Sophus Bauditz
Wildmoorprinzeß
Sophus Bauditz

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17

Fritz ist bei Graf Christian auf Louiselund gewesen und erscheint sichtlich erleichtert. Nach dem Frühstück geht er mit Fanny in den Garten hinab, schlingt den Arm um ihre Taille und redet vertraulich mit ihr; Fanny ist von Herzen dankbar.

Siehst du, mein Kind, beginnt er, ich möchte dir etwas erzählen, was dich gewiß erfreuen wird. Du hast dir ja so oft gewünscht, einige von den Burschen zu sehen, mit denen ich in Kopenhagen verkehrt habe, Dichter und Künstler, und wie die Blase heißen mag. Nun habe ich in einem leichtsinnigen Augenblick eine ganze Wagenladung von ihnen hierherbestellt, nächste Woche kommen fünf, sechs Stück von ihnen nach Hjortholm.

Nein, wie interessant das wird! Und du glaubst wirklich, daß sie bei uns fürliebnehmen werden?

Nichts lieber als das! Sie haben noch nie einen Landsitz gesehen und sind nur selten in anständiger Gesellschaft gewesen – darauf legen diese Art Leute Gewicht, denn das sind die allergrößten Streber!

Kommt Jean Moulin auch?

Marius Petersen? Ja! Er ist ja der Chefredakteur des Faublas.

Ist er nicht momentan in Paris?

Der! Der ist nie in seinem Leben über die Grenzen von Dänemark hinaus gewesen, ausgenommen einen Sonntag, wo er mit der Dampffähre nach Helsingborg gefahren ist! Aber deswegen kann er doch sehr wohl Korrespondenzen aus Paris schreiben!

Kommt der, der die kleinen Novellen schreibt und sich »Don Rosario« nennt, auch?

Ja, der muß wohl kommen, denn das ist ja auch Marius Petersen!

Aber Marcel?

Hm, der Symbolist, der Ärmste, der Verse von Leichen und Blumen und dergleichen schreibt, ja, der kommt auch. Er heißt übrigens Fernando Villerup.

Wen erwartest du denn sonst noch?

Nikolai Jensen, den Dramatiker!

Ja, den kenne ich, sein Bild war neulich in der Zeitung.

Ja, ganz recht; er hat einen so großen Vorschuß auf seinen werdenden Ruhm genommen, daß das Kapital längst verbraucht sein muß, wenn er überhaupt eins gehabt hat! Dann kommt der Maler Nielsen-Munkegaard – das ist so eine Art Genie-Rauhbein; und dann wahrscheinlich Peter Hals, der arme Schlucker.

Den Namen habe ich noch nie gehört.

Nein, das will ich gern glauben, denn er tut nur die gröbere Arbeit, das Scheuern und Fegen, das heißt, er liest Korrektur, besorgt Botengänge und schreibt – natürlich anonym – alles das, womit sich die andern nicht befassen mögen. Ja, es ist, weiß Gott, eine nette Gesellschaft, aber man kann sie ja zur Tür hinauswerfen, wenn man ihrer überdrüssig ist – ans Hinauswerfen sind sie gewöhnt.

Pfui, Fritz, wie kannst du nur so reden!

Na ja, laß das nur. – Da war ja auch etwas andres, Wichtigeres, worüber ich mit dir reden wollte. Siehst du, mein liebes Kind, du wirst es ja begreifen können, daß ich mich um deine Zukunft sorge – weiß Gott, das tue ich! Das ist ja auch meine verdammte Pflicht als Bruder. Und es hat doch keinen Zweck, daß du eine alte Jungfer wirst, so wie Tante Rosa, wie? – Nein? – Das taugt nicht! – Die Bestimmung der Frau ist nun einmal, Weib und Mutter zu werden – so will es die Religion und die Natur. Aber du wirst ja auch begreifen, daß ich dich nicht dem ersten besten an den Hals werfen kann, mein liebes Kind, denn Blut bleibt nun doch einmal Blut. Da ist es denn ja sehr günstig, daß wir nicht lange zu suchen brauchen – wie? Ja, du weißt wohl, wen ich meine – nicht? Ja, dann muß ich es dir sagen – ich meine natürlich Graf Christian. Das ist in jeder Hinsicht ein Mann für dich!

