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Gides Berufung

Vielleicht wäre es an der Zeit, einmal das Verfahren zu revidieren, was wir bei Jubiläen der Lebenden zu beobachten pflegen und ein wenig mehr Vernunft dahinein zu bringen. Zeit, anstelle jener »Würdigungen«, bei denen nur der Kritiker sich selber wichtig nimmt, einige substantielle Überlegungen anzustellen. Läge es nicht sehr im Sinn solcher Daten, wenn sie nun einmal bemerkt werden sollen, an die Kindheit des Gefeierten, seine Herkunft zu denken, seine ersten Spiele und Schriften, die Dokumente seiner frühen Jahre zu sammeln, ihn da zu erfassen, wo er liebenswert, unbekannt und bedeutend zugleich erscheint. Anderseits ließe sich für einige unter ihnen, die Größten, auch die Darstellung ihres Einflusses, ihrer erzieherischen Absichten oder Wirkungen denken. Der seltene Glücksfall aber, der uns das möglich macht, was wir im folgenden für Andre Gide zur Feier seines 60ten Geburtstags im November vorhaben, ist dies: daß so wie sich in den Gedanken, den Erfahrungen der frühesten Jugend die Züge des Werkes schon ankündigen, im spätesten Werke des Dichters noch immer die Treue zu den Eingebungen und den Schicksalen seiner Jugend sich ausprägt. Das ist Gides Fall, darin liegt es begründet, daß die ganze Geisteswelt dieses Mannes in unendlich präziser Verkleinerung in die Figur seiner Berufung eingeht. Wie diese Berufung in früher Kindheit vernehmbar wird, wie sie nicht aufhört, den Jüngling, den Mann zu begleiten, nicht immer großes und pathetisches Geheiß war, sondern oft wie die gefährliche wandernde Stimme des Berggeists aus labyrinthischen Massiven heraus ihn rief, wie seine Dichtungen in aller ihrer Vollendung ihm nie Besitztum sondern Ballast waren, den er abwarf, um seine ständige Bereitschaft zu steigern, das gedenken die folgenden, den verschiedensten Werken entnommenen Stellen so eindrücklich zu bekunden, daß sie am Ende wie ein einheitlicher Text in Ihrem Gedächtnis stehen bleiben mögen. Im übrigen wird Ihnen eine eminente Nüchternheit, fast möchte ich sagen Verschlossenheit, an dem folgenden auffallen. Gide entwickelt in seinen Schriften eigentlich nur dieses: die Linie. Und zwar die sichtbare so gut wie die tastbare. Es ist das Seltene an seiner Künstlerschaft, daß sie die höchste sinnliche Konkretion hat ohne die Fülle des sinnlich Genießbaren, Lustvollen mitzunehmen, daher der Adel seiner Schriften, in dem er kaum mit einem der Lebenden zu vergleichen ist. Die Sprache des folgenden Fragmentes entspricht den klassischen Linien der Landschaft, in der der Redende, Menalque, gedacht ist. In einem Garten auf einem Hügel nahe Florenz, Fiesole gegenüber, spricht er zu seinen Freunden. Das geistige Drama, das er vor ihnen entspinnt, werden wir später in einer palästinensischen Landschaft sich weiterentwickeln sehen.

»Mein ganzes Dasein war ein dauerndes herrliches Warten, gleichviel auf welche Zukunft. Mein Glück kam daher: jede Quelle offenbarte mir einen Durst, und in der wasserlosen Wüste, wo der Durst nicht zu stillen ist, war ich mit meinem brennenden Fieber unter der glühenden Sonne noch immer glücklich. Gab es doch abends bezaubernde Oasen, die davon, daß ich sie den ganzen Tag ersehnt, nur erfrischender wurden. Ich habe in der sandigen Einöde, wenn die Sonne mich wie ein maßlos tiefer Schlummer betäubte, so groß war die Hitze, so flimmerte alles, eben darin noch das Zittern des Lebens gefühlt, des Lebens, das nicht entschlummern kann, und der Horizont flimmerte vor Schwäche, und meine Füße schwollen vor Liebe.

Ich suchte Tag für Tag nichts anderes als immer schlichtere Versenkung in die Natur. Ich besaß die kostbare Gabe, mir selber nicht zu sehr im Wege zu sein. Meine Seele war die Herberge, die am Kreuzwege offensteht; was eintreten wollte, trat ein. Ich machte mich gefügig, lenkbar, allen meinen Sinnen gab ich Einfluß auf mich. Aufmerksam gab ich mich hin, bis ich keinen einzigen eigenen Gedanken mehr hatte. Jede Regung fing ich im Fluge auf und so wenig setzte ich ihr entgegen, daß ich lieber nichts mehr für schlecht hielt, als gegen gleichviel was Protest zu erheben. Im übrigen wurde ich bald inne, wie wenig Haß gegen das Häßliche meine Liebe zum Schönen stützte. Es gab eine Zeit, da wurde meine Freude so groß, daß ich sie mitteilen, jemandem lehren wollte.

