Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Udo Bodo hatte Weltschmerz. Er lag in seiner Fähnrichswohnung, die sich in der Kaserne befand, auf seinem mit schwarzem Leder bezogenen alten Sofa und starrte vor sich hin. Ihm war elendiglich zumute, und das ungemütliche Zimmer, die vollständig kahlen, weißgetünchten Wände, die wackligen Stühle, das alte, eiserne Bett und der mehr als primitive Waschtisch, der große, schmutzige Blecheimer, in den alles mögliche hineingegossen wurde, überhaupt die ganze Einrichtung trug nicht dazu bei, seine Stimmung zu erhöhen.
Jetzt stöhnte er schwer auf und leerte das große Glas Kognak, das vor ihm auf dem Tisch stand, in einem Zug, dann sah er nach der Uhr. Es war gleich neun Uhr, dann konnte er zu Bett gehen, um neun Uhr war Ruhe in der Kaserne, eher war an ein Schlafen nicht zu denken. Draußen auf dem Korridor, unmittelbar vor seiner Stubentür, war jetzt noch eine Kompagnie angetreten, die für den morgigen Schießdienst eingeteilt wurde. Die Stimmen der Vorgesetzten hallten laut durch den Korridor, dazwischen erklang das geisttötende Abzählen der Mannschaften; plötzlich fühlte sich ein Unteroffizier veranlaßt, einen Mann anzuschreien, und der Feldwebel mit seiner infamen schnarrenden Stimme, die er irgendeinem Leutnant abgelauscht hatte, versuchte die erregten Gemüter zu beruhigen. Dazu auf den Treppen ein ewiges Laufen, ein ewiges Klappern von eisenbeschlagenen Stiefeln, ein Zusammenschlagen von Kochgeschirren, Gewehren und all den andern tausend Sachen, die der Soldat bei dem Appell vorzeigen muß, und dazu die Luft, die die vielen Menschen und die gräßlichen, ewig qualmenden Petroleumlampen auf dem Korridor verbreiteten. Udo Bodo hielt sich sein, Taschentuch vor die Nase, auch in seiner Stube war ein penetranter Geruch, der etwas an Feuchtigkeit und etwas an faules Obst erinnerte, aber seine Beschwerde war als grundlos abgewiesen worden.
Der Fourier-Unteroffizier, der die Stube unter sich hatte, war auf Befehl der höheren Vorgesetzten erschienen, um amtlich und dienstlich die Fähnrichstube zu beriechen. Dann hatte er erklärt: »Fähnrich, ich bin ein zartbesaiteter Mensch, und meine Nase ist das Feinste an mir, aber nach gewissenhaftester Überzeugung kann ich nur sagen, das riecht hier so, wie es immer gerochen hat und wie es in einer Fähnrichstube riechen muß. Auf dem gräflichen Familienschloß Adlershorst sind wir ja nicht, was mir ja gewissermaßen selber leid tut, indem ich es da ja auch wohl besser hätte als hier, wir sind hier nur in einer Kaserne, zu der der Reichstag nur mit vieler Mühe das Geld bewilligt hat und gestrichen haben sie uns natürlich alles mögliche, da blieb natürlich für die Parfümation der Lokalitäten nichts übrig. Lüften Sie ordentlich, Fähnrich, wenn Ihrer Nase die Luft hier nicht zusagt, oder noch besser, rauchen Sie eine gute Zigarre, Sie haben doch gute Zigarren, Fähnrich?«
Udo Bodo verstand den zarten Wink, und der Unteroffizier war ganz gerührt geworden. Mit sachverständiger Miene hatte er sich die gute Zigarre angezündet und dann gemeint: »Meine Zeit ist nun abgelaufen, denn ich muß jetzt einen schriftlichen Bericht über die Besichtigung dieses Zimmers ausarbeiten, aber verlassen Sie sich darauf, Herr Fähnrich, ich komme an einem der nächsten Tage mal wieder und prüfe den Geruch von neuem.«
Und alle drei Tage erschien der Unteroffizier, um mit Freuden zu konstatieren, daß der Geruch nicht zunahm und um jedesmal mit einer Handvoll guter Zigarren beladen von dannen zu ziehen.
