeitete, aber viel größer als der körperliche Schmerz war für ihn der seelische, diese erste Züchtigung in seinem Leben war für ihn etwas so Ungeheuerliches, etwas so Unfaßbares, daß er sie erst nach und nach begriff. Er schämte sich so entsetzlich, daß er, als die fünfundzwanzig voll waren, den Blick nicht zu erheben wagte, er fühlte sich durch die Schläge entehrt, und die Worte seines Vaters: »Wer ein anvertrautes Geheimnis nicht hüten kann, ist des Namens eines Grafen Adlershorst unwürdig« trieben ihm die Schamröte ins Gesicht. Wie ein Verbrecher schlich er sich in sein Zimmer, dort warf er sich auf sein Bett und weinte bitterliche Tränen, und als er sich endlich beruhigt hatte, schrieb er seinem Vater einen Brief und bat diesen um Erlaubnis, dem Familiendiner fern bleiben zu dürfen, da es ihm unmöglich sei, den Verwandten gegenüberzutreten.
Graf Kuno machte sich selbst auf den Weg, um dieses Schreiben, das ihm ein Diener überbracht hatte, mündlich zu beantworten, und mit vieler Mühe gelang es ihm, Udo Bodo einigermaßen zu trösten und zu beruhigen. »Du hast gefehlt, Du hast Deine Strafe dafür erhalten, und damit ist die Sache für mich und die andern erledigt, keiner wird so taktlos sein, auf die Strafe, die Du erhalten hast, anzuspielen. Daß ich Dich bestraft habe, mußte ich den Verwandten natürlich mitteilen.«
»Weiß auch Betty –« wollte Udo Bodo fragen, aber er hatte nicht den Mut dazu. Vor ihr schämte er sich am meisten, vor ein paar Stunden hatte er ihr erklärt, sie heiraten zu wollen, und jetzt wußte sie vielleicht schon, daß er wie ein kleines Kind gezüchtigt worden war. Wie sollte er ihr da gegenübertreten?
Aber Betty schämte sich fast noch mehr als Udo Bodo. Hätte sie geahnt, daß ihre Indiskretion so traurige Folgen haben würde, dann hätte sie unter allen Umständen geschwiegen. Für eine Minute machte sie sich wirklich Gewissensbisse, dann aber fiel ihr ein, daß sie selbst ja eigentlich ganz schuldlos sei und daß die Verantwortung für alles, was geschehen war, lediglich ihre Mutter zu tragen habe. Und so machte sie der denn eine Szene, die diese nie und nimmer so ruhig hingenommen hätte, wenn sie nicht geistig und körperlich vollständig gebrochen gewesen wäre. Und das hatte seinen guten Grund.
Als sie, gefolgt von der ganzen weiblichen Verwandtschaft, zu der alten Kammerherrin geeilt war, um mit dieser die erschütternde Neuigkeit zu besprechen, hatte diese gefragt, woher sie die Nachricht habe, und als sie ihre Quelle angegeben hatte, gesagt: »Meine Liebe, Nachrichten, die ich einer Indiskretion verdanke, existieren für mich nicht. Und noch eins. Sie haben mir verschiedentlich geklagt, daß Ihre Betty Ihnen gegenüber nicht offen und wahr sei, jetzt wundert mich das nicht mehr. Wie kann ein Kind zu einer Mutter Vertrauen haben, wenn diese ein Versprechen, das sie ihrem Kinde gibt, nicht hält?«
Gegen die alte Kammerherrin gab es keine Auflehnung und keinen Widerspruch. So mußte Bettys Mutter diese Worte ruhig hinnehmen, aber daß sie das in Gegenwart aller anderen Damen hatte tun müssen, hatte sie einer Ohnmacht nahe gebracht.
Hätte Betty geahnt, was die alte Kammerherrin ihrer Mutter gesagt hatte, so hätte sie sich jetzt vielleicht mit einer etwas kürzeren Rede begnügt, so aber machte sie ihrem Herzen ordentlich Luft.
»Ich kann mich gar nicht vor Udo Bodo sehen lassen,« schloß sie endlich, »am liebsten möchte ich dem Familiendiner ganz fern bleiben.«
Denselben Gedanken hatte die Mutter auch, sie schämte sich, den anderen Damen gegenüberzutreten, denn sie hatte nur zu gut die schadenfrohen Gesichter bemerkt, mit denen diese am Vormittag die ihr erteilte Strafrede anhörten. Aber so gern sie es auch getan hätte, es ging doch nicht, daß sie in ihrem Zimmer blieb.