Die Abende sah ich in unbekannten Dörfern die Hausgenossenschaften, die am Tage verstreut waren, sich wieder ums Herdfeuer sammeln. Der Vater kam müd von der Arbeit nach Haus, die Kinder kamen von der Schule zurück. Die Haustür ließ einen Augenblick lockendes Licht, Wärme und Lachen durch einen Spalt dringen; dann schloß sie sich vor der Nacht. Nichts von all den schweifenden Dingen, vom Wind, der draußen stoßweise zitterte, konnte mehr eindringen. – Ich hasse euch, ihr Familien, trauliche Herdfeuer, verschlossene Türen, unduldsame Gehege des Glücks – manchmal habe ich unsichtbar in der Nacht lange gegen ein Fenster gedrückt gestanden und das Treiben im Hause beobachtet. Da war bei der Lampe der Vater. Die Mutter nähte. Der Platz eines Ahnen blieb leer. Ein Kind arbeitete neben dem Vater, und mein Herz wurde schwer von der Sehnsucht, es auf die Landstraße mit mir mitzunehmen.

Am nächsten Morgen sah ich es wieder, wie es zur Schule ging. Am übernächsten Morgen sprach ich es an. Vier Tage später verließ es alles, um mir zu folgen. Ich öffnete ihm die Augen für die Herrlichkeiten des Landes ringsum, und es verstand, daß es für ihn offenlag. Ich lehrte seine Seele schweifender, froher zu werden, endlich auch von mir selbst fortzugehen, seine Einsamkeit kennenzulernen.«

 

Hier halten wir inne. Aus dieser Stelle – die »Nourritures terrestres«, aus denen dieses Stück stammt, erschienen 1897 – entstand zehn Jahre später Gides berühmteste Dichtung: »Die Rückkehr des verlorenen Sohnes«. Von ihr lese ich den letzten Abschnitt der fünf, die das Buch bilden. Es sind die Gespräche mit dem versöhnten Vater, dem unerbittlichen älteren Bruder, der erbarmenden Mutter. Und hier das letzte mit dem jüngeren Bruder, in der Übersetzung von Rilke, die im Insel Verlag erschien. Wir haben übrigens das Glück, auch die übrigen Schriften Gides in selten zuverlässigen und glücklichen Verdeutschungen zu besitzen oder erwarten zu können. Die Gesamtausgabe der Werke, die von der Deutschen Verlagsanstalt unternommen ist und der alle späteren Stücke entnommen sind, liegt in den ausgezeichneten Händen von Ferdinand Hardekopf.

»Es ist die Kammer neben der des Verlorenen, nicht gerade klein, mit leeren Wänden. Eine Lampe in der Hand, nähert sich der Verlorene dem Bett, wo sein jüngerer Bruder ruht, das Gesicht gegen die Wand gekehrt. Er beginnt mit leiser Stimme, um das Kind, wenn es schläft, nicht in seinem Schlummer zu stören.

›Ich möchte mit dir sprechen, mein Bruder.‹

›Was hindert dich daran?‹

›Ich glaubte, du schliefst.‹

›Man braucht nicht zu schlafen, um zu träumen.‹

›Du träumtest; wovon denn?‹

›Was kümmerts dich. Wenn schon ich meine Träume nicht versteh, so wirst du, glaub ich, kaum imstande sein, sie mir auszulegen.‹

›Sie sind also sehr eigen. Wenn du sie mir erzählst, ich wills versuchen.‹

›Kannst du dir deine Träume wählen? Die meinen sind, was ihnen einfällt, und haben mehr Freiheit als ich ... Was willst du übrigens hier? Was störst du mich in meinem Schlaf?‹

›Du schläfst nicht, und ich komme im Guten mit dir sprechen.‹

›Was hast du mir zu sagen?‹

›Nichts, wenn du diesen Ton anschlägst.‹

›Dann lebwohl.‹

Der Verlorene geht auf die Türe zu, aber er stellt nur die Lampe auf die Erde, die das Zimmer so nur noch schwach erleuchtet, dann kommt er zurück, setzt sich auf den Bettrand, im Halbdunkel, und streichelt lange die abgewendete Stirn des Kindes.

›Du antwortest mir schärfer, als ich je deinem Bruder geantwortet habe. Und ich war doch auch voller Widerspruch gegen ihn.‹

Das trotzige Kind hat sich heftig aufgerichtet.