Er war es auch, der über Udo Bodo eines Abends im Unteroffizierskasino das Urteil fällte: »Einen solchen Fahnenjunker haben wir noch nie gehabt, das ist ein Kavalier vom Scheitel bis zur Zehe, wenn der erst einmal Leutnant ist, der wird es zu etwas bringen, ein Armeekorps bekommt er sicher.«
Und die Offiziere urteilten sonderbarerweise beinahe ebenso über Udo Bodo, zwar prophezeiten sie ihm nicht gerade ein Armeekorps, aber doch immerhin eine glänzende Karriere. Er sah in Uniform sehr gut aus, man merkte ihm bei jeder Gelegenheit seine tadellose Kinderstube an, er besaß einen guten Namen und viel Geld, er machte schon jetzt einen sehr guten Parademarsch und war außerdem, wie es sich für einen Fähnrich auch so gehört, einfach und bescheiden in seinem Auftreten, er sprach nur, wenn er gefragt wurde, und dann antwortete er nur mit einem ja oder nein. Das machte auf alle den besten Eindruck. Auf seine geistigen Fähigkeiten hin wurde er nicht weiter untersucht, ob er begabt sei oder nicht, das würde sich später, wenn er Leutnant war, schon herausstellen. Vorläufig genügte er den Anforderungen, die man in bezug auf gesellschaftliche Konversation an ihn stellte, vollständig, und auch dienstlich fiel er vorläufig in keiner Weise unangenehm auf, denn da war er noch ein Herdentier, das rechtsum machte, wenn seine Nachbarn es auch machten, und das Hurra rief, wenn die andern es auch taten. So hätte Udo Bodo eigentlich alle Ursache gehabt, mit sich und seinem Schicksal zufrieden zu sein, aber er hatte trotzdem Weltschmerz, und zwar sehr großen. Er fühlte sich sehr unglücklich, sein Leben war nach seiner Auffassung nicht standesgemäß genug, er mußte auf jeden Luxus verzichten und vor allen Dingen empörte ihn eins, daß er, Graf Udo Bodo, in Reihe und Glied mit gewöhnlichen Soldaten stehen mußte. Rechts neben ihm in der Kompagnie stand ein Knecht, links von ihm ein Schmied, der noch dazu als Sozialdemokrat überwiesen, und sein Hintermann war ein Abdeckergehilfe, der in der ersten Zeit es sogar manchmal gewagt hatte, ihm in die Kniekehlen zu treten, damit er bei dem Frontmarsch die Beine höher nehme. Und das hatte er sich gefallen lassen müssen. Er begriff nicht, wie so etwas erlaubt war, wie der König es dulden konnte, daß die Edelsten der Nation in Reih und Glied mit solchen Leuten, ja sogar mit vorbestraftem Gesindel gesteckt wurden, denn es waren in der Kompagnie Menschen, die wegen Körperverletzung, wegen Diebstahl und aller möglichen anderen Geschichten im Gefängnis gesessen hatten. Und neben diesen mußte er in der Schützenlinie liegen, und unter Umständen mußte er sogar mit einem solchen Objekt eine Rotte bilden und im Gefecht mit diesem gemeinsame Sachen machen. Gewiß, jeder mußte von der Pike auf dienen, auch ein Graf Adlershorst, aber konnte dieser erste, praktische Dienst nicht theoretisch erteilt werden? Die Prinzen traten doch auch gleich als Offiziere in die Armee, warum konnte das bei dem hohen Adel nicht auch der Fall sein? So gut und so viel wie ein Prinz aus irgendeinem kleinen Duodezstaat, den man kaum dem Namen nach kannte, war er nach seiner Meinung auch noch. Er fühlte das Bedürfnis, sich hierüber mit irgend jemand auszusprechen, und da er sonst niemand hatte, der so vollständig seiner Ansicht war, schrieb er an seinen Vater, und der beeilte sich, ihm zu versichern, daß er vollständig recht hätte. Leider wisse aber auch er nicht, wie eine Änderung herbeigeführt werden sollte. Durch und durch adlige Offizierskorps gäbe es ja, aber Kompagnien, die nur aus adligen Mannschaften beständen, hätte er noch nicht kennen gelernt. Gehört habe er allerdings doch schon einmal von einer solchen. Ein alter Regimentskamerad von ihm, der schon als Fähnrich Schiffbruch erlitten hätte, sei in die holländische Kolonialarmee eingetreten und dann nach Indien geschickt worden, und dort wäre er einer Kompagnie zugeteilt worden, die nur aus preußischen Adligen bestanden hätte, und zwar wären das alles frühere preußische Offiziere und Fähnriche gewesen. Dem Verfasser als Tatsache von einem früheren Angehörigen dieser Kompagnie erzählt. Ob diese Kompagnie noch existiere, wisse er allerdings nicht, denn inzwischen wären schon mehr als fünfundzwanzig Jahre verstrichen, aber anfragen könne er ja mal, falls Udo Bodo dort eintreten wolle.
Graf Kuno meinte das ganz ernsthaft, und Udo Bodo faßte das ebenso auf, aber nach reiflichster Überlegung entschloß er sich doch, im Heimatland zu bleiben. Schließlich war dieser unwürdige Zustand ja nur eine Übergangsperiode, bald mußte er ja auf Kriegsschule kommen, und dann war er ja in einem Jahr Offizier.
Vorläufig aber war er noch nicht so weit, und vorläufig fühlte er sich noch sehr unglücklich, heute ganz besonders. Er war verliebt, und zwar unglücklich. Sie hieß Emmy und war die jugendliche selbständige Besitzerin eines Uniformeffektengeschäftes; sie war groß und schlank gewachsen, mit einem entzückenden Gesicht und zierlichen, kleinen Händen, dabei stets reizend angezogen und immer lustig und guter Dinge. Als er sich zum erstenmal bei ihr ein halbes Dutzend Handschuhe kaufte, hatte er sein Herz verloren und nur um Emmy wiederzusehen und um ihre Gunst zu erringen, ging er fortan täglich zu ihr. Natürlich mußte er ihr jedesmal etwas abkaufen, und so besaß er denn Dutzende von Handschuhen, Berge von Mützen, Dutzende von Säbelkoppeln und ähnlichen Sachen, die er natürlich alle beiseite legte, weil er nicht imstande war, sie jemals zu gebrauchen. Er liebte Emmy, und diese liebte ihn, wie er glaubte, nur um seiner selbst willen. Jedesmal, wenn er kam, hatte sie ein freundliches Wort für ihn, stets begrüßte er sie mit einem Lächeln, und sie erlaubte es, daß er ihr Zuweilen, wenn sie allein im Geschäft waren, die Hand küßte.
Vor kurzem nun hatte er sich Mut gefaßt und Emmy gebeten, eines Abends in einem verschwiegenen Restaurant mit ihm zu essen. Nach einigem Zögern und Sträuben hatte sie eingewilligt. Freudestrahlend war er zum Rendezvous geeilt, aber dort hatte er drei Stunden vergeblich auf seine Herzensdame gewartet. Ganz trübselig war er nach Hause geschlichen, und heute hatte er nun die Gewißheit erhalten, daß Emmy nie daran gedacht hatte, ihn zu erhören, und daß sie nur so besonders freundlich mit ihm gewesen war, weil kein anderer auch nur annähernd so viel kaufte, und weil Udo Bodo außerdem noch eine andere, gute Eigenschaft besaß, die ihr Herz tief rührte, er bezahlte stets bar und ließ nie etwas anschreiben.