Auch Cäcilie hätte sich am liebsten zu Bett gelegt und wäre dem Diner fern geblieben, die ganze Freude an ihrer Verlobung oder wenigstens an ihrer Veröffentlichung war ihr genommen, sie hatte vor Ärger und Erregung die wahnsinnigsten Kopfschmerzen, und nur die Rücksicht auf ihre Gäste bewog sie schließlich, doch an dem Diner teilzunehmen.
So war bei einem großen Teil der Gesellschaft die Stimmung nicht allzu rosig, als man sich in dem großen Ahnensaal versammelte, in dem Graf Kuno an der Seite von Tante Cäcilie seine Gäste empfing. Zuerst hatte auch Udo Bodo mit empfangen sollen, aber schließlich wurde das Zeremoniell dahin geändert, daß man ihn als Gast betrachtete. So küßte er denn, als er, ziemlich als einer der letzten, den Saal betrat, die Hand seines Vaters, die ihn vorhin gezüchtigt hatte. Graf Kuno aber beugte sich über seinen Sohn und Erben und küßte ihn vor allen anderen auf die Stirn und auf den Mund. Da wußte Udo Bodo, daß er rehabilitiert war, auch vor Betty.
Die hatte trotz aller Versuche, sich selbst zu belügen, noch ein sehr schlechtes Gewissen, und so fragte sie denn mit weicher, schmeichelnder Stimme, als er neben ihr an der Tafel Platz genommen hatte: »Udo Bodo, bist Du mir böse?«
Er sah sie ganz erstaunt an, er begriff sie gar nicht. »Weshalb sollte ich Dir wohl böse sein?« fragte er ganz verwundert.
»Nun, ich meine,« entgegnete sie stockend, »weil ich Mama doch von der bevorstehenden Verlobung habe erzählen müssen. Ich wollte schweigen, ganz bestimmt, Udo Bodo, das kannst Du mir glauben, aber es ging nicht anders. Mama war furchtbar mißtrauisch, und hätte ich Deinen Vater nicht verraten, dann hätte ich Mama unsere eigene, keusche Liebe eingestehen müssen, und das konnte ich doch nicht, dazu habe ich Dich doch viel zu lieb.«
Er wurde über und über verlegen, sie hatte ganz laut gesprochen und ihm dabei verführerisch in die Augen gesehen. Aber so sehr ihre Worte ihn auch beglückten, er bekam es mit der Angst. Was dann, wenn jemand anderes es hörte, daß sie sich liebten, dann waren sie ja verloren, und so bat er denn: »Um Gottes willen, Betty, nicht so laut, wenn Dich jemand hört.«
Sie lachte lustig auf. »Aber Udo Bodo, ich bitte Dich, die anderen haben ja gar keine Zeit sich um uns zu kümmern, sieh nur, mit welcher heiligen Andacht sie die Gänseleberpastete essen und sich im stillen den Kopf darüber zerbrechen, ob der Gang nachserviert wird oder nicht. Die passen schon nicht auf uns auf, und wenn schon: je unvorsichtiger man manchmal ist, desto vorsichtiger ist man. Wenn wir ganz laut und ungeniert miteinander plaudern, kommt kein Mensch auf den Gedanken, daß wir über andere Dinge als über die allergleichgültigsten sprechen, wenn wir aber die Köpfe zusammenstecken und miteinander tuscheln, dann werden sie hellhörig. Aber jetzt vor allen Dingen nochmals die Frage, auf die Du mir die Antwort schuldig geblieben bist: bist Du mir wirklich nicht böse? Ich habe gehört, Dein Vater hätte Dich ausgescholten, Du trägst mir doch nichts nach?«
Natürlich wußte Betty ganz genau, worin die Ausschelte bestanden hatte, aber sie wollte ihm seine Ruhe und seine Unbefangenheit wiedergeben, vor allen Dingen aber wollte sie ihm dadurch, daß sie tat, als wäre sie die Unwissende, ihn wieder froh und heiter stimmen und ihn dadurch zu einer Versöhnung, falls er ihr wirklich zürnen sollte, geneigt machen. Und sie erreichte ihren Zweck vollständig, er war glücklich bei dem Bewußtsein, daß sie von der Strafe, die er erlitten, nichts wußte, seine gedrückte Stimmung war mit einem Male dahin.
»Bist Du mir wirklich nicht böse?« fragte sie noch einmal, als er, vom Glück überwältigt, immer noch schwieg.
»Ich verstehe Dich gar nicht,« gab er zur Antwort, »ein Herr kann doch einer Dame gar nicht zürnen, das ist doch ganz ausgeschlossen.«
»Das hast Du so hübsch gesagt. Udo Bodo, die Worte sehen einem Grafen Adlershorst aber auch ähnlich. Na, nun bin ich wieder beruhigt, und ich will heute auch so nett zu Dir sein, wie ich irgend kann,« und leise drückte sie ihm unter dem Tisch seine Rechte.