›Sag: schickt dich unser Bruder?‹

›Nein, mein Kleiner, nicht er, unsere Mutter.‹

›Ah, von selbst wärst du nicht gekommen.‹

›Aber ich komme dennoch als Freund.‹

Halb aufgesetzt in seinem Bett, starrt das Kind den Verlorenen an.

›Wie brächte es einer von den Meinigen zuwege, mein Freund zu sein?‹

›Du irrst dich in unserem Bruder ...‹

›Sprich mir nicht von ihm. Ich hasse ihn ... Von ganzem Herzen ist er mir

zuwider. Er ist der Grund, daß ich dir hart geantwortet habe.‹ ›Aber wie denn?‹

›Du wirst das nicht begreifen.‹

›Trotzdem, sprich ...‹

Der Verlorene zieht den Bruder an sich und wiegt ihn leise, und das halberwachsene Kind hält sich nicht länger zurück:

›Am Abend, da du heimkehrtest, war es mir nicht möglich zu schlafen. Die ganze Nacht dachte ich: Ich hatte noch einen Bruder und ich wußte es nicht ... Deshalb hat mir das Herz so stark geklopft, als ich dich hereinkommen sah, in den Hof des Hauses, ruhmbedeckt.‹

›Ach! bedeckt mit Lumpen, wie ich war.‹

›Ja, ich habe dich gesehen, und doch schon ruhmvoll. Und ich habe gesehen, was unser Vater tat: er hat an deinen Finger einen Ring gesteckt, einen solchen, wie ihn unser Bruder nicht besitzt. Ich wollte niemanden über dich befragen. Ich wußte nur, daß du von sehr weit kamst, und dein Blick, bei Tisch ...‹

›Warst du denn dabei?‹

›O, ich weiß wohl, daß du mich nicht gesehen hast. Während des ganzen Essens war dein Blick in der Ferne, ohne etwas zu sehen. Auch, daß du am zweiten Abend mit dem Vater gesprochen hast, war gut – aber am dritten ...‹

›Sprich ...‹

›Ach, wenn es nur ein liebes Wort gewesen wäre, du hättest wohl kommen können und es mir sagen.‹

›Hast du mich denn erwartet?‹

›Und wie! Glaubst du, ich würde unseren Bruder so hassen, wenn du nicht an jenem Abend so endlos mit ihm gesprochen hättest. Was könnt ihr euch denn zu sagen gehabt haben? Du weißt wohl, wenn du Ähnlichkeit mit mir hast, so kannst du mit ihm nichts gemein haben.‹

›Ich hatte schweres Unrecht gegen ihn begangen.‹

›Ist es möglich?‹

›Wenigstens gegen unseren Vater und unsere Mutter. Du weißt, daß ich aus dem Haus geflohen war.‹

›Ja, ich weiß. Es ist lange her, nicht wahr?‹

›Ungefähr als ich so alt war wie du.‹

›So. Und das nennst du dein Unrecht.‹

›Ja, das war mein Unrecht, meine Sünde.‹

›Als du weggingst, fühltest du da, daß du schlecht handeltest?‹

›Nein; ich fühlte in mir etwas wie eine Verpflichtung, fortzugehen.‹

›Und was ist denn seither geschehen, daß aus deiner Wahrheit von damals Irrtum wurde?‹

›Ich habe gelitten.‹

›Und deshalb sagst du: ich hatte unrecht?‹

›Nein, nicht gerade deshalb; aber das hat mich zur Besinnung gebracht.‹ ›Früher also bist du nie zur Besinnung gekommen?‹

›Doch, aber meine schwache Vernunft war nachgiebig gegen meine Begierden.‹ ›Wie später gegen das Leiden. So daß du heute zurückkehrst ... überwunden.‹

›Nein, nicht eigentlich; – ergeben.‹

›Mit einem Wort, du hast darauf verzichtet, der zu sein, der du sein wolltest.‹ ›Der, der ich, meinem Hochmut nach, zu sein glaubte.‹

Das Kind verharrt eine Weile schweigend, dann schluchzt es auf und schreit:

›Mein Bruder, ich bin der, der du warst, als du weggingst. O, sag: War alles Trug auf deinen Wegen? Meine Ahnung von dem da draußen, das anders ist als das hier, ist also nichts als Täuschung? Was ich Neues in mir fühle – Wahnsinn? Sprich: Was hast du denn so völlig Entmutigendes auf deinem Weg getroffen? Was war schuld, daß du umkehrtest?‹

›Die Freiheit, die ich suchte, ging mir verloren; einmal in Gefangenschaft, mußte ich dienen.‹