Sein Kompagnieoffizier, der auch zu Emmys unglücklichen Verehrern gehörte, hatte ihm darüber die Augen geöffnet und die Gelegenheit benutzt, ihm klarzumachen, daß derartige Flirts sich für einen Fähnrich, der noch nicht einmal auf Kriegsschule gewesen sei, absolut nicht schickten. Udo Bodo war beinahe dem Weinen nahe gewesen und sofort hatte er alle Mützen, alle Säbelkoppeln, alle Extrahelme und alles, was er sich sonst noch bei Emmy gekauft hatte, dem Feldwebel gegeben und diesen gebeten, die Sachen an arme Leute seiner Kompagnie zu verteilen. Er hatte es gut gemeint, aber der Schmerz kam nach.
Der Feldwebel erstattete dem Hauptmann von diesem reichen Geschenk Meldung, und dieser ließ sich den Fähnrich kommen, um sich zu erkundigen, woher der all die Schätze habe.
Der hütete sich natürlich, den wahren Grund anzugeben, warum er sich all die unnützen Dinge angeschafft habe, und so sagte er nur: »Ich habe mir die Sachen nach und nach gekauft.«
Die Folge war, daß sein Hauptmann ihn für einen Verschwender erklärte, ihm den Standpunkt ganz gehörig klarmachte und befahl, daß er sich ein Ausgabebuch anschaffe und ihm dieses jeden Sonntag morgen zur Kontrolle vorlege.
Und schon heute mittag hatte Udo Bodo sich dieses ominöse Buch angeschafft und mit einem ebenfalls neu erstandenen Bleistift fein säuberlich hineingeschrieben:
An den Burschen für Petroleum | 29 Pf. |
Für ein belegtes Butterbrot mit Leberwurst in der Kantine | 10 Pf. |
Für Stiefelwichse | 5 Pf. |
Für eine Freimarke | 2 Pf. |
Für eine Flasche Kognak | 14 Mk. |
Udo Bodo hatte zwar die Empfindung, als ob diese vierzehn Mark Kognak sich zwischen den anderen Ausgaben etwas sonderbar machten, aber Kognak mußte er haben, noch dazu einen guten. Am liebsten hätte er diese Ausgabe unterschlagen, aber er wußte, er durfte seinen Vorgesetzten nicht belügen.
So hatte Udo Bodo zu seinem Weltschmerz alle Veranlassung, und er sah es voraus, daß derselbe noch lange anhalten würde, denn die dienstlichen Verhältnisse blieben dieselben, er hatte Emmy für alle Zeiten verloren, und ehe die Kontrolle über seine Finanzen aufhören würde, konnten noch Wochen vergehen. Er sehnte noch mehr als bisher den Tag herbei, an dem er auf Kriegsschule kommen würde, und endlich schlug auch für ihn die Erlösungsstunde.
»Kommen Sie nur nicht vor der Zeit wieder,« mahnten die Offiziere, als er von ihnen Abschied nahm. »Machen Sie keine Dummheiten, damit man Sie nicht frühzeitig zurückschickt, und vor allen Dingen fallen Sie nicht durch das Examen.«
Bei dem Wort Examen bekam Udo Bodo eine Riesenangst, aber er hütete sich natürlich, das einzugestehen. »Ich werde die Prüfung schon bestehen, Herr Leutnant,« war die beständige Antwort und voller Zuversicht fuhr er dem Kommenden entgegen.
Und auf der Kriegsschule harrte seiner eine Auszeichnung, die niemand erwartet hatte. Im letzten Augenblick war dorthin ebenfalls als Schüler ein Prinz kommandiert worden, zwar keiner aus einem regierenden Hause, aber doch aus einer sehr nahen Nebenlinie, und wenn das Glück dem Prinzen hold war. wenn die Ehe seines Großonkels wie bisher so auch in Zukunft kinderlos blieb, dann konnte er vielleicht doch noch auf den Thron kommen. Der war allerdings so klein, daß man ihn kaum sah, aber es war doch immerhin ein Thron. Für diesen Prinzen mußten nun unter den Mitschülern einige ausgesucht werden, die mit ihm in nähere Berührung treten durften, die gewissermaßen seine Intimen bildeten, und zu diesen wenigen gehörte auf Grund seiner vornehmen Geburt auch Udo Bodo. Er aß mit dem Prinzen bei dem für alle Zöglinge gemeinsamen Mittagsmahl an demselben Tisch, er ging mit ihm spazieren, er besuchte mit ihm die Restaurants und nahm auch mit ihm an der Arbeitsstunde in demselben Zimmer teil.
Mit den Arbeiten aber nahm der Prinz es sehr gewissenhaft. »Ich komme zwar doch durch das Examen,« pflegte er zu sagen, »ganz einerlei, ob ich was weiß oder nicht, aber lieber ist es mir doch, ich verdanke das Reifezeugnis wirklich meinen Kenntnissen, als nur der Gnade meiner Lehrer und ihrer Hoffnung auf einen Orden, den mein Großonkel ihnen geben soll.«
Und weil der Prinz fleißig arbeitete, waren seine Kameraden auch sehr fleißig, und Udo Bodo war am allerfleißigsten.