Aber, Fritz, ist das dein Ernst? Und wie hast du neulich noch über ihn gesprochen!

Das weiß ich wirklich nicht mehr, aber man sagt ja so viel, was nicht buchstäblich genommen werden darf! Und er liebt dich scheinbar glühend.

So?

Ja, das ist doch ganz klar.

Aber ich liebe ihn nicht!

Ach was, lieben und nicht lieben, das sind Redensarten! Du bekommst einen braven Mann, den du um den Finger wickeln kannst, und bist du erst verheiratet, so hast du nach jeder Richtung hin deine Freiheit. Du machst eine brillante Partie, Graf Christian ist kolossal reich, was sagst du dazu, als Gräfin auf Skovsgaard zu residieren? Und dann noch eins, mein liebes Kind, es ist, offen gestanden, geradezu notwendig, daß du ihn nimmst! Sie verkaufen uns eines schönen Tages die Bude über dem Kopfe weg, Hjortholm sitzt bis oben hinauf voll Hypotheken, und ich habe natürlich auch, so wie ich leben mußte, noblesse oblige, weißt du – einen ganzen Packen Schulden, das kannst du doch wohl begreifen. Paris ist auch ein verdammt teures Pflaster! Nimmst du nun aber Graf Christian, so ist alles gut, hörst du, Fanny, wenn du auch diesen Augenblick nicht gerade meinst, daß du für ihn das empfindest, was du Liebe nennst – um meinetwillen tust du es doch, nicht wahr? Mein Lebensglück hängt davon ab – und die Ehre der Familie; es ist, weiß Gott, unsre einzige Rettung.

Fritz, mein lieber, guter Fritz – ich kann nicht: dringe nicht weiter in mich, es ist Unrecht!

Dann versprich mir wenigstens vorläufig, daß du ihn nicht geradezu zurückstoßen willst, hörst du? – Heute nachmittag, wenn wir nach Bodholt fahren, um die Kunstreiter zu sehen –

Ich fahre nicht mit!

Ja, das mußt du – es ist ja eine Verabredung! Er ist auch da – sei dann ein wenig freundlich – ja, ich meine nur, sei nicht unfreundlich, hörst du! Versprichst du mir das? – Hab' Dank, mein liebes Kind, ich verlasse mich auf dich!

Und Fritz küßt seine Schwester auf die Stirn. Als er aber fort ist, weint sie bitterlich.

* * *

Auf dem freien Platz vor dem Bodholter Kruge hatte die »berühmte Gesellschaft Guerrini« ihren »großen amerikanischen Zirkus« aufgeschlagen, und gedruckte Plakate, die ringsumher an den Spritzenhäusern und ansehnlichern Scheunentüren angeschlagen waren, hatten die Ankunft verkündet und vor allem die Herrlichkeiten erzählt, die jeden Nachmittag um fünf Uhr zu schauen seien.

Der amerikanische Zirkus selber bestand aus altem, geflicktem Segeltuch; die Sitzplätze waren Bänke aus ungehobelten Breitern, aber die beiden ersten Reihen waren mit rotem Schirting überzogen und trugen den stolzen Namen »Parkett«.

Hinter dem Zirkus hielt der apfelgrüne Familienwagen der Gesellschaft, aus dessen Schornstein den Tag über Rauch wirbelte, und aus dessen Küche sich stets eine Atmosphäre von Zwiebeln und Kohl verbreitete; schwarzhaarige Kinder jeglichen Alters krabbelten ununterbrochen aus und ein – sie hatten offenbar nicht alle auf einmal Platz im Wagen, und unter den Vorderrädern lag ein alter, zahnloser Hund und hielt Wache.

Rechtzeitig kamen die Leute von weit her gefahren, geritten, gegangen, und dann beginnt die Vorstellung.