›Ich bin hier in Gefangenschaft.‹

›Ja, aber schlimmen Herren dienen. Hier dienst du deinen Eltern.‹

›Ach, dienen ist dienen; hat man nicht wenigstens die Freiheit, sich seine Knechtschaft zu wählen?‹

›Das hoffte ich. So weit meine Füße mich trugen, wanderte ich, auf der Suche nach meiner Sehnsucht, wie Saul auf der Suche nach seinen Eselinnen. Aber dort, wo ein Königreich auf ihn wartete, dort hab ich das Elend gefunden. Und dennoch ...‹

›Hast du auch nicht den Weg verfehlt?‹

›Mein Ich ging vor mir her.‹

›Bist du sicher? Und doch gibt es andere Königreiche und Länder ohne König, die noch zu entdecken sind.‹

›Wer hat dir das gesagt?‹

›Ich weiß es. Ich fühle es. Ich seh mich schon dort herrschen.‹

›Hochmütiger!‹

›Sieh, da ist das Wort, das dir unser Bruder gesagt hat. Wie kommst du jetzt dazu, es mir zu sagen? Hättest du dir nur diesen Hochmut bewahrt! Du wärst nicht zurückgekehrt.‹

›Dann hätte ich dich nie gekannt.‹

›Doch, doch, dort draußen, wohin ich dir nachgekommen wäre, dort würdest du mich schon erkannt haben als deinen Bruder. Ja, mir ist noch jetzt zumut, als wärs, um dich wiederzufinden, daß ich fortgehe.‹

›Daß du fortgehst?‹

›Hast du es nicht begriffen? Ermutigst du mich nicht selbst, fortzugehen?‹

›Ich möchte dir die Rückkehr sparen ... aber dadurch, daß ich dir den Aufbruch erspare.‹

›Nein, nein, sag mir das nicht; nein, das willst du ja gar nicht sagen. Du bist doch auch – nicht wahr? – du bist wie ein Eroberer ausgezogen?‹

›Darum empfand ich meine Knechtschaft nur um so härter.‹

›Warum hast du dich dann unterworfen? Warst du schon müde?‹

›Nein, noch nicht; aber ich war im Zweifel.‹ ›Was meinst du damit?‹

›Im Zweifel an allem, an mir selbst. Ich wollte bleiben, mich irgendwo anschließen. Der Halt, den mir dieser Meister versprach, war eine Versuchung für mich. Ja, jetzt sehe ich es wohl ein: ich bin schwach gewesen.‹

Der Verlorene neigt das Haupt und verbirgt den Blick in seinen Händen.

›Aber im Anfang?‹

›Ich war lange gewandert über die große, noch ungebändigte Erde.‹

›Die Wüste?‹

›Nicht immer war es die Wüste.‹

›Was hast du da gesucht?‹

›Ich versteh es selber nicht mehr.‹

›Steh auf von meinem Bett. Sieh auf den Tisch dort hinter meinem Kissen, bei dem altmodischen Buch.‹

›Ich seh einen offenen Granatapfel.‹

›Den hat mir der Schweinehirt gebracht neulich abends; drei Tage war er nicht nach Haus gekommen.‹

›Ja, das ist ein wilder Granatapfel.‹

›Ich weiß. Er ist von einer Bitterkeit, beinah furchtbar; und doch, ich fühle, wenn ich nur genügend Durst hätte, ich würde hineinbeißen.‹

›Ah, so kann ich es dir jetzt sagen: Was ich suchte in der Wüste, war dieser Durst.‹

›Ein Durst, den nur diese Frucht löscht, die ohne Süße ist ...‹

›Nein, aber man liebt diesen Durst um ihretwillen.‹

›Weißt du, wo man sie holt?‹

›Ein kleiner verlassener Garten ist da; man kommt gegen Abend hin. Keine Mauer schließt ihn mehr ab nach der Wüste. Ein Bach floß dort vorbei. Ein paar Früchte, halbreif, hingen an den Zweigen.‹

›Was für Früchte?‹

›Die gleichen, wie in unserm Garten, nur wild. Es war den ganzen Tag über sehr heiß gewesen.‹

›Hör zu. Weißt du, warum ich dich heute abend erwartete? Eh die Nacht um ist, geh ich. Diese Nacht; diese Nacht, sowie sie anfängt zu verblassen ... Mein Gürtel ist geschnallt, ich habe die Sandalen anbehalten.‹

›Was! Du willst tun, was ich nicht konnte?‹

›Du hast mir den Weg aufgetan. Der Gedanke an dich wird mir beistehn.‹

›Ich kann dich nur bewundern. Du dagegen mußt mich vergessen. Was nimmst du mit?‹