Aber sie arbeiteten nicht nur, sie genossen auch in vollen Zügen die goldene Freiheit und die harmlosen Vergnügungen, denen man sich als Fähnrich hingibt. Allerdings litten diese etwas darunter, daß man immer nur in einem kleinen Kreis zusammen war, denn mit dem Gros der anderen Fähnriche kam man fast gar nicht in Berührung, aber man amüsierte sich doch, denn der Prinz, der bisher unter strenger Aufsicht gestanden hatte, war nicht verwöhnt und die kleinste Torheit, die er machte, kam ihm wie eine ungeheure Ausschreitung vor, auf die er dann ganz stolz war. Udo Bodo stand seinem Herzen besonders nahe. Begabt, wie der Prinz bis zu einer gewissen Grenze war, hielt er es gar nicht für möglich, daß Udo Bodo in seinem Wissen wirklich so weit zurück war, um so weniger, als dieser sonst der vollendete Kavalier war. So glaubte er beständig, wenn Udo Bodo etwas Törichtes sagte, dieser mache einen Witz, und so kam der Prinz in seiner Gesellschaft gar nicht aus dem Lachen heraus und in seinen Briefen an den Großonkel erzählte er beständig von seinem lustigen, amüsanten Freunde.
Und als die Ferien herankamen, sagte der Prinz zu Udo Bodo: »Wie ist es, haben Sie Lust, die Ferien mit mir zusammen auf dem Schloß meines Großonkels zu verleben? Ich habe Seiner Hoheit viel von Ihnen erzählt, und Seine Hoheit würden sich ebenso freuen wie Ihre Hoheit, meine gnädigste Frau Großtante, wenn Sie mich begleiteten.«
Udo Bodo war natürlich mehr als glücklich; so reisten sie denn zusammen ab und verlebten herrliche Tage. Unter dem Zwang der Etikette und des Hofzeremoniells, das um so strenger beachtet wurde, als es sich um einen kleinen Hof handelte, war das Tagesprogramm eigentlich gräßlich langweilig, aber die große Auszeichnung, an einem Hofe als Gast zu weilen, ließ Udo Bodo gar nicht zum Bewußtsein dieser Langenweile kommen. Für ihn ging die Zeit zu schnell dahin, der Abschiedstag, kam nur zu früh heran, aber der wurde ihm dadurch versüßt, daß Seine Hoheit ihm zur Erinnerung an den Besuch eine goldene Busennadel schenkte, die zwar nur Silber vergoldet war, deren hoher Wert aber dennoch darin bestand, daß sie von Seiner Hoheit stammte, oder besser gesagt, von dessen Hofjuwelier.
»Im nächsten Jahr, sobald Sie Offizier sind, bekommen Sie einen Orden, Graf Adlershorst,« erklärte der Prinz. »Seine Hoheit, mein Herr Großonkel, hat es mir fest versprochen. Er hätte Ihnen diese Auszeichnung schon heute verliehen, aber nach den bestehenden Bestimmungen dürfen Fähnriche, wenn sie keine Prinzen sind, ja keine Orden tragen, und Prinz sind Sie ja leider nicht.«
»Leider nicht,« stimmte Udo Bodo ihm bei.
»Na, seien Sie nur zufrieden,« meinte der Prinz leutselig, »ein Graf Adlershorst und außerdem der intimste Freund eines Prinzen zu sein, ist auch noch nicht das schlechteste auf der Welt. Und wenn ich jemals an die Regierung kommen sollte, dann werde ich Sie nicht vergessen, mein Wort darauf!«
Als Udo Bodo diese Worte seines prinzlichen Freundes nach Haus berichtete, wußte man sich dort vor Freude kaum zu fassen. Graf Kuno stand länger als fünf Minuten unschlüssig vor seinem Zigarrenschrank und überlegte, welche Zigarre würdig sei, zur Feier dieses Ereignisses geraucht zu werden. Endlich entschloß er sich zu einer großen Uppmann, aber während des Rauchens kam sie ihm doch nicht gut genug vor und er benutzte diese Gelegenheit, um sich bei seinem Lieferanten fünfhundert der allerteuersten Importen zu bestellen, damit er das nächste Mal wirklich etwas Passendes auf Lager habe.
Gräfin Cäcilie aber, die nicht rauchte, weinte Freudentränen. »Der gute Junge, der liebe Udo Bodo. Ich hab' es ja gleich gesagt, an dem werden wir nur Freude erleben. Paß auf, Kuno, das, was er später noch leistet, wird alles, was bisher ein Adlershorst getan, in den Schatten stellen. Der herzige Junge, ach, wäre er doch hier, daß ich ihn küssen könnte! Die nächsten Ferien aber muß er unbedingt bei uns verleben. da muß er uns ganz ausführlich erzählen, wie man ihn bei Hof aufgenommen hat, oder noch besser, in den nächsten Ferien muß er den Prinzen mit zu uns bringen. Meinst Du nicht auch, Kuno?«
Der saß stumm und sprachlos da und war vorläufig unfähig, sich in die neue Situation hineinzudenken. Prinzenbesuch auf Adlershorst, das war mehr Glück, als er sich vorzustellen vermochte. Endlich aber konnte er wieder denken und selbstverständlich war er für diese Idee Feuer und Flamme.
»Natürlich müssen wir den Prinzen bitten, zu uns zu kommen, das beste wird es sein, wenn wir ihn nicht offiziell einladen, sondern wenn Udo Bodo seinen Freund ganz kameradschaftlich bittet, mit ihm herzukommen. Der kann dann bei Seiner Hoheit anfragen, ob dieser die Erlaubnis hierzu erteilt, was ich als ganz selbstverständlich annehme, und dann steht dem Besuch nichts mehr im Wege. Das wird ein Ehrentag für Adlershorst werden, wie er in der glorreichen Geschichte unserer Familie noch nicht da war. Wie schade, daß Gräfin Isabella diesen Tag nicht erlebt hat!«
Warum er das eigentlich schade fand, wußte er selbst nicht, vielleicht weil diese die Gelegenheit benutzt hätte, sich eine der neuesten Pariser Roben zu kaufen, in denen sie im Gegensatz zur Gräfin Cäcilie stets herrlich ausgesehen hatte, vielleicht aber auch, weil Isabellas Schönheit den jungen Prinzen, natürlich in allen Ehren, auf das höchste entflammt und enthusiasmiert und dadurch das Freundschaftsband zwischen den beiden jungen Leuten noch fester geschlungen hätte.