Wieder errötete er. »Wenn es jemand sieht, Betty.« flüsterte er.
»Du hast vielleicht recht,« meinte sie halblaut. Sie zog ihre Hand zurück, da fühlte er plötzlich, wie ihr kleiner Schuh seinen Fuß berührte. Er verstand sie nicht und zog mit einem »Pardon, Betty,« seinen Fuß zurück, aber sie lachte lustig auf. »Udo Bodo, wie kann man nur ein so hübscher Junge und dabei in Liebessachen so unerfahren sein? Kennst Du nicht das schöne Gedicht aus dem neuen Tannhäuser: ›Da hat mein Fuß mit Deinem Fuß Zwiesprache heimlich gepflogen.‹ Ich schick' Dir das Buch, wenn Du willst. Ich habe es. Mama darf das aber natürlich nicht wissen, willst Du es mal lesen?«
Er war so verwirrt, daß er gar nicht sprechen konnte. Ganz gegen seinen Willen von einer ihm bisher gänzlich unbekannten Macht getrieben, hatte er seinen Fuß wieder vorgeschoben, auf den Betty jetzt ihren kleinen Fuß, von dem sie den Lackschuh gestreift hatte, niederstellte. Er fühlte ihr Knie an dem seinigen, und das Blut schoß ihm durch alle Adern. Es wurde ihm ganz schwarz vor den Augen, und unwillkürlich mußte er sie einen Augenblick schließen. Betty sah, was in ihm vorging, sie erriet, daß in diesem Augenblick zum erstenmal die sinnliche Liebe in ihm erwachte, daß er zum erstenmal den Unterschied zwischen Mann und Weib in seinem ganzen Umfang begriff. Und daß gerade sie seine Lehrmeisterin war, schmeichelte ihrer Eitelkeit, ließ aber sogleich auch ihre Sinnlichkeit von neuem erwachen, und immer fester und zärtlicher schmiegte sie sich an ihn.
»Soll ich auch lieber von Dir fortgehen. Udo Bodo?« fragte sie mit leiser, lüsterner Stimme.
»Nein, nein, bitte, bleib, es ist so schön, bleib bei mir.«
Er sprach so gut wie gar nicht, nur flüchtig berührte er die Speisen, nur hin und wieder leerte er sein Glas in einem großen Zug.
Da erhob sich Graf Kuno, nachdem er schon vorher seine Gäste begrüßt hatte, um eine Rede auf seinen Sohn zu halten, diesen dem Wohlwollen, der Freundschaft und der Liebe seiner Verwandten zu empfehlen und die Bitte an diese zu richten, ihn, nachdem er jetzt die Kinderjahre hinter sich habe, als ein vollzählendes Mitglied der Familie zu betrachten. Im Anschluß daran teilte dann Graf Kuno mit, welche Zukunftspläne Udo Bodo habe, daß es sein Ehrgeiz wäre. Jura zu studieren und die diplomatische Karriere zu ergreifen, um dereinst als Gesandter oder als Minister dem Staate wirkliche Dienste zu leisten. Er bat die Verwandten, ihre Wünsche mit den seinigen zu vereinen und ihre Gläser darauf zu leeren, daß Udo Bodo in sittlicher, geistiger und moralischer Hinsicht ein echter Graf Adlershorst werden möge.
Das Hoch war verklungen, und Udo Bodo wanderte um den Tisch herum, um mit allen anzustoßen und sich von jedem Mitglied der Familie, einerlei, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, küssen zu lassen. Die Frauen streichelten seine Wangen und gaben ihm zärtliche Worte, die Herren klopften ihm auf die Schulter und gaben dem zukünftigen Herrn Minister lachend gute Ratschläge. Alle taten, als wären sie von Udo Bodo und seinen Zukunftsplänen entzückt, in Wirklichkeit aber machten sie sich über ihn und seine beabsichtigte Laufbahn im stillen lustig.