›Du weißt wohl, ich, als der Jüngere, habe keinen Anteil am Erbe. Ich gehe ohne alles.‹

›Besser so.‹

›Was siehst du denn nach dem Fenster?‹

›Den Garten seh ich, wo unsere Toten ruhen.‹

›Mein Bruder ... (und das Kind, das vom Bett aufgestanden ist, schmiegt den Arm um den Hals des Verlorenen, und es legt dieselbe Zärtlichkeit in diese Gebärde und in seine Stimme) ... komm mit mir!‹

›Laß mich, laß mich; ich will bleiben und unsere Mutter trösten. Ohne mich wirst du tapferer sein. Es ist Zeit jetzt. Der Himmel bleicht. Geh, ohne Lärm. Komm! Küß mich, mein junger Bruder. Du nimmst alle meine Hoffnungen mit dir. Sei stark. Vergiß uns, vergiß mich. Mögst du nicht wiederkommen ... Steig leise hinab. Ich halte die Lampe.‹

›Gib mir wenigstens noch die Hand bis an die Tür.‹

›Achtung bei den Stufen auf dem Vorplatz ...‹«

 

Wenn wir nun das vorhin unterbrochne Stück von neuem aufnehmen, so erfassen wir ganz, mit welchen Wünschen der vierzigjährige Gide diesen jüngeren Bruder auf seinem Wege begleitet. Es ist, als spräche er in seinem Namen von dieser Wanderung, auf der sich erfüllte, was der verlorne Sohn vergebens gesucht hatte.

 

»Allein durchkostete ich die wilden Freuden des Hochmuts. Gern stand ich vor Morgengrauen auf. Ich rief die Sonne auf die Strohdächer nieder. Das Lied der Lerche war meine Erfindung und der Tau meine Reinigung in der Morgendämmerung. Übertriebene Askese verhängte ich über mich, aß so wenig, daß mein Kopf davon leicht ward und jedes Gefühl mir berauschend wurde. Seither habe ich manche Weine getrunken, keiner aber, ich weiß es, gab diesen Taumel der Nüchternheit, wenn ich im Frühesten durch die Ebene schwankte, ehe ich nach Sonnenaufgang in einer Mulde mich schlafen legte.

Meine Brotration sparte ich manchmal, bis ich halb hinfällig war. Mir schien seine Substanz dann weniger fremd. Mir war, sie durchdringe mich inniger, sie überflutete mich von draußen, all meine Sinne taten sich ihrer Gegenwart auf. Alles an mir fühlte sich zu Gaste geladen.

Meine Seele ward voller Überschwang. Die Einsamkeit ließ sie außer sich kommen, gegen Abend aber machte sie mich müde. Aus Hochmut erhielt ich mich auf den Füßen, aber ich bekam Sehnsucht nach Hilarius, der voriges Jahr mir meine zu wilden Stimmungen hatte erleichtern helfen. Mit ihm sprach ich des Abends. Er war selbst Dichter, er verstand alle Harmonien. Jede Naturerscheinung war eine Sprache, deren Schlüssel wir hatten; wir konnten ihre Ursache lesen. Wir lernten die Insekten an ihrem Flug, die Vögel an ihrem Lied, die Schönheit der Frauen an der Spur ihrer Schritte im Sand erkennen. Alles atmeten wir mit Wonne. Vergebens suchten wir unser Sehnen matter zu machen, jeder unserer Gedanken war eine einzige Glut.«

Soweit. Denn hier schließen wir jenes merkwürdige Wort von Gide an, das lautet: Die Melancholie ist nur eine erkaltete Glut. Dies Wort beschwört die Erinnerung an den erstaunlichsten Agenten, der im Augenblick der Peripetie die Bühne von Gides Lebensdrama betritt. Es ist der Satan, welcher plötzlich mit der Stimme des Engels der Berufung vor ihn tritt. Der Satan freilich ganz und gar nicht als der Versucher des Fleisches, sondern als Fürst der Traurigkeit, als schöner, tiefsinnig in die Seelen blickender Dämon, der ihnen die drei großen trügenden Verheißungen zuflüstert: der unbegrenzten Freiheit, unbegrenzten Tiefe, unbegrenzten Geistigkeit. Er hat im Dasein Gides die Züge Oscar Wildes getragen. Immer wieder, von seinem schönen Beitrag »In memoriam Oscar Wilde« an, in den »Prétextes«, zuletzt noch in der Autobiographie »Stirb und werde«, hat Gide diesen entscheidenden Augenblick seines Lebens, das Auftauchen Oscar Wildes, zu fassen gesucht. Ohne daß sein Name zum Vorschein käme, ist Wilde wohl auch der Partner des folgenden Zwiegesprächs, das wir dem »Tagebuch der Falschmünzer« entnehmen.