Auf jeden Fall dachte er seit langer Zeit wieder zum erstenmal an seine verstorbene Gemahlin, und noch an demselben Nachmittag fuhr er vierspännig zum Grab der Entschlafenen, und am nächsten Tag hatte er die Genugtuung, in dem Lokalblättchen der kleinen Stadt unter der Überschrift »Hoher Besuch« zu lesen:
»Gestern nachmittag beehrte Graf Kuno von Adlershorst. Majoratsherr auf Adlershorst, unsere Stadt mit einem Besuch, um an der Gruft seiner ersten, unvergeßlichen Frau Gemahlin, der leider so früh verstorbenen Gräfin Isabella, geborene Gräfin von Hohenburg, lange Zeit im stillen Gebet zu verweilen.«
Über diese Notiz war Graf Kuno so begeistert, daß er sich sofort fünfundzwanzig Exemplare dieser Nummer kommen ließ, um allen Verwandten eine zu schicken und den Rest dem Familienarchiv einzuverleiben.
Die nächsten Tage brachte man damit zu, ungeduldig auf den Brief zu warten, in dem Udo Bodo mitteilen sollte, wie der Prinz über die an ihn ergangene Einladung nach Adlershorst dächte.
Und endlich kam der Bescheid, der Prinz freute sich sehr, er habe telegraphisch bei seinem Großonkel um Erlaubnis gebeten, und dieser habe seine Einwilligung erteilt.
Graf Kunos Begeisterung kannte keine Grenzen, und wenngleich noch mehr als zehn Wochen vergehen mußten, ehe der Prinz wirklich kam, so fing er doch schon an demselben Tage an, ein Programm für die Festlichkeiten zu entwerfen und eine Instruktion für die Dienstboten auszuarbeiten.
Acht Tage ließ er den Leuten Zeit, sich die weisen Lehren theoretisch anzueignen, dann wurden sie praktisch durchgenommen, und zwar in der Weise, daß Graf Kuno sich bei Tisch mit Hoheit anreden und als solcher behandeln ließ. Dann wurden neue Uniformen für den Kammerdiener und den ersten Jäger bestellt, zwei weitere Diener wurden angelernt, neue Weinsorten wurden ausprobiert, Graf Kuno mußte sich eingehend über die ganze Familie des Prinzen informieren, ein zweiter Viererzug wurde eingefahren, denn man mußte doch mit der Möglichkeit rechnen, daß aus lauter Niedertracht ein Gaul des ersten Viererzuges krank würde, kurz, es gab so viel zu tun, daß Graf Kuno gar nicht wußte, wo er die Zeit hernehmen sollte. Er mußte der ganzen Verwandtschaft die große Ehre, die ihm und seinem Hause bevorstand, mitteilen, er mußte die Menükarten in Berlin drucken lassen, er mußte seinen Schneider bestellen und einen neuen Frackanzug machen lassen, Gräfin Cäcilie mußte nach der Residenz fahren und sich dort neue Roben kaufen, Franz, der Kammerdiener, brauchte ein Paar neue Lackschuhe, und für die neu eingestellten Jäger mußten neue Hirschfänger besorgt werden, und manchmal fürchtete Graf Kuno wirklich, er würde mit den Vorbereitungen gar nicht fertig werden. Sehr schwer war auch die Frage zu beantworten, ob er während der Tage, an denen der Prinz auf Adlershorst weilte, auch noch andere Gäste zum Diner bitten solle und wen? Am liebsten hätte Graf Kuno große Gesellschaft geladen, um dieser gegenüber mit seinem hohen Gast und mit seinem Sohn, der sich hoher Fürstengunst erfreute, zu prahlen, aber auf der anderen Seite wollte Graf Kuno den hohen Gast ganz für sich genießen, er gönnte ihn keinem anderen.
Gräfin Cäcilie fand den richtigen Ausweg, sie schrieb an Udo Bodo und bat diesen, den Prinzen zu fragen, ob ihm weitere Gäste willkommen seien, der Einfachheit halber legte sie ihm gleich ein Verzeichnis derjenigen, die überhaupt in Frage kamen, bei.
Aber der Prinz ließ sagen, er wünsche ganz allein auf Adlershorst zu weilen, seinetwegen solle man keine Gesellschaften und keine Feste geben, er möchte einmal ganz ungeniert und ganz frei von jedem Zwang im Kreise einer Familie weilen, und bäte dringend, daß man seinetwegen nicht die geringsten Umstände mache.
Leider kam die letzte Bitte zu spät, denn im Schlosse tobten zahllose Handwerker, die Zimmer, die der Prinz bewohnen sollte, wurden neu eingerichtet und neu tapeziert, sämtliche Parkettfußböden wurden aufgearbeitet, und in der Bibliothek, in der sonst ein wüstes Chaos herrschte, saß ein Schullehrer aus der nahen Stadt und suchte wenigstens etwas Ordnung in die Klassiker und modernen Schriftsteller zu bringen.
Endlich war der große Tag da, der Prinz und Udo Bodo hielten ihren Einzug, beide in der denkbar besten Stimmung, denn sie hatten am Tage vorher eins der Tentamina, die der Schlußprüfung vorangehen, glücklich bestanden, Der Prinz hatte leidlich gearbeitet und in seiner Eigenschaft als eventueller Thronbesteiger das Prädikat »gut« erhalten. Udo Bodo hatte von seinem prinzlichen Freunde alles wörtlich abgeschrieben, und wenngleich die Lehrer das natürlich gemerkt hatten, so durften sie das doch nicht zugeben, denn sonst hätte Udo Bodo aus der Nähe des Prinzen entfernt werden müssen. Und da man das Freundschaftsbündnis der beiden kannte und den Prinzen weder ärgern noch betrüben durfte, so drückte man beide Augen zu und schrieb unter die abgeschriebenen Arbeiten von Udo Bodo ebenfalls ein »gut«.