Zuerst kommt die reife Schönheit, die am Eingang gestanden hat, in die Manege und springt auf den Rücken eines steifbeinigen, alten Gauls als »Blumenfee Flora« herum. Schließlich wirft sie dem Publikum im Parkett Blumensträuße zu, und als Onkel Heinrich eine Georgine mit Grün umwunden bekommt, ist er nahe daran, Fräulein Kielsen zu vergessen – aus den Augen, aus dem Sinn.

Der Direktor reitet Schulritt, und Müller Sörensen denkt an seine Jugendzeit bei der Gardekavallerie und klatscht – immer gleich fröhlich und schweißbedeckt –, als werde er dafür bezahlt.

Die »Blumenfee Flora« zeigt sich nun als Verwandlungskünstlerin, indem sie plötzlich als Türkin auf dem schlaffen Seil auftritt, und während sich der Direktor in Stallmeisteruniform präsentiert, gibt sein ältester Sohn die allgemein beliebte Nummer: »Der Matrose beim Schiffbruch«.

Ein ganz schönes Pferd, das zuerst als Apportierpferd »Emir« vorgeführt worden ist, wird später zu dem »Feuertier Salamander«, und dann kommt ein weißgeschminkter Clown, der großen Jubel auf den Stehplätzen hervorruft; als er sich aber herausnimmt, auch nach der Gegend hin, wo die Goldbetreßte blitzt, Grimassen zu schneiden, sendet ihm der Amtsrichter einen wütenden Blick zu. Die Obrigkeit ist nicht in rosigster Laune, denn einer ihrer Schulzen ist mit dem allgemeinen Ehrenzeichen des Danebrog dekoriert.

Schließlich soll der »Emir«, alias »Salamander«, der unter noch mehr Pseudonymen aufzutreten scheint als der Chefredakteur des Faublas, ein hier in dieser Gegend nie gesehenes Kunststück produzieren, er soll nämlich über das ganze vierbeinige Personal der Gesellschaft, mit anderen Worten über drei seiner Mitgeschöpfe springen. Der Sprung gelingt, er kommt hinüber – aber er bleibt regungslos liegen. Ein anwesender Tierarzt erklärt das linke Vorderbein für gebrochen: da bleibt nichts weiter übrig, als das Tier zu töten.

Die ganze Gesellschaft – es sind drei Herren und zwei Damen – umsteht das verunglückte Tier in den Kostümen, in denen sie zuletzt aufgetreten ist. Die Tränen rollen dem Clown über die geschminkten Wangen, die Kinder kommen herzugelaufen und werfen sich schluchzend über den vierbeinigen Freund, der eine Anstrengung macht, wieder auf die Beine zu kommen, aber schwer zurückfällt. »Madame« liegt vor ihm auf den Knien und hält seinen Kopf – das Tier sieht sie betrübt an: Mit mir ist's aus!

* * *

Ach, tun Sie mir einen Gefallen, sagt Graf Christian zu Kongsted. Ich kann nicht so recht Deutsch oder Französisch sprechen, aber sagen Sie dem Manne da vor mir, daß er meinen Fuchshengst haben soll. Er steht da drinnen im Stall, und den Sattel und die Kandare und das Ganze kann er auch gern behalten. Das Tier kann lernen, was es soll, denn es ist klug – aber jetzt gehe ich – ich kann nicht mit den Leuten reden.

Und gefolgt von Fannys dankbarem Blick – sie hat gehört, was Graf Christian sagte – entfernt er sich langsam und verlegen: er ist schon am Ausgang angelangt, da wendet er sich um und sagt noch leiser zu Kongsted: Bitten Sie sie nur, daß sie gut gegen das Tier sind! und dann eilt er hinaus.