»›Aber jetzt, wo wir allein sind, sagen Sie mir, bitte: woher nehmen Sie diese absonderliche Lust, zu glauben, es lauere Gefahr oder Sünde in allen Dingen, deren Sie sich erdreisteten?‹

›Was liegt daran?! ... Hauptsache bleibt, daß mich das noch nie gehindert hat.‹

›Ich habe bisher vermutet, es verrate sich darin ein Rest Ihrer puritanischen Erziehung. Doch jetzt beginne ich, an irgendeinen weltschmerzlichen Hang a la Byron zu glauben ... Oh! protestieren Sie nicht: ich weiß, daß alle Romantik Ihnen verhaßt ist; wenigstens pflegen Sie das zu behaupten; aber Sie lieben knisternde Spannungen ...‹

›Ich liebe das Leben. Wenn ich die Gefahr suche, so, weil ich unbedingt darauf vertraue, ihrer Herr zu werden. Und was mir an der Sünde verlockend erscheint ... ach, glauben Sie, bitte, nicht, es sei jenes Raffinement, das die, den würzig-kühlen Reiz des Sorbett schlürfende Italienerin sagen ließ: ›Peccato che non sia un peccato‹. Nein, es ist vielleicht in erster Linie Verachtung und Haß und Abscheu gegen alles, was ich in meiner Frühzeit ›Tugend‹ nannte; und es ist fernerhin ... wie soll ich es nur ausdrücken ... erst ganz kürzlich bin ich mir darüber klar geworden ... es beruht darauf, daß ich den Teufel mit im Spiele habe.‹

›Ich habe, offen gesagt, nie begriffen, welches Interesse man haben könne, an Sünde, Hölle oder irgendwelche Manifestationen des Teufels zu glauben.‹

›Erlauben Sie; erlauben Sie; aber ich glaube auch nicht an ihn, an den Teufel! Nur ... (und das ist für mich das Irritierende): während man dem lieben Gott nur dienen kann, wenn man an ihn glaubt, hat der Teufel seinerseits nicht nötig, daß, wer ihm dient, an ihn glaube. Im Gegenteil, man dient ihm niemals besser, als wenn man ihn gar nicht ahnt. Er hat stets ein Interesse daran, sein Da-sein nicht zu verraten. Und das, was mich irritiert, sage ich, liegt eben darin: daß ich einsehen muß, daß, je weniger ich an ihn glaube, umsomehr ich seiner Macht Vorschub leiste.

Es irritiert mich, denken zu müssen, daß es von allen Dingen einzig dies ist, was er wünscht: daß man nicht an ihn glaube. Er hat ja Routine darin, nicht wahr?, sich in unsere Herzen einzuschmuggeln, und er weiß, daß er zunächst unbemerkt bleiben muß, wenn er hineingelangen will.

Ich habe viel über diese Fragen nachgedacht, das kann ich Ihnen sagen. Selbstverständlich (und trotz allem, was ich soeben geäußert habe) glaube ich, in voller Aufrichtigkeit, nicht an den Teufel. Ich nehme alles, was mit diesem Begriff zusammenhängt, als naive Vereinfachung und als Mittel zu scheinbarer Deutung gewisser psychologischer Probleme – denen mein Geist sich sträubt, andere Auslegungen zu geben, als völlig natürliche, wissenschaftliche, der Vernunft entsprechende. Aber, noch einmal: der Teufel selbst würde nicht anders reden; er ist entzückt; er weiß, daß er sich nirgends so ausgezeichnet verstecken kann, wie hinter solchen rationalistischen Erklärungen, die ihn in das Gebiet der willkürlichen Hypothesen verweisen. Satan, oder die ›willkürliche Hypothese‹ – in dieser Pseudonymität tritt er wohl am liebsten auf ... Nun, trotz allem, was ich Ihnen darüber sage, trotz allem, was ich darüber denke und Ihnen nicht sage, bleibt folgende Tatsache bestehen: mit dem Augenblick, wo ich die Realität des Teufels annehme – und gelegentlich passiert mir das immerhin, wenn auch eben nur für einen Augenblick – mit diesem Augenblick scheint mir alles klar und durchsichtig zu werden; es scheint mir, als hielte ich plötzlich den Sinn meines Lebens in Händen, die Deutung all des Undeutbaren, all des Verworrenen und Gespenstischen in meinem Leben. Vielleicht werde ich eines Tages Lust verspüren zur Abfassung eines ... oh, das ist nicht ganz leicht zu sagen – es stellt sich meinem Geiste dar in Form eines Dialogs, aber es würde noch etwas anderes dabei sein ... na, es könnte vielleicht den Titel haben: ›Gespräch mit dem Teufel‹ – und wissen Sie, wie es anfinge? ... Ich habe seinen ersten Satz gefunden; den ersten Satz, den er zu sprechen hätte, verstehen Sie; aber um ihn zu finden, diesen Satz, muß man den Teufel schon recht gut kennen ... Ich lasse ihn also zum Eingang sagen: ›Warum solltest du dich vor mir fürchten? Du weißt doch sehr genau, daß ich nicht existiere.‹ – Ja, ich glaube, so wird es richtig sein. Das faßt alles zusammen: von diesem Glauben an die Nicht-Existenz des Teufels hängt es ab, inwieweit ... Aber sagen Sie doch ein Wort; ich liebe es, mich unterbrechen zu lassen.‹