Gleich nach der Ankunft auf Adlershorst fand das Diner statt und hinterher saß man in dem Salon, rauchte Zigarren, trank Kaffee, erzählte sich Geschichten von adligen Familien, Jagderlebnisse und dergleichen, und der Prinz fühlte sich so Wohl und behaglich, daß er gar nicht Worte genug finden konnte, um zu sagen, wie sehr er sich freue, ein paar Tage in der Familie seines Freundes zubringen zu können.
Und als der Prinz am nächsten Morgen auf die Pürsche ging und bei der Gelegenheit einen Rehbock schoß, da kannte seine Freude überhaupt keine Grenzen mehr. Er telegraphierte sein Jagderlebnis sofort seinem Großonkel und am Mittag desselben Tages kam die Antwort:
»Sage dem Grafen und der Gräfin von Adlershorst meinen allerherzlichsten Dank für alle Dir erwiesenen Freundlichkeiten. Sende dem Grafen noch heute die zweite Klasse meines Hausordens, der Gräfin ein goldenes Armband, Deinem Freunde eine goldene Uhr nebst Kette, die Du ihnen in meinem Namen und in meinem Auftrage überreichen sollst. Dein Erfolg auf der Jagd macht mich stolz und glücklich.«
Selbstverständlich rief der Inhalt dieses Telegramms große Begeisterung hervor, am glücklichsten war der Prinz selbst, er freute sich, seinen Gastgebern eine Freude bereiten zu können, und als am nächsten Tag als Eilpaket die fürstlichen Belohnungen eintrafen, fand in feierlichster Weise die Verteilung der Gnadenbeweise statt.
Natürlich trug Graf Kuno bei Tisch den neuen Orden, die Gräfin Cäcilie ihr Armband, und Udo Bodo sah in seiner kindlichen Begeisterung alle fünf Minuten auf seine neue Uhr. Allerdings hatte er schon eine sehr schöne goldene Uhr besessen, die entschieden wertvoller war als diese, denn die neue Uhr war ebenso wie die Kette nur sehr stark Silber vergoldet, aber die Hauptsache war ja, daß sie von einem Fürsten stammte, oder besser gesagt, von dessen Hofjuwelier.
An dem Abend desselben Tages, als der Prinz sich schlafen gelegt hatte, saßen Graf Kuno, Gräfin Cäcilie und Udo Bodo noch lange zusammen und plauderten miteinander.
»Du hast jetzt Dein Schicksal in Händen,« meinte Graf Kuno zu seinem Sohn. »Nach schweren Prüfungen, welches Wort Du sowohl bildlich wie in wirklichem Sinne auffassen kannst, hast Du jetzt gewonnenes Spiel, denn daß Du die Offiziersprüfung bestehen wirst, unterliegt für mich keinem Zweifel. Trotz Deiner Jugend sind Dir Ehrungen aller Art in nie geahnter Weise zuteil geworden, Du hast einen Prinzen zum Freund, Du hast Fürsten und Fürstinnen die Hand küssen dürfen und durftest mit den Größten dieser Welt an demselben Tische sitzen. Vor allen Dingen aber bist Du trotz Deiner einundzwanzig Jahre schon Besitzer von vier goldenen Busennadeln und einer goldenen Uhr nebst Kette. Wenn man Dich schon jetzt so auszeichnet, wie wird man es da erst später tun, sobald Du Offizier bist. Da wird sich jede Busennadel in einen Orden verwandeln, und ich sehe Dich schon als Ritter der verschiedensten Orden vor mir. Ich kann nur sagen, diese Aussicht erfüllt mich mit froher Zuversicht für Deine Karriere und für den Glanz und den Ruhm unseres Hauses. Bleib auch ferner so wie Du bist, und der Segen Deines Vaters wird nicht von Dir weichen.«
Ganz gerührt über seine eigenen Worte schloß Graf Kuno seinen Sohn in die Arme und wollte ihn wirklich segnen, da er aber nicht genau wußte, wie man das machte, und da er sich auch nicht blamieren wollte, begnügte er sich denn damit, seinen Sohn auf die Stirn zu küssen und ihn zu fragen: »Willst Du noch eine Zigarre?«
»Gewiß, Papa.«
Und bis spät in die Nacht saßen sie zusammen und freuten sich der Tatsache, daß Udo Bodo geboren war.
Und Udo Bodo freute sich darüber am allermeisten.
Am nächsten Morgen äußerte der Prinz den Wunsch, zur Stadt zu fahren, um an dem Grab der Mutter seines Freundes einen Kranz niederzulegen.
»Gott, wenn Isabella doch das mitansehen könnte, wie würde sie sich freuen,« dachte Graf Kuno. »Aber vielleicht freut sie sich auch so.«
Gegen Mittag fuhr man vierspännig zur Stadt, den Jäger auf dem Bock, zwei große Kränze im Wagen. Gräfin Cäcilie war zu Haus geblieben, angeblich, um sich um den Haushalt zu kümmern, in Wirklichkeit aber, weil sie als jetzige Herrin auf Adlershorst der Klage um die Verstorbene nicht beiwohnen wollte; jeder erriet und begriff diesen stillen, unausgesprochenen Wunsch.