Das Publikum verteilt sich, ein Wagen nach dem andern fährt weg. Kongsted hat seine Bestellung ausgerichtet und kommt aus dem Zelt zurück unter den mehr als überwältigenden Danksagungen der Kunstreiterfamilie, die er vergebens abzuwehren sucht. Er kommt gerade noch rechtzeitig, zu hören, wie Graf Christian, der neben dem Hjortholmer Wagen steht, in ehrerbietigem, fast demütigem Ton zu Fanny sagt: Dann gestatte ich mir also, Ihnen morgen vormittag meine Aufwartung zu machen, worauf Fanny mit ungewöhnlicher Wärme entgegnet: Sie sind mir willkommen!

Und dann fahren die Hjortholmer, der Hauptmann aber klopft Kongsted auf die Schulter und sagt: Haben Sie's gehört? Morgen will Fanny sich verloben!

Ja, so scheint es! erwidert Kongsted. Und dann fährt er nach der Mühle, der Hauptmann reitet südwärts, Graf Christian aber muß nach Hause gehen.

* * *

Gute Nacht, mein liebes Kind! sagt Fritz zu Fanny. Du ahnst nicht, wie dankbar ich dir bin.

Ja, laß das nur gut sein! Ich wünsche die Sache, die du meinst, so wenig wie möglich zu berühren.

Aber es war doch deine Absicht, als du vorhin Graf Christian sagtest, er sei dir willkommen, daß du –

Freilich, Fritz, freilich war das meine Absicht, aber laß mich jetzt in Frieden, ich bin müde und nicht ganz wohl. – Gute Nacht, Tante Rosa!

Eine Viertelstunde später herrscht Todesstille auf Hjortholm – alle schlafen – alle, mit Ausnahme von Fanny.

Die Gedanken stürmen auf sie ein – sie lenkt sie nicht, die Gedanken nehmen sie gefangen und ziehen sie auf das stürmische Meer hinaus, heben und senken sie, werfen sie hierhin und dorthin.

Hatte sie denn wirklich einen festen Entschluß gefaßt, war nichts mehr daran zu ändern? Ja, noch konnte sie umkehren! – Wollte sie aber? Nein, sie wollte nicht. Fritz hatte sie ja so flehentlich gebeten – er war geradezu angsterfüllt gewesen, und wenn es sich um die Rettung des Bruders handelte, so – aber durfte sie sich denn auch opfern? War es nicht eine Lüge, Graf Christians warme, selbstlose Liebe anzunehmen, ohne ihm etwas dafür wiederzugeben? – Was würde dieser sichere, strenge Kongsted sagen – er glaubte ja an die Allmacht der Liebe! – Mag er sagen, was er will! – War sie etwa die erste, die sich ohne Liebe verheiratet hatte? Hatte ihre eigne Mutter etwa Neigung zu ihrem Vater empfunden? – Ach, eine Mutter, eine Mutter!

Und dann schlief sie ein, aber ihre verworrenen Gedanken nahm sie mit hinüber, und der Traum spann sein Gespinst um sie.

Sie stand in der Krogslever Kirche vor dem Altar über dem Familienbegräbnis, und Graf Christian stand an ihrer Seite. Der alte Pfarrer, der ganz anders aussah als sonst, viel größer und viel ehrwürdiger, fragte den Bräutigam mit gewaltiger Stimme: Liebst du dieses Weib? und Graf Christian antwortete: Ja, von ganzer Seele! Und der Pfarrer sah sie an – sie senkte den Blick –, und er fragte sie: Liebst du diesen Mann? Und sie wollte nein sagen, aber sie konnte nicht sprechen, nicht einen Laut konnte sie über ihre Lippen bringen; und Fritz antwortete für sie, die Orgel brauste, und sie und Graf Christian schritten als rechtmäßige Eheleute durch die Kirche. Plötzlich aber war es, als zersprängen alle Fensterscheiben, ein eiskalter Hauch ging durch die Kirche, ein Zug scheuer, heimatloser Vögel stürzte wie die wilde Jagd durch den Raum – sie fühlte ihren Flügelschlag auf ihrer heißen Wange –, die Orgel klang wie Donnergetöse, wie Domposaunen, und eine gewaltige Stimme, gewaltiger als die des Pfarrers, übertäubte die Orgel und rief: Was willst du hier in Gottes Haus, du Heidenkind aus dem schwarzen Wildmoor! Sink, sink hinab in den weichenden Boden, werde die Braut des Schlammkönigs – in den Sumpf gehörst du! Und mit einem lauten Schrei brach sie auf dem harten, kalten Kirchenboden zusammen, und alle Lichter erloschen.