›Ich wüßte nicht, was ich Ihnen entgegnen sollte. Sie sprechen da von lauter Dingen, über die ich nie in meinem Leben nachgedacht habe. Allerdings erinnere ich mich, daß eine Anzahl der größten Geister an die Existenz und Bedeutung des bösen Dämons geglaubt – und ihm sogar ein warmes Plätzchen in sich selbst eingeräumt haben. Wissen Sie, was Goethe gesagt hat? Des Menschen innere Gewalt und vorherbestimmte Macht seien erkennbar an dem Quantum Dämonie, das er in sich trage.‹

›Ja, von dieser Stelle hat man mir schon gesprochen. Könnten Sie vielleicht so freundlich sein, sie für mich ausfindig zu machen?‹«

 

Einen nachgeborenen Griechen liebte Wilde sich zu nennen. Von Gide hat sein ausgezeichneter Kommentator Du Bos gesagt: »Gide ist ein nachgeborener Grieche in ganz anderem Sinne als Wilde. Das Gidesche Griechentum entstand in dem natürlichen Treibhaus von Algier (in Algier fanden die entscheidenden Begegnungen mit Wilde statt), sein Griechentum ist Produkt einer höchst intensiven Kultur.« Nichtsdestoweniger wird man es in einer zwiefachen Auswirkung nicht verkennen können: im Künstlertum und in dem pädagogischen Genie des Mannes. Es gibt Künstler, über denen wir jeden Augenblick vergessen, daß wir es in ihren Werken mit Kunst zu tun haben. Dabei braucht keine Illusion im Spiel zu sein. Wir können Dostojewskis »Dämonen« lesen und uns durchaus bewußt sein, daß wir uns da in einen Roman vertiefen. Dennoch will es uns nicht in den Sinn, Dostojewski hätte das als Künstler geschrieben. Es liegt eher so: Dostojewski hat es geschrieben, und für uns ist es Kunst. Bei Gide gibt es dagegen keine Zeile, von der wir nicht das zwingende Gefühl haben, die hat er als Künstler geschrieben. Daher der besondere und man darf wohl sagen: griechische Charme. Denn diese farblose, licht- und wärmelos im unaussprechlichsten Formenspiel um das Kunstwerk flammende Aura ist griechischer Art. Griechisch auch, wie gesagt, die pädagogische Grundhaltung seines Geistes. Wie immer aller innere und äußere Besitz für ihn nur gut war, davon abzustoßen, so schärft er es auch den Jüngeren ein, und sei das, was sie fliehen, auch er selber. Es konnte darum nicht fehlen, daß sie in ihren Besten ihn umworben haben. Als die Surrealisten ihre erste Revue »Littérature« gründeten, haben sie unter allen Vertretern der älteren Generation nur Gide zu sich gerufen. Nun kann er ihnen nichts Besseres als die strenge, kompromißlose Durchgestaltung seiner Jugenderfahrung geben. Das hat er in seinem letzten großen Roman, den »Falschmünzern«, getan. Das Kapitel »Bernard und der Engel« würde dies Werk, in unserm Zusammenhange, am besten vertreten. Wir aber wollen zum Schluß, wie Gide selber es vor einigen Jahren getan hat, zu seiner Jugend zurücklenken. Gewiß hat sich der große Dichter André Gide viel später als der große Mensch bekundet, zum mindesten ist er sich selber viel später vernehmbar geworden. Nirgends erscheint er in seinem großen autobiographischen Werk als Wunderkind. Wohl aber ist wunderbar, wie er an vielen Stellen und am merkwürdigsten in der folgenden die bestimmenden Rufe, die in jede Kindheit hineintönen, im Entschlusse ihnen zu folgen und nur darum auch im Gedächtnis festhielt.