Die Grafen Adlershorst waren alles anständige Menschen gewesen, und jeder hatte den Posten, auf den er später im Leben gestellt wurde, nach besten Kräften auszufüllen versucht, aber eine geistige Leuchte war mit Ausnahme des Professors in der Familie noch nicht dagewesen, und daß gerade Udo Bodo die zweite, verbesserte Auflage sein sollte, der durch sein Wissen und sein Können die gebildete Welt in Erstaunen setzte, das wollte ihnen allen nicht in den Sinn, denn was sie in den wenigen Tagen des Zusammenseins bisher von Udo Bodo gesehen hatten, war nicht allzu bedeutend gewesen. Und vorläufig fehlte es dem zukünftigen Herrn Minister nicht nur an der nötigen geistigen Klugheit, sondern auch an den nötigen gesellschaftlichen Formen. Er war scharf beobachtet worden, als er den Rundgang um die lange Tafel machte, aber er hatte keinen allzu günstigen Eindruck hinterlassen; seine Verbeugungen hätten besser sein können, und vor allen Dingen war er, wie die Verwandten meinten, ohne jede besondere Veranlassung nervös und erregt, seine Hand zitterte, wenn er anstieß, er machte einen zerstreuten und zerfahrenen Eindruck, aber das nicht allein, seine Küsse hatten sogar nach Wein geschmeckt. In dem Alter trank man nach Ansicht der Tanten doch überhaupt noch nicht und daß er es dennoch tat, daß er es gerade heute tat, wo er doch wissen mußte, daß man ihn scharf beobachten würde, das warf kein gutes Licht auf ihn und auf seine Erziehung.
Udo Bodo hatte wieder neben Betty Platz genommen und er ahnte nichts von dem schlechten Prognostikon, das ihm seine Verwandten im stillen stellten. »Glaubst Du, Betty, daß mir jemand meine Erregung angemerkt hat? Ich hatte so das Gefühl, als ob ich taumelte, hoffentlich hat mich niemand für angetrunken gehalten. Was mich verwirrte, was mich so erregt hat, ist doch nur Deine Nähe.«
»Sei unbesorgt,« gab sie zur Antwort. »Du hast Deine Sache sehr gut gemacht, ich hätte an Deiner Stelle bei dieser ewigen Küsserei nicht so still gehalten. Und daß Du irgendwie unruhig warst, hat Dir kein Mensch angemerkt.«
Was sie sagte, entsprach zwar ganz und gar nicht ihrer Überzeugung, aber sie wollte dem guten Udo Bodo die Laune nicht verderben, sie hatte auch nicht den Mut, ihm zu sagen, wie ungeschickt er sich benommen hatte, und schließlich war sie ja selbst daran schuld.
Sie merkte, sie hatte das Spiel mit ihm zu weit getrieben und so sagte sie ihm jetzt: »Wir wollen jetzt vernünftig sein, Udo Bodo, und die Torheiten lassen,« und trotz seiner Bitten blieb sie standhaft.
So fand er denn nach und nach seine innere Ruhe wieder, und voller Ungeduld wartete er auf den Augenblick, in dem sein Vater seine Verlobung veröffentlichen würde. Und endlich war der große Moment da, in kurzen Worten verkündete Graf Kuno, daß er sich entschlossen habe, seine Cousine Cäcilie zu seiner Gemahlin zu erheben und erbat hierzu den Segen und die Einwilligung der Familie.
Vergebens bemühten sich die Damen, die die große Neuigkeit ja schon seit vielen Stunden kannten, ihrer Überraschung Ausdruck zu geben, aber die: »Aaah« und »Oooh« der Verwunderung klangen so gar nicht natürlich, und Tante Cäcilie ärgerte sich halbtot, sie hatte sich so auf die Überraschung gefreut, und nun fiel sie vollständig ins Wasser. Auch die Herren taten nur anstandshalber so, als ob sie auf das höchste erstaunt wären. So warf Cäcilie denn Udo Bodo einen bitterbösen Blick zu, der war an dem ganzen mißlungenen Fest schuld, das kam davon, daß sie bisher nur die Liebe und Güte selbst gegen ihn gewesen war, die strenge Zucht eines Mannes hatte ihm gefehlt, die sollte ihm aber in Zukunft werden, dafür wollte sie schon sorgen. Sie haßte Udo Bodo in diesem Augenblick geradezu.
»Freust Du Dich auf Deine neue Mama?« fragte Betty. »Soviel weiß ich, ich möchte keine Stiefmutter haben, schon die eigenen Mütter sind oft so mißtrauisch und so ungerecht. Na, Du hast es ja in mancher Hinsicht gut, Du kommst ja bald von Haus fort, und in den kurzen Ferien, die Du hier verlebst, wirst Du Dich schon mit Deiner neuen Mutter vertragen.«
»O, sie ist immer sehr nett mit mir gewesen, warum sollte das plötzlich anders werden,« meinte er, aber trotz seiner Worte hatte er selbst in diesem Augenblick das Empfinden, als ob sich in Zukunft manches anders gestalten würde, und dieser Gedanke beschäftigte ihn immer mehr und mehr, so daß selbst Bettys freundliche Worte ihn im Laufe des Abends nicht wieder heiter zu stimmen vermochten.