Und dann ist sie wieder sie selbst und liegt daheim in ihrem eignen Bett auf Hjortholm. Und sie hört die Uhr zwölf schlagen, und alle Türen, auch die ihre, springen auf, und sie hört Schritte auf dem Gange: jetzt kommt die graue Dame. Langsam kommt sie und lautlos, in mottengraue, weiche Seide gekleidet, die nicht raschelt. Und ihr Gesicht ist jung und schön, aber betrübt, zum Tode betrübt, und Fanny kennt ihre Züge, obwohl sie sie niemals gesehen hat. Und Fanny steht auf und folgt der grauen Dame; was sie will, weiß Fanny nicht, aber sie begreift gleich, daß sie hinabgehen soll, und findet das nur natürlich. In den Schloßgarten gehen sie hinab, zwischen den weißbärtigen Tannen, über den grünen Steig nach dem alten Pavillon, der jetzt auf einmal ganz neu ist. Und als sie daran vorüberkommen, wendet die graue Dame den Kopf zur Seite und verbirgt ihr Antlitz. Und dann gehen sie zurück nach dem Schloß, die Turmtreppe hinauf, ganz nach oben, bis auf den Boden. Eine Tür öffnet sich lautlos von selbst: sie kommen in einen Raum, wo Fanny noch niemals gewesen ist, in eine Rumpelkammer. Wurmstichige Möbel fallen übereinander, zerfetzte Gardinen hängen auf einem rostigen Haken, der Staub liegt fingerdick. Und in eine Ecke hinein führt die graue Dame sie und zeigt auf ein Bild, das mit der verkehrten Seite nach außen hinter einem Haufen halbvermoderter Papiere steht, und sie macht Miene, als wolle sie sprechen. Fanny weiß, daß sie die Stimme kennen wird, obwohl sie sie niemals gehört hat, in demselben Augenblick aber schleicht ein Sonnenstrahl, der erste des grauenden Morgens, in eine Spalte hinein, und die graue Dame sinkt zusammen, wird zu nichts, verschwindet zwischen dem staubigen Spinnengewebe.

Fanny erwachte mit einem lauten Schrei – das wirkliche Tageslicht scheint zu ihr herein, aber so lebhaft steht der Traum vor ihrer Seele, daß sie sich nur Zeit läßt, einen Schal über ihr Nachtgewand zu werfen, und auf bloßen Füßen stürzt sie nun wachend den Weg hinauf, den sie vorhin im Traum gewandert ist, die Turmtreppe hinauf und auf den Boden. Da ist die Tür, und da ist die Rumpelkammer, die sie sich nicht erinnert, je gesehen zu haben, aber ganz sicher stürzt sie auf die Ecke zu, wirft ganze Haufen Papier zur Seite, ergreift den Rahmen und wendet das Gemälde um – es ist das Bild der grauen Dame! Zug für Zug erkennt sie sie wieder, aber die graue Dame trägt hier ein helles, blaues Kleid, an der Brust steckt eine Rose, und ein Lächeln umspielt ihren Mund.

Und das Bild im Arm stürzt Fanny die Treppe hinab; die erste, der sie begegnete, ist Tante Rosa. Wer ist das? ruft Fanny von weitem und hält das Gemälde in die Höhe. Wer ist die graue Dame?

Das ist deiner Mutter Bild! antwortet Tante Rosa, die bleich geworden ist wie die gekalkte Wand.

Meine Mutter? Und die habt ihr da oben versteckt – versteckt, bis sie selber über Nacht – ach, was hat meine arme Mutter euch denn getan? Worin bestand ihr Verbrechen, sag' es mir, ich will es wissen!