 

»Ich liege schon zu Bett. Aber ein seltsamer Lärm, ein Rauschen und Brausen durch das ganze Haus, mit Musik untermengt, lassen mich nicht einschlafen. Zweifellos hatte ich im Laufe des Tages allerlei Vorbereitungen bemerkt; und zweifellos hatte man mir auch gesagt, heute Abend werde ein Ball stattfinden. Aber, ein ›Ball‹: weiß ich denn, was das ist? Ich hatte der Sache keinerlei Bedeutung beigemessen und war zu Bett gegangen, wie jeden andern Abend auch. Aber nun dieses Lärmen ... Ich höre aufmerksam hin; ich versuche, irgendeine Einzelheit zu unterscheiden und zu erkennen, was da passiere. Ich lausche gespannten Ohres. Schließlich kann ich mich nicht länger halten, springe aus dem Bett und öffne leise die Tür. Barfuß, vorsichtig tastend, schleiche ich mich in dem dunklen Corridor weiter und gelange bis zur Treppe, die hell erleuchtet ist. Mein Schlafzimmer liegt im dritten Stock. Die Tonwellen dringen aus der ersten Etage empor; ich muß unbedingt sehen, was da vor sich geht; und indem ich mich von Stufe zu Stufe näher heranwage, unterscheide ich nunmehr Geräusche von Stimmen, Rascheln von Kleidern, Geflüster und Gelächter. Alles scheint mir so merkwürdig verwandelt; ich habe das Gefühl, als solle ich plötzlich in ein unbekanntes Leben eingeweiht werden, in ein geheimnisvolles, auf neue Art reales, glänzenderes und bedeutsameres Leben, das erst beginnt, wenn die kleinen Kinder zu Bett gebracht sind. Die Corridore des zweiten Stockes liegen dunkel und verlassen; das Fest ist weiter unten. Soll ich noch weiter vordringen? Man wird mich entdecken! Man wird mich bestrafen, weil ich nicht artig zu Bett geblieben, sondern auf diese Forschungsreise gegangen bin. Ich stecke meinen Kopf durch die Stäbe des Treppengeländers. Eben erscheinen neue Gäste: ein Offizier in Uniform; eine Dame ganz in Bändern, ganz in Seide; sie hält einen Fächer in der Hand. Der Diener, mein Freund Victor, den ich wegen seiner Kniehosen und seiner weißen Strümpfe nicht gleich wiedererkenne, steht vor der geöffneten Tür des ersten Salons und geleitet die Gäste hinein. Plötzlich huscht eine Gestalt auf mich zu; es ist Marie, meine Bonne, die sich ein paar Stufen unterhalb meines Verstecks, am ersten Treppenabsatz, verborgen gehalten hatte, um ebenfalls zu spähen. Sie preßt mich in ihre Arme; und zuerst fürchte ich, sie werde mich in meine Kammer zurückbringen und dort einschließen; doch nein, sie nimmt mich mit hinunter bis zu ihrem Auslug, von dem man ein kleines Stück des Festes überblicken kann. Und jetzt höre ich auch die Musik in aller Deutlichkeit. Beim Klange von Instrumenten, die ich nicht sehe, drehen sich Herren im Tanze mit geschmückten Damen, die viel schöner sind als die Damen des Alltags. Die Musik bricht ab; die Tänzer halten inne; und ein Stimmengewirr folgt dem Lärm der Instrumente. Schon will Marie mich wegziehen, da werde ich in meinem Hinterhalt entdeckt von einer wunderschönen Dame, die, an den Türrahmen gelehnt, dagestanden und sich gefächelt hatte. Sie kommt auf mich zu, schließt mich in die Arme und lacht, weil ich sie nicht gleich erkenne. Offenbar ist sie dieselbe Freundin meiner Mutter, die ich heute Morgen noch gesehen habe. Immerhin bin ich mir nicht ganz sicher, ob es wirklich ganz und gar die gleiche sei: dieselbe Dame in aller Realität ... Und als ich wieder in meinem Bett liege, verwirrt sich mir alles Denken, und vorm Einschlafen empfinde ich dumpf: es giebt eine Wirklichkeit und es giebt Träume; und außerdem giebt es eine zweite Wirklichkeit

Es gibt ein Wort von Sainte-Beuve, das wie eine bildliche Prophezeiung auf André Gide ist. Er spricht einmal vom Unterschiede der intelligence glaive und der intelligence miroir, der Schwerter- und Spiegelklugheit. Gide zeigt die beiden in ihrer vollendeten Einheit. Das Ich ist sein Schwert, und sein Schild ist so blank, daß auf ihm die ganze Welt vorkommt, wie auf dem des Achill.


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