Die Herren fuhren davon und alle drei bemühten sich unterwegs, ein dem Ernst der Situation angemessenes Gesicht zu machen, aber so ganz gelang es keinem, dem Prinzen nicht, weil er die Verstorbene ja nie gekannt hatte, Graf Udo Bodo nicht, weil er seine Mutter nie gesehen hatte, und dem Grafen Kuno nicht, weil er die Verstorbene längst vergessen hatte. Schweigend fuhr man dahin, über banale Sachen wollte man nicht sprechen, und über die Tote wußte niemand etwas Rechtes zu sagen. Jeder hing seinen Gedanken nach und den Grafen Kuno beschäftigte die Frage lebhaft: ob der Prinz wohl meine Kirchenfenster hübsch finden wird und ob wohl Leute vor der Kirche stehen? Er hoffte das Beste, denn er hatte einen Reitknecht zur Stadt geschickt, damit der Küster mit den Schlüsseln rechtzeitig zur Stelle wäre, vor allen Dingen aber auch, damit die Bevölkerung erführe, daß er mit dem Prinzen käme; und seine Berechnung erwies sich als richtig, Hunderte von Neugierigen standen herum, als der Viererzug ankam, alle entblößten ehrerbietig das Haupt, und der Prinz meinte in ehrlichster Überzeugung: »Es muß Ihnen doch ein großer Trost in Ihrem starken Schmerze sein. Herr Graf, wenn Sie sehen, wie die Verstorbene auch im Andenken dieser Leute weiterlebt.«
Graf Kuno war von diesen Worten so gerührt, daß ihm wirklich eine Träne ins Auge stieg und in stummer Dankbarkeit drückte er dem Prinzen die Hand.
Dann stieg man in die Gruft, legte die Kränze nieder, verrichtete ein stummes Gebet und stand im stillen Nachdenken da.
Graf Kuno dachte: »Soll ich das Zeichen zum Aufbruch geben oder muß ich das dem Prinzen überlassen?«
Der Prinz dachte: »Eigentlich haben wir hier nun lange genug gestanden, soll ich das Zeichen zum Aufbruch geben, oder muß ich das dem Grafen überlassen?«
Und Udo Bodo dachte gar nichts.
Nach einer Viertelstunde wurde dem Grafen das Stehen unbequem, so wandte er sich denn mit halblauter Stimme an seinen Gast: »Wenn es Euer Hoheit recht wäre –«
Der nickte stumm, faltete noch einmal die Hände, Graf Kuno warf noch einen schmerzerfüllten Blick auf den Sarg, Udo Bodo rückte die Kränze noch etwas zurecht und dann stiegen alle wieder ins Freie.
»Wollen wir gleich nach Haus fahren? Oder wollen wir die Gelegenheit benutzen, Hoheit die Stadt etwas zu zeigen?« fragte Udo Bodo.
»Wenn Hoheit dazu Lust hat, sehr gern,« meinte Graf Kuno.
Der Prinz wurde etwas verlegen. »Meine Wünsche treten da natürlich zurück. Ich weiß nur nicht, Herr Graf, ob Sie in Ihrem Seelenschmerz auch in der richtigen Stimmung sind.«
»O, was das anbelangt,« wollte Graf Kuno sagen, aber zur rechten Zeit fiel ihm ein, daß dieser Ausdruck vielleicht doch nicht der ganz richtige wäre, und so meinte er denn: »Auch mir wird eine kleine Zerstreuung sehr gut tun.«
Und diese kleine Zerstreuung bestand darin, daß man sich nach einer kurzen Fahrt durch die Stadt, auf der man sich die Sehenswürdigkeiten flüchtig angesehen hatte, in dem ersten Hotel zu einem opulenten Sektfrühstück niederließ, das damit endete, daß alle drei Herren, mehr oder weniger bezecht, abends in der Dunkelheit wieder auf Adlershorst eintrafen.
Als Gräfin Cäcilie die Herren auf der großen Diele begrüßte, taumelte sie beinahe hintenüber.
Graf Kuno hatte alle männliche Haltung und Würde verloren und glich eher einem bezechten Weinreisenden, als dem Majoratsherrn von Adlershorst. Udo Bodo war sinnlos betrunken, und auch der Prinz war nicht mehr ganz taktfest, obgleich der noch entschieden die meiste Haltung bewahrte.
Es war die Stunde, in der zu Tisch gegangen werden sollte, und Gräfin Cäcilie fragte, wann sie die Herren zum Diner erwarten dürfe, aber sie erhielt keine Antwort, denn Graf Kuno sagte sich: »Ich kann unmöglich etwas essen, aber ich kann doch meinen Gast nicht allein zu Tisch gehen lassen.« und der Prinz sagte sich: »Ich kann unmöglich etwas essen, aber ich kann als Gast doch meine Gastgeber nicht allein zu Tisch gehen lassen.«
Und Udo Bodo sagte gar nichts, der war im Stehen eingeschlafen.
Gräfin Cäcilie übersah die Situation. »Die Herren werden von der langen Wagenfahrt etwas ermüdet sein, vielleicht legen sich die Herren vor Tisch noch eine Stunde schlafen, das Diner kann ja später serviert werden.«
»Weib, gib mir einen Kuß,« rief Graf Kuno, der ganz seine sonstige Ruhe verloren hatte, und er streckte begehrend seine Arme nach seiner Gattin aus, aber diese wich erschrocken zurück. Erstens liebte sie überhaupt keine Zärtlichkeiten, zweitens nicht in Gegenwart von Fremden und ganz besonders nicht, wenn die Küsse nach Alkohol schmeckten.
Auch der Prinz war von der Liebenswürdigkeit der Gräfin entzückt. »Gnädigste Gräfin, Sie sind scharmant, ich meine, ich wollte sagen, nicht nur das, sondern ganz besonders –«
Aber Seine Hoheit hatte die geistige Kontenance verloren und versuchte vergebens, den angefangenen Satz zu Ende zu bringen.
»Wenn die Herren sich dann in ihre Zimmer zurückziehen wollten –« meinte Gräfin Cäcilie.
»Ziehen wir uns,« meinte Graf Kuno gelassen.
Da gab es plötzlich einen lauten Krach.
»Hat's gedonnert?« fragte Graf Kuno.
»Beruhige Dich nur, so schlimm ist es nicht, Udo Bodo ist nur eben umgefallen.«
»Laß ihn liegen,« meinte Graf Kuno gelassen, »er hat's gut, der braucht sich nicht erst hinzulegen. Famoser Witz, was, Hoheit?«
Der hatte ihn gar nicht begriffen, aber aus angeborener Artigkeit lachte er doch mit.
Dann aber drängte Gräfin Cäcilie erneut zum Aufbruch, Graf Kuno und der Prinz gingen in ihre Zimmer, und Franz und der Jäger trugen den noch immer festschlafenden Udo Bodo in sein Schlafzimmer, kleideten ihn dort aus und brachten ihn zu Bett.
»Na, der ist nicht schlecht besoffen,« meinte Fritz, der Jäger.
Da schlug Udo Bodo, der bis dahin völlig regungslos gewesen war, ein Auge auf und sagte: »Besoffen? Höchstens leicht angesäuselt,« und gleich darauf war er wieder fest entschlafen.
»Ich bin nur begierig, ob wir heute noch etwas von dem Diner zu sehen bekommen.« meinte der Jäger, »ich bin wirklich begierig.«
Und die Gräfin Cäcilie war es erst recht, die saß in dem Salon in einer neuen Toilette, die nun kein Mensch bewundert hatte, und aß vor Wut beinahe ihr seidenes Taschentuch auf; sie war empört über die Verfassung, in der die Herren nach Hause gekommen waren, und was sie am meisten erregte, sie hatte niemand, dem gegenüber sie ihrem Herzen Luft machen konnte. Graf Kuno hatte sich eingeschlossen und sein lautes Schnarchen bewies, daß er vorläufig auch nicht wieder aufschließen würde, Udo Bodo war eine Leiche, und zu dem Prinzen konnte sie doch nicht ins Zimmer gehen. Sie war wütend auf die Herren, am meisten auf ihren Mann, weil der als Ältester und in seiner Eigenschaft als Vater der Jugend mit einem so schlechten Beispiel vorangegangen war, sie war wütend auf Udo Bodo, weil der ganz vergessen hatte, daß er ein Graf war und sich betrunken hatte, als wäre er ein Arbeiter, und sie war wütend auf den Prinzen oder sie wollte wenigstens wütend auf ihn sein, aber sie sagte sich, daß die Etikette und die Höflichkeit verlangten, einem Gaste, der unter ihrem Dache weilte, nicht zu grollen, besonders nicht, wenn dieser ein Prinz war, der später ihrem Stiefsohn sehr nützen konnte. So wollte sie sich allen Ernstes an das Klavier setzen und das schöne Lied spielen: »Ich grolle nicht«, aber da sie den Klavierschlüssel nicht finden konnte, gab sie diese edle Absicht auf.
Aus dem Diner wurde heute nichts, die Herren waren nicht wach zu bekommen, sie schliefen die ganze Nacht glatt durch, um erst am nächsten Morgen mehr oder weniger verkatert wieder auf der Bildfläche zu erscheinen. Und dieser Tag ging eigentlich damit hin, daß ungeheure Quantitäten Selterwasser getrunken wurden, daß man davon sprach, wie famos man sich amüsiert habe, und daß man abends bei dem Diner den Entschluß faßte, morgen wieder zur Stadt zu fahren.
»Das paßt mir sehr gut.« meinte Gräfin Cäcilie, »da werde ich die Herren begleiten, ich habe einige dringende Besorgungen zu machen.« und sie erreichte mit diesen Worten ihren Zweck, denn von dieser Minute an wurde nicht mehr von dem Ausflug gesprochen. Und das erste Sektfrühstück blieb auch das letzte.
»Wenn wir uns jetzt wiedersehen, Papa,« meinte Udo Bodo am letzten Tag, »habe ich das Offiziersexamen bestanden, und nach weiteren acht Wochen bin ich Offizier, und dann, Papa, darfst Du mal was erleben.«
Aber was sein Vater dann erleben sollte, sagte Udo Bodo nicht, aus dem einfachen Grunde, weil er es selbst nicht wußte, und Graf Kuno drang nicht weiter mit Fragen in ihn, wenn Udo Bodo es sagte, dann würde er schon etwas erleben, dafür war Udo Bodo ja sein Sohn und hielt Wort.
Graf Kuno begleitete seinen hohen Gast und seinen Sohn selbst zur Bahn, und unmittelbar, nachdem der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, fuhr Graf Kuno seinem Schloß wieder entgegen. Er wußte, dort harrte seiner keine frohe Stunde. Die Gräfin Cäcilie hatte sich ihre Aussprache mit ihm aufgespart, bis sie wieder ganz allein unter vier Augen wären. Jetzt war es soweit und allzuviel Freundlichkeiten würde er nicht zu hören bekommen. Er sank in sich zusammen, daß seine steifgestärkte Hemdenbrust mit einem lauten Knacks ihre äußere Schönheit von sich gab, dann aber richtete er sich wieder in die Höhe und wurde auch gleich wieder froh und glücklich. Sobald er seine Strafrede hinter sich hatte, wollte er sich heranmachen, die Geschichte dieses Prinzenbesuches in ihrer Entstehung und in ihrem Verlauf ausführlich in die Familienchronik einzutragen, damit auch die späteren Generationen wüßten, welche Ehre dem Hause widerfahren sei. Und er beschloß, den Orden, das Armband und Udo Bodos goldene Uhr nebst Kette photographieren zu lassen und diese Bilder in die Familienchronik einzukleben, damit die spätesten Geschlechter nicht nur lesen, sondern mit eigenen Augen sehen könnten, wie ein deutscher Prinz die Mitglieder der gräflichen Familie von Adlershorst geehrt hatte.
Und nachdem er diesen genialen Gedanken gefaßt hatte, fuhr er mit froher Miene seiner Strafrede entgegen.