Deine Mutter liebte den Mann nicht, mit dem sie sich verheiratete – und sie war nicht mit dem verheiratet, den sie dann später lieben lernte.

Ach, Mutter, Mutter, jetzt verstehe ich dich! ruft Fanny aus und wirft sich Tante Rosa schluchzend um den Hals.

So hast du denn doch deine Tochter in der Stunde der Not nicht ganz verlassen, sondern hast sie errettet von – ach, meine arme, arme Mutter!

* * *

Es währt lange, bis Tante Rosa eine genügend zusammenhängende Erklärung erhält, um überhaupt Fannys Gedanken ganz fassen zu können, als sie aber endlich so weit gelangt ist, schüttelt sie den Kopf und fragt resigniert: Und was nun? In ein paar Stunden kommt Graf Christian!

Ach, ich will ihn nicht sehen, ich kann ihn nicht sehen! ruft Fanny und preßt die Hand gegen die Stirn, im nächsten Augenblick aber sieht sie wieder auf und sagt ruhig: Ja, laß ihn nur kommen, das schulde ich ihm. Ich will offen mit ihm reden und ihn um Verzeihung bitten!

Tante Rosa seufzt tief auf, Fanny aber geht auf ihr Zimmer, das Bild ihrer Mutter im Arm. –

Ein paar Stunden später ging Kongsted am Rande des Tviser Waldes. Draußen auf der Chaussee wurden die Hufschläge eines trabenden Pferdes hörbar, zwischen den Bäumen wurde ein Reiter sichtbar, es war Graf Christian, der nach Hjortholm ritt. Er sah aus wie ein Mann, der seinem Glück entgegenreitet, vor ihm lag der Sonnenschein des Lebens. Und als könnte er nicht schnell genug all das Glück erreichen, das seiner harrte, gab er plötzlich dem Pferde einen Schenkeldruck und ließ es in freiem Galopp ausholen – einen Augenblick später war er verschwunden.

Kongsted setzte seinen Weg nach dem Waldhäuschen fort, er traf den Hauptmann zu Hause und saß eine Weile bei ihm im Zimmer, aber er war weniger gesprächig als sonst.

Nun kommt die Jagdzeit, sagte der Hauptmann, wollen Sie Rebhühner schießen lernen?

Sehr freundlich, erwiderte Kongsted, aber ich reise wohl zu der Zeit.

Was soll das heißen?

Ja, das, was ich jetzt noch zu tun habe – den Überschlag und die Karte, das kann ich ja ebensogut in Kopenhagen fertigmachen, und Sie wissen ja, daß mir dort eine feste Stelle angeboten ist, also –

Was ist denn das? unterbrach ihn der Hauptmann und lauschte den Hufschlägen eines Pferdes, das sich näherte. Ich bekomme scheinbar noch mehr Besuch.

Aber der Hauptmann bekam an diesem Tage keinen Besuch mehr, denn der Reiter war Graf Christian, der im Schritt und gesenkten Hauptes von Hjortholm her geritten kam, ohne sich nach dem Waldhäuschen umzusehen.

Der sieht aus wie ein geschlagener Mann! sagte der Hauptmann. Mein Gott, das scheint fürs erste doch kein Jawort gewesen zu sein.

Nein, so scheint es nicht, erwiderte Kongsted und sah dem Reiter lange nach.

Eine Weile saßen sie schweigend da. Dann fragte der Hauptmann, das unterbrochene Gespräch wieder aufnehmend: Wann reisen Sie denn?

Ich?

Ja – nach Kopenhagen!

Ach, ich weiß nicht – es ist noch nichts bestimmt. Vielleicht bleibe ich auch den Herbst noch hier – und vielleicht bis in den Winter hinein –, es ist ja doch am besten, hier in der Gegend zu sein, falls irgend etwas –

Ja, das ist unbedingt das Richtigste! sagte der Hauptmann, und bald darauf verabschiedete sich Kongsted